Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Auf schattenlosem Weg schob Hanne Evas Fahrstuhl. Sie hatte dieses Amt an sich gebracht mit der ihr eigenen zähen Ruhe. Daß ihre Kraft zu schwach sein könnte, das ließ sie nicht gelten, und daß sie Schaden nehmen könnte, noch weniger.

Und tatsächlich reichte ihre Kraft überraschend weit, denn Kraft ist etwas, das aus den unbegreiflichsten Wurzeln emporsteigt. War aber doch einmal die Grenze erreicht, dann trat, wie von geheimnisvollen Boten gerufen, Knecht Semme in die Lücke. 222

Rätselhaft war es, wie der verschlossene und scheue Mensch immer in der Nähe der beiden Mädchen auftauchte, wenn sie in irgendeiner Not waren. Wollte der keuchende Atem Hannes auf steilem Weg versagen, hatte sie sich mit der Freundin zu weit ins Feld hinausgewagt, waren die Pfade steinig und von bösen Furchen durchzogen – Semme war zur Stelle und legte Hand an.

Eva war dem Knecht gegenüber oft wie ein Tierlein in der Schlinge, das alles Sichwehren aufgibt im Gefühl seiner Ohnmacht. Oft aber flammte auch ihr alter Widerwille auf, ihr Hochmut, ihre Härte. Seine Häßlichkeit hatte dann etwas Aufreizendes für sie, oder etwas Schmerzerregendes, wie ein Griff in die Dornen. Sie wollte den Wortkargen längst nicht mehr hassen, sie trug ihm nicht nach, was einstens geschehen war; aber immer aufs neue schreckte sie zurück vor ihm und mußte sich Gewalt antun, um seine Nähe zu ertragen. Manchmal, wenn er ihren Fahrstuhl schob und dabei mit Hanne sprach, horchte sie nach seiner Stimme hin, und es trat dabei eine Gestalt vor ihr geistiges Auge, die freundlich und gut anzusehen war. Diese aus Stimme und Rede herausgewachsene Gestalt war dann für sie Semme, der Knecht; ihm war sie dankbar, ihn konnte sie um sich dulden. Aber dem wirklichen Semme dankte sie selten; sie wandte den Kopf zur Seite, wenn sie ihn nahen sah.

Auf Hannes Gesicht trat der Schweiß, denn am blauen Himmel stand die Frühsommersonne, und Eva war nicht mehr das leichte, zierliche Kind von einst. Sie war an Wachstum Hanne weit voraus und von blühender Gestalt, die nicht ahnen 223 ließ, daß da ein Gebrest war. Sie hielt sich aufrecht, kraftvoll, als liege es nur in ihrem Willen, mit festen Schritten in die Welt hineinzuwandern.

Aber sie konnte auch zusammensinken, als sei ihr Mut und Glauben und alle Freudigkeit hinter dunklen Wolken verschwunden.

Solche Augenblicke fürchtete Hanne. Daran zerbrach ihre Kraft, die manchmal mit der Kraft der Freundin wie aus einer Quelle gespeist schien.

Zum »roten Stein« wollten heute die Mädchen. Das war ein Felsblock, der auf einem öden, niederen Hügel lagerte, rotkörnig, wie frisch gebrochen, kaum von Flechten benagt und doch seit undenklichen Zeiten da oben. Man konnte sich nicht erklären, wie er hergekommen war. Aber es hieß, daß unter dem Stein eine Schrift liege aus uralten Tagen, auf der geschrieben stehe, wie man aus Steinen Brot machen, von der Zinne des Tempels gefahrlos herniederfahren und ein Herr der Welt und all ihrer Herrlichkeit werden könne. Wer sie aber hervorheben würde unter dem Felsen, der müßte nach drei Tagen sterben.

So blieb sie liegen, denn keine der drei Künste schien den Meßbergern so kostbar, daß sie ihr Leben darum gewagt hätten.

