Auguste Suppper
Leut'
Auguste Suppper

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»Leut«.

Da hinten, wo die Farne um das glucksende Bächlein stehen und seitwärts an der lichten Blöße die roten Fingerhüte leuchten, dort, wo der verlassene Fuchsbau zwischen den Steinriegeln liegt und der große, blühende Hollunderbusch steht, dort haben sie heute eine Schule gegründet.

Viel Umstände gab's da nicht. Die Gründung war eine Sache von herzerquicklicher Einfachheit.

Ein kleines, schmutziges Kerlchen, das barfuß in Hemd und Lederhöschen steckte, zog aus der Tiefe seiner Hosentasche etwas, das einmal ein Messer war. Damit schnitt er im Buschwerk eine Gerte, ließ sie prüfend durch die Luft sausen und rief hell: »Mädle, jetzt han i eine, die fitzt anderst. Jetzt wurd Schulmeisterles do.«

Die drei Angerufenen drehten die erhitzten Gesichter dem Herrn und Gebieter zu. Zwei nahmen dann die Schürzchen, die dritte das blauleinene 2 Röckchen hoch, und sie wischten sich eifrig Schmutz und Schweiß ab.

Darin lag ihre Zustimmung zum Schulprojekt.

»Uf was sitzet mer na?« fragte jetzt, sich umschauend, die Größte.

»O Kätterle,« gab rasch und ungeduldig der Bub zurück, »uf was sitzet denn d' Edelleut? – –«

Beschämt, daß sie eine überflüssige und törichte Frage getan, setzte sich die Gemaßregelte jäh zwischen die Farne und die beiden andern nahmen schweigend und erwartungsvoll neben ihr Platz.

Seine Gerte verheißungsvoll schwingend, trat jetzt der barfüßige Schulmeister vor die Klasse.

Wie in tiefem Nachdenken schaute er eine Zeitlang gegen den Himmel, der drüben am Waldrand auf den Tannen auflag, dann fragte er, den strohgelben Scheitel des Kätterle mit der Gerte berührend: »Kätterle, was hot's im Schwarzwald?«

Das Kätterle fuhr auf wie von der Tarantel gestochen, sah schnell rundum und rief ohne weiteres Überlegen: »Bäum«.

Auf des Schulmeisters würdevollem Antlitz malte sich jähe Verdutztheit. »Sell an,« sagte er nach einer Pause langsam und widerwillig, wie man eine unleugbare, aber höchst unbequeme Tatsache zugibt.

Dann machte er eine halbe Wendung und deutete auf die Zweite: »Sag's du, Bärbele!« 3

Das Bärbele, vielleicht kopfscheu gemacht durch den Mißerfolg ihrer Genossin, stand viel weniger zuversichtlich vor dem Gestrengen. Hilflos irrte der Blick ihrer blauen Augen über Bach und Farne, über die Blöße mit den Fingerhüten und über den fernen Waldsaum. Ganz zögernd sagte sie dann: »Felse«.

Der Schulmeister trat jetzt von einem Fuß auf den andern in einer Art von verlegenem Ingrimm. Es kam ihm vielleicht unklar zum Bewußtsein, daß seine Gerte, auch wenn sie noch so »guet fitzte«, nicht das einzige Erfordernis und nicht die sichere Garantie sei für eine recht ersprießliche schulmeisterliche Tätigkeit.

Von der Verlegenheit eines Dozenten aber ist nur ein Schritt, und oft ein recht kleiner, zum Grob- und Ausfallendwerden.

»G'schwätz domms,« stieß der Schulmeister zornig hervor. »Felse hot's freile, des brauchst net lang z' sage! – Lisebethle, du bist die G'scheitst, – was hot's im Schwarzwald?«

Geknickt und beschämt setzte sich das Bärbele, und Lisebethle stand auf mit einem Ausdruck im kleinen, heißen Gesicht, der zu sagen schien: Du sollst dich in mir nicht getäuscht haben! Helläugig und voll Bedachtsamkeit schaute sie sich um. Da blieb ihr Blick an dem leeren Fuchsbau hängen. 4

Froh wandte sie sich dem Schulmeister zu und rief laut: »Füchs'«.

Ich möchte dem in den Lederhosen nicht unrecht tun; aber ich habe ihn im Verdacht, daß er jetzt mutatis mutandis tat, wie Mohammed, als dazumal der Berg nicht zum Propheten kommen wollte.

»Recht so, Lisebethle,« rief er, »i sag's jo, du bist die G'scheitst. Sitz' Erst na!«

Mit scheelem Blick auf die Bevorzugte rückten Kätterle und Bärbele hinunter und das Lisebethle setzte sich mit einem leisen Anflug von Hochmut »Erst na«.

Ich, der ich hinter dem großen Hollunderbusch ungesehen meines Amtes als unbesoldeter Schulinspektor waltete, ich schrieb mir die Taktik des kleinen Pädagogen hinter die Ohren. Muß man denn mit Nackensteifheit auf jede Frage, die man stellt, just die oder die Antwort verlangen? Tut's nicht eine andere ebensogut? Zugeständnisse machen, – das ist die ganze Lebenskunst.

Mit hohen, strampfenden Schritten, wie ein Rößlein, das man ganz kurz im Zügel hat, ging das Schulmeisterlein zwischen den Farnen auf und ab.

»Ja, ja,« sagte er im Lehrton, seine ungefüge Sprache der heutigen Würde entsprechend drollig verbessernd, »ja, ja, 's hat Füchs' im Schwarzwald, viel Füchs'. Des Hirschwirts Christian hat 5 an Martini fünf Stück aus dem Bau dort! Aber 's hat no ebbes! Wisset ihr's net?«

Hilflos sahen die drei einander an. Selbst das gescheite Lisebethle schüttelte stumm den Kopf.

