Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

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Vor dem Schulhaus, in das er nun wieder zurückgekehrt ist, saß der Schulmeister Müller in der warmen Frühlingssonne. Wir blieben bei ihm stehen und erzählten ihm von der zersprungenen Unglücksröhre.

Er hatte die Hände auf dem Stockgriff liegen, schüttelte das große, von der Krankheit fast kahl gewordene Haupt und hielt uns aus dem Stegreif eine lange Rede über die Zulassungen Gottes.

Wieder sagte Martin nichts. Kein Wort. Seine Augen waren in die lichte Ferne gerichtet; aber es war kein Widerschein des sonnigen Tages darin.

Auch in mir war es so wunderlich still. Früher hätte ich Mühe gehabt, dem wuchtigen Mann nicht in die triefendschwere Rede zu fahren. Heute kam mir alles so nichtig vor, so nicht der Mühe wert.

Es ist ja doch ein andrer da, der korrigiert. Mich braucht man nicht. 273

Die glitzernden Blätter der Silberpappel sah ich auf ihren zarten Stielen zittern; ich fühlte die warme Sonne auf meinem Rücken und sah ihr Spiegelbild in den großen, blanken Scheiben des Schulhauses.

Eine große, sehnsüchtige Mattigkeit war in mir.

Ich hätte meine Waffen abgeben und meine Rüstung ablegen mögen, und hätte den warmen Lenzwind durch ein ganz dünnes Kittelein blasen lassen mögen.

Des Schulmeisters Frauchen kam und entschuldigte sich, daß sie nicht schon lange Stühle gebracht habe; »aber – aber –« Sie kam mit ihrer stammelnden Rede nicht zurecht und blickte mit scheuem Lächeln ratlos um sich.

»Minele, daß mei Supp net a'brennt!« sagte der Schulmeister.

Da seufzte sie auf: »Ach Gott, ja!« und enteilte.

*

Der Mai ist jetzt da.

Die Höhe steht in junger Pracht wie eine Braut. Früher und schöner als sonst ist auf den harten Winter hin die Herrlichkeit gekommen.

Wenn ich zu Ferdinands Häuschen hinauswandere, stehen blühende Hecken Spalier, und im duftenden Blütengewirr jubeln und lärmen die Finken. Die wilden Rosen schauen übers Feld, 274 und am Holunder formen sich die Dolden ihrer schwülen Blust entgegen.

Alles darf blühen, wenn seine Zeit kommt.

Um das Häuschen aber, das in der Sonne liegt, schleicht der Tod.

Mit Zagen trete ich jeden lieben Tag unter die Türe. Wie wird's stehen? –

Der Hansjörg hat scheue Augen wie ein Hund, der die Peitsche sieht. Er erbarmt mich in der tiefsten Seele, der verkommene Mann.

»Hansjörg,« habe ich zu ihm gesagt, »Gott wird barmherzig sein.«

Er nahm mich am Aermel. »Frau Pfarrer, wenn mei Agathle stirbt, no ischt's letz.« – Es war wie eine Drohung, die mir durch Mark und Bein ging.

»Betet lieber, Hansjörg,« wollte ich sagen; aber der Blick, der in des Mannes kleinen Augen war, schloß mir den Mund. Nur die abseits von Gott stehen, darf man herbeirufen. Hat aber einer erst einmal angebunden mit seinem Herrgott, in Gutem oder auch, wie hier, in Bösem, dann muß man die beiden ihre Sache allein ausmachen lassen. Gott braucht keine Helfershelfer.

Ich weiß nicht, wer Martin die böse Kunde gebracht hat. Verstört sieht er mir entgegen, so oft ich von draußen komme.

Ich merke gut, daß er mit mir reden will 275 und die Worte oder den Mut nicht findet. Er scheint zu glauben, ich verachte ihn. Sechs Jahre haben wir nebeneinander hingelebt und haben uns nicht gekannt. Und kennen uns heute noch nicht.

Wie soll's denn werden? –

Agathle, stirb nicht! Mit den Toten ist so schrecklich schwer zu konkurrieren, von den Toten ist so bös zu lernen.

Und ich will es aufnehmen mit dir, Agathle. Ich will lernen von dir, wie man den Großen zu sich herzwingt, meinen Großen! Bleib da, Agathle! Wenn du tot wärest, müßte ich dich fürchten, jede Stunde!

