Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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In der hellen Stube von Johannes Straubs Weib saß Eva am offenen Fenster. Sie sah auf die hohen, bläulichen Roggenfelder hinaus, die im warmen Frühsommerwind 239 Wellen warfen wie ein bewegtes Meer. Ihr Gesicht war blaß, fast erschöpft von der Anstrengung des für sie weiten Ganges. Das lichtblaue, etwas verwaschene Kleid von fast kinderhafter Einfachheit, das sie trug, stand ihr besonders gut. Zarter sah sie darin aus, abgedämpfter, stiller und feiner geworden. Es war ein Kleid für dieses sonnige Krankenzimmer, in dem nichts Grelles mehr aufleuchten durfte, nichts Lautes und Buntes mehr am Platze war. Seit sie so weit gehen konnte, kam Eva gern zu der ans Bett Gefesselten. Sie war sich nicht klar bewußt, daß sie hier Stützen und Hilfen suchte. Daß sie sich dieser völlig hilflos Hingestreckten gegenüber immer wieder als die Starke, vom Schicksal Begünstigte vorkam und dies heimlich wie eine kräftigende Arznei empfand und genoß. Sie meinte, sie komme zu Johannes Straubs Weib aus nachbarlicher Freundschaft, aus Mitleid und Mitfühlen, und sie kam doch als eine um Wegzehrung Bettelnde.

Hinter den Feldern lief ein Pfad, der meist einsam war, auf dem aber heute allerlei Wandervolk vorüberzog, denn es war der Vorabend der Pfingsten, und die Menschen in den Städten wimmelten wie Ameisen weit hinaus aus ihrem dunklen, höhlenreichen Bau und ergossen sich übers stille, sommerliche Land.

Hinter dem mannshohen Roggen zogen die Gestalten und Gruppen Wandernder vorbei. Man hörte in dem warmen Sand des Weges ihre Tritte nicht, sah ihre Füße nicht über die Erde schreiten. Gleitende, wogende Köpfe, Gesichter, die unbekannt und nicht zu erkennen waren, ein fremder, fast 240 beunruhigender Zug, dem Eva mit großen Augen folgte. Manchmal klangen Lieder auf, die der Wind auf seine Fittiche nahm und herübertrug bis an das Bett in der Stube.

Noch durchsichtiger, körperloser als einst war die Frau. Tief in gewölbten Knochenhöhlen lagen ihre Augen, die aufbrennen und wieder erlöschen konnten. Unter der farblosen Haut trat das Skelett des schmalen Gesichtes wie ausgemeißelt hervor. Die weiße Binde um die Stirne fehlte nur in seltenen Stunden.

Draußen erklang es jetzt aus Männerkehlen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.« –

Eva wandte den Kopf nach dem Lager. In ihren Augen stand ein banger Ausdruck – wie in Mutteraugen, die nach einem schlafenden Kind blicken, wenn ein Lärm aufklingt, der es wecken könnte.

Der Blick der Frau begegnete dem ihrigen. Dann klang eine tonlose Stimme auf, wie sie zu diesem körperlosen Körper paßte. »Laß sie nur singen, die Gunst Gottes kommt zu jedem. Aber zu jedem wieder anders.«

Evas Rücken straffte sich, ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Langsam stand sie auf und setzte sich zu dem Weib auf den Bettrand. »Du bist gut,« sagte sie verträumt, »wie meine Mutter bist du.«

Das Lächeln auf dem abgezehrten Gesicht sah Eva nicht. Ihr Blick ging nach dem offenen Fenster. »Wenn ich deine Mutter wäre,« klang es leise, »würde ich dir noch andere Dinge sagen.«

»Was würdest du mir sagen?« 241

»Ich würde sagen: wem Gott die Füße nimmt, dem schenkt er Flügel, und wem er einen Arm lähmt, dem stellt er hundert Engel zum Dienst.«

Das Mädchen senkte den Kopf. Etwas Schamvolles lag über ihr, etwas in sich selbst Zurückfliehendes. Man sah das Blut langsam in ihrem blassen, nackten Hals, in ihrem Gesicht hochsteigen. Dann strahlten ihre Augen auf wie von innerer Glut. »Christine, aber du darfst es niemand sagen!« –

Evas gesunde Hand tastete nach den abgezehrten Fingern des Weibes und drückte sie plötzlich heftig. Sie schloß die Augen und sagte: »Manchmal spür ich's.« –

Das Weib antwortete nichts. Nur die leise zitternde Hand des Mädchens umspannte sie. Ihre Seele lauschte.

»Wie wenn ich Flügel hätte, ist's oft, und wie wenn Engel da wären. Wenn der Herr Pfarrer spielt, kommt's, und aber auch« – – sie stockte, sie schien zu suchen oder etwas in sich zu ordnen – »oft fallen mir Sachen ein – –«

Sie schwieg plötzlich, und dann fragte sie ganz andern Tones: »Hast du das auch schon gehabt?«

Die Kranke senkte die dunkelgesäumten Augenlider. Eine unendliche Ruhe und fremde Schönheit lag über ihrem Gesicht. »Ich hab's auch schon gehabt.«

»Von was kommt es bei dir?« fragte Eva leise, fast scheu.

