Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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Michel vergißt's!

Man sollte es nicht glauben, und doch ist's so: Im Ochsen in Sprendlingen laufen die Fäden der Weltregierung zusammen. Der Schultheiß und der Gemeindepfleger, der Bäckenschorsch und der Michel vom vorderen Hof, die sind die Macher des ganzen. Der Schultheiß, der große, stämmige Mann, hat Anno 70 Pulver gerochen, der Gemeindepfleger hat schon Anno 59 als strammer Kanonier sein Gehör zur guten Hälfte verloren. Der Bäckenschorsch hat im Train in ruhigen Friedenszeiten seinem Vaterlande nach besten Kräften gedient, und der Michel vom vorderen Hof, der, – ja der hat einen Buben, den jüngsten, »drunten« stehen bei der Schutztruppe in Südwestafrika.

Jetzt sag' einer, die Vier hätten kein Recht, mitzureden – –! Die grauen struppigen Köpfe neigen sich Abend für Abend über den schweren Ecktisch in der vorderen Stube des Ochsen. Wenn 64 dann die Pfeifen qualmen und das braune Bier auf dem Tisch steht, dann beginnt die inhaltsschwere Debatte. Oft platzen die Geister hart aufeinander, denn jeder der Viere nimmt es heilig ernst mit seiner Überzeugung, und der vornehmste Grundzug moderner Regierungskunst, alle Mißtöne in sanften Kompromissen ausklingen zu lassen, ist noch nicht bis zum Ecktisch im Sprendlinger Ochsen vorgedrungen.

Oft dauert's ein paar Abende, bis ein einziges Kriegsschiff genehmigt ist. Nicht daß die Regierung von Sprendlingen kein Geld dafür hätte! Drei alte Soldaten und der Vater eines Südwestafrikaners würden sich bis in den Grund ihrer Seele schämen, wenn sie für des Vaterlands Größe und Macht nicht ein paar lumpige Millionen oder auch Milliarden jederzeit zur Verfügung stellen würden; aber über die Armierung der Schiffskolosse können die Vier nie einig werden. Wenn der Schultheiß noch so große Geschütze vorschlägt und die Durchschlags- und Explosionskraft der Geschosse aufs höchste steigert – der Gemeindepfleger schlägt unweigerlich im Zorn auf den Tisch und schreit: »Laß de heimgeige, Schultes, mit deine Kanönele! Narr, domols, anno 59, wo mer die groß Übeng g'het hent bei Cannstatt, wo's so pressiert hot, weil mer net g'wißt hot, ob heut oder morge der Teufel losgoht, do hent mir 65 g'schosse mit Denger a so« – er beschreibt mit der Hand einen unheimlichen Bogen – »ond brommt hot des – Höllewetter! – kei' Kommando host me verstande, 's Blut ischt d'r oft aus de Ohre g'loffe, ond's Maul host aufsperre müesse, de ganze Tag!«

»Des goht d'r heut no noch,« wirft der Schultheiß spöttisch ein.

Ein andermal ist Zollberatung auf der Tagesordnung, dann kommt der Bäckenschorsch zu Wort. Er ist draußen gewesen in der Welt und hat's miterlebt, wie die Zollschererei den Leuten das Leben sauer machte. In Wien hat er gelernt. Aber bis er damals nach Wien kam, hat er vierunddreißigmal sein Felleisen vom Buckel nehmen und den Zöllnern sein Paar Schlappschuhe, seinen weißen Kittel und seine Manchesterhose zeigen müssen. Der vierunddreißigste, ein langer Kerl bei Sendling da hinten, der hat gesagt: »Überstudierens Ihne net, Herr von der Teigschüssel!« Dem hat der Bäckenschorsch zur Antwort gegeben: »Wenn i merk, daß i's bei de Bäcke net fertig bring, no wurr i a Zollmensch!« Ja, aber Spaß beiseite! Das ganze Zollwesen ist ein Unwesen! Wenn der Bäckenschorsch an die Kaisersemmeln denkt, die man in Wien drunten backt! Weiß wie Schreibpapier und zart wie Entenflaum! Und warum kann er, der Bäckenschorsch, die Dinger nicht auch in 66 Sprendlingen backen? – Warum? Weil der ungarische Weizen einen Zoll kostet, den der Rothschild nicht zahlen kann! Was kann denn einer aus Kernen und Roggen und Säubohnenmehl etwas Gescheites backen. Fort mit dem Zoll, daß man ein anständiges Milchbrötle kriegt in Sprendlingen!