Tag um Tag sitze ich an ihrem Bett und lerne, lerne.

Sie kämpft einen bösen Kampf. Ich will nicht viel davon erzählen. Von solcher Not reden nur die gern und breit, die nie dabei waren.

Auch im hohen Fieber, wenn ihr schönes, schmales Gesicht glüht, redet sie nicht. Herb geschlossen bleiben die dünnen Lippen. Es sieht aus, als wolle dieses Mädchen bis in Schlaf und Besinnungslosigkeit und Tod hinein sich die Zügel nicht entgleiten lassen.

Das, meine ich, sind die Herrenmenschen. Nicht die, die jedem Ruck am Zügel nachgeben und sich was darauf zugut tun. 276

Die Nähkätter ist sehr viel draußen. Man kann sie brauchen, weil ihre Hände vor nichts zurückzucken und ihre derbe Kraft nie versagt.

Sie flüstert oft Sprüchlein, die in keinem Spruchbuch und in keinem Katechismus stehen. Sie sollen gut sein gegen Fieber und Todesnot.

Ich höre es wohl, aber ich mag's ihr nicht verweisen.

Ich habe solche Angst, in irgend etwas dreinzureden, was mit Glauben zusammenhängt. Die alte Norm, die alte Grenze ist mir verloren gegangen und eine neue habe ich noch nicht. Werde ich vielleicht auch nie haben. Was kann ich denn da gute Lehren geben! – Ich taste mich so durch und lasse andre auch tasten und hoffe, daß Gott den Willen ansieht und den Hunger und Durst, der in uns allen steckt.

Das Agathle hat auch solch ein Sprüchlein gehört. Mitten in ihre großen Schmerzen hinein klang's.

Da hat sie der Nähkätter zugenickt. »Vergelt's Gott, Kätter, du mei'st's gut.«

Ich lerne, lerne.

Man hat auf des Doktors Befehl dem Agathle die Haare abgeschnitten. Merkwürdig verändert steht sie jetzt aus. Die schmale Nase, die Stirne mit den etwas eingesunkenen Schläfen, die Augen, 277 die jetzt so tief liegen, passen gut zu dem kurzen, wirren, früher immer zu straff gekämmten Haar. Es ist nichts Weiches mehr in diesen Zügen, seit Augen und Mund den fröhlichen Glanz der gesunden Tage verloren haben. Ein ernstes, stilles Knabengesicht scheint in den Kissen zu liegen.

Die Nähkätter nahm die Zöpfe des Mädchens unter Schwester Christines Schere weg und brachte sie heraus in die vordere Stube, wo ich mit Ferdinand und Hansjörg am Tisch stand.

»Hansjörg,« sagte sie laut und feierlich, »do nimm dei'm Mädle seine Hoor und vergrab se heut nacht unter e Weid am Bach. Leg drei Vaterunser mit nei; aber drei rechte, laß de vo niemerd b'schreie und han en feste Glaube, no wirst sehe, daß d' Kranket mit dei's Agathles Zöpf im Bode fault.« –

Ich sah, wie in des Blinden Gesicht ein gespannter Ausdruck trat. Der Trinker nahm die langen, zerzausten Zöpfe mit stark zitternden Händen.

Er blickte auf mich, dann auf den Blinden, als erwarte er, daß wir etwas sagen sollten.

»Schwätz net raus, Kätter,« murmelte er dann scheu, und als gebe er sich innerlich einen Ruck, setzte er laut und grob hinzu: »Wenn i mi no au mit so saudumm Dengs a'ge' müeßt.«

Die Kätter griff wieder nach den Haaren. 278

»Her mit, du Lohle!Schlafmütze, lauer Kerl. Wenn's dir net um dei Agathle ist – no –«

»Die Zöpf send mei,« stieß der Bauer heiser hervor und trat zurück, »was weißt denn du, wie's mir ischt.«

»No ließ'st d' d'r au ebbes sage, du sterrichersteif, störrisch. Blitz du!«

»D' Hoor verfaulet jo gar net, du G'scheitle,« schrie der Hansjörg dagegen; »i weiß sell guet, 's Totegräbers Gottlieb hot mer's scho oft g'sait.«

»'s Totegräbers Gottlieb soll sei Maul halte,« zeterte die Nähkätter. »Desz'weg mueßt's jo am Bach vergrabe, wo 's Wasser na ka! I kenn mi doch aus, mir wirst doch so Sach net sage wölle.« –

Es war einen Augenblick still in der Stube. Das Weib und der Bauer, der die Zöpfe hielt, maßen sich mit feindseligen Blicken.