Da brach bei dem Herrn Lehrer sein Temperament und damit seine alte Sprache durch. »Dümmer als lang send 'r älle drei,« schrie er, »Leut' gibt's – was denn sonst!«

Die drei fuhren förmlich zurück. Daß ihnen das nicht eingefallen war! Dieses Nächstliegende, Selbstverständliche!

»Ha – no – jo!« sagte das Kätterle. Und sie sagte es in dem Ton, in dem damals die Neider des Kolumbus dessen Experiment mit dem Ei beurteilten.

Still schlich ich mich von dannen. Mochten Kätterle, Bärbele und das gescheite Lisebethle die Nasen rümpfen über ihres Schulmeisters glatte, selbstverständliche Weisheit – mir klang es ganz neu, ganz verwunderlich in die Ohren: »Im Schwarzwald gibt's Leut'.«

Hell lag der Morgen über der sonnigen Gotteswelt, als ich an den leuchtenden Fingerhüten vorüber zur Höhe emporstieg. Heckenrosen, diese Schönsten der Schönen, die so jammervoll schnell im Sommerwinde zerflattern, prangten da oben an den grauen Mauern zwischen den Äckern. Der warme Wind beugte die grünen, säftevollen Halme 6 des Roggens, daß sie wogten wie das Meer, über das streichelnd der West fährt. Die Lerchen sah ich aus den Furchen steigen; ich hörte ihr jubelndes Lied, das sich im Himmelsblau verlor, und ich hörte den Bussard schreien, der auch den lichten Morgen lobt auf seine Weise, und der dazu die ruhevollen Kreise zieht, die für manches Mäuslein, für manchen Vogel in der Tiefe den Tod bedeuten.

Fern drüben, mir zur Rechten, standen die Tannen; ernst, dunkel und tugendsam, wie ehrbare Wächter, die über das flimmernde Licht und Leben auf der freien Höhe mit duldsamer Ruhe herniedersahen.

Das Herz wird weit in solcher Sommermorgenstille, als sei kein Wunsch mehr übrig, als stehe man feiernd neben dem Schöpfer, der über seiner Hände Werk hinblickte am siebenten Tag und sahe, daß alles sehr gut war.

Ja, ja, wenn das Schulmeisterlein nicht wäre und nicht sein gewichtiges Diktum: »Leut gibt's!«

Schwarzwald verzeih! Ich bin dir schon oft zu Hofe geritten, habe dir zulieb schon manche Schlucht durchwandert, schon manche Höhe mühselig keuchend erstiegen; ich habe deinen verschwiegenen Reizen zulieb schon manchmal den Rucksack in die menschenfernsten Einsamkeiten geschleppt; ja ich habe dich, verzeih doppelt und dreifach, schon im Endreim und Stabreim angesungen; aber heute, 7 heute (schreib's deinem jungen Sohn, dem Schulmeisterlein auf die Rechnung), heute suche ich »Leut«.

Auf den Stiel ihrer Haue gelehnt, steht eine dort im Kartoffelacker und schaut unter dem Kopftuch hervor mir entgegen. Sie soll mein erstes Opfer werden.

Ich komme ihr näher und sehe, daß sie nicht nach mir schaut, nein, weit über mich hinweg, irgend wohin.

Es ist eine dürftige Gestalt in dürftigem Gewand, und das Dürftigste an ihr ist ihr Gesicht. Es ist kein häßliches, nicht einmal ein unschönes Gesicht. Man weiß auch nicht recht, wo es diesen Zügen fehlt. Aber es fehlt. Es fehlt, wie es etwa Blüten fehlt, die nicht das rechte Licht, nicht die rechte Erde hatten zum Erblühen.

»Grüß Gott,« rufe ich der Reglosen zu.

Es ist, als erschrecke sie. Aber nicht jäh und heftig, wie der Stadtmensch erschrickt, nur so phlegmatisch, so ärgerlich, wie der Bauer, der auf einen Schrecken mit einer bedächtigen Grobheit reagiert.

»Grüß Gott,« gibt sie mürrisch zurück, spuckt in die Hände und fängt an zu hacken.

Aber ich gebe nicht locker. »Ein schöner Morgen heut, zur Arbeit,« sage ich.

Sie bückt sich und klopft ein Büschel Unkraut an ihrer Haue aus, daß die Erde davon mir fast ins Gesicht sprüht. 8

»Jo,« entgegnet sie und sonst nichts, ja sie wendet mir halb den Rücken, über den das dünne Zöpflein hängt.

Das ist so grotesk grob und abweisend, daß es, wie alles auf die Spitze Getriebene, seinen Zweck verfehlt. Ich gehe nicht. In mir dämmert der Verdacht oder die Ahnung auf, mit diesem Weib, das da zwischen den Kartoffelreihen steht, sei etwas nicht richtig.

»Ei,« sage ich, »Frau, was ist denn Euch heute schon über die Leber gelaufen, daß Ihr so grimmig seid?«

Da richtet sich die Einsame an ihrem Hauenstiel langsam auf. Sie sieht mich an und scheint mich doch nicht zu sehen. »Heut,« murmelt sie und will noch mehr sagen, da kommt ihr etwas in die Kehle. Ein kurzer krampfiger Laut wird hörbar, dann spuckt sie wieder in die Hände und hackt weiter.

Jetzt gehe ich. Ich getraue mir nicht mehr, da weiter zu fragen, wo ich diesen Laut zur Antwort bekam.