Das Weib gab nicht gleich Antwort. Dann schaute sie auf und sagte, wie nachsinnend: »Bei mir? Ich weiß nicht. Es kann kommen, wenn ich einen guten Tag habe, und es kann kommen, wenn ich einen schlechten Tag habe. Es ist wie selbiger Wind, von dem der Heiland gesagt hat: Man 242 hört sein Sausen wohl; aber man weiß nicht, von wannen er kommt, noch wohin er fährt.« –

Sie schwiegen beide lange Zeit. Dann beugte sich das Mädchen zu dem Weib. »Bei dir kommt's vom Gutsein!«

Erschrocken wehrte die Frau. »Sag das nicht! Niemand ist gut als der einige Gott, heißt es Markus im zehnten, und das ist wahr wie sonst nichts. Vielleicht ist's die Gunst Gottes, daß es zu mir kommt, die rechte Gunst, wie er sie denen erweist, die er nicht mehr in die weite Welt schicken kann. Mit Gutsein könnte sich die kein Mensch verdienen.«

Wieder blieb es lange still, und von den Feldern herein kam das Jubilieren der steigenden Lerchen.

Dann zog Eva die Hand zurück und schob sich das wehende Haar aus der Stirne. Ihr Gesicht, ihr Ton waren verändert, als sie sagte: »Vielleicht ist's überhaupt zu gar nichts nutz, das Gutsein und das Gutseinwollen.«

Ernst und still sah die Frau sie an. Dann sagte sie leise: »Ich glaube, zu einem ist's nutz und zu nichts anderem: daß einem davon das Ohr und das Auge aufwacht, Gott ein wenig zu hören und zu sehen. Mehr ist's nicht.«

Eva schlug die Augen nieder. Ein Schauer rann durch sie hin. Plötzlich legte sie wie ein Kind den Kopf aufs Bett. »O du – ich habe ihn noch nie gesehen und nie gehört.«

Das Weib streichelte ihr Gesicht. »Wenn du doch Flügel spürst und Engel neben dir –«

»Nicht oft,« flüsterte Eva, »und das ist anders.«

»Nichts anderes ist's. Nur das Ganze noch nicht.«

»Wann kommt das Ganze?« 243

»Weiß ich's? – Kein Mensch kann dir's sagen. Vielleicht kommt Sturm vorher und Blitz und Erdbeben und Feuer. Aber der Herr ist nicht im Erdbeben und nicht im Feuer. Und dann auf einmal kommt ein stilles, sanftes Säuseln, und er geht an dir vorüber.«

Eva drückte ihr Gesicht in das Bett; dann hob sie den Kopf und hatte etwas Verstörtes im Blick. »Bei mir ist's nicht so,« sagte sie hart und plötzlich völlig unkindlich, »den Teufel höre und spüre ich manchmal, wie er – – aber du glaubst mir nicht,« unterbrach sie sich, auf die Kranke niedersehend.

Diese schwieg eine Zeitlang. Dann sagte sie ruhig und leise: »Wie willst du ihn denn kennen, den Teufel? Es ist nicht so leicht zu sagen: das ist er!«

»Aber wenn er von mir will, was ich nicht soll!«

»Da müßt' ich erst wissen, was du willst und was du sollst.«

Jähe Glut stieg in des Mädchens Stirne. »Ich meine nur so.«

»Ich meine auch nur so,« gab die Frau zurück.

Wie zornig oder trotzig strich Eva ihr Haar fort. »Spürst du mir nie an, daß etwas Böses in mir ist?«

»Ich frag dem nicht nach. Mir bist du lieb.«

»O du,« klang es leidenschaftlich aus dem jungen Mund, »du hättest mich vielleicht bald nicht mehr lieb, wenn –«

»Immer hätte ich dich lieb,« fiel ruhig die Frau ein.

Es war, als ob diese Ruhe der Kranken bei Eva ein Ventil niederhalte, das unter übermächtigem Druck sich heben wollte. So kam der Ausbruch. 244

»Wenn ich doch durchgehen möchte und einen Schatz haben und nach keinem Menschen fragen und eine sein wie die Ursa von Seltstein, die mit dem Jägermeister lebte, oder wie Lorenzens Marie, die so alt ist wie ich und mit dem Bürstenbinder fort ist! So – daß du's weißt!« –

Etwas Wildes, Ungezähmtes war es, das aus dem Mädchen herausbrach. Ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen funkelten, Zittern lief durch ihren Körper.

Die Frau schloß sekundenlang die Augen. Wie tiefe Ermüdung lag es auf ihren Zügen. Dann tastete sie wieder nach des Mädchens Hand. »Eva,« murmelte sie, »du bist wie sie, wie unser aller Mutter! Das Gelüst ruht in dir und du willst den Apfel brechen, den du nicht sollst. Vielleicht hat dich darum Gott gebunden mit diesen Krankheitsbanden, vielleicht –«

Eva neigte ihr Gesicht zu der Kranken. Elend sah es aus und zerwühlt und ganz alt geworden. »Sag das nicht, sonst könnt' ich ihn einmal hassen. Ich will mein Leben, mein unzerstörtes Leben!«

»Du wirst wollen, was er will, und sonst nichts,« sagte leise, aber seltsam unerschütterlich die müde Frau.

Eva bäumte sich zurück. »Ich will sein Narr nicht sein; ich will nichts von ihm, wenn er so ist.«

In den Augen der Kranken fing ein unbeschreiblicher Glanz an aufzuleuchten. Alle Qual schien weggewischt. »Eva,« sagte sie, »so sprechen wir alle einmal. Nur einer hat nie so gesprochen. Und wo wir eine leichte Last nicht tragen 245 wollen, da hat er sein Kreuz geschleppt, bis er niederbrach. Weißt du das nicht?«

Es klang so innig, was sie sagte, so mütterlich, so erlöst und erlösend, daß die durchs Dunkel stürmende Seele des Mädchens davon eingefangen und ins Helle zurückgeführt wurde.