Aber der Blitz sollte einmal herniedergefahren sein und versucht haben, den Stein von der Stelle zu wälzen. Man hatte damals deutlich eine feurige Hand gesehen. Aber der Stein rührte sich nicht, und der Teufel verlor – kein Mensch weiß, ob mit Recht oder mit Unrecht – an Kredit unter 224 den Meßbergern; denn nur er konnte den Angriff versucht haben.

Einsam und still war es meist um den Hügel her, zu dessen Höhe ein grasiger Weg emporführte. Im Frühjahr suchten ein paar kleine Mädchen, denen der Sinn danach stand, Veilchen an den warmen Flanken. Im Sommer lag vielleicht einmal ein Mähder oder ein Schnitter im kühlen Schatten des Felsblocks. Im Herbst strich ein jagender Sperber, ein auf Mäuse stoßender Bussard über ihn hinweg, im Winter umkrächzten ihn die hungrigen Raben.

Schon in gesunden Kindheitstagen hatte Eva den Hügel mit dem Stein geliebt und ihn oft mit Hanne erstiegen. Die Schar ihrer Hörigen heraufzuschleppen, war ihr nie in den Sinn gekommen, so wenig, wie sie diese Lauten in den Garten des Forsthauses ließ. Allein aber heraufzugehen, hatte sie sich damals gefürchtet, sie wußte nicht, warum.

Immer langsamer schob die ermüdete und erhitzte Hanne den Stuhl. Wie ein versiegendes Rinnsal war ihre Kraft.

Da trat Semme aus einem Heckenweg. Er trug die Haue geschultert, als ziehe er zum Felgen aus. Sein Blick umfaßte ärgerlich die Gruppe. Immer wollten sie mehr, als sie konnten, diese zwei da vor ihm!

»Da!« sagte er, ohne Gruß, mit weiten Schritten hertretend, zu Hanne, und er reichte ihr die Haue. Dann legte er die Hände an den Stuhlgriff. »Wohin?«

»Zum roten Stein!« befahl Eva, ohne sich umzublicken. 225

Die zähe Kraft seines an schwere Arbeit gewöhnten Körpers gab der Knecht her. Es ging den vergrasten Weg empor, als sei es ein Spiel.

Droben im Schatten des Felsens hielt der Stuhl, und Semme stand mit keuchender Brust und hilflosem Blick. War's nun genug? Oder würde sie noch mehr von ihm verlangen, diese Herrische da, die ihm befahl, als stehe er in ihrem Dienst, und die ihn doch nichts anging?

Eva drehte den Kopf nicht. Sie schaute über die sonnbeglänzten Äcker, die im vollen Schmuck ihrer Blüten stehenden Wiesen hin und schien an keinen Dank für den geleisteten Dienst zu denken.

Langsam kam Hanne mit der geschulterten Haue den Weg emporgestiegen. Man sah die Adern an ihrem dicken Halse klopfen. Sie trat zu Semme und reichte ihm sein Gerät. »Vergelt's Gott,« sagte sie freundlich, noch atemlos, »du kommst immer zur rechten Zeit.«

Sie machten das Danken untereinander ab, als sei es eine Sache, die Eva nichts angehe, und diese saß aufrecht, unbeweglich und achtete nicht auf sie. Mit langen Schritten, ohne Weg, eilte der Knecht die Flanken des Hügels hinunter. Man sah seine hagere Gestalt noch weithin auf dem heißen, einsamen Pfad zwischen den Feldern, und zwei Augenpaare folgten ihr, das eine freundlich, das andere scheu.

Neben Evas Stuhl setzte sich Hanne in den Schatten. Ihr Rücken lehnte gegen den mächtigen Stein, dessen Kühle ihr durch die dünne Jacke auf die Haut ging. Wohlig war ihr das. Unbewußt liebte sie das innige und nahe 226 Zusammensein mit aller Kreatur. Nur den Menschen ging sie – ebenso unbewußt – gerne aus dem Weg.