Auf einmal kehrte sich der Hansjörg ab. »Was meinet denn Sie?« fragte er ganz leise, und man wußte nicht, galt es mir oder dem Blinden.

Wir sagten beide nichts. Der Ferdinand wartete wahrscheinlich auf meine Antwort; ich war gespannt auf die seinige. 279

Ehe dann eines von uns den Mund auftat, legte die Nähkätter eine ihrer großen Hände schwer auf Hansjörgs Schulter. »Wickel deine Zöpf ei und gang! Wer lang frogt, goht lang irr. Bei so Sache b'sinnt mer sich net lang. Hilft's – no ischt's recht, hilft's net – no ka'st nix mache. 's ist jo beim Bete an net anderst und bei d'r Arznei au net. Mit 'm Nervefieber, des send halt so Sache. Wenn aber des Mädle mei wär, Hansjörg, i tät, was i könnt« – damit schritt sie aus der Türe und der Bauer hinter ihr her.

»Ferdinand,« sagte ich scheu, »wir hätten nicht schweigen sollen.«

Er zuckte die Achseln. »Mir sind bis zum heutigen Tag alle Bohrer abgebrochen an dem Alten. Soll ich dann dreinreden, wenn ich sehe, daß die Kätter mehr Glück hat? Ich hätte ja an sich gewiß gerne gesagt, der Hansjörg solle es mit den Vaterunsern allein probieren; aber wo so viel auf dem Spiel steht, lasse ich meine Hände weg. Experimente darf man mit gutem Gewissen nur vormachen, wenn man alle Eventualitäten in der Hand hat. Für sich allein – ja, da kann man wohl tun, was man will; aber wenn andre mitriskieren, dann muß man seiner Sache sicher sein.

Da ist mir's denn doch lieber, die Nähkätter blamiert sich, wenn es je soweit kommt, als ich.« 280

Ein kurzes, fröhliches Lächeln glitt über sein Gesicht. »Und wenn es tatsächlich hilft, das mit den Zöpfen,« fuhr er fast schelmisch fort, »nun ja – die Ehre Gottes und die Natur des Typhus wird nicht aus der Bahn kommen, weil der Hansjörg Hindermann von Andersberg im Schwarzwald ein wenig nebenhinaus glaubt.«

»Wer doch so gelassen sein könnte wie Sie, Ferdinand!« sagte ich.

Er zuckte die Achseln. »Das Alter,« entgegnete er heiter, »das Alter macht gelassen. Wer lang genug gelebt hat, der weiß, daß man die Dinge ruhig nehmen und immer von Fall zu Fall behandeln muß. Sobald man so weit ist, daß man nicht mehr meint, alles und jedes müsse in ein System gebracht und nach einem System behandelt werden – dann gibt's Frieden. Das Systematisieren, diese große und hartnäckige Jugendkrankheit der Menschen, bringt uns immerfort die Welt so bös durcheinander.«

*

Am Abend nach diesem Tag habe ich Martin gebeten, sich einmal nach dem Hansjörg umzusehen. »Ich weiß,« sagte ich, »daß der Alte dir kein gutes Wort, das du ihm sagen wirst, vor die Füße werfen wird. Er ist aufgerüttelt. Der Pflug ist über ihn gegangen.« 281

»Steht's so schlimm?« fragte Martin tonlos.

»Ach,« schluchzte ich auf, »sie muß so furchtbar leiden.«

In seinen Augen blitzte es auf, wie ich es nie gesehen.

Dann nahm er meine Hand und preßte sie gegen seine Stirne.

»Martha,« murmelte er, »bete doch du für sie; ich wag's ja nicht.« Er schluchzte auf und wandte sich ab.

Da habe ich die halbe Nacht geweint, weil nun auch er, der so reich war, sich bankrott erklären mußte.

*

Mit dem alten Lörcher geht's so nach und nach zu Ende.