Wieder und wieder sehe ich mich um nach dem Weib. Die Haue geht auf und nieder in eintönigen Schlägen. So sonnig ist die Weite, so licht die Welt! Nur die dort, die zwischen den Furchen, ist mühselig und beladen. O Leut' vom Schwarzwald, ihr könnt einem die Stimmung 9 verderben! Zwei Bursche kommen des Weges, singend und johlend. Flatternde Bänder und Blumen in den unmöglichsten Farben zieren ihre Hüte, die unter der prangenden Last auf die Seite gerückt sind. Breitspurig, wankend kommen sie näher, als seien sie am frühen Morgen schon so weit, wie jeder Rekrut vom Wald am Abend des Ziehungstages sein muß.

Aber es ist nur eitle Protzerei von den beiden. Nüchtern und neugierig schauen ihre Augen mir entgegen und in den Taschen der armseligen Gewänder möchten wohl schwerlich so viele Nickel sein, als nötig wären, um in Wirklichkeit in das fingierte Stadium zu kommen. Ich stelle die beiden und deute zurück nach dem Weibe in den Kartoffeln.

»Ist die von eurem Ort?«

»Jo, des ist jo d' Eve-Kätter,« geben sie zur Antwort, als sei damit alles gesagt.

»Was ist's mit der?« frage ich weiter, obgleich ich weiß, daß das wunderlich klingt.

Die Zwei sehen mich in unverhohlenem Mißtrauen an. Sie glauben wohl, ich sei ein Landjäger in Zivil oder ein verkappter Polizeimensch.

»Was soll sei'?« sagt der eine und drängt vorwärts.

»Ich meine nur,« beschwichtige ich, selbst aus dem Konzept gebracht, »was ist denn ihr Mann?« 10

Die zwei lachen und nehmen ihre heutige Rolle wieder auf.

»Was, wo, wer?« stammelt der eine. »Die ist ledig wie ein Frieder sei Mueter. Und wenn ihr Christian, ihr Bue, net noch Amerika wär –«

»Komm, Jakob,« lallt der andere und sie torkeln weiter und rufen trunken sein sollende Worte zu dem Weib hinüber, die wieder auf die Haue gestützt ihnen nachsieht, ja nachstarrt. Die bunten Rekrutenbänder flattern im Wind, die heiseren, johlenden Lieder der Zwei klingen abgerissen herüber, da legt das Weib den Kopf auf die Hände überm Hauenstiel. Langsam schlendere ich wieder zurück und bleibe neben ihr stehen. Ich möchte ihr etwas sagen und weiß nicht was; ich möchte sie etwas fragen und weiß nicht wie.

Über ihrem Kopfe hinweg sehe ich gegen den Himmel, an dem weiße, federige Wölkchen fliegen.

Da fällt mir ein, wie ich's machen muß.

»Eve-Kätter,« sage ich, »dort hin zu liegt Amerika.«

Sie fährt auf und schaut mich an, und diesmal sieht sie mich.

»Wo leit's, wo?« stößt sie ganz gierig hervor.

Da trete ich hart neben sie, und ich weise nach Westen und ich sage ihr leise, daß der Wind, der über die Höhe geht, von dort her kommt, wo ihr Christian ist, und daß die Wolken da oben 11 vielleicht schon einmal bei ihm waren, daß der Himmel weit, weit über das Meer hingeht, über das Meer voll grünlicher Wellen, das aussieht wie dort das Roggenfeld, über das Meer, das die Ufer küßt hüben und drüben, und das die Schiffe trägt, die zum Christian fahren.

Und ich sage ihr, daß es überall dasselbe ist auf Erden, überall Mond und Sonne und Sterne Gottes, überall ein Weg von Ort zu Ort, überall ein Lüftchen, das Grüße tragen kann, wenn nur ein Herz da ist, das Grüße aussendet in die Weite und ein anderes, das diese Grüße hören will. Das Weib steht stumm, und die braunen, schwieligen Hände auf dem Hauenstiel zittern.

»Moinet Se?« sagt sie.

»Ja, ich meine.«

Sie fährt sich über die heiße Stirne und sieht mich an mit einem gequälten, einem hilfeheischenden Blick.

»Mei Christian,« sagt sie dann, stoßweise, abgebrochen, »heuer, – heut, wenn er no do wär, müßt er spiele –. Zwanz'ge wär er – –« Ihr Mund zieht sich auf einmal ganz eng, ganz hart zusammen, sie sieht plötzlich aus wie eine Greisin.

»Zwanzig – und schon die Heimat verlassen? –« muß ich vor mich hinsagen.

»Mit sechzehne ist er fort – vor vier Johr im Herbst,« flüstert sie; »'s send domols viel fort von 12 unserem Ort, no ist er mit. – Was han i mache könne? Mueter, hot er g'sait, i will nett mei' Lebtag e Baureknecht bleibe – –« Sie will weiter sprechen; aber die Stimme versagt ihr.

»Jetzt seid Ihr ganz allein?« frage ich nach langer Pause.

Sie wischt sich mit der Schürze über die Stirne, dann läßt sie plötzlich den Hauenstiel fahren, schlägt beide Hände vors Gesicht und weint laut auf.

Nebenan steigen die Lerchen aus den Furchen, Blätter der Heckenrosen wirbeln übers Feld, und der Bussard stößt hoch oben seinen Schrei aus. O Weib mit deiner Last an solchem lichten Tage! »Sei doch still,« möchte ich rufen, »ich will nichts von deinem Jammer, ich will mich heut des Lebens freuen.«

Dann aber schäme ich mich. Leut' will ich suchen und habe dann nicht den Mut, die Konsequenzen zu tragen? –

O Schulmeisterlein in den Lederhosen! Hättest du mich nicht wissend gemacht! Hättest du's bei Bäum, Stei' und Füchs' bewenden lassen. – Das Weib weint nicht lang. Sie bückt sich nach ihrer Haue und fährt in ihrer Arbeit fort, als sei ich nicht mehr da.