Eva strich ihr weißes Kleid glatt und legte die Hände in den Schoß. »So,« sagte sie zufrieden, »jetzt erzähle!«

Es klang, als sei kein Widerspruch denkbar, und wie Hanne den Kopf hob, wie ein Ausdruck des Nachsinnens, der inneren Sammlung auf ihr bleiches Gesicht trat, das zeigte, daß alles in Ordnung und nach Wunsch sei. »Ich will dir heute das vom Michel Schan erzählen.«

»Wer ist der Michel Schan?«

»Der ist schon lang gestorben. Meiner Ahne ihr Vetter war er und ein Schuhmacher, und du mußt jetzt still sein und mich alles sagen lassen.«

»Ich bin schon still. Aber du mußt auch so erzählen, daß ich alles weiß, und keine erlogenen Sachen, wie für Kinder.«

»Erlogene Sachen erzähl' ich nicht, das weißt du selber.«

»Also fang an!«

»Der Michel Schan mußte das Leder für sein Handwerk immer weither holen, denn er wohnte auf den sieben Höfen überm Wald, wo kein Gerber ist. Da ist er in die Nacht hineingekommen, und es war nur gut, daß er Weg und Steg so gut kannte, denn unterwegs begegnete ihm fast nie ein Mensch, besonders nicht im Winter oder bei schlechtem Wetter.

Darum hat es ihn arg gewundert, daß er einmal in sinkender Nacht auf der Straße – man heißt's beim krummen Holz – eine noble Chaise antraf, die im Schritt den Berg hinauffuhr. 227

Es hat geregnet und gestürmt, und an der Chaise waren keine Laternen. Der Michel Schan hat bei sich gedacht: Vielleicht fährt der Fuhrmann leer und ich könnte einsitzen, das wäre ein gefundenes Fressen, denn die Nacht ist so, daß man keinen Hund hinausjagen mag. Aber fragen wollte er lieber nicht.

Da rief ihn der Fuhrmann an: »Heda, auch noch unterwegs? Sitzet ein, es hat Platz!«

»Fahret Ihr leer?« hat Meister Schan gefragt.

»Leer nicht,« rief der vom Bock und lachte. »Es sitzt einer drin; aber der schläft und inkommodiert Euch nicht.«

»Ich kann auch auf dem Bock sitzen,« sagte Michel.

Aber der Fuhrmann sagte, da werde er nur naß wie eine ersäufte Katze. So stieg Michel Schan im langsamen Fahren in die Chaise und setzte sich rückwärts.

Da drinnen war es so dunkel wie in einem Sack. Und wenn Michel nicht mit seinem Stiefel an den Stiefel von einem anderen gestoßen wäre, dann hätte er meinen können, der Wagen sei leer, denn gerührt hat sich nichts. Sein Lederbündelein stellte der Michel zwischen die Knie und dachte, daß es eine ganz schöne Sache sei, in der Chaise zu fahren wie ein Herr. Aber als er ein paar Minuten gefahren ist, wird ihm der Atem eng, er weiß nicht warum. Wie eine große Angst hat sich's ihm auf die Brust gelegt.

Alles ist dunkel und still; nur das Klappern der Fenster vom Fahren und das Herschlagen des Regens an die Scheiben und aufs Dach. Aber der Michel Schan hat doch gewußt, daß etwas da ist. Sein Herz in der Brust hat er klopfen gehört. 228

Und auf einmal hat er aus der Ecke im anderen Sitz etwas schimmern sehen, wie ein kleines Klötzlein faules Holz, das bei Nacht im Wald auf dem Weg liegt.

Da hat er bei sich gedacht: jetzt ist der andere aufgewacht, und was da so schimmert, das sind dem seine Augen! Aber es hat ihm gegraust, als er das gedacht hat, und er hätte gern seine eigenen Augen zugemacht, wenn er hätte können.«

Die Erzählende machte ein Pause. Ein tiefer, trauriger Ernst lag über ihrem bleichen Gesicht. Es war, als denke sie dem nach, was sie da in einer schweren und ungelenken und doch nicht ungeschickten Weise erzählt hatte. Es trat einher, als löse es sich langsam aus einem Erleben heraus, und sei froh, daß es endlich ans Licht dürfe.