Martin ist sehr viel bei ihm. Ich glaube, es zieht ihn zu diesem Mann, wie mich zum Ferdinand. Wenn man in einem Menschen die eigne Art wittert, die eigne Art, nur fertiger und schlackenreiner, dann möchte man sich gerne dem Menschen zu Füßen setzen und zu ihm aufschauen mit der Frage: »Wie hast denn du es je und je gehalten?«

Immer und immer wieder möchte man auf diese Weise Lehrgeld sparen und Lektionen schinden, auch dann noch, wenn man sich längst darüber klar geworden ist, daß in alle Ewigkeit nur 282 das unser Eigen wird, für das wir auch bezahlen.

Der stille, nüchterne, weißhaarige Gemeinderat ist Martin von der ersten Stunde unsers Hierseins an viel gewesen.

Sein zustimmendes Kopfnicken hat bei mancher Predigt des Pfarrers Stimme freudig und zuversichtlich anschwellen gemacht. Martins Zensor war der Alte, und sie haben nie Differenzen gehabt.

Es ist mehr eine Art Altersschwäche, die den Mann nicht mehr aufkommen läßt. Die Krankheit selbst war ganz leicht und ging rasch vorüber.

Am Sonntag nachmittag war ich mit Martin dort.

Ein großer Apfelbaum, dessen letzte Blütenblätter im lauen Wind durchs offene Fenster wirbelten, steht vor dem Haus, so daß die Sonne nur goldene Flecken in die Stube werfen konnte. In unser »Spital« ließ Lörcher sich absolut nicht schaffen.

Ein schwerhöriges, dürres Wesen, die M'riemadel, besorgt schon seit vielen Jahren dem Gemeinderat das schöne Hauswesen. Sie tat uns auf und ging dann davon.

Der Alte richtete sich in seinen hohen weißen Kissen auf, als wir kamen, und griff zittrig nach der Zipfelmütze. 283

»Jo, jo,« sagte er nach der Begrüßung, »jetzt goht's halt ummeHinum.

Ich wollte ihm Hoffnung machen, wie das so landläufiger Brauch ist, aber er winkte ab.

»I gang gern! O Jerusalem, du Schöne, da man Gott beständig ehrt!« Er murmelte es, die wässerigen, weißbewimperten Augen gegen die niedere Balkendecke gewendet, die verkrümmten, knochigen Hände auf dem Deckbett gefaltet.

Geräuschlos setzte sich Martin ans Lager. Ich stand neben seinem Stuhl.

Ich sah, wie er die Brille ein paarmal nacheinander gegen die Augen drückte, dann legte er seine große weiße Rechte auf des Mannes gefaltete Hände: »Sagt weiter, Lörcher,« murmelte er.

Der Alte wandte den Kopf: »'s ischt Nr. 644 im G'sangbuch, 's ischt mei Leiblied. Aelle Obed han i's g'lese, seit i konfirmiert be. Jetzt bin i froh drum.«

Es blieb lange still in der Stube; die goldenen Flecken auf Tisch und Fußboden wanderten lautlos hin und her, weil der Wind im Apfelbaum spielte.

»Möcht wisse,« sagte der Bauer jetzt in verändertem Ton, und in seinen Augen war ein ernstes Sinnen, »möcht wisse, ob i 's Hindermanns Bärbele au sieh –?« 284

»Wen?« fragte ich, denn es fiel mir nicht sofort ein, wen er meinte.

Er schaute zu mir her. »Ha, mei Weib, wisset Se, 's Hindermanns Bärbele ischt doch mei Weib g'wä.«

Ganz trocken und kühl sprach er, als habe dieses Hindermanns Bärbele niemals in sein Leben gegriffen.

Mich dauerte auf einmal die Tote.

»Möchtet Ihr sie sehen?« fragte ich leise und lauernd.