Das sollte mir vernünftigerweise recht sein. Und doch ärgert mich's fast, daß sie so ganz von 13 sich aus, ohne weiteren Zuspruch und Trost von mir, mit sich und ihrem Christian fertig wird.

»Ihr möget die von der Stadt scheint's nicht?« sage ich verstimmt. Da richtet sie sich auf und schaut an mir vorüber gegen den fernen Himmel und eine große Feindseligkeit tritt in ihr Gesicht.

»Jiii – – –« entgegnet sie, und sie dehnt das Wort so lang und so sonderbar, als habe ich die erstaunlichste Sache von der Welt gefragt;»i be in d' Stadt komme mit siebezehne. E saubers Ding und wie mer halt ist. Mit neunzehne bin i wieder heim, weil mei Christian auf d' Welt komme ist. – Des 'st älles, was i von d'r Stadt weiß.« Sie spuckt in die Hände. Finster ruhen ihre verweinten Augen eine Sekunde lang auf mir, dann hackt sie weiter und bückt sich nach wucherndem Unkraut.

Ich gehe meines Weges bedrückt und scheu, wie einer, dem eine Last aufgelegt ist.

Weit drüben hinter dem Roggenacker schreite ich, da ruft sie mir nach: »Vergelt's Gott au!«

Verwundert schaue ich mich um, da sehe ich sie mit dem halbentblößten braunen, runzeligen Arm in die Ferne deuten, dahin, wo das Meer liegt, das auf seinen grünen Wogen die Schiffe zum Christian trägt.

Mir schnürt's die Kehle zu. Die von der Stadt haben das große Leid über sie gebracht. Was 14 braucht sie da zu danken, wenn einer von dort ihr mit seinem Stock die Richtung weist, in der ihr letztes Glück davongegangen ist? –

* * *

Hart am Dorf, auf der Baumwiese hinter der Schmiede, in der die hellen Hammerschläge klingen, sehe ich einen Alten im Gras stehen und in die niederen, breitausladenen Äste eines Apfelbaumes starren.

Die dürren Knie in den schwarzen Lederhosen, die Ellbogen in dem gestrickten braunen Wams, das Kinn mit den Bartstoppeln, die schmale Nase, – alles an dem Manne ist spitz, eckig, hart, wie aus Holz geschnitzt.

Die Hitze und Last manchen Tages muß über diese Gestalt gegangen sein, bis sie so ausgetrocknet, so saftlos wurde, wie sie heute ist.

Ich rufe meinen Gruß hinüber; aber der Mann scheint nicht zu hören.

Schon will ich weitergehen, da höre ich ihn auflachen und wende mich näher zu ihm.

»Do drunter durch,« sagt er, und deutet auf den Baum, »do drunter durch, wenn d'r Absalom g'ritte wär, do hätt 'r sich au henke könne.«

Ehe ich weiß, was ich auf die seltsame Anrede sagen soll, fährt der Alte fort: »Aber mei' Jakob 15 reitet halt net! ha ha ha, und Hoor hot 'r au keine meh' auf'm Kopf. Do ist nix z' wölle!«

Die wässerigen, kleinen Augen des Männleins blinzeln mich an, halb lustig, halb jämmerlich.

»Ist Euer Jakob ein Absalom?« frage ich interessiert.

Der Bauer winkt mit der Hand ab. Kurz, wegwerfend, als verlohne sich's nicht, darüber zu reden.

»Was schaffet Se do hobe?« fragt er ablenkend.

Soll ich das plattgetretene Wort des alten Diogenes wiederholen und sagen, daß ich Menschen suche, Leut' vom Schwarzwald? Ich verspreche mir keinen besonderen Eindruck davon bei diesem Alten.

»Einen Spaziergang machte ich.«

»So, so, jo, jo, wenn mer nix z' schagget hot! D' Stadtleut' hänt's halt guet.«

Das Gellen der Dampfpfeifen, das Sausen und Rattern der Maschinen, das Hasten und Drängen der Menschen daheim will mir einfallen; aber der Alte läßt's nicht so weit kommen.

Mit leisem Ächzen setzt er sich auf den halbrunden, steinernen Trog, der im Gras steht und in dem man im Herbst das Obst zermahlt. »Wenn Se nasitze wöllet? –« ladet er mich ein. Ich setze mich neben ihn. 16

»'s ist guete vierthalb Stund vo' der Stadt 'ruff,« sagt er, »gestert be – n – i au' drunte gwe' vorem Amtsg'richt.«

»Zu Fuß?« frage ich verwundert.

Der Alte lacht: »Ha jo, wer wurd für de Frieders-Michele ei'spanne!«

»Wie alt seid Ihr denn?«

»Am Lichtmeßfeiertich be – n – i zweieneunzge worde.«

Zweiundneunzig! Ein uraltes Wort fällt mir ein. Ein Wort, das fort und fort tönt durch die Jahrhunderte und immer den gleichen müden Klang hat. Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.

In der breiten Krone des Apfelbaums fängt ein Buchfink an zu singen. Der weiß nichts von siebenzig oder achtzig Jahren, und nichts von Mühe und Arbeit. Hell klingt sein Lied, als kenne er kein anderes köstliches Leben. Aber die Leut', die Leut'!

