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Die Maiensonne lag golden und warm auf all den Hügeln, und die letzten aufgeblühten Tulpen zeigten den kahlen Stempel. Buchfinken drehten die klugen Köpfchen in den Buschen, und auf der sonnenwarmen Mauer lagen zwei scheckige Katzen und reckten sich, daß die Krallen hervortraten.
Der scharfe Buchsgeruch, den ich bis in die 33 Kirche hinein gespürt hatte, lag herb in der Luft. Dann und wann trug ein Windhauch sonntägliche Küchendüfte darunter.
Ein eiliger Schritt kam hinter uns her, dann trat der Pfarrherr zu uns, den Hut in der Hand.
»Ich höre eben, daß Sie da sind, Herr Amtsbruder,« sagte er erregt und freudig, »da möchte ich Sie doch dringend an unsern Tisch bitten.«
Martin verbeugte sich. Er überragte den Pfarrer weit. Neben seiner wuchtigen Gestalt sah der andre fast klein aus. Zwei bebrillte Augenpaare trafen sich in fragendem, suchendem Blick.
»Danke vielmals,« entgegnete jetzt Martin zurückhaltend, »ich denke, wir werden im ›Hirsch‹ schon eine Kleinigkeit bekommen.«
»Wir möchten der Frau Pfarrer keine Umstände machen,« fiel ich ein, die Schroffheit der Antwort zu mildern.
Der Mann lächelte, als ob ihn dieses Bedenken belustige.
»Umstände?« sagte er, »meiner Frau macht ja überhaupt nichts Umstände. Die ist wie ein Stehaufmännchen: immer obenauf.«
Auch ich mußte jetzt lächeln; aber Martin blieb zurückhaltend. »Danke wirklich, Herr Pfarrer, danke bestens; aber wir haben so wenig Zeit und – –«
»Aber Sie müssen doch das Pfarrhaus sehen, 34 Ihr künftiges Heim, das ist doch wohl der Zweck Ihres Kommens heute,« fiel ungekränkt der Pfarrer ein.
»Gewiß,« meinte Martin, »und wir werden uns nach Tisch erlauben –«
»Ach, sehen Sie, Herr Amtsbruder, nach Tisch muß ich davon, ins Tal hinunter nach Scherbach, und ich hätte Ihnen so gerne persönlich allerlei ans Herz gelegt. Sprechen Sie doch zu, Fräulein.«
Ich schämte mich plötzlich. Dieser warmherzige Mann wuchs so rasch über Martin und mich hinaus.
»Bitte, Martin, gehen wir mit dem Herrn Pfarrer,« sagte ich leise.
»Martin – Sie heißen Martin?« fragte fröhlich der andre. »Ein guter Name für unsereinen. Aber da fällt mir eben ein, wir kennen uns ja noch gar nicht, das heißt formell. Pfarrer Helmut Stengel.«
Er verneigte sich leicht und gewandt.
»Moserosch,« sagte Martin, »und meine Braut Martha Heller.«
Ich reichte dem Manne die Hand hin.
»Helmut –« sagte ich unwillkürlich, »der Name paßt für Sie.«
Dann fühlte ich, wie ich sehr rot wurde.
»Er paßt, Gott sei Dank!« entgegnete der Pfarrer leise und einfach.
Wir schritten nebeneinander die breite 35 Kirchhofsstaffel hinunter. Auf der staubigen, platzartigen Dorfstraße mit den zwei Lindenbäumen standen dunkle Gruppen von schwatzenden Leuten.
»Jetzt werden Sie kritisiert, Herr Pfarrer,« sagte ich, gewaltsam meine Befangenheit scheuchend.
Des Pfarrers sonniges Gesicht wurde mit einemmal ernst.
»Sonst wohl, wenn es recht gut oder recht schlecht geht. Heute nicht. Heute hat Ihre Anwesenheit meine ganze Predigt eingeschluckt. Sie werden jetzt besprochen. Was ich sagte, ist vorübergerauscht. An den meisten wenigstens,« setzte er hinzu.
Erschreckt sah ich ihn an.
Er zuckte die Achseln und lächelte wieder. »Da ist nichts zu machen, Fräulein Heller. Mancherlei sind die Vögel unter dem Himmel, die den Samen vom Weg und vom Ackerland fressen.«
Martin rückte an seiner Brille: »So steht die Saat dürftig hier oben?« fragte er interessiert.
Pfarrer Stengel schwenkte im Gehen langsam seinen Hut, den er immer noch in der Hand trug.
Gedankenvoll sah er ins Weite. Dann meinte er: »Ich glaube nicht, Herr Amtsbruder. Da und dort sah ich etwas keimen und wachsen und zur Frucht drängen. Nur stand es nicht immer in der Furche, in Reih und Glied. Ich war ja nicht lange hier oben, nur zwei kurze Jahre; 36 aber ich dachte oft: Wenn da einmal der rechte Mann kommt, ein Mann, der den Boden besser versteht als du, der kann Freude erleben.«
Nicht der leiseste Ton von Enttäuschung, von Bitterkeit klang aus der Rede des Mannes und doch ward mir plötzlich so leid um ihn.
»Sie waren nicht gern hier oben?« fragte ich leise.
Er sah mich rasch an. Mir schien's fast, als sei er erstaunt.
»O doch,« versicherte er, »ich habe viel gelernt in Andersberg, und ich lerne gern. Ich habe auch viele von meinen Theorien, von meinen vorgefaßten Meinungen bestätigt und bewährt gefunden hier oben, und das, Fräulein Heller,« betonte er, mir lächelnd ins Gesicht sehend, »das gibt uns eiteln Menschen ein Dankbarkeits- und Anhänglichkeitsgefühl wie nichts sonst.«
Martin, der seine langen, weit ausholenden Schritte neben uns zügeln mußte, fragte jetzt laut: »Und wie müßte denn nach Ihrer Meinung der rechte Mann für da oben sein?«
Pfarrer Stengel blieb stehen und fuhr sich mit der freien Hand ein paarmal rasch übers Haar.