Der alte Mann entzog seine Finger Martins Hand. »Jo, jo, sehe möcht i se scho no mol. Sie ischt halt jung g'wä, sellmol, und e weng leicht! Aber se hot au kei Mueter g'hätt. Und wie ischt mer, wenn mer jung ischt! D' Mädle send uf d' Buebe nei und d' Buebe uf d' Mädle. Des ischt scho zu 's Königs Davids Zeite so g'wä und des machet mir net anderst. Geltet Se, Herr Pfarrer?«

Er richtete sich auf einmal höher auf und sah erst mir und dann Martin ins Gesicht. Dann fuhr er sonderbar hastig fort: »Daß i's no grad sag! 's druckt me scho lang und 's mueß raus! I be im Pfarrkeller hinter mei'm große Grummbirehaufe drommeg'stande, wo 's Hansjörgs Agathle so g'heult hot. Sie wern's jo wisse, Herr Pfarrer. Sellmols han i denkt: wenn e Herr wie unser 285 Pfarrer, so e rechter und ufrechter Ma, do net drumnommkomme ischt – no derf i mei Bärbele au net ganz wegschmeiße! Des – bloß des möcht i ihre sage, wenn i se sehe tät.«

Martin hatte mit einem Ruck seinen Stuhl zurückgeschoben. Es war, als sehe er etwas Schreckliches vor sich. Das Entsetzen stand in seinen Augen. Das hatte er nicht geahnt, daß noch ein Mensch um seine Schuld wisse.

Sein Blick glitt an mir empor.

Ich wollte etwas sagen. Wollte über das Nackte, Kahle, was der Lörcher so trocken und ruhig vorgebracht hatte, irgendein Mäntelchen, eine Hülle werfen; aber mir fiel nichts ein. Wie gelähmt war ich. Deshalb also hatte sich der stille Alte in der letzten Zeit dann und wann an mich herangemacht!

Lörcher schien nicht zu sehen, daß wir zwei ganz aus der Bahn geworfen waren. Ruhig legte er sich zurecht und fuhr fort:

»Ueberhaupt, wenn mer so d'r Zeit hot, daß mer an ällem rumsinniert, no kommt ei'm manches anderst für, als sonst. D'r Ferdinand sächt ällemol: 's ischt kei Häusle so g'scheit baut, daß mer's net anderst baue tät, wenn mer's no emol baue dürft. I hätt vielleicht mei Evele doch net ganz von mer to solle. Des send so Sache! Wird se jetzt den Brief han, Herr Pfarrer, 286 wo i ere g'schriebe han, am Sonntich vor drei Woche?«

Martin antwortete nicht. Ich glaube nicht, daß er ein Wort von dem, was Lörcher vorbrachte, verstanden hat.

Regungslos, mit starrem Blick saß er da.

»Ja,« sagte ich leise, »den Brief hat sie längst.«

Der Alte nickte. »No kommt se vielleicht doch no, eh i stirb. 's wär mir recht, sell. Sie ist so e saubers und e g'scheits Menschle g'wä.« Er schaute vor sich hin und lächelte.

»Und no, Herr Pfarrer, tät i Sie bitte, daß Se sich e weng annehme tätet um mei Evele. 's ischt jo nie z' spot!«

Martin schüttelte sich auf einmal, als sei ihm kalt oder als ekle ihm.

»Lörcher,« stieß er hervor, »Ihr wißt das – das – und Ihr verachtet mich nicht!«

Ueber des alten Mannes Gesicht ging ein Zug von erschrecktem Staunen. »Sie send doch der Pfarrer und e rechter Pfarrer!« sagte er laut und schwer. »Meinet Sie, i häb net aufpaßt äll die Zeit her? Meinet Sie, i merk net au, was e rechter Pfarrer ischt? Sonntich für Sonntich hot mer sich bei Ihne hole könne, was der Brauch ischt! Do geit's nix. Des mit 's Hansjörgs Agathle, des ist halt über Sie komme, wie über jeden Mensche emol ebbes kommt. I han's 287 glei zur Frau g'sagt; han i's net g'sagt, Frau Pfarrer? 's hot scho ällbott ebbes g'wackelt und ischt wieder fest worde! Noi, wenn mer no nie z' Andersberg en schlechtere Pfarrer g'hät hättet! Zum Agathle han i's au g'sagt. ›Agathle,‹ han i g'sagt, ›derstDarfst. jetzt net meine, dei Herr sei nix. Des ist e rechter Herr, bloß du mußt aus em Haus! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.‹ Sie hot g'heult, 's Agathle. ›Lörchersvetter,‹ hot se g'sagt, ›Ihr brauchet mir des net z' sage. I kenn mi scho lang aus. D'r Herr ischt recht und d' Frau ischt recht, aber jedes goht halt sei's Wegs und des ischt nix. O, wenn i die Frau wär, i tät's anderst mache.‹«

Der Alte schwieg und sah mir ins Gesicht mit seinem ruhigen Blick, als erwarte er, daß jetzt ich zur Sache rede.