»Des vor G'richt laufe, des soll der Teufel hole,« sagt jetzt der Alte, weil ich still bleibe. Er beugt sich vor, daß der Rücken ganz krumm wird und stützt beide welken Hände auf seine Knie.

»Was hattet Ihr denn vor Gericht zu tun?« 17

Immerfort sieht er ins Gras und nickt vor sich hin.

»'s ist e unguete Sach,« murmelt er dann, wie zu sich selber, »'s hätt solle net passiere. Und 's wär au net passiert, wenn die Weibsleut net wäret, die siedige! 's ist jo wohr, mei Söhnere hot en grausige Geist. Die tut emmer, wie wenn se aus eme andere Dreck g'macht wär als mei Weib und i; aber mei Bärbele ist au net älleweil die Best!«

»Ihr habt noch ein Weib?« muß ich staunend unterbrechen.

»I –? Sell will i meine, und erst no mei erste! Sechz'g Johr lang han i se. Sie ist zwanz'ge gwe, wo mer Hochzich g'macht hänt, und i zweiedreißig! Sellmols hot se mer oft z' jung sei wölle, und jetzt ist se mer oft schier z' alt.« Er lacht, daß die ganze ausgemergelte Gestalt zittert, dann fährt er fort: »Jo, was i sage will: mei Bärbele hot en seidene Schuurz mit so Müsterle drin, Sie wisset jo, was die Weiber für Dengs hänt. Der Schuurz hot mei Söhnere scho lang in d' Nas' g'stoche. Ahne, hot se scho oft g'sait, Ihr tänt jo den Schuurz nemme a, Ihr send z' alt. Schenket en doch mir! Aber mei Weib hot en net hergea! Jetz, was tuet mei Söhnere? – Se goht her und nemmt 'n aus der Truche raus, ong'frogt. – Mei Weib natürlich, die hot anderst 18 tua, wo se 's g'merkt hot. Michele, hot se zu mir g'sait, Michele, du bist nix, wenn du des so gau läßt! Und wie ist mer! I han e mol mei Söhnere g'stellt und han ere d' Meining de rechte Weg g'sait. I han zu ere gesait: Was glaubst denn du, du dumms Mensch, d' Ahne und i, mir dürfet so guet e mol sterbe wie du, wenn du an em Ulrich vom Berghof g'hörst! – So han i g'schwätzt und i han net g'merkt, daß mei Jakob, mei Soh', hinte her komme ist. Uf eimol haut der mir eine na! I natürlich net faul, dreh' mi' um und hau an zue, und so send mer hinter enander komme. Aber des wär älles recht guet gwä, wenn net meim Jakob sei Knecht, der Stoffel do, einer vom Gäu drübe, dazue komme wär. Dem hot mei Jakob kündigt g'hät auf Georgii, no hot der en rechte Zoarn g'hät. Deswege hot er no to, wie wenn er mir helfe wö't und ist auf mein Jakob nei. No ist's wüest worre. G'stoche hot der Blitz vom Gäu drübe z'letzt no. So ischt's halt gange. Ischt no guet, daß 's kei'm nix dau hot. Gerst' ischt d' Verhandling gwä. – – – –«

Verstummt sitze ich neben dem Alten. Was gibt es da zu sagen für einen Stadtmenschen?

Ein Sohn, der, wohl selbst schon ein Greis, seinen zweiundneunzigjährigen Vater verprügelt aus Ritterlichkeit für sein Weib, die sich hinwiederum an einer seidenen Schürze vergreift. – Und hinter 19 allen die hetzende Bärbel, die achtzigjährige Ahne, die geschworene Feindin der Söhnerin. Dann als deus ex machina der »Blitz vom Gäu«, ohne den die Sache nicht zu dem dramatischen Ende »vor Amtsg'richt« gekommen wäre.

Zuerst mir, als sei jetzt eine recht tiefe sittliche Entrüstung am Platz. Aber dann, ich weiß nicht wie es zugeht, kann ich diese Entrüstung doch nicht aufbringen. Die ganze Erzählung des Alten hat nach Wortlaut und Ton nichts weniger als tragisch gewirkt.

Ich fühle genau, daß das Männlein neben mir und sein Jakob im Grunde genommen ein Herz und eine Seele sind, wenn die »Weibsleut die siedige« nicht wären.

Über die Bärbel, ja, und über die Söhnerin kann ich mich entrüsten, und ich freue mich, daß es der Alte der Tochter des Ulrich vom Berghof so gut gegeben hat.

Wie hat er doch gesagt? – »D' Ahne und i, mir dürfet e mol sterbe, so gut wie du!« – Ein feines Wort! Bei uns sagt man allenfalls giftig: »Du mußt sterben so gut wie ich,« und man will damit den andern recht tief herunterziehen zum letzten trüben Menschenlos.

Der alte Bauer aber, er sieht im Sterben das letzte, stolze, höchste Menschenrecht, und er pocht 20 darauf, als auf etwas, das ihm zusteht, so gut wie nur irgend einem.

Frieders-Michele, laß dir's ablernen, das Protzen mit dem Sterbendürfen!

Der Alte richtet sich jetzt auf und sieht mich an. Ein Schmunzeln liegt um seinen zahnlosen Mund; in seinen wässerigen Augen sehe ich es flimmern. »Seit 'r ischt mei Bärbel degemäßig,« sagt er pfiffig, »und meim Jakob die sei' au'!«

Ich muß laut auflachen. Überall stößt man auf die Spuren jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

»Und das Urteil gestern?« frage ich noch.

»Ha, 's hätt' e paar seidene Schüürz mit Müsterle drin gea!« sagt der Alte und schmunzelt.