Ihre gesunde Hand legte Eva über die Augen, und bald tropften Tränen durch ihre Finger. Dann schluchzte sie hörbar: »Christine, ich möchte so gerne schön sein und stark und gesund. Glaubst du, daß das Sünde ist?«

Die Frau streichelte ihr leise den Arm. »Ich weiß nicht, was Sünde ist. Früher hab' ich's gewußt. Nun hab ich's schon lang vergessen. Aber es wird wohl keine Sünde sein, das, was du möchtest! Schön sein und stark und gesund – jeder rechte Mensch muß das wollen! Die wenigsten denken dran. Sie bleiben am liebsten, wie sie sind, und vergessen, sich nach etwas anderem zu strecken. Das ist vielleicht die allergrößte Sünde, das Bleiben, wie man ist – davor soll Gott dich behüten!«

Das Mädchen weinte jetzt still, aber unverhohlen. Es war, wie wenn nach Blitz und Donner der sanfte Regen kommt. Lange konnte sie nicht sprechen. Dann sagte sie, von leisem Schluchzen unterbrochen: »Christine, sag niemand, was du jetzt von mir weißt! Auch dem Bauern nicht und auch nicht der Stasel! Ich hab's noch keinem Menschen gesagt, und du meinst jetzt vielleicht –«

»Gar nichts meine ich,« unterbrach die Frau die Reden des Mädchens, die plötzlich wieder so kindlich, so völlig jung 246 daherkamen nach dem heißen Ausbruch des werdenden Weibes von vorhin, »ich meine nur, du solltest jetzt heimgehen, ich habe es eben donnern gehört in der Ferne.«

Ein Schein von Bangigkeit flog über Evas Gesicht. »Dann muß ich fort, ich brauche lang, bis ich heimkomme.«

»Hast du Angst vor einem Wetter?«

Das Mädchen nickte. »Ja! Du nicht?«

»Ich nicht. Und später, wenn du einmal nichts mehr willst, wirst du auch keine Angst mehr haben.«

Evas verweinte Augen gingen in die Ferne. Aber es war, als durchstreiften sie mehr die Zeit als den Raum. »Dann werde ich immer Angst haben,« sagte sie träumerisch, »ich werde immer etwas wollen.«

»Wart's ab,« meinte mit einem müden Lächeln das Weib, »es soll keiner sagen, was er morgen sein wird, er könnte lügen.«

Stärker und näher grollte jetzt der Donner. Noch lachte der blaue Himmel durchs Fenster, und die Lerchen stiegen noch aus den Feldern; aber schon war jenes erste leise Bangen in der Luft, jenes Sinken der Freude, das wie Anfang von Sorge ist.

Der Bauer trat in die Stube. Behutsam und leise, wie er immer hier eintrat, war er gekommen. »So, man ist da?« sagte er statt eines Grußes zu dem Gast. Er half sich auf diese Weise, denn dem aufgeblühten Mädchen gegenüber wollte ihm das Du nicht mehr über die Lippen, und zu dem ungebräuchlichen Sie fand seine Zunge den Weg nur schwer. 247

Eva nickte. Auch sie war dem Bauern gegenüber niemals ganz unbefangen. Sie hatte seine strenge Herbheit als Kind schon gespürt. Ein Gebändigtsein, ein Untergeordnetsein unter etwas Ungreifbares fühlte sie in der Nähe dieses Mannes. Das lockte und scheuchte sie zugleich. »Bei der Bäuerin bin ich gern,« sagte sie unfrei.

Der Mann lächelte. Es war schön anzusehen, wie die Freundlichkeit über sein dunkles Gesicht hinglitt und die Hartheit darin aufhellte und glättete. Es sah aus, wie wenn die Sonne über Felsen und Waldstreifen hinstreicht und alles Düstere wegscheucht.

»Das glaub ich,« sagte er freundlich, »bei ihr ist alle Tag' Festtag.«

»Warum nicht gar,« widersprach leise lächelnd die Frau, »ein Tag von sieben nur darf Festtag sein, so ist die Ordnung.«

Er sah sie an. Klug und klar trafen die beiden Augenpaare ineinander. »Hast recht. Zuviel Festtage, das gibt Faulenzer. Aber heut wird doch Festtag sein, weil Besuch da ist?«

Die Frau bewegte leise den Kopf. »Erst Vorabend,« sagte sie, nach Eva blickend, »wir warten beide noch auf den Geist der Pfingsten; ist's nicht so, Eva?«

Das Mädchen stand vom Bettrand auf. Ihre Augen flogen nach dem Fenster, wo jetzt der Sonnenschein von den Feldern wich und die Fröhlichkeit erlosch. »Ich muß heim,« sagte sie, sichtbar erregt, »ich kann nicht so rasch gehen.«

Der Bauer deutete nach der Gegend des Himmels, die man vom Zimmer aus nicht sah. »Dort herauf kommt's. 248 Die, die von der verkehrten Seite aufsteigen, werden schwer.«

»Sie fürchtet sich,« erklärte leise die Frau, wie um Schweigen bittend.

Johannes Straub wandte den Kopf nach Eva. »So, so! Ist nichts zu fürchten. Das Wetter machen nicht Menschen.« –

»Eben darum,« antwortete wie gegen ihren Willen und mit weit geöffneten Augen das Mädchen.

Der Bauer sah nicht, wie sein Weib fast bittend die Hand ein wenig hob. Er musterte Eva und sagte strenger, als er seither gesprochen: »Ich meine, die, die nichts von Ihm wollen, haben immer Angst, Er könne einmal etwas von ihnen wollen. Darüber kommen sie ihrer Lebtag zu keiner Ruh.«

»So ist's nicht bei der Eva,« versicherte seltsam eifrig, fast munter geworden, die Frau, »ihre Nerven sind schwach, das macht's.«

Der Bauer fing an, auf der einen Seite der Stube die Fensterläden zu schließen. Jede Bewegung war Gelassenheit und Ruhe und zugleich zarte Sorgsamkeit. Eine große innere Zucht lag über diesem Mann.