Es sah fast aus, als sei er einen Augenblick aus dem Gleichgewicht gekommen.
Aber dann antwortete er ruhig: »Er müßte mehr Praktiker sein, mehr Realpolitiker, als ich 37 es bin. Er müßte mehr mit dem Vorhandenen rechnen können. Und er müßte mehr Hirte sein, mehr Autokrat. Ich habe immer und immer nur bestenfalls Leithammelgelüste.«
Lächelnd sprach der Pfarrer, es sollte leicht und scherzhaft klingen und doch tönte mir der Ernst, ja fast der Schmerz daraus entgegen.
Ich sah Martin jetzt wieder so sonderbar lächeln, so seelenruhig, ja nahezu überlegen.
»Das Hirtenamt des evangelischen Pfarrers hat wohl nichts Autokratisches an sich,« sagte er bestimmt.
Stengel nickte eifrig mit dem Kopf. »Gewiß, Herr Amtsbruder, das dachte ich auch, bis ich herauskam unter diese Bauern. Sehen Sie, diese Leute wollen einfach eiserne Pfarrer haben, keine von Fleisch und Blut. Und sie haben ein eisernes Evangelium, eine eiserne Kirche, einen eisernen Gott. Da innen im Wald ist alles ganz anders als draußen in der fließenden, brausenden Welt. Da rückt die Zeit nicht vor und nicht das, was in der Zeit lebt und webt.
»Diese Leute, die an ihrer rauhen Heimaterde kleben, sind wie ein Stückchen Ewigkeit, sie sind wie ein Teil von dem bekannten ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.«
Der Pfarrer sprach rasch und schaute uns beide seltsam eindringlich an mit einem Lächeln, hinter dem die Erregung lag. 38
Martin blieb plötzlich stehen.
»So muß es doppelt leicht sein, diesen Leuten zu bieten, was wir bieten sollen und können, denn auch das ist ja eisern und ewig,« sagte er streng und reckte die breiten Achseln.
Mir ward fast ängstlich zu Sinn zwischen den beiden Männern. Aber der Pfarrer fuhr sich jetzt plötzlich mit der Hand durch das volle Haar. Jung und froh sah er aus bei dieser raschen Gebärde.
»Das ist es ja, Herr Amtsbruder, daß ich so wenig Eisernes zu bieten habe! – Mir setzt sich immer alles gleich in frohes, organisches Leben um. Bei mir will immer alles keimen, wachsen, blühen, Früchte tragen und wieder von vorne anfangen. Das ist meine Ewigkeit. Und an die kann kein Bauer glauben, von der kann sich kein Bauer erquicken und erbauen lassen, weil er den schlichten Vorgang immer und immer bei seiner Arbeit sieht und miterlebt. Ihm schmeckt diese Ewigkeit und dieses unzerstörbare Leben einfach nach Werktag. Darum will er am Sonntag das Eiserne.
»Wer sagt denn, daß er nicht recht habe? – Ich bin kein aufdringlicher Mensch, lieber Herr Amtsbruder, und auch kein Kampfhahn. Aber ich bin ein ehrlicher Kerl, der immer seine ganze Seele in die Sonne hängt. Und da haben die 39 Bauern dann und wann diese Seele hängen sehen und haben sie durchgemustert und zu leicht erfunden. Weiden habe ich die Lämmer und Schafe von Andersberg niemals wollen; ich kenne ja meine Schwachheit; aber dann und wann, wenn mir die Weidestelle kahl vorkam und dürr, habe ich wollen ein wenig zu grünerem Gelände hinüberführen, hinüberdrängen, das war mein ganzes Tun hier oben. Leithammelgelüste, – ich sagte es ja schon!
»Und das genügt nicht. Machen Sie's besser, Herr Amtsbruder, machen Sie's mit Gottes Hilfe besser.«
Der Pfarrer trat einen Schritt vor und streckte Martin die Hand hin in unverkennbarer Bewegung.
Fast ängstlich sah ich auf Martin.
Aber der war ergriffen wie ich. »Mit Gottes Hilfe,« murmelte er und nahm des Pfarrers Rechte.
Die Dorfgasse lag jetzt fast leer in der mittäglichen Sonne. Etliche Spitzerhunde reckten sich vor den Häusern und hoben die schmalen Schnauzen, als wir vorübergingen. Blinzelnd sahen sie uns an aus den kohlschwarzen Augen, dann ließen sie uns still passieren.
Vor den Fenstern mit den winzigen Scheiben standen blühende Blumen. Aus zerbrochenen Milchtöpfen und alten Heringsdosen sproßte Brennende Liebe mit ihrem fleischigen Stengelwerk. 40
Dann und wann erschien ein neugieriges Gesicht hinter den Scheiben und verschwand rasch, wenn wir näherkamen. Am Rathaus und Schulhaus gingen wir vorüber, am langgestreckten, niedrigen Gemeindebackhaus mit den verräucherten Fenstern und an des Schulzen stattlicher, steinerner Behausung.
Namen um Namen nannte der Pfarrer, er kannte sie alle, die Anwohner der langen Gasse.
Dann bogen wir links ab und standen in einem großen, gepflasterten Hof, in dessen Mitte ein Brunnen ragte. Graue, moosige Mauern sah ich zur Rechten und zur Linken, und vor uns lag ein massiges Steinhaus mit Treppentürmchen und kahlen Fenstern, die in der Sonne blitzten.