Das Verhaltene, dunkel Heraufsteigende, in Angst und Grauen Übergehende der Geschichte gewann eine unheimliche Wahrheit durch die gemessene Ruhe der Sprechenden, die ihre Worte wie schwere Ackergäule über Furchen und Schollen hinlenkte.

Evas Augen brannten in Unruhe. Die gelähmte Hand, die auf der gesunden im Schoß lag, zitterte manchmal, als laufe ein Strom hindurch. Man sah, welche Spannung über der Lauschenden lag.

Aber sie bezwang sich. In allen Dingen, die ihr wichtig waren, konnte sie sich bezwingen. Dann zog sich das Jähe und Unberechenbare an ihr und in ihr zurück, wie hinter einen Wall, und eine Beherrschtheit und innerliche Zucht trat zutage, die sie plötzlich um Jahre gereift erscheinen ließ. 229

Mit keinem Wort fragte sie nach dem Fortgang der Geschichte, nur ihre Blicke bettelten darum.

Da wies Hanne mit ausgestreckter Hand nach dem Fuß des Hügels: »Sieh, wer dort kommt.«

Eva fuhr zusammen. Ihr Geist war noch ganz bei dem unheimlichen Fahrtgenossen Michel Schans gewesen. In ihrem jähen Erschrecken streckten und reckten sich plötzlich, ohne daß sie es wußte, die weißen, leblosen Finger der kranken Hand, um sich rasch zur Faust zu krampfen.

Sie reckte sich auf und sah nach dem Manne, der den sonnenbeschienenen Weg heraufstieg, barhaupt und hellbekleidet, wie kein Meßberger herumlief.

Hanne sprang empor und schüttelte den Sand von den Röcken. »Pfarrers Heinz,« rief sie hell, als müsse das erst noch gesagt sein.

Eine jähe Blässe breitete sich über Evas Gesicht. Dann glänzten ihre Augen dem rasch Emporkommenden entgegen. Es war, als wolle ein Freudenruf aus ihrem Mund brechen; aber er wurde nicht laut; er glänzte nur aus ihr heraus.

»Hallo,« rief es auf dem Weg, »hier oben muß ich euch suchen, ihr Ausreißer!«

Die Mädchen blieben stumm. Sie waren beide überrumpelt und befangen. Wie an einer Wegscheide angelangt war ihr Verkehr mit dem Pfarrerssohn. Das Verhältnis der Kinderzeit wollte in der Ferne verschwinden, und in das neue wagten sie noch nicht den Fuß zu setzen.

Heinz kam herzu. Sein gebräuntes Gesicht mit der breiten, freien Stirn und dem bartlosen Mund schien in den letzten, 230 den entscheidungsreichen Jahren wenig verändert. Aber wer die rechten Augen hatte, der mochte sehen, daß jenes Harte, das einst auf des Jünglings Gesicht noch wie ein Zug von Unkindlichkeit ausgesehen hatte, nun dem Manne anstand wie herbe Reife, die früh einsetzte. Die Augen waren lebendig und verstanden zu sehen, zu suchen, aufzunehmen. Ihr Blick konnte sich schärfen, bis er etwas Durchdringendes hatte, etwas nur auf die Dinge Gerichtetes, das wie der Gegensatz war zu jenem Blick, den Hanne manchmal haben konnte, und der sich abzog von den Dingen und etwas ganz anderes zu schauen schien mit seiner stechenden Schärfe.

Heinz trat zu Eva und streckte die Hand aus. Aber er zog sie wieder zurück und sagte, wie erschrocken: »Du bist ja ein Fräulein geworden. Ist das, weil du eingesegnet bist? Muß ich nun Sie zu dir sagen?«

Sie schaute ihn an und wußte nicht, wie sehr ihre Augen strahlten. »Ach, das sagst du nur so,« entgegnete sie, und ein kindliches Verlangen, daß das Gesagte Ernst sein möge, klang aus ihrer Widerrede.