Als er fertig war, sagte er, zu seinem Weib gewendet: »Hast du ihr nicht das Tränklein verraten, das für die Nerven ist wie nichts aus der Apotheke? Im Psalmbuch findet man's, und es heißt: Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg – –« 249

Ein schwerer, naher Donner erschütterte die Luft. Als er verklungen, sagte der Bauer den Spruch zu Ende: »mein Gott, auf den ich hoffe!«

Mit weißem Gesicht stand Eva neben dem Bett. »Es ist zu spät,« stammelte sie, »heim kann ich nicht mehr.«

»Der Semme soll deinen Fahrstuhl holen,« schlug die Frau vor.

»Der Semme ist mit den Füchsen nach Niederkirch an die Eisenbahn. Er wird naß diesmal,« sagte der Mann.

»Was muß er holen?« erkundigte sich die Kranke.

Der Bauer machte jetzt das letzte Fenster zu und öffnete die Tür. »Der Ochsenwirt hat fahren sollen,« erklärte er seinem Weib, »aber der Handgaul ist ihm erkrankt. Ins Pfarrhaus kommt jemand. Mit der Chaise ist der Semme hinunter.«

»Wer kommt ins Pfarrhaus?« fragte Eva mit flackernden Augen.

»Kann's nicht sagen,« entgegnete der Mann und nahm ein Buch vom Brett an seines Weibes Bett, »der Ochsenwirt hat halt ums Fuhrwerk fragen lassen.« Er setzte sich ans Fußende des Bettes und blätterte langsam suchend in dem Buch.

Es wurde dunkler und immer dunkler in der Stube. Mit schweren Schritten, die sie unhörbar zu machen suchte und die doch auf den Dielen knirschten, kam die Stasel den Flur herunter. Ihr volles, sonst so blühendes und derbes Gesicht war erblaßt, Angst sprach aus ihren Augen. Dicht neben der 250 Tür setzte sie sich in die Stube, die rauhen Hände im Schoß gefaltet.

Dieses stumme Kommen und Warten, dieses Sichherdrängen zu den andern hatte etwas merkwürdig Beunruhigendes an sich, etwas, das Evas Herz erbeben machte, sie wußte selbst nicht, warum.

Und auf einmal heulte der Hund an der Kette im Hof in lauten Klagetönen auf, und die dunkle Luft war erfüllt von einem merkwürdigen, fernherkommenden Rauschen, als ob weit weg ein großer Strom über Felsen stürzte.

Der Bauer hob lauschend den Kopf vom Buch. »Das ist nicht gut,« sagte er schwer, »so rauscht das Eis, das aus der hohen Luft kommt, kein Mensch weiß, woher.«

»Lies,« bat leise das Weib.

Er machte den Finger feucht und suchte weiter, und seine Ruhe vermehrte die furchtbare Spannung.

»Lies doch!« brach es aus Eva heraus, die mit fast verzerrtem Gesicht auf dem Bettrand saß.

Ein heftiger Donner rollte, so daß alle Scheiben in der vielfenstrigen Stube zitterten und klirrten.

»Was willst du, daß ich lesen soll?« fragte der Bauer das Mädchen, und er umging das gemiedene »Du« nicht mehr. Hell und fest hingen seine Augen an Evas Gesicht, fordernd, ja fast drohend.

Sie streckte die Hände aus. Beide. Auch die gelähmte, die sie sonst nie strecken konnte. Sie wußte es nicht, und die andern sahen's nicht. Ehe sie reden konnte, fuhr ein feuriger Strahl vor den Fenstern nieder, und ein Donnerschlag 251 erschütterte das Haus in den Grundfesten. Mit einem furchtbaren Schrei sank das Mädchen auf die Knie und vornüber.

Eine Totenstille war dann für Augenblicke in der dunklen Stube, ein Gelähmtsein, das alle bannte. Die Stasel war aufgetaumelt von ihrem Stuhl, dem Manne war sein Buch entfallen, die Frau lag mit geschlossenen Augen wie eine Tote.

Dann rauschte schwere Regenflut und gleich danach prasselnder, klirrender Hagel draußen nieder.

Der Bauer stand auf. Seine schwieligen Hände zitterten, als er sich zu der zusammengebrochenen Eva neigte. Er faßte ihren Arm, er fand Worte des Zuspruchs wie zu einem Kind.

Sie wimmerte leise: »Lies doch, lies doch!«

Da nahm der Mann sein Buch vom Boden auf. Einen kurzen, heißen Blick warf er hinaus in das furchtbare Toben, das ihm die gesegneten, blühenden Felder unbarmherzig zerschlug. Der grimme Schmerz dessen, der gesät hat und nicht ernten darf, griff ihm hart ans Herz. Aber dann fing er zu lesen an: »Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.« –

Ruhig, feierlich, tröstlich klang die Stimme des Mannes durch die dämmerige Stube, indes draußen das Dröhnen und Heulen, das Rauschen und Murren, das Schüttern und Rollen in schrecklicher Gleichförmigkeit weiterging.

»Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, 252 so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.«

Eva richtete sich leise auf wie ein junger Baum, den der Sturm aus den Klauen läßt. Neben dem Bett kniete sie und lehnte den Kopf an die Kissen. Ihre Hände waren gefaltet, ohne daß sie es wußte, ihre Augen glühten groß aus dem blassen Gesicht.

»Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, daß man höre auf die Stimme seines Wortes! Lobet den Herrn alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut!« –

Eine wunderbare Größe und Ruhe strömte durch den Raum. Der ewige Geist war hereingetreten und scheuchte mit erhobener Geißel alles wilde, laute, gefährliche Treiben der Elemente und der niedern Geister der Angst und des Kleinmuts.