* * *

Hinter dem Dorf, neben dem »Feuerweiher«, um den die Pappeln stehen, ist die Flachsbreche.

Jetzt ist der mit ungleichen Steinplatten belegte Platz leer und tot, denn die zähen Stengel, die später den schimmernden Lein geben sollen, sie stehen noch drüben im Feld, lassen sich den Wind über die Köpfe streichen und denken nicht ans Ende. Aber wenn die Zeit gekommen ist, dann drohen auf den Steinplatten die Brechstühle, dann schwingen braune Weiberarme die Flachs- und Hanfbündel, dann knarren und schlagen und wettern die hölzernen 21 Hebearme, unter denen alles Harte und Spröde rettungslos splittern und zerstäuben muß, bis die freigelegten Fasern geschmeidig werden wie ein hartes und sprödes Menschenherz unter der zerbrechenden Hand des starken Schicksals.

Kunstlos aufgemauert, auf der Wetterseite halb zerbröckelt, steht der Dörrofen zur Seite, in dem die trockenen Stengel geröstet werden, bis sie so spröd sind, daß sie krachen und splittern. Wichtig und verantwortungsvoll, fast wie ein Ministerposten, ist der Platz vor dem Ofen. Die Weiber vom Dorf stellen keine Junge dort hin. Man weiß ja, wie die Jungen sind! Wenn das Herz noch leicht Feuer fängt, ist auch der Flachs und der Hanf nicht sicher.

Bei der Madel aber ist keine Gefahr mehr. Der Schnee liegt schon längst auf ihrem achtzigjährigen Kopf. Und kein Schnee kühlt besser als just diese Sorte.

Ich kenne sie lange schon, die Alte, und habe sie oft in voller Tätigkeit am Dörrofen gesehen. Sie hat dann die Ärmel aufgestreift, daß die mit braunfleckiger Haut überzogenen Röhrenknochen, die sie ihre Arme nennt, sichtbar werden. Das braune Kröpflein baumelt oben über dem Hemdstreifen, und in den tiefen Furchen und Runzeln des Gesichts klebt Asche und Ruß.

Schön im landläufigen Sinn ist sie dann nicht, 22 die Madel; aber wer nicht versessen ist aufs Landläufige, der kommt bei der Alten auf seine Rechnung.

Aus dem beschmutzten Gesicht spricht höchste Hingabe an eine übernommene Pflicht. Sorgsamste Treue, heiligster Eifer und das Bewußtsein einer schweren Verantwortung schauen zwischen Ruß und Asche aus den Runzeln der welken Haut. Das sind Reize, die so manchem glatten Lärvchen abgehen. Vor Jahren sei die Madel eines schönen Tags am Sterben gewesen.

»Lieber Herrgott,« habe sie damals gebetet, »du ka'st doch mi net sterbe lau! Wer soll denn no Flaa'hs dörre?« –

Und der liebe Herrgott hat offenbar auch keinen passenden Ersatz auf den wichtigen Posten gewußt, denn er ließ die Madel dem Dorf und dem Dörrofen.

Heute, als ich zwischen den Wiesen daherschlendere, den Pappeln und dem Weiher zu, sehe ich die Alte am Rain neben dem Ofen sitzen, an dem's doch zu dieser Jahreszeit noch nichts zu tun gibt.

Sie sieht aber auch nicht aus, als sei sie arbeitshalber da. Ein Feiertagsglanz liegt zwischen den Runzeln, und um das Kröpflein spielen Sonntagslichter. Die schneeigen Haare sind frisch gekämmt und weiße Hemdärmel decken die Knochenarme. 23

Sie kaut etwas, die Alte. Ich sehe den eingesunkenen Mund die mahlenden, zerreibenden Bewegungen der Zahnlosen machen.

»Grüß Gott, Madel,« sage ich, »schmeckt's?«

Verstohlen deckt sie die Schürze über etwas, das ich nicht sehen soll und faltet scheinheilig die Hände im Schoß.

»Jo,« nickt sie dann kurz angebunden.

Ich kann's mit Händen greifen, daß ich hier überflüssig bin; aber wenn einer nun schon 'mal Leut' sucht, Leut' vom Schwarzwald, dann darf er kein allzu zartes Fell haben. Umständlich lasse ich mich neben der Alten nieder auf den Rain, an dem die Grillen zirpen.

Ich sehe es, wie Unbehagen oder Ärger oder Verlegenheit über meiner Nachbarin Gesicht gehen; aber ich verhärte mein Herz im Dienste der Wissenschaft.

Schweigend sitze ich und sehe die verräucherten Ritzen der Ofenwand vor mir an. Ich kann warten. Wer warten kann, ist immer im Vorteil einem Ungeduldigen gegenüber. Und ungeduldig ist die Madel, das sieht ein Blinder.

»Wöllet Se 'uf Calw?«

»Ja, ich will nach Calw.«

»'s ischt no drei guete Stond.«

»Ich mach's in zwei.«

»'s könnt no e Wetter komme heut!« 24

»Ich habe meinen Schirm.«

Lange Pause. Die scheinheiligen Hände auf der geheimnisbergenden Schürze zucken ein paarmal.

Ich fühle ein menschliches Rühren.

»Madel,« sage ich, »esset doch weiter, vor mir brauchet Ihr Euch nicht zu genieren.«

Sie sieht auf mit unsicheren Augen. Dann schluckt sie, und ich weiß genau, sie hat eben eine Lüge geschluckt, die ans Tageslicht wollte.

Plötzlich, mit einem hastigen Ruck, als sei sie zu einem verzweifelten Entschluß gekommen, zieht sie die Schürze beiseite. Eine appetitliche, angebissene Wurst und ein weißes Brot kommen zum Vorschein.