»Das Pfarrhaus,« sagte Stengel.
Ich stand stille und schaute lange mit brennenden Augen nach dem wuchtigen Bau, der fast wie eine Zwingburg zwischen den Bauernhäusern ragte.
Martin legte den Arm um meine Schultern und sah still mit mir hinüber.
Dann folgten wir dem Pfarrer.
Ein hallender steinerner Flur nahm uns auf, darin führte eine scharfgewundene Treppe nach oben.
»Da kommen wir, Maria!« rief der Pfarrer.
»Das ist ja schön,« antwortete eine fröhliche Stimme, und auf der obersten Treppenstufe erschien eine Frau und sah uns entgegen. 41
Ich erwartete ein überraschtes, vielleicht ein erschrockenes: »Wen bringst du denn da?« aber die Pfarrerin streckte mir herzlich die Hand entgegen: »Ich habe schon gehört, daß Sie da sind, und ich dachte gleich, der Helmut wird Sie doch sicher mitbringen.«
Der Pfarrer lachte laut: »Merken Sie nun, Fräulein Heller, wie sicher und rasch der Dorftelegraph arbeitet? Und merken Sie, Herr Amtsbruder, wie gut es war, daß Sie mit mir kamen? Der Helmut müßte sonst wieder an allem schuldig sein.«
Die Pfarrerin hielt meine Hand. Sie sah mir ins Gesicht, ich ihr. Wie leises Prüfen ging es herüber und hinüber. Sie war über mittelgroß, größer als ich und größer als ihr Gatte.
Die Gestalt war nicht schlank im landläufigen Sinne; aber ebenmäßig, ohne Fülle und ohne Mangel.
Aus dem nicht mehr jungen Gesicht waren die blonden Haare schlicht zurückgestrichen, die Augen schauten klug und klar, die Hand, die meine hielt, war sehnig, nicht klein, und sie drückte kräftig.
Ich wollte sagen, es sei mir leid, daß wir der Frau Pfarrer Unruhe ins Haus brächten, aber dann sagte ich's doch nicht, weil es unpassend und unwahr gewesen wäre, denn von Unruhe war an dieser Frau nichts zu spüren. 42
Martin verbeugte sich. »Wir machten Einwände – –« versicherte er.
»Und wie!« lachte der Pfarrer.
»Die Hauptsache ist, daß Sie nun da sind,« sagte die Frau, und der tiefe, ruhige und reine Klang ihrer Stimme fiel mir auf.
Hüte und Schirme wurden uns geschäftig abgenommen, dann tat sich die Türe zum Wohnzimmer vor uns auf.
Mir war das Herz bewegt, als ich auf die Schwelle trat.
Als müsse mein künftiges Glück mir aus diesem Raum einen Gruß entgegenrufen, so fühlte, so meinte ich.
Aber dann hörte ich diesen Gruß doch nicht.
Groß, fast wie ein Saal, mit tiefen Nischen an den Fenstern war der Raum.
Die Sonnenwärme und Sonnenhelle, die den breiten Flur und die maiengrüne Welt draußen füllte, drang nicht hier herein.
Der Lufthauch, der an den geöffneten Fenstern die Gardinen vor den Nischen wie Segel blähte, kam mir lau und fremd durch die kühle Zimmerluft entgegen.
»Das ist gut, Maria,« sagte der Pfarrer, »daß du den Golfstrom hereinließest.«
Die Pfarrerin schloß die Fenster und lachte. »So nennt mein Mann die Maienluft,« erklärte sie. 43
»Nun ja,« erwiderte der Hausherr, »weil sie doch immerhin das Klima dieses Grönland verbessert.«
»Lassen Sie sich nur nicht erschrecken,« sagte die Pfarrerin. »Kühl und sonnenlos ist es ja hier innen, aber jeder Martinitag bringt Ihnen sechs Raummeter Besoldungsholz, und Erdöl ist billig.«
»Gewiß,« fiel der Pfarrer ein, »und im übrigen wandert Frau Maria wie die alten Germanenstämme einfach aus und zieht der Sonne nach, wenn es ihr gerade einfällt. Einmal residiert sie im Flur, einmal in der Küche, einmal in der Gaststube, je nachdem die Sonne und der Pfarrerin Sinn nach der Sonne steht.«
Die große Frau sah ihrem Mann ins lächelnde Gesicht.
»Ja, das ist doch ganz einfach,« sagte sie ruhig.
»Gott sei Dank, ganz einfach!« entgegnete der Pfarrer; »nur immer der Sonne nach! Die meisten, die über zu viel Schatten klagen, tragen die Schuld in sich selbst. Die Sonne ist da. Allerdings, hinter Mauern kann sie nicht scheinen. Aber wer nur zwei Beine hat, kann hinter Mauern hervorkriechen.«
»Ach Helmut,« lachte die Frau und schaute den Pfarrer mit ihren klaren Augen innig an, »du denkst immer gleich so – –«
Aus dem »so« lag ein Ton, der wohl nur diese Zwei anging. 44
»Ich denke so, und du tust so,« sagte der Pfarrer leise, und mich überkam plötzlich eine Befangenheit, als seien es heiße Liebesworte, innigste Vertraulichkeiten, die ich als dritte da belauscht hatte.
Und hinter der Befangenheit, weit, weit im Nebel des Unbewußten oder Halbbewußten, tauchte der Neid auf und grinste zu mir her.
Ich sah Martin an, dem die Frau Pfarrerin jetzt den Stuhl am gedeckten Tisch zuschob.
Sein Gesicht, das gegen den schwarzen Bart immer etwas farblos aussah, war ruhig, seine Augen sah ich durchs Zimmer schweifen, als sei ihm die Ausstattung des Raumes wichtiger, als was unsre Wirte miteinander sprachen.