Draußen murrten, grollten, schütterten hinter dem Getöse des niederbrausenden Hagels die Donnerschläge, ein grausiger Baß unter den oberen Stimmen, aber in der Stube war jener ewige, höchste Klang, der alles zusammenfaßt und auflöst in die Harmonie, die das All trägt und erfüllt.

Des lesenden Mannes Gesicht war bleich und verändert. Bläuliche Schatten lagen darauf, so daß die Züge ganz tief und scharf waren. Klar, ja hart, wie die eines Streiters, klang manchmal die Stimme, und dann wieder konnte sie weich und mild werden wie Zuspruch einer Mutter.

Aus Evas entsetztem Gesicht wich alles Verzerrte. Sie wandte die Augen nicht von dem Lesenden, sie trank ihm 253 Wort und Ton von den Lippen. Etwas ganz Großes blühte vor ihr auf, ein Ahnen von der Macht, die in Seelen wohnt und die zu jedem Sturmestoben sprechen kann: Schweig und verstumme!

Die furchtbare Spannung ihrer Nerven schwand dahin. Ein stolzes Getrostsein ergriff sie, ein Gefühl, wie sie es nie gekannt, nicht einmal bei des Pfarrers schönster Musik. Dort trugen Flügel sie in fremde, schöne Welten, hier schuf etwas die Welt der Schrecken um in eine Welt des Friedens. Dort lernte sie die wonnigste Sehnsucht kennen und hier die heiligste Kraft.

Der Mann ließ jetzt sein Buch sinken, sie merkte es nicht. Der Schall der Worte verstummte – ihr Ohr nahm es nicht wahr. Wie eine Entrückte kniete sie neben des Weibes Bett.

Da sagte die Stimme der Stasel – leise und behutsam sollte es vielleicht klingen, und knirschte doch wie zuvor die Schritte auf den Dielen –: »Der Semme ist in den Hof gefahren.«

Der Bauer hob den Kopf und lauschte. Noch dauerte, wenn auch mit verminderter Wucht, das Toben draußen an. Dann ging der Mann, gefolgt von der Magd, aus der Stube.

Die Hand der Kranken tastete nach Evas Kopf. Da kam dem Mädchen die entrückte Seele zurück. Langsam, wie aus einem Schlaf heraus, wandte sie das Gesicht der Frau zu, und ihre erstickte Stimme sagte: »Christine – meine Hand kann ich bewegen.« 254

Wenn sie später an diesen Augenblick dachte, kam er ihr vor wie ein Erleben höchster Wunder. Alles: das Auftauchen und Vorüberschreiten des Göttlichen, das Ausströmen der Kraft, die da erschafft und erhält, die Erschütterung, die Zunichtemachung der tausend Hemmnisse, die dieser Kraft im starren Alltag sich entgegenstellen – all das erlebte sie in diesem einen Augenblick, und ihre arme Menschlichkeit fand doch kein anderes Wort dafür als das fast nüchterne: »Christine, meine Hand kann ich bewegen.«

Die kurzen, kahlen Worte der heiligsten Menschheitsgeschichte, das: ›Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein,‹ oder: ›Alsobald richtete sie sich auf und pries Gott‹ – sie kamen ihr später zusamt ihrem eigenen Wort vor wie die kleinen unscheinbaren Blüten, die auf einem Wasserspiegel schwimmen und denen nur dann und wann ein Wissender ansieht, daß eine starke Pflanze aus oft unbegreiflicher Tiefe herauf diese Blume ans Licht schickt zu einem schüchternen, fast nie verstandenen Zeugnis von ihrem wunderbaren Leben und ihrer wunderbaren Kraft.

Die Augen der Kranken bekamen ihren tiefen, heißen Glanz. Ihre Lippen zitterten und sagten dann laut und klar ins Leere hinein: »Du, Herr!«

Langsam stand Eva auf von der Erde. Wie träumend schaute sie sich um. Ein paar Schritte tat sie gegen das Fenster zu. Dann blieb sie stehen und schlug die Hände vors Gesicht. »Auch mein Fuß ist besser, Christine, viel besser.«

Draußen ließ jetzt das furchtbare Toben nach. Eine graue Regenflut stürzte hernieder, deren Rauschen gegenüber 255 dem Prasseln und Klirren von vorher etwas Beruhigendes hatte.

Man hörte im Hof Pferdehufe und Stimmen und das Winseln des Hundes. Dann kamen Schritte die Treppe herauf.

Reglos stand Eva und lauschte. Dann wandte sie sich zu der Frau. Mit einer verhaltenen Stimme, aber unverkennbares Glück in den Augen, sagte sie: »Pfarrers Heinz ist's.«

Jetzt trat der Bauer wieder in die Stube. Naß und wirr hingen ihm die Haare in die Stirne, seinen triefenden Kittel hatte er abgezogen. Er nahm ein Tuch und trocknete sich das Gesicht. So ruhig geschah das alles, so gelassen, daß auch über Eva Gelassenheit kam. Sie fragte nicht, sie sagte nichts; sie öffnete und schloß nur leise die Hand, die sie so lange nicht mehr hatte öffnen können ohne Hilfe. Vor des Weibes Bett trat der Bauer.