Mit einer drolligen Gebärde hob er die Hand. »Soll ich schwören? Du bist ein Fräulein, und Hanne wandelt in deinen Fußstapfen. Man erkennt euch kaum wieder, und es ist doch noch kein Jahr, seit ich dagewesen. Aber nun sagt: Was tut ihr da oben? Es ist doch für Hanne eine Quälerei, den Stuhl heraufzuschieben.«

»Semme hat ihn geschoben,« sagte Eva leichthin.

Einen sonderbaren Blick wechselten Heinz und Hanne. Einen Blick, der bei Heinz zu fragen schien: Ist es auch wahr, 231 was sie sagt? Und bei Hanne: So stehen sie jetzt miteinander, der Semme und Eva!

Heinz beugte sich über den Stuhl, um nach der Mechanik zu sehen. Aber seine Gedanken streiften den Knecht. Wie einen heimlich Verbündeten grüßte er ihn und wußte es nicht. »Läuft der Stuhl immer noch gut?« fragte er Hanne. Sie nickte. »Er hält, solange sie ihn braucht.«

Eva machte eine ungeduldige Bewegung. Es gefiel ihr nicht, daß die beiden ohne sie und über sie redeten. »Wie kannst du das wissen!« sagte sie unwillig zu Hanne, und dann zu Heinz gewendet: »Sie faselt immer, ich werde bald gesund.«

Das ruhige Gesicht Hannes blieb unbewegt. »Nichts fasle ich,« sagte sie gelassen, »ich weiß nur, daß sie bald gesund wird.«

Heinz sah die Sprechende mit seinen suchenden Augen an. Es ging etwas aus von diesem Mädchen, etwas zum Glauben Zwingendes, hinter das er nicht kommen konnte und das doch stark auf ihn eindrang. »Wie kommst du darauf?« fragte er.

Wieder machte Eva ihre ungeduldige Bewegung, unter der der Stuhl zitterte. »Laß sie doch reden, sie will sich wichtig machen vor dir!«

Eine zarte Blutwelle stieg langsam in Hannes Gesicht. Aber sie sagte nichts.

Jetzt nahm Heinz Evas lahme Hand in die seine. Er hob sie empor, er versuchte, die Finger zu bewegen, er prüfte die Muskeln, die Sehnen, die Gelenke an Hand und Arm. 232 Der Anatom tat hier etwas, von dem der Mann nichts wußte, und die Augen der beiden Mädchen folgten seinem Beginnen. Aber plötzlich stieg es dunkel in Evas Stirn und Augen. Sie griff mit der gesunden Hand nach der kranken und entriß sie dem Prüfenden. »Laß doch!« stieß sie hervor, »ich mag das nicht.«

Da zuckte der Mann zurück. Eine Verwirrung überflutete alle drei. Es war, als sei etwas Unsichtbares zwischen sie getreten, ein Fremdes, das ihnen Zwang auferlegte. »Warum kommt ihr hier herauf?« fragte der Mann sie noch einmal. Aber es klang leer, als seien seine Gedanken nicht bei der Frage, die sein Mund formte, um keine Stille aufkommen zu lassen. Auch Evas Antwort klang, als rede nur ihr Mund. »Uns gefällt es da.« Dann nach einiger Zeit: »Hanne kann da oben Geschichten erzählen.«

Heinz schaute der Bleichen ins Gesicht. »Kannst du das nicht überall?«

Sie wollte antworten; aber Eva nahm ihr die Mühe ab. »Was glaubst du! Schwatzen kann man wohl überall; aber nicht überall Geschichten erzählen! So wenig, wie überall Musik machen.«

»Wie gescheit du bist!« sagte Heinz, über ihren Eifer lachend.

Sie machte wieder ihre ungeduldige Bewegung. »Hanne, ist das wahr oder nicht?«

Die Bleiche nickte. Ihre Augen gingen von Eva zu Heinz. »Es ist wahr. Wo keine Geschichten zu mir herkommen, da kann ich auch keine erzählen.« 233

»Und da, wo Hanne keine erzählen kann, da mag ich auch keine hören, weil sie da alle nicht wahr sind.«

»Also dir ist's immer nur um die Wahrheit zu tun?« fragte lächelnd der Mann.