»Halt doch dei' Maul!« sagt da scharf der Michel vom vorderen Hof, »Zöll müesset sei; aber Milchbrötle müesset net sei.«

»So, du Neu'molg'scheiter,« schreit der Bäckenschorsch. »Unsereinem dürft mer de Hals zuziehe, wenn no d'Baure ihr Sach hent! Do sieht mer's wieder! Ischt denn der Gewerbestand – – –«

»No stät, Bäckeschorsch,« beschwichtigt der Schultheiß, »sei's mit de Zöll wie's will, 's nächst, was mer hau müesset, ischt d' Eisenbah'.« Der Gemeindepfleger wirft sich weit vornüber auf den Tisch. »Was sai'st du? fangst wieder a? Des Teufelsfuhrwerk wi't du im Flecke hau? Nix als O'glücker geits, und zahle mueßt zum Hinwerde? Host net gnueg an d'r Wasserleitung? Solle mehr no meh Schulde mache? Und mer hent dä weg scho maih als d' Säutreiber. Schultes, i glaub, di sticht der Haber!«

Das breite Gesicht des Sprechers rötet sich in jähem Zorn; die kleinen trüben Augen funkeln den Schultheißen an, der kalt und aufrecht dasitzt und die Pfeife nicht aus dem Munde nimmt. 67

»Send still,« sagt da in die kampfesschwüle Pause hinein die Ochsenwirtin, die unter der Tür zur Nebenstube lehnt. Sie ist eine große, wuchtige Frau, deren kluges, sonnenbraunes Gesicht jung wäre, wenn nicht alle Zähne fehlten, so daß Lippen und Kiefer tief zurückgesunken sind. »Send still«, sagt sie, »ond streitet net rom wege so Dengs! Mir send doch guet d'ra z'Sprendlinge, wenn mer an d'Russe denkt! Se saget jo, bei dene sei älles he, ond's gang dronter ond drüber. So e baiser Krieg sei jo überhaupt no net do g'we, seit d'Welt stoht.«

Der Schultheiß rückt auf dem Stuhl. »Oha!« sagt er, »anno 70 ischt's au wüescht g'nueg hergange. Wer's mitg'macht hot, vergißt's net! De erste Tote, wo i han liege sehe – meiner Lebtag denkt mers – e Baier ischt's g'we! De Wafferock hot 'r uffknöpft g'het, und unter sei'm schöne, lange Schnauzbart hot 'r käsweiß ausg'sehe. Nebe 're Mühle ischt 'r g'lege em Gras, und d' Auge hot 'r uffg'risse g'het, als wie wenn 'r weiß wo na gucke wö't.« Der erzählende Mann verstummt und sieht vor sich hin und still sitzen die anderen.

»Zu sei're Mueter wird er han gucke wölle,« sagt ganz leise die Frau mit den eingesunkenen Lippen. 68


Der Michel vom vorderen Hof rappelt sich auf. »Ja, jetzt guet Nacht ihr Manne! I mueß morge Mist führe, solang 's Wetter so bleibt. Guet Nacht Ochsewirte.«

Mit schwerem Schritt stapft der Bauer aus der dunkel werdenden Stube. Draußen vor dem Dorf liegt der vordere Hof. Ein Bächlein rinnt, da und dort von einer Steinplatte überquert, durch die Wiesen. Pappeln stehen daran, und des Bauern Weg führt am Ufer entlang. Die Grillen zirpen, und fern im Westen glüht still und beharrlich aus den Ritzen schwerer, dunkler Streifenwolken hervor, das blutige Gold der hinuntergegangenen Sonne. Hinter des schreitenden Mannes Rücken hebt sich der volle Mond, schwer, lautlos und noch ohne Strahlen, ein schwebender Ball, der seinen Weg kennt. Der Michel schaut nicht rückwärts und nicht hinüber nach dem blutigen Streifen zwischen den Nachtwolken. An die Arbeit von morgen denkt er.