»Den Heinz hat er geholt, der Semme. Die Fahrt werden die zwei ihrer Lebtag nicht vergessen.« Und dann zu Eva: »Drüben ist der Fahrgast, nach dem man gefragt hat. Die Gäule sind in den Hof herein, und Semme hat sie nicht halten können. Ins Pfarrhaus kann man nachher von da aus kommen.«

Das Weib im Bett hob die Hand. »Es ist ihr geholfen, der Eva – besser ist's mit ihr.«

Der Mann schaute auf das Mädchen. Sein Blick bekam etwas Erschrockenes, fast Stechendes, das aus der sonstigen Ruhe und Gelassenheit heraustrat wie eine aufschäumende Welle. 256

»Geholfen ist?« klang seine kurze Frage. »Dann ist also der Meister vorbeigegangen und man hat Ihn angerührt?« –

Eva senkte den Kopf. Eine Befangenheit, ja eine Not, eine Scham, wie sie sie nie gekannt, kam über sie. Es brauste ihr in den Ohren, als hätte irgendwoher eine Stimme gerufen: »Diese ist eine große Sünderin!« Und sie duckte sich, als ob ein Stein gegen sie fliegen müßte.

Da klang es aus dem Bett. »Was fragst du lang, wenn ihr's doch besser geht!«

Das Mädchen atmete auf. Etwas Drückendes, Verwickeltes war weggenommen. Die Wogen hatten sich über einer unheimlichen Tiefe geschlossen. Auch der Mann sah aus wie entspannt. »Kannst sie bewegen, die Hand?« fragte er freudig und trat ihr nahe. Er nahm die zarten, von der Krankheit her so geschonten Finger in seine harten Hände und lachte kurz und leise. »Wird vielleicht wieder einmal an der Wagendeichsel turnen, das Hexlein. Kommt's nicht über Nacht, so kommt's doch langsam. So etwas läßt nicht nach, bis die Säge durchs Brett ist. Und mit dem Fuß, was ist's mit dem Fuß?«

Bleichen Gesichts machte Eva ein paar Schritte gegen das Fenster. Es waren nicht die Schritte einer Gesunden; aber auch nicht mehr die schleppenden Schritte der hart Gefesselten. Sie blieb stehen und drückte die Hände aufs rasend klopfende Herz. Ein Sturm von Gefühlen schüttelte sie, unter denen das mächtigste eine verzehrende Scham war, als stehe sie hüllenlos auf den Gassen.

Und plötzlich fing sie zu weinen an. 257

Der Bauer tat schweigend das Fenster auf. Ein Strom von herber, kühler Luft drang herein. Aus dem Regenrauschen war ein letztes leises Tröpfeln geworden, ein ausklingendes Pianissimo. Wie Frieden war das nach wildem Kampf. Aber die vorher blühenden, gesegneten Felder lagen zerschlagen unter einer Eisschicht, ein Bild der Verwüstung.

Der Mann bewegte den Mund, als zerkaue er etwas. Er sagte nichts, und doch legte sich's wie Leid über die Stube.

Da klang es aus dem Bett: »Es bricht nichts nieder auf der Welt, ohne daß ein anderes dafür aufstehe.«

Der Mann trat vom Fenster weg. Sein dunkler Blick fiel auf das weinende Mädchen.

»Hast recht, Christine,« sagte er ruhig. »Wenn man mich vorher gefragt hätte, ob ich meinen Roggen hergäbe, wenn Forstmeisters Eva Fuß und Arm wieder brauchen könnt – ein Schuft wär' ich gewesen, wenn ich nein gesagt hätte. Jetzt aber, wenn man mich nicht gefragt hat, will ich auch nicht das Gesicht verziehen. Und ist nicht der Semme wieder da mit den Gäulen? Und ist doch der Blitz neben ihnen herunter, daß sie ihm durch sind, und war kein Halten mehr« – er unterbrach sich und sah Eva in das starre Gesicht – »drüben wartet er und wird heim wollen, Pfarrers Heinz. Geht man mit?«

Das Weib im Bett richtete sich ein wenig auf. Ihre Augen umfaßten das Mädchen, als wollten sie es streicheln und ins Gleichgewicht bringen. »Frag ihn doch, Straub,« bat sie leise, »ob er nicht auch mir Grüß Gott sagen mag!« 258

Eine Blutwelle ging über Evas Gesicht und wusch die Starrheit fort. Das Kindliche, das Unbewußte trat wieder hervor. »Sicher mag er das,« rief sie warm, als sei die Frage an sie gegangen, »man muß ihn herüberholen.«

Der Bauer ging aus der Türe. Die Frau zog leise ihre Decken und Kissen zurecht und nahm die weiße Binde von der Stirne. Aber Eva legte sie ihr wieder um und sagte aufglühend: »Laß nur! Der Heinz weiß gut, wie das ist, wenn man krank ist.«

Dann trat sie hinüber unter das offene Fenster und stand, das Gesicht dem Bett zugewendet, wartend, bleich, schlank in dem Rahmen.

Und nun trat Heinz Sommer auf die Schwelle.

Er trug einen grauen Mantel über dem Arm und den nassen Hut in der Hand wie einer, der in Eile kommt und geht. Sein Gesicht war dunkelgebrannt, wie von einer fremden Sonne, das kurze Haar stand steil über der breiten, freien Stirne, die schmale Narbe auf der Nase trat weiß hervor, ein kleiner Bart deckte, das Gesicht gegen früher seltsam verändernd, die Oberlippe.

Nach dem weißen Bett flogen die raschen, ein wenig scharfen Augen, aber schon wurden sie weitergezogen zu dem hellen Bild im Fensterrahmen. »Eva« – sagte der Mann mit so merkwürdigem, aus einer Tiefe heraufkommendem Laut, daß Johannes Straub und sein Weib sich ansahen wie in Betroffenheit.

Das Mädchen, umflossen von der herben, reingebadeten Luft und durchströmt von etwas, das für sie noch keinen 259 Namen hatte, stand regungslos. Die drei, die nach ihr blickten, sahen plötzlich, daß sie sehr schön war, sehr schön und sehr fremd und verändert.