Großäugig sah sie ihn an. »Ja – dir nicht?«

Er lachte. »Ich glaube, ich habe schon manche Geschichte gern gehört, die nicht wahr ist.«

Sie verzog den Mund. »Dann bist du dumm! Das Zeug hat keinen Wert.« Es klang so drollig überlegen aus dem jungen Mund, daß Heinz auflachen mußte.

»Ach du,« sagte er, »weißt du nicht mehr, wie ich dir früher in deiner Krankheit vom König Drosselbart vorgelesen habe und vom gestiefelten Kater und von den sieben Geißlein und vom Dornröschen, und wie dir das alles gefallen hat?«

Sie schaute an ihm vorüber ins Weite. Ihr Gesicht sah auf einmal gereift und ernst aus. »Das ist alles wahr gewesen, wie Märchen wahr sind,« sagte sie langsam und nachdenklich, »es hat auf der Welt jedes Ding seine besondere Wahrheit. Wenn die nicht darin ist, dann hat alles keinen Wert.«

In Heinz erstarb das scherzende Wort. Er spürte, wie dieses weißgekleidete Mädchen nicht nur äußerlich hinausgewachsen und hinausgereift war über die Kindheitstage, sondern wie auch ihre Seele etwas Selbständiges, auf eigene Wege Bedachtes geworden war.

Und wieder wie vorhin, da er ihren Arm, ihre Hand betastet hatte, die sie ihm so jäh entzogen, fühlte er das 234 Beengende, Fremde, das seither nie dagewesen war. »Fahrt ihr bald heim, oder bleibt ihr noch?« fragte er unfrei.

»Hanne ist mit ihrer Geschichte noch nicht fertig.«

»So soll sie weiter erzählen,« schlug der Mann vor und setzte sich in den Schatten.

»Hanne,« sagte Eva gebieterisch, »du bist stehengeblieben, wo etwas geleuchtet hat in der Wagenecke.«

Hanne lehnte sich wieder zurück an den Felsen. Ihre Augen waren eine Weile geschlossen, ihr blasses Gesicht von Ernst überschattet. »Ja, da hat also der Michel Schan gedacht, das seien dem andern seine Augen, und das Grausen ist über ihn gekommen. Aber so recht gefürchtet hat er sich eigentlich nicht, weil er ein frommer Mann war.«

Sie machte jetzt die Augen wieder auf und schaute hell über das sommerliche Land hin.

»Fürchten sich fromme Leute nicht?« fragte Heinz, um seinen Anteil an der Geschichte zu bekunden.

Eva hob ein wenig die Hand, um Schweigen zu gebieten. »Daran kennt man doch gerade die frommen Leute, daß sie sich niemals fürchten,« sagte sie zu dem Pfarrerssohn. Und dann gebieterisch zu Hanne: »Weiter.«

»Michel Schan hat nicht mehr in die Ecke geschaut, sondern nur so gerade vor sich hin auf sein Lederbündelein. Aber da hat er gemerkt, daß im ganzen Wagen jetzt ein bläulicher Schimmer war, und das kam alles aus der Wagenecke, denn die Nacht draußen war stockdunkel, und man hörte auch immer den Regen aufs Dach und an die Fenster schlagen. 235

Dann hat auf einmal der Wagen gehalten. Michel Schan hat gewußt, daß man noch mitten im Wald auf der langen Steige war. Aber es ist ihm doch gekommen, daß er jetzt aussteigen möchte. An der Türe hat er gerüttelt, aber sie ist nicht aufgegangen. Da hat es aus der Ecke ganz leise gelacht. Er hat ans Fenster geklopft; aber der Fuhrmann hat keine Antwort gegeben. Nur das Keuchen der schweren Gäule hat man gehört. Das war dem Michel Schan ein rechter Trost, denn alles Getier steht in Gottes Hand.«

Sie machte eine kleine Pause und nahm eine Heuschrecke aus dem Gras und setzte sie sich auf den Schoß, wo sie ruhig