»Da seh' einer her!« sage ich ehrlich erstaunt, denn ich kenne die gebräuchliche Kost da oben und weiß, daß Wurst und Weißbrot sonst nicht auf dem Speisezettel der Waldweiber stehen. Die Alte deckt ihre dürren Hände über die Schätze und schaut mich an. Ein scheues, verschämtes Leuchten sehe ich in ihren Augen und dann die trotzige, fast herausfordernde Frage: was geht's dich an? – –

Nein, mich geht's nichts an und ich frage nicht. Meinetwegen kannst du Schnepfen und Kaviar speisen, alte Madel – ich frage nicht. Aber ich weiß, daß du mir um so sicherer erklären wirst, wie die Wurst und das Weißbrot den Weg fanden in deine gekrümmten, zitternden Hände. Denn 25 eher läßt ein Bauer von dort oben den Verdacht eines Mordes auf sich ruhen, als den Verdacht unmotivierten Wurst- und Weißbrotessens. Naschhaft und verschwenderisch sein, das gilt für die verächtlichste, die verderblichste Untugend, ja für den Anfang vom Ende.

Geräuschlos, verstohlen ißt die Alte weiter.

Die Wespen, die zwischen den Ritzen des Dörrofens nisten, umschwirren uns beide in frecher Begehrlichkeit.

Die Madel schlägt nach ihnen und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

Dann lacht sie kichernd auf. »Geltet Se, Herr, wenn des Ziefer e mol so alt ist wie i, – –«

Ich verstehe nicht, was sie meint und lache aus Gefälligkeit mit. Auf einmal legt sie mir die Hand auf den Arm und sieht mich an, ernst, mit einem ganz verinnerlichten Blick: »Wie hot jetzt an d'r Schultes g'sait, daß mer's heiße tät, ond wer's ei'g'richt' hätt?« –

Ratlos und blöd schaue ich auf die Fragende. Ob sie wohl wirr ist im alten Kopf?

Jetzt schüttelt sie meinen Arm wie in großer Ungeduld.

»Ha, des müsset Sie doch wisse, des wisset doch die Herre von der Stadt.«

Ich schäme mich, daß mein Wissen hinter dem 26 der normalen Stadtherren soweit zurückbleibt; aber ich weiß schlechterdings nicht – –

»Ha no,« fährt die Alte fort, läßt meinen Arm los und streicht die Schürze glatt – »wenn mer e mol alt ist und nix meh schaffe ka' und kriegt doch Geld vo' der Post, oder vom Schultes, oder was weiß i – wie heißt mer denn no des –?«

Mir geht ein helles Licht auf.

»Altersrente,« stammle ich.

»Ha jo, Altersrente – so hot der Schultes g'sait, ond e alter Kaiser ond so Herre häbet's ei'g'richt, extra für so alte Weiber und Manne, wo nemme schaffe könnet. – Ha, meiner Lebtag han i so no nix g'hört! Heut han i's zum erstemol kriegt, und der Schultes sächt, i krieg's jetzt älle Monat. Und wenn er mi wär, hot er g'sait, no tät er sich jetzt glei ebbes Guets – i häb's jo jetzt dazue. No han i mer bei 's Brenners Gottlieb die Wurst und des Weißbrot 'kauft. – Lieber Heiland, wer hätt' an des glaubt! – Älleweil, so weit i z'ruckdenke ko, ist's Geld so rar gwe bei mir, – und jetzt kommt's mit d'r Post. Wievielmol han i mer in meine junge Johr g'wünscht: ich möcht' no au reich sei, daß i mer hie und do a Wurst kaufe könnt, und jetzt langt's au no Weißbrot. – –«

Die Alte hält ihre runzeligen Hände gefaltet und schüttelt wieder und wieder den Kopf wie in 27 ungläubigster Verwunderung. Das Kröpflein wackelt und mit den weißen Haaren spielt der Wind. Ich sitze verstummt, und ich denke: Lieber Freund, was hast du jetzt davon, daß du Leut' suchtest im Schwarzwald? – Schämen mußt du dich, so recht gründlich und von Herzen schämen – weiter nichts. Und weil man sich nicht gerne allein schämt, so sehe ich mich nach Genossen um. Da fallen sie mir alle ein, die, die ihre klugen Mäuler so weit aufreißen, alle die, die unseres alten Kaisers und unseres Bismarcks gewaltiges Werk mit einem einzigen Wort ihres Mundes abtun, alle die, die unsere sozialpolitischen Wohlfahrtseinrichtungen in ihrer ganzen »Lumpigkeit« erkennen. Und auch die fallen mir ein, die unter dem »toujours perdrix« seufzen, die, denen die Zusammenstellung der täglichen Tischkarte schwere Sorgen macht, die, die mit Mühe und Not durch sechs Wochen Karlsbad paralysieren können, was sie durch die übrigen sechsundvierzig Wochen angerichtet haben. – –

Ich ziehe meinen Hut vor der Madel so tief, wie vor jemand, von dem man vieles gelernt hat; und ich drücke mich aus ihrer Nähe so eilig, wie aus der Nähe eines Menschen, von dem man eventuell noch viel mehr lernen könnte. Kein vernünftiger Mensch, der etwas auf das Gleichgewicht, den Gleichmut seiner lieben Seele hält, wird ohne 28 Not neben einem kropfigen Weiblein sitzen bleiben, das Gott und sein Geschick und die Lindigkeit der menschlichen Gesellschaft preist um einer Wurst willen. –

Talwärts wandre ich durch eine hohle Gasse, deren zerrissene, sandige Ränder vom schlechten Wurzelwerk der Föhren durchzogen und gehalten sind.