Aber schon war sie die Alte; nur in Befangenheit getaucht, aus der heraus an allen Ecken die Freude drängte, wie eine Schar Küchlein, die etwas unter die deckenden Flügel gescheucht hat und die es doch nicht lange in ihrem Versteck aushalten.

»Heinz,« rief sie leise, halb scheu und halb keck und mit einem Unterton des Triumphes, und sie streckte beide Hände aus, wenn auch die eine sichtbar mühsam und ungelenk.

Er begriff nicht gleich. Es war, als ob er vergessen gehabt hätte, wie es um sie stand. Dann stieg ein ungläubiges Staunen, ein Schrecken in sein bewegliches Gesicht. »Was hast du, Eva?« rief er und stand vor ihr.

»Ich kann sie strecken,« sagte das Mädchen, und ihre Augen glänzten wie unter Tränen.

»Seit wann?« fragte er und ließ schon Hut und Mantel auf den Stuhl gleiten, auf dem noch das Buch lag, daraus Johannes Straub gelesen hatte. Da wollte sie etwas sagen und konnte doch nicht. Es stand plötzlich wie eine Ungeheuerlichkeit vor ihrem erschauernden Geist, daß der Stunden-, der Minutenzeiger einer Uhr sollte dorthin weisen können, wo die Lichtflut des Ewigen in ihr Erleben hereingebrochen war und nichts mehr Maß und Grenze gehabt hatte.

»Herr Heinz,« kam es vom Bett her, »ihre Nerven – das Wetter –« 260

Er schaute sich um. Der Frau streckte er die Hand hin, und sein Gesicht war hell. »Verzeihung! Die Eva – Wie geht's?« –

Die Frau hielt seine kraftvolle Hand in ihren abgezehrten Fingern. Sie sah ihn an, bis er – er wußte nicht warum – die Augen niederschlug.

»Es geht ihr besser, der Eva,« sagte sie dann seltsam eindringlich, »und wenn jemand fragt: seit wann? Dann kann man sagen: seit dem Vorabend der Pfingsten. – Nicht, Eva?«

Das Mädchen und der Bauer sahen auf die Kranke. Sie hatten beide ein Gefühl, ein Wissen, daß da hinter einer hörbaren Rede eine unhörbare Stimme sprach. Warnende Worte von den Perlen, die man nie und nimmer verstreut, und von der herben Keuschheit Gottes, der sich heimlich verschenkt, aber nicht öffentlich feilbietet. Und auch Worte von einem verborgenen, seligen Einssein in einer Gemeinschaft, die nichts lösen kann und die eine Sprache hat, die keinem Fremden ein Geheimnis herausgibt, auch wenn sie auf allen Gassen laut würde.

»Ja,« sagte Eva, und ihre tränenvollen Augen gingen heiß in die Ferne, »seit dem Vorabend der Pfingsten.«

Der Bauer trat näher an das Bett. Er nickte ein paarmal mit dem Kopf, wie es seine Art war, wenn er nachgedacht und etwas gefunden hatte. »Hast recht, Christine, seit dem Vorabend der Pfingsten.« –

Als in der Nacht nach diesem Tag Heinz Sommer in der kühlen, stillen, von altertümlichen Düften durchströmten 261 Gaststube des Pfarrhauses im Bett lag, fing ein lautloses Schattenspiel von Gedanken und Gestalten vor ihm an, über dem er den hellen Mondschein vergaß, der sich langsam durch die gartenwärts gelegene Stube tastete. Da war – vor wenigen Wochen – eine Fahrt übers Meer, heimwärts, aus einer reichen Zeit des Suchens und Lernens heraus, die ihm in den Spitälern, Schulen und Fabriken Englands geboten worden war. Dann ein Reisen und zum Teil Wandern durch Frankreich, wo er bei dessen Wissenschaft zu Gast kommen durfte. Und dann die Heimfahrt, schnell, überstürzt fast, weil er es immer noch und immer wieder liebte, zu kommen, wenn man nicht auf ihn wartete.

War nicht auf allen Fahrten und Wanderzügen heimlich Meßberg mitgegangen? Das hölzerne Schifflein, auf das er nun schon einmal und scheint's unwiderruflich sein Schicksal verfrachtet hatte! Oder war es denn gar nicht das hölzerne Schiff, das diese Fracht trug? Waren es die zwei Hände, von denen die eine »besser war seit dem Vorabend der Pfingsten«? – Wie seltsam die Frau das gesagt hatte! –

Er stützte den Kopf in die Hand und sah in das Mondlicht. Wie von einer Welle ans Ufer gespült, kam ihm plötzlich der Schlüssel zu Christine Straubs Worten und Wesen zwischen die Finger.

So lange suchte er nun das Geheimnis, wie der Arzt, der Anatom, der Physiologe, der Mechaniker, der Physiker eine im menschlichen Organismus lahmgewordene Feder wieder in Ordnung und zu ihrer Funktion zurückbringen könne. 262

Er hatte gelernt, bis ihm der Kopf rauchte, hatte zerlegt und zusammengesetzt, gemessen und gezeichnet, gedacht und versucht. In viele Tiefen war er eingestiegen, manchen Berg hatte er erklettert, aber das Geheimnis hatte sich ihm nicht enthüllt.

Aber wenn der »Vorabend der Pfingsten« kommt, wenn die große Kraft heranbraust, wenn sich die Helle des in Zungen zerteilten Feuers am Himmel zeigt, wenn der vorübergeht, um den das Volk sich drängt in sinnlosem Gewirr, dann kann da eine, die in tiefer Not ist, ihn heimlich, sinnvoll anrühren in zitterndem, noch halb ungläubigem Glauben. Und siehe da – es geht die Kraft von ihm, die »das Wunder« tut, so selig einfach, wie die Sonne eine Knospe wachküßt, daß sie sich öffnet.