Mir war zumute, als habe der alte Bauer da vor mir mit seinen verkrümmten Händen soeben eine wüste Wirrnis kurzweg gerodet und geordnet und gangbar gemacht.

Ganz einfach war auf einmal alles. Alle Komplikationen fielen weg, wie die reifen Eicheln aus den Hülsen fallen.

»Lörcher,« sagte ich fest und ruhig, »das Agathle hat recht. Ich habe meine Sache schlecht 288 gemacht. Ich hab's nicht gewußt. Aber jetzt weiß ich's.«

»Jo, jo,« entgegnete der Alte, »mer lernt nie aus und wenn mer so alt wird wie der Methusalem.«

Dann, als sei jetzt alles abgetan und geordnet, wandte er sich Martin zu: »Sell, Herr Pfarrer, wenn Se mer no emol sage tätet, wie i's mache muß, wenn i d'r Kirchepfleg ebbes vermache will –«

Martin griff sich an den Hals. »Morgen, Lörcher, ich will morgen kommen.«

»'s ischt jo wohr, 's ischt Sonntich heut! Sie werdet no meh Leut b'suche wölle. Was macht denn au 's Agathle? Mei M'riemadel hot mer g'sagt, daß se au lieg. Ei ei ei, 's ischt e böse Sach mit dem Nervefieber. Ja no – dringt das liebe Kreuz herein mit dem bitteren Leide, laß es dringen! Kommt es doch von geliebten Händen! Schnell zerbricht des Kreuzes Joch, wenn es Gott will wenden!«

Langsam, mit gefalteten Händen sprach der Alte den Vers, und die Sonne spielte heran bis an die weißen Kissen, auf denen der schmale, welke Kopf lag.

Still gingen wir.

Die schwarzen Spitzerhunde kläfften in der sonnigen Gasse, und in den trockenen Rinnen am 289 Weg lagen weiße Blütenblätter wie Schnee, den der Wind zusammengeweht hat.

Wir sprachen nicht.

Den alten Gemeinderat sah ich vor mir, der dazumal an unserm Einzugstag den Kirchenrock umwendete, daß der Regen das Zwilchfutter traf. Wer doch so wäre! Es ist ja alles so einfach! Ja, es gibt zu lernen in Andersberg, und wenn man so alt wird wie Methusalem.

Man sieht so nach und nach, wie alle Rädlein ineinander greifen.

*

Dem Doktor wollte ich entgegengehen und wollte ihn einmal ganz allein aufs Gewissen fragen, was er vom Agathle halte. An dem großen Kirschbaum, wo der Feldweg gegen die Bachäcker abzweigt, fand ich den Hansjörg auf dem steinigen Rain mitten in den Brombeeren sitzen. Er schaute mir entgegen, als habe er auf mich gewartet, und auf seinem verwitterten Gesicht lag ein Glanz wie von Festtagsfreude.

»Hansjörg, was ist?« rief ich.

»Durch kommt se, Frau Pfarrer, durch kommt se! D'r Doktor ischt vorich do g'wä, er ist heut von Scherbach rufkomme, und er hot g'sagt, jetzt sei se über de Berg.«

Ich sah, daß die blauen Hände des Männleins zitterten und daß ihm das Sprechen schwer fiel. 290

Ich schob mit dem Fuß einen der grauen Steine zurecht und setzte mich neben den Hansjörg.

In dem Kirschbaum lärmten die Stare und warfen zerpickte, halbreife Früchte auf den Rain. Ein Hase lief über den Weg und verschwand im jungen Kartoffelkraut.

Mir war es, als sei die Sonne mit einemmal heller geworden. Jetzt erst fühlte ich, wie schwer die Angst um das Mädchen auf mir gelastet hatte.

»Gott sei Lob und Dank!« sagte ich aus tiefstem Herzen heraus. Das Männlein neben mir saß ganz still und schaute in den klaren Morgen hinein.