Die Pfarrerin ging jetzt in die Küche und forderte mich auf, mich inzwischen umzuschauen und die nötigen Maße zu nehmen, wenn das erforderlich sei.
Geschäftig eilte der Pfarrer fort nach Zollstab und Notizbuch, und ich trat noch einmal an die Türe, um den Raum zu überblicken und ihn im Geiste mit meiner bescheidenen Ausstattung zu füllen.
Aber dann sah ich doch nur, was war, und nicht, was werden sollte.
Das kühle, sonnenlose Zimmer dieser Pfarrersleute tat mir wohl und sprach zu mir, und ich 45 mochte nicht an die Stücke denken, die mit Seufzen und Ermahnen die Tante für mich gekauft hatte, und die bestimmt waren, bald hier zu stehen.
Dem Fenster nahe, mir zur rechten Hand, frei im Zimmer stand ein Flügel mit aufgeklapptem Deckel. An der Wand dahinter, auf der grau und goldenen Tapete hing in flachem Rahmen Böcklins Toteninsel.
Ein hoher, dicht gefüllter Bücherschrank füllte die obere Ecke. In einer der Fensternischen stand ein Nähtisch, in einer andern ein Lehnstuhl mit ledergepolsterten Ohrenklappen. Links vor der breiten Wand stand ein altväterisches Kanapee, mit grünem Ledertuch bezogen, davor lag ein großer, warmer Teppich aus Servalfellen. Ueber dem Kanapee hing in bräunlichem Kohlendruck ein Christusbild von förmlich leuchtender Schönheit des Ausdrucks. Kein Heiligenschein umfloß den Kopf des Heiligen; aber die Augen, diese milden, erbarmenden und doch alles durchschauenden Augen sprachen von der ewigen Gottheit, die in diesem Manne gelebt. Wie angefüllt von diesen Christusaugen erschien mir der Raum. Wieder und wieder mußte ich nach dem bräunlichen Bilde schauen, und jedesmal sahen mir die Augen bis ins innerste Herz.
»Martin,« sagte ich unwillkürlich, »wenn nur dieses Bild da hängen bliebe.« 46
Er schaute hinüber und drückte die Brille an die Augen.
»Ein Christus? –« sagte er dann wie fragend. »Schön, sehr schön, dieser Kopf; aber weißt du, Martha, das könnte auch jeder xbeliebige andre sein.«
Ich erschrak fast. »Aber Martin,« stammelte ich, »dem sieht man doch den Erlöser an.«
»Du vielleicht,« entgegnete er unbewegt; »aber doch die Bauern nicht oder sonst einfache Seelen.«
»Da haben Sie recht, Herr Amtsbruder,« sagte hinter mir der wieder eingetretene Pfarrer, und es kam mir vor, als sei aus seiner Stimme der Frohmut verschwunden, »für diese muß Kreuz und Dornenkrone und der mystische Schein um die Stirne den Christus, den Erlöser bezeichnen, sonst erkennen sie ihn nicht.«
Ich konnte kein Wörtlein sagen.
Ich nahm die Maße von den Wänden und Fenstern. Martin schrieb alles auf. Wir wanderten mit dem Pfarrer durch alle Gelasse. Alle waren sie groß und kühl, der Sonne abgewendet, nur Flur und Küche und Nebenräume gingen nach Süden und Osten.
»Die, die dieses Haus einst bauten, müssen viel Licht und Wärme in sich gespürt haben, daß sie in ihren Wohnräumen so ganz darauf verzichteten,« meinte Martin. 47
Der Pfarrer lachte. »Eine menschenfreundliche Auffassung,« rühmte er, »ich dachte bisher, den Leuten habe es an jeder Erleuchtung gefehlt.«
Bis in den Keller führte uns Pfarrer Stengel. Eine schmale Schneckentreppe ging hinunter in die mächtigen Gewölbe, in denen der Tritt widerhallte.
Ein Ziehbrunnen mit rund gemauertem Rand, wie man den Jakobsbrunnen auf Bildern gemalt sieht, war da unten.
Ich schaute hinab; der Pfarrer hielt neben mir die Leuchte hoch.
Ein Glanz irrte über dunkles Wasser in geringer Tiefe; da trat ich zurück, denn ich fühlte etwas wie kindisches Grauen.
Mächtige Haufen von Kartoffeln und Rüben lagerten in den Gewölben.
»Ich lasse die Bauern hier einlegen, was sie nicht bei sich unterbringen können,« erklärte der Pfarrer; »ich brauche diese Riesenkeller ja nicht, wenn ich auch kein Abstinenzler bin. Vielleicht können Sie diesen Brauch beibehalten; die Leute würden es Ihnen sicher danken.«
»Das wird sich alles schon geben,« sagte Martin, dann stiegen wir wieder ans Tageslicht empor und wurden von der Hausfrau zu Tisch gerufen.
Ich saß so, daß die Augen aus dem bräunlichen Bild zu mir her grüßten, so oft ich den Blick hob. 48
Hinter meinem Rücken trug die Magd die Speisen herzu.
Braune, halbentblößte, sehnige Arme sah ich über den Tisch langen, eine klare und laute Stimme wünschte »gesegnete Mahlzeit«.
Ich schaute mich um nach dem Mädchen, das der Türe zu schritt, und ich erkannte den hochgetragenen Kopf, die dicken Haarflechten und das Granathalsband mit dem goldenen Schloß aus der Kirche wieder.
»Das ist unser Agathle,« sagte die Hausfrau, meinen Blick bemerkend.
»Ja, die Perle aller Perlen,« fiel lächelnd der Pfarrer ein.
»Spotte du nur,« entgegnete fröhlich die Pfarrerin und schnitt das Fleisch aus; »ich weiß, was an diesem Mädchen ist, und ich ginge viel leichteren Herzens von hier weg, wenn sie mitkäme.«
»Will sie das nicht?« fragte Martin.
»Nein,« antwortete die Hausfrau und blickte sich um, ob die Türe geschlossen sei, »sie kann nicht, sie hat ihren Vater hier und – –« Die Pfarrerin konnte nicht vollenden. Das Agathle trug eine Schüssel herzu.
Die Männer sprachen von anderm. Ich sah das Mädchen an, das an den Tisch trat.
Unter der durch die hinausgezerrten Haare 49 etwas zu glatten und straffen Stirne sah ich zwei Augen von eigenartiger Schönheit. Groß und ruhig blickten sie mich an, prüfend und doch nicht musternd, fragend und doch nicht neugierig.
Etwas Passives, etwas Empfangendes hatten diese Augen: als schluckten sie still und geduldig ein, was sich ihnen darbot. Die schmalen Wangen hatten nicht viel Farbe, wie das bei den Leuten des Schwarzwaldes im Lenz so ist, wenn der lange, harte Winter in den engen Stuben die Gesichter bleichte und Sommersonne und Sommerarbeit sie erst wieder bräunen soll. Die Nase war ganz schmalrückig und von feiner, ja edler Form, der Mund klein, mit dünnen, vielleicht zu dünnen Lippen, die fest, fast herb sich aufeinander preßten.
Groß und gerade war das Agathle gewachsen, aber die faltigen Röcke der Tracht, die dem kurzen Mieder hoch oben, fast unter den Armen angesetzt waren, verunstalteten ihre Trägerin. Mir ging es jetzt wie Martin: an diesem Mädchen fand ich die Tracht plötzlich häßlich. Das Organische, das Naturnotwendige, alle Prämissen schienen mir hier zu fehlen. Dieses Gesicht, diese Gestalt in ihrer merkwürdigen Ruhe und Rassigkeit war wie durchdrungen von einer latenten Grazie, die unter den anmutlosen Gewändern sich nicht rühren und regen konnte oder wollte. 50
Die Hausfrau sprach jetzt mit mir von all den Dingen, die eine Pfarrfrau von Andersberg angehen, und dann von sich und von mir.
Ich weiß nicht, wie es kam; sie hatte mich nicht danach gefragt, und ich sprach sonst nie darüber: ich sagte ihr, daß ich elternlos dahergewachsen, bei der Witwe von meines toten Vaters Bruder groß geworden und mit dem Schwestersohne dieser Witwe versprochen worden sei, vor Jahren schon.
Die beiden Männer hörten nicht auf unsre leisen Reden. Sie sprachen von Darlehnskassen und Vereinen. Martin hätte mich vielleicht sonst strafend angeblickt. Er sagt immer, ich sei zu vertrauensselig.
Und dann sagte ich noch etwas, was Martin und die Tante nicht ungerügt hätten hingehen lassen.
Ich sagte es mit dem seltsamen Gefühl: was wird diese Frau von der Sache halten, wie wird sie sich zu dir stellen, wenn sie alles weiß?
Schon in manchem Kreis hatte ich das Gefühl gehabt, ich, die Braut des Martin Moserosch, die Nichte der Konsistorialrätin Heller, sei unter einer Maske, einer falschen Marke eingeführt worden; aber so stark, so quälend wie hier hatte ich es nie empfunden.
Ich erzählte breit und ausführlich, was zu 51 Hause nie berührt wurde. Es tat mir ganz wohl, das auseinander zu zerren, was die Tante mein Unglück, ja meinen Makel nannte. Daß mein Vater aus dem Tübinger Stift durchgebrannt sei, flüsterte ich, daß er, verstoßen und verlassen von seiner Sippe, sein mütterliches Vermögen als Mediziner zu Jena und Heidelberg verstudiert habe, daß er eine katholische Wirtstochter zu Heidelberg geheiratet und bei meiner Geburt durch den Tod verloren habe. Daß er ein Freigeist geworden sei, der bis zu seinem frühen Ende mit bitterlicher Feindschaft, ja mit heißem Haß der Sphäre gedacht habe, darin er seine Jugend verlebt hatte.
Alles das sprudelte aus mir heraus, als müsse es so sein.
Die Männer sprachen nicht mehr. Sie sahen und lauschten zu uns herüber.
Das Unbehagen, der verlegene Aerger auf Martins Gesicht brachten mich plötzlich zur Besinnung. Mir stockten mit einemmal die Worte.
Die Frau neben mir drückte mir die Hand und lächelte mich an. Gut, mütterlich, ja fast ein klein wenig belustigt. So lächelt man der ungestümen Jugend zu, die sich über Dinge heiß ereifert, die das Alter gelassen zu nehmen weiß.
Von etwas anderm redeten wir. Ich hörte 52 nicht recht zu, verstand nicht recht. Meine eignen Worte klangen noch in mir. Ich prüfte sie durch und suchte, welches unter ihnen Martin verstimmt haben konnte.
Ich möchte ihm so gern alles recht machen.
Durch das wieder geöffnete Fenster strich warm der Maienwind. Buchfinken kamen auf den steinernen Sims geflogen, denen warf die Pfarrerin eine Handvoll Brotkrumen hin.
Dann trat sie von rückwärts an meinen Stuhl und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Wie alt sind Sie, Fräulein Heller, wenn ich fragen darf?«
»Zweiundzwanzig,« gab ich zur Antwort.
»Ein wenig reichlich jung für unsre rauhe Höhe; nicht, Helmut?« fragte die Frau zum Pfarrer hinüber.
Der drückte seine Brille an die Augen mit der gleichen Gebärde, die ich auch oft an Martin sah, und sagte langsam, mich anschauend: »Ich glaube, Maria, es sind unter den zweiundzwanzig auch Kriegsjahre – die zählen doppelt.«
Ich fühlte, daß mir das Blut ins Gesicht stieg.
Der Pfarrer stand jetzt auf. »Sie müssen mich nun entschuldigen,« sagte er, »ich muß nach Scherbach, dem dortigen Straßenknecht den sechsten Buben zu taufen.« 53
Wir rückten alle die Stühle. Martin meinte: »Aber die Filialisten sollten doch eigentlich ihre Täuflinge zur Kirche bringen.«
»Eigentlich, ja,« lachte der Pfarrer; »aber uneigentlich ist es besser, wenn hier oben die Kirche zum Täufling kommt. Dann kommt wenigstens das Wirtshaus nicht auch mit.«
Martin schüttelte den Kopf. »Aber die Taufe gehört doch ins Gotteshaus,« beharrte er.
»Gott hat sich sein Lebtag nicht an einer engen Stube gestoßen,« entgegnete fröhlich der Pfarrer, »sonst wär' man in der Pfarrei Andersberg übel dran.«
Martin sah nach der Uhr. »Wenn wir noch durchs Dorf gehen wollen, Martha, dann ist's für uns auch Zeit zum Aufbruch,« mahnte er.
»Kommen Sie mit mir,« riet der Pfarrer; »ohne einen Kommentar werden Ihnen unsre Andersberger Paläste wohl schwerlich viel sagen; ihre Reize liegen im Verborgenen.«
»Wenn es Ihnen lieb ist,« meinte die Pfarrerin freundlich, »geleite ich Sie bis hinüber zum Scherbacher Weg, wo die Pappeln stehen. Dort haben Sie fast näher zur Bahn als auf der Steige, die Sie heraufkamen.«
Der Pfarrer lachte wieder hell und klopfte seiner Frau auf die Schulter. »Scheinheilige! Mich will sie geleiten, wie sie immer tut, und 54 Sie müssen vorhalten. So zimmert man sich Verdienste aus seines Herzens Gelüsten.«
Ein klares, junges Rot stieg der Frau ins Gesicht. Sie sah zu mir her mit lächelnden Augen: »Ist das nun Scharfblick oder Anmaßung und Einbildung, Fräulein?«
»Nehmen wir an, Scharfblick,« sagte ich und wehrte meiner Befangenheit.
»Bravo,« rief der Pfarrer; »nur immer das Beste annehmen, man geht viel seltener fehl als im umgekehrten Fall.«
Die Pfarrerin ging, sich ein Tuch zu holen, die beiden Herren schritten schon auf der Treppe, da trat ich noch einmal auf die Schwelle des kühlen Zimmers.
Stumme, brennende Wünsche lagen mir auf der Seele. Die Erlöseraugen aus dem bräunlichen Bild sahen gütigernst herüber, und das Agathle mit dem ruhigen Blick räumte das Kaffeegerät vom Tisch.
*
In andrer Richtung durchquerten wir nun das Dorf. An einem schmutzigen Tümpel, in dem Gänse und Enten wühlten, kamen wir vorüber und an kleinen Gärten, in denen der frischumgegrabenen Erde kaum das erste Grün entsproßte.
»Wir sind um einen Monat später dran als 55 die übrige Welt,« meinte lächelnd der Pfarrer und deutete über die Beete hin. »Da und da,« fuhr er fort, mit der ausgestreckten Hand einen Bogen über Andersbergs Dächer beschreibend.
»Ja,« bestätigte die Pfarrerin, »der Frühling kommt spät hier oben, aber dann kommt er schön.«
»Da und da,« ergänzte der Pfarrer mit der Bewegung von vorhin, und hinter der Brille glänzten seine Augen.
Hinter zwei kränkelnden Pappeln zurückliegend tauchte ein Haus auf, das kein Andersberger Bauer hingestellt haben mochte. Ein weißer, quadratischer Bau im veralteten Villenstil, mit fast flachem Dach und hohen Fenstern, vor denen die weißgestrichenen Läden festlagen. Wie ein großes, unbewohntes Gartenhaus lag es massig abseits am Weg.
»Wengernsches Eigentum,« erklärte der Pfarrer. »Rudimente vergangener Zeiten und vergangener Größe. Die Aecker mitsamt den Bauern, die Wälder mit allen Holzhauern, die Dächer auf dieser Höhe mit dem Glück und Leid darunter, dazu Kirche und Pfarrer gehörten einst dem stolzen Geschlecht. Jetzt existiert nur noch ein einziger freiherrlicher Wengern. Er soll Offizier sein in österreichischen Diensten. Sein Großvater oder Urgroßvater, ein toller Herr, der für Geld und gute Worte seine letzten Rechte hier oben losschlug, soll den weißen Würfel dort gebaut 56 haben, als ihm die Welt draußen zum Ekel ward.«
Wir blieben alle stehen und schauten hinüber, als sei an dem öden Haus etwas Besonderes zu sehen.
»Ja, ja,« sagte leise die Pfarrerin, »zuletzt fällt dann solchen die Heimat ein!«
Der Pfarrer legte ihr die Hand auf die Schulter und meinte: »Die Heimat, ja, die ist die große Pièce de résistance für solche und andre.«
Scharen von Dorfkindern in Sonntagsgewändern kamen uns jetzt entgegen.
Wie drollige Miniaturen sahen die kleinen Mädchen aus, die genau die Tracht der Alten trugen. Die flanellenen Röcke wiesen reichliche Aufschläge auf, so daß sie auch bei kräftigem Wachstum der Trägerinnen auf Jahre hinaus vorhalten mochten.
Große Sträuße von flatterigen Windröschen und gelben Schlüsselblumen trugen die Kinder in den Händen, etliche hatten Kränzchen von blassen wilden Veilchen auf die strohigen Haare gedrückt. Eckig und scheu rissen die Buben die Mützen von den Köpfen, kichernd und verlegen drängten die Mädchen vorüber.
»Halt,« rief Martin in die kleine Schar hinein. »Wo kommt ihr denn her, Kinder?« 57
Sie drehten sich alle um und blieben gaffend stehen.
»Von 's Hansjörgs Wies' am Rain,« gab endlich einer der größeren Buben zur Antwort.
»Ja, aber ihr dürft doch jetzt nach Georgii gar nicht in die Wiesen,« sagte da Pfarrer Stengel.
Verlegen sahen die meisten vor sich nieder.
»In 's Hansjörgs scho,« entgegnete dann mit einem kleinen Anflug von Frechheit der Sprecher von vorhin.
Die ganze Schar grinste jetzt wie in freudigstem Einverständnis. Pfarrer Stengel schlug mit der Hand in die Luft, als wehre er etwas von sich ab.
»Gehen wir,« sagte er und strebte weiter.
Zwischen blühenden Bäumen schritten wir jetzt dahin. Dornige Reiser lagen schützend am Rand der blumigen Wiesen. Lange Streifen grober grauer Leinwand waren an niedrigen Pflöcken über dem Rasen ausgespannt, daß die Sonne sie bleiche.
Vom fernen Wald herüber schrie der Kuckuck.
Die Pfarrerin hielt mich am Arm fest und hob den Finger, als wolle sie zum Lauschen mahnen.
»Nun fragen Sie das Orakel,« sagte sie lächelnd, »einer Braut gibt der Schreier zuverlässigen Bescheid.« 58
Die Herren blieben stehen. Stengel lächelnd, Martin mit wunderlich hilfloser Miene.
Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.
»Was soll ich denn fragen?« stammelte ich verwirrt.
»Nun, das, was Sie am liebsten wissen möchten,« antwortete neckisch die Pfarrerin.
Da kam auch mir der Uebermut, als hätte ihn der laue Wind mir angeblasen.
»Muß ich die Frage laut sagen?« begehrte ich zu wissen.
»Gott behüte!« entgegnete rasch der Pfarrer, »das ist nicht Vorschrift.«
Da schaute ich hinüber zum Waldsaum, wo der Vogel schrie, und dachte: ›Wie oft wird mich Martin heute noch küssen?‹
Warum mir diese Frage kam, ich weiß es nicht; es war so wunderlich in mir.
Mit hastig klopfendem Herzen lauschte ich hinüber.
Aber der Kuckuck war verstummt, kein einziger Ruf mehr zu hören. Da wandte ich mich ab und empfand eine nagende Scham über meine kindische Frage, die ich unter einem Lachen versteckte.
»Keine Antwort ist auch eine Antwort,« sagte lächelnd der Pfarrer, und Martin meinte: »Woher nur dieser seltsame Aberglaube kommt.« 59
Pfarrer Stengel zuckte die Achseln. »Woher kommt denn aller Glaube und aller Aberglaube? Es ist das ewige Pochen an dem verschlossenen Tor.«
Martin rückte an seiner Brille und sagte nichts darauf. Wir waren schon eine gute Strecke durch die Wiesen gegangen, da tauchte noch ein letztes Häuschen vor uns auf.
Klein, niedrig, aber schmuck lag es da, mit gelben Holzschindeln warm und sturmsicher verkleidet. Blanke, zahlreiche Fenster zwischen grünen Läden blitzten uns entgegen, vor denen aus breiten Gesimsen wohlgepflegte Blumen blühten. Unter dem spitzen Giebel hingen Nistkästchen für Vögel. Hart vor der Haustüre, im kleinen, umzäunten Garten, stand ein Syringenstrauch in üppiger Blüte.
Die Sonne lag warm über Garten und Haus, und eine riesige gelbe Dogge dehnte sich quer vor der Haustüre auf den Steinplatten. Aufmerksam, aber ohne den Kopf zu heben, blinzelte sie nach uns herüber, dann klopfte sie mit der starken Rute den Boden, als habe sie Freunde erkannt. Träg stand sie auf und kam ans Gittertürchen des Gartens herüber.
Pfarrer Stengel streichelte dem Tier über den Zaun hinweg den schönen Kopf. »Grüß deinen Herrn, Nero, heut komm' ich nicht zu euch,« 60 sagte er, und der Hund bellte kurz auf, als habe er den Auftrag verstanden.
»Hier drinnen wohnt mein Domorganist,« erklärte der Pfarrer.
»Der Mann, der heute die Orgel spielte?« fragte ich rasch.
»Der blinde Ferdinand, ja,« bestätigte der Pfarrer.
Mich verlangte, Näheres von diesem Manne zu wissen.
»Wer, was und woher ist er denn, dieser blinde Ferdinand?« fragte ich.
Der Pfarrer lachte und schaute auf seine Frau. »Das ist knapp und summarisch gefragt, weißt du vielleicht, Maria, wie sich darauf knapp und summarisch antworten ließe?«
»Sag doch: der Ferdinand ist ›auch Einer‹,« entgegnete lächelnd die Frau.
Der Pfarrer wandte sich an mich: »Genügt Ihnen das?«
»Reichlich knapp ist's,« antwortete ich und sah nach dem sonnigen Häuschen zurück.
Stengel trat hinter Martin herüber zu mir her und hob die Finger der Linken, um mit der Rechten daran zu zählen. »Der Mann ist erstens ein Schulmeisterssohn vom Unterland, zweitens ein verkrachter Theologe, drittens ein erblindeter Schulmeister, viertens für die Andersberger 61 Oekonomierat, fünftens Bankier, sechstens Advokat, siebtens Notar, achtens Korbflechter, neuntens Beichtvater, zehntens Pfarrer und dazu noch endlose und so weiter.«
Martin wandte sich zurück. »Aber dann kommt er doch Ihnen ins Gehege.«
Stengel schüttelte den Kopf und sah Martin hell an. »Wer nicht wider uns ist, der ist für uns,« sagte er leise, fast innig.
Die Pappeln am Scherbacher Weg kamen näher und näher.
Die Pfarrerin hielt mich plötzlich an der Hand zurück und ließ die Männer voranschreiten.
»Fräulein,« sagte sie und ihre Stimme klang verschleiert, fast verlegen, ihr offenes Gesicht mit der klaren Stirne war überflogen von einem leisen Schatten. »Ich weiß nicht, ob ich Sie noch einmal sehe, ehe wir von hier oben scheiden. Ich hab' eine Bitte; nein, zwei Bitten – –«
Gespannt sah ich die Frau an, die mit ganz großen, verdunkelten Augen über die Höhe schaute, gegen das Dorf hin.
»An der Kirchenwand, neben der Anna Maria Hindermann, liegt unser kleines, einziges Kind begraben, unsre Monika.
»Ich hab' Immergrün auf den Hügel gepflanzt; aber das Gras wuchert so schnell, dann könnten die Pflänzchen ersticken. 62
»Wollten Sie wohl Ihre Hand über mein Kleines halten?«
»Ja,« sagte ich leise.
Die Pfarrerin sah mir nicht ins Gesicht. Wie in die laue Luft hinein sprach sie weiter: »Und mein Helmut hat auch Immergrün gepflanzt zu Andersberg, Pflänzchen mit zarten Wurzeln. Sie werden sie da und dort finden, wenn Sie genau zusehen wollten, liebes Fräulein. Könnten Sie, wollten Sie auch darüber Ihre Hand halten, wenn's nottut, daß das Gras sie nicht allzuschnell überwuchere?«
Mir ward beklommen und unruhig zu Sinn. »Martin wird –,« murmelte ich.
Die Pfarrerin schüttelte rasch den Kopf und schritt wieder weiter.
»Der Herr Pfarrer sieht das nicht,« sagte sie mit halber Stimme, »oder will er in seinen Beeten Besseres haben. – Es ist nur – Helmut hat immer so viel Freude daran gehabt – er – –« sie brach plötzlich ab, verwirrt und hilflos.
Das ergriff mich bei dieser ruhigen, sicheren Frau. Ich wußte nichts zu sagen, ich drückte nur ihre Hand.
Jetzt teilten sich die Wege.
Mit vielem Händeschütteln nahmen wir Abschied und schritten rechts hinüber, dem waldigen Bergweg zu. 63
Einmal sah ich zurück, da standen die zwei noch Hand in Hand unter den Pappeln und winkten, dann wandten auch sie sich zum Gehen.
*
Steil und steinig war der Pfad ins Tal. Wie eine breite und tiefe, in den schwarzroten Sand des Waldbodens gerissene Furche lief er zwischen steilen Rändern hinunter. Flachliegende zerschundene Föhrenwurzeln kreuzten ihn, so daß es ein ungutes Wandern war.
Martin stieg voraus, den Hut in der Hand, den Kopf etwas vorgebeugt, wie er meistens ging.
»Paß auf, Martha!« rief er zuweilen zurück, wenn er selbst an einen Stein, an eine Wurzel gestoßen war.
Schweigsam ging ich hinterher. Das mit dem Kuckuck war doch von mir ein blühender Unsinn gewesen.
Ja, wenn die Blonde in dem seidenen Reisemantel die Frage gestellt hätte. –
Bei einem schäumenden Bach in felsigem Bett erreichten wir besseren Weg. Am Wasser entlang, um das üppiger Schierling stand, schritten wir vor in der Talsohle.
Singende Burschen und Mädchen kamen hinter uns her und überholten uns.
Sie sahen uns mit zurückgewandten Köpfen 64 neugierig an, ohne ihren rauhen Sang abzubrechen, und trotteten dann mit großen, sprungartigen Schritten weiter, immer zwei Mädchen an eines Burschen Arme gehängt.
Schlecht gemachte, halb städtische Kleider aus billigen Stoffen trugen die Sängerinnen, dazu seidene Tüchlein um den Hals und Granatschnüre drüber. Die strammgekämmten Haare waren aufgesteckt.
»Das sind hoffentlich keine Andersberger,« sagte Martin und sah ihnen blinzelnd nach.
»Warum hoffentlich?« fragte ich.
Martin stülpte sich den Hut auf mit einer raschen, unwilligen Bewegung: »Weil ich das Umherziehen mit den Burschen am Sonntag absolut nicht dulden würde,« gab er fast heftig zurück.
»Und ein jeder liebt sein Mädichen und der Hauptmann seine Braut,« sangen die da vorne jetzt mit kreischenden Stimmen, daß das Echo von den Bergen kam.
In den Büschen aber am Weg jubelten die Buchfinken, und von dem Wipfel einer einsamen Tanne, die aus dem Felsgewirr im Bachesbett aufstrebte, sang eine Amsel ihr klingendes Liebeslied hell übers Tal.
Da dachte ich etwas ganz Närrisches. Wie man oft etwas denkt, wenn am Lenzabend die 65 Vögel ihre letzten Lieder singen und die Luft weich und schwer wie aus unbekannten Fernen kommt. Aber ich sage nicht, was ich dachte.
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