Er, Pfarrers Heinz, begriff plötzlich, was er nie begriffen und um was er sich nie gekümmert hatte: was fromm sein heißt! Daß es ein heimliches Ansichreißen hoher und höchster Kräfte ist, ein Griff hinter die Wolken, wo das Feuer wohnt und das wahrhaftige »ewige Leben«, dessen Sein und Wesen kein barmendes Geschwätzlein und keine hohe Rede erreicht und herabholt, sondern nur die Hand, die sich ausstreckt, bald zum schüchternen, sehnsüchtigen Anrühren, bald zum Griff der Gewalt.

Es war ihm selbst merkwürdig, wie klar, ja nüchtern er das alles plötzlich wußte. Er hatte es sich nicht erdacht, sondern es erschaut, und er hatte nicht einer einzigen der Kräfte, die sonst in ihm am Werk waren, wenn er etwas ergründen wollte, Gewalt antun müssen, sondern sie hatten 263 alle freiwillig mitgeholfen, ihm eine neue Möglichkeit des Geschehens und damit einen neuen Hintergrund für alles Seiende zu zeigen. Und noch ein anderes sah Pfarrers Heinz, der Christine Straub früher manchmal besucht hatte als seines Vaters, des Guten und Feinen, in der Gemeinde mitverpflichteter Sohn. Er sah, wie stark und lebenbejahend die zum Leiden hingestreckte Bäuerin war. Aber alles Willenhafte und Lebenshungrige schlug bei ihr, wie eine zur Seite gewehte Flamme, in eine andere Welt hinein. Hinüber ins Unsichtbare, wo sich die Feuer nicht von den knisternden und prasselnden Dingen des flüchtigen Tages, sondern von dem stillen und steten Wesen alles Ewigen nähren.

Er ahnte, daß diese langsam Sterbende irgendwo im unbegreiflichen All ein starkes, reiches Leben führe; daß ihr Sichverzehren und Hinschwinden ein geheimnisvolles Sammeln und Aufbauen sei an Ufern, an denen die meisten schiffbrüchig, mit leeren Händen, kraftlos, wehrlos, mutlos anlanden, wundgeschlagene Opfer von Wellen und Sturm.

Heinz Sommer legte sich in die Kissen zurück. Die schweren Schläge der Uhr kamen vom Kirchturm in jenen langen Pausen, die ihn früher ungeduldig gemacht und zu heimlichem Spott gereizt hatten, als habe Meßberg seine besondere Zeit, die an Krücken hinter der Weltzeit herhinke.

Jetzt spottete er nicht. Er ahnte den andern Takt und Rhythmus, den die Ewigkeit hat, und die zwölf langsamen Schläge kamen ihm vor wie ein Symbol, das er bisher nie beachtet und nie verstanden hatte. 264

»Vorabend der Pfingsten« – klang das nicht wie Blumensammeln und Kränzewinden und allerlei festliche Vorfreude? – Wie mühselig war dagegen sein Weg gewesen, den er bis heute gegangen war durch Schulen und Bücher hindurch. Wie glücklich hätte er sich geschätzt, wie stolz wäre er gewesen, wie hätte er alle Tore der Welt vor sich aufgehen sehen, wenn es ihm durch ein Experiment, durch eine gefundene Methode gelungen wäre, Evas Lähmung plötzlich so weit zu heben, wie sie gehoben war am »Vorabend der Pfingsten«!

Wie ein emsiges, wirres Gewimmel in einem dunklen Bau sah er das Suchen aller Menschheit, und darüber einen weiten, lichten Himmel in ewiger Ruhe hingebreitet, eine Welt der Ordnung und der Kraft, zu der wir kaum die Augen heben, viel weniger die herabholenden Hände. – »Vorabend der Pfingsten!« Volle Erfüllung war's nicht. Nur ein Versprechen war's. Heinz Sommer, eben hat es zwölf geschlagen vom Turm! Nun zieht Pfingsten herauf, das liebliche Fest! Ein Schauer von Freude durchrann den Mann, er wußte nicht, woher und warum.

Eva! Kleines Ding, bist so scheu vor mir gewesen wie ein Vogel! Nun fängst du an, zahm zu werden und zutraulich. Bist du nicht gestern durch die von Eis und Schmutz überfluteten Gassen an meinem Arm gegangen! Stumm zwar und erschüttert von allem, was geschehen war, aber doch wie ein Kamerad, der dem Geleit des andern traut.

Ach Eva, ich weiß es jetzt, vom Trauen, vom Vertrauen hängt alles ab! Warum lachst du und schüttelst dein Haar 265 zurück und sagst, ich soll zeichnen und rechnen und einen Fahrstuhl machen! Warum nur, warum? Glaubst du, ich sei sonst nichts nütze? Spürst du nicht, wie kalt das Wasser ist und wie schrecklich es schneit! Ich trage dich, Kind, ich bin ganz stark, ich bringe dich heim! Das ist nicht Schnee, das sind Blüten, lauter Blüten – morgen ist Pfingsten.

Der Fastentschlummerte wachte auf an dem Mondstrahl, der über sein Gesicht glitt. Aber seine Gedanken blieben halb träumend, und es war ihm, als strömten sie selig und lautlos aus seinem Herzen herauf wie eine Quelle im Mondenschein. Er sah die Wellen vorübergleiten, sah, daß sie Beute mit sich trugen, geheimnisvolle Dinge, die silbern aufglänzten und in irgendeine Ferne hinabtauchten, und er wußte dabei, daß er nie im Wachen, nie im Licht des Tages so klar, scharf, klug und wahr gedacht hatte und denken konnte, wie jetzt, da sein Hirn nicht mittat, sondern nur sein in Freude getauchtes Herz.

So schlief er ein.

*


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