Auf einmal schlug er sich auf die spitzen Knie. »Jetzt gang i aber und hol se wieder!«

»Was denn?« fragte ich.

»Ha, die Zöpf, mei's Agathles Zöpf. Des ist doch saudumm Dengs, was ei'm die Kätter do vormacht.«

»Ja, wo habt Ihr sie denn?« fragte ich.

Er stieß ärgerlich mit dem Fuß zwischen die Steine: »Vergrabe han i se doch am Bach drunte, i Simpel, i dummer, aber d' Kätter hot mer jo kei Ruh g'lasse. Wenn mer so in d'r Angst ischt, Frau Pfarrer, was tut mer do net!« Er sah vor sich hin und seine Hände zitterten.

»Hansjörg,« sagte ich leise, »ich nehm's Euch nicht übel.« 291

Er wandte sich mir zu. In seinen roten, tränenden Augen blitzte etwas auf. »Jetzt saget Se mer no, Frau Pfarrer, worum läßt ein jetzt d'r Herrgott so umenander tappe? Früher hot er doch au mit de Leut g'schwätzt. Aell Augeblick ist do er selber oder e Engel dog'stande und hot g'sagt: so und so. Send denn mir Leut net au wert, was selle wert g'wä send? Han i do beim Amerikaner in seinere Bibel g'lese – der Kerle hot oft und vielmol d' Bibel unter sei Kopfekisse g'legt; aber g'lese hot er nie drin – jo, also do han i g'lese vom König David, was der für Lumpereie g'macht hot, und wie der Jakob sein alte Vatter b'schisse hot, und lauter so Dengs. Bin denn i do schlechter, wenn i emol ebbes über de Durst han und sonst nix tu als schaffe zum Verrecke. Worum sieh denn i de Herrgott nie oder en Engel? Worum muß denn i mi uf d' Leut verlau?« Er lachte kurz und giftig auf und blickte mir scharf ins Gesicht.

Ich saß erschrocken und wie vor den Mund geschlagen. Früher hätte ich da zehn Antworten für eine gewußt. Aber in Andersberg verlernt man so leicht das Gescheitsein oder das Schlagfertigsein.

»Hansjörg,« sagte ich dann fast scheu, »vielleicht redet er doch mit uns, der Herrgott, und wir haben nur die Ohren verstopft und die Augen verbunden.« 292

»Ach was,« entgegnete er trocken und wiegte den Kopf, »i han d' Auge und d' Ohre offe. I be kei so Schlofhaub wie d'r Amerikaner oder mei Schwoger, der Betbruder. I guck mi um, aber i sieh nix. Em Herrgott wär's doch e leichts, daß er sich könnt sehe lau, wie früher au.«

Ich schämte mich so, daß mir, der Pfarrerin, jetzt gar nichts Kräftiges einfallen wollte. Und ich hätte mich noch viel mehr geschämt, wenn ich etwas von dem Lauwarmen, was ganz hinten in meiner Seele noch von früher her schlummerte, hätte zutage fördern sollen.

Mit fast angstvollem Suchen schaute ich in den blauen Tag hinein, ob ich denn nicht irgendwo die Himmelsleiter, die doch immer noch auf der Erde aufstehen muß, erkennen möchte.

Den Bussard sah ich, der seine Kreise zog, und eine Lerche, die aus der Furche stieg, und dann eine Staubwolke, die drüben auf der Straße den Pappeln zulief. Da durchzuckte mich's.

»Hansjörg,« sagte ich mühsam, »dort fährt der Doktor! Hätte der heut nicht auch sagen können: Das Agathle ist verloren!«

Das Männlein schaute meinem deutenden Finger nach. Langsam stand er auf, und er ächzte, als schmerzten ihn alle Knochen.

»Frau,« sagte er, »sell ischt wohr.«

Ich stand jetzt neben ihm, und die Stare 293 im Kirschbaum über uns schwirrten in einem Schwarm davon.

»Hansjörg,« stammelte ich, »wenn es nun doch der Herrgott war – –?«

Er nickte. »I hol uf älle Fäll die Zöpf wieder.«

Der Hansjörg schritt den Bachäckern zu, und ich ging heim. Des toten Annemeiles Lied kam mir unvermerkt auf die Lippen: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud!«


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