Lieber wieder der Stadt zu! Dort wo die Menschen durcheinander wimmeln, dort merkt man gar nicht, daß es Leut' gibt. Dort ist einem wohl in seiner Haut, weil man des unangefochtenen Glaubens lebt und leben kann, diese Haut sei ganz vorzüglich.

Da oben auf der Höhe will jeder Stoffel an diesem Glauben rütteln. Stolpernd, kletternd und rutschend strebe ich zu Tal, da verliert sich mein Weg unvermutet in einer sanftgeneigten weiten, heidelbeerbestandenen Fläche. Wie stattliche Oasen ragen aus dem Beerengestrüpp prächtige Gruppen hoher Farne, deren weitausladende Wedel im warmen Winde nicken und ihren sonderbaren Duft, der wie ein Extrakt der stillen großen Waldesschönheit anmutet, zu mir her schicken.

Schon wollen die Schwarzwälder im Hintergrunde meiner wankelmütigen Seele untertauchen, und der Schwarzwald, der alte, langvertraute will seinen breiten Platz wieder einnehmen, da kreuzt 29 noch ein Exemplar der Gattung »Leut« meinen Weg.

Seitwärts hinter den Farnen sehe ich etwas liegen, das ein Mensch sein muß.

Heiß und kalt geht mir's über den Rücken. So liegt kein wegmüder Wanderer, so liegt auch kein Betrunkener, so liegt sicher nur – – –. Ich mag's nicht ausdenken.

Die nackten, unten tiefgebräunten, oben weißen Arme weit über den Kopf geschlagen, liegt die Gestalt dort an der Erde, als sei sie schwer vornüber aufs Gesicht gefallen.

Scheu gehe ich näher, und ich sehe die großen braunen Ameisen, »die Klemmer«, wie der Schwarzwälder sagt, über Nacken, Haare und Arme des Reglosen laufen.

Eine Flut der ungeheuerlichsten Gedanken kreuzt mein Hirn. Ich fühle, wie meine Augen sich weiten, dem herannahenden Entsetzen entgegen.

Noch einen bangen Schritt – da wendet der schnöd Hingemordete den Kopf halblinks nach mir, und ein unliebsam erstaunter Blick fragt: »Was hast denn du da herumzustöbern?«

Ich atme tief auf, und ich fühle die gewaltige Spannung in mir so rasch nachlassen, daß sie in jähen, unbezwinglichen Ärger umschlägt.

»Was treibt denn Ihr da für dummen Unfug?« 30 frage ich, und meine Stimme klingt mir selbst fremd und erinnert mich lebhaft an die Stimme des Polizisten, der in der Stadt drunten über die heilige Ordnung und die unheiligen Gassenbuben wacht.

Der Gemaßregelte wälzt sich träg auf die Seite und betrachtet mich vom Fuß bis zum Kopfe.

»I«, sagt er, »i lieg en de Amoise!«

»In was?« stoße ich, immer noch fassungslos, hervor.

»En de Klemmer, wenn 'n sell lieber ist,« sagt er und lacht, daß zwei Reihen schneeweißer kerngesunder Zähne sichtbar werden.

Ich schöpfe tief Atem. »Ja warum liegt Ihr denn in den Ameisen?«

»Ha, worom wurd mer denn in de Amoise liege? – weil i 's Reiße han in de Ärm und weil's do nix Besser's dafür geit –!«

Mir läuft ein Gruseln über den Rücken. Wahrhaftig, dieser Mensch liegt mit Armen und Oberkörper in einem Bau der großen Ameise und läßt sich sein Reißen durch Zwicken kurieren.

»Aber Mann,« stammle ich überwältigt, »da würde ich doch lieber zum Doktor gehen.«

Er lacht wieder hell auf. »Do wär i e Esel! D' Amoise kostet nix und helfet, und der Doktor kostet und hilft nix. Wenn Se emol 's Reiße hänt,« fährt er überredend fort, »no probieret Se 31 gar net lang ebbes anderschts – no glei en d'Amoise. I weiß g'wiß, 's hilft. Die Doktor, die machet ei'm bloß de Mage und de Geldbeutel he!« Vergnügt wühlt er sich tiefer hinein in den wimmelnden Bau und grinst zu mir empor.

In mir beginnt eine an Bewunderung grenzende Achtung vor diesem heldenhaften Gegner der Schulmedizin Platz zu greifen, und zugleich freue ich mich, nicht zur Jüngerschaft des alten Äskulap zu zählen. Denn wenn die Menschheit einmal anfängt, lieber »en d' Amoise« zu liegen, als zum Doktor zu gehen, dann steht die ganze ärztliche Herrlichkeit nur noch auf tönernen Füßen.

Meine wärmsten Wünsche für seinen Kurerfolg lasse ich dem Liegenden zurück, dann strebe ich weiter.

Immer wieder läuft mir's ein bißchen kalt über den Leib, immer wieder muß ich meine Kleider verstohlen schütteln, und immer wieder kommt mir der Gedanke: nur nie »'s Reiße kriege«!

* * *

»War's schön?« fragte mich anderntags ein Freund, der von meiner Tour wußte.

»Sehr schön,« bestätigte ich.

»Alles beim alten dort oben?« fuhr er fort und gähnte dazu. 32

»Nein,« sagte ich nachdrücklich, »ich habe von einem kleinen Schulmeisterlein etwas Neues erfahren: Im Schwarzwald gibt's Leut!« –

Mein Freund sah mich an und pfiff dann durch die Zähne. Ich weiß nicht, was er sich gedacht hat. – 33



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