Unter der breiten Linde vor dem Hoftor sitzt seine Frau, die Mrei-Kätter. Alle Abend zwischen Tag und Dunkel sitzt sie da, hat die Hände im Schoß liegen und wartet auf den Michel. So sagt sie wenigstens zu ihren drei Buben, und sie weiß gar nicht, daß sie damit eine Unwahrheit sagt.

Eigentlich kommt ihr der Michel immer ungelegen; er stört sie immer bei etwas, und sie weiß gar nicht recht bei was. Langsam streift sie die Röcke 69 zusammen und macht dem Bauern neben sich auf dem Bänkchen Platz, wie alle Abend.

»So, du kommst scho?«

»Jo, i mueß doch morge Mist führe!« Die Zwei sitzen eng beisammen, in der Linde oben raunt kaum hörbar der Wind und der Mond flimmert im Bächlein unter den Pappeln.

Die Mrei-Kätter fährt über ihre Schürze. »Was wisset se denn Neu's im Ochse?« – »O Weib, des send keine Sache für di.«

Im Stall neben drüben rasselt jetzt die Blässe mit der Kette. »Ka' denn des Tier net still stehe!« murrt ärgerlich der Bauer. – »Seit mer 'r ihr Kälble g'nomme hot nemme,« entgegnet leise die Mrei-Kätter.

»Was secht denn au der Schultes vom Krieg?« fängt nach einer Weile das Weib schüchtern und doch sonderbar dringlich wieder an. – »Ha was wurd 'r sage. – 's sei halt älles he und 's gang drunter und drüber.«

Die Mrei-Kätter reißt die Augen weit auf in jähem Schrecken: »Ja ond onser Fritz – –?«

Der Bauer zieht die Beine an sich und lacht kurz auf: »Mrei-Kätter, du dumme Denge, mer schwätzt doch vo de Russe!« Das Weib sinkt zusammen und schaut auf die langen Schatten der Pappeln, die sich weit über die Wiesen recken.

»Ja, ond von onserem Krieg, hot do d'r Schultes 70 nix g'wißt?« Der Michel gähnt, und verzerrt kommt die Antwort aus seinem gähnenden Mund: »Er hot von ei'm verzählt, der sei em Gras g'lege. De Wasserock häb 'r uffknöpft g'het und unter sei'm Schnauzbart häb 'r ganz käsweiß ausg'sehe im G'sicht.« Zitternd fassen des Weibes Hände jetzt des Mannes Wams:

»O Michel, des könnt' onser Fritz g'we sei –« Sie schluchzt auf, scheu, kurz und doch in so wildem Schmerz.

Der Bauer schaut zu ihr herum. Ein flüchtiger Schrecken, mehr ein Staunen geht über sein Gesicht. »Weib, du Gans-Kätter, des 'scht doch scho Anno 70 g'wä! – –«

Eine Zeitlang bleibt die Frau reglos, dann ist's, als wandle sich der große Schrecken, der sie durchzittert hat, in heißen Unmut. Sie steht vom Bänkchen auf und schüttelt die Arme: »So, ond des sechst jetzt, so hente d'rei? Ja, und wenn 'r von Anno Siebzig und vo de Russe genueg g'schwätzt g'het hent, send 'r no net an an de Fritz komme, und an den Krieg mit de Schwarze, ha? Was hot denn do d'r Schultes g'wißt? Do, wo onsere Buebe derbei send, des ischt doch d' Hauptsach. Host do gar net dernoch g'frogt? Host denn gar net an an onsern Fritz denkt?«

Der Bauer steht auf, wieder den Zug von Staunen im Gesicht. »Des hent mer vergesse.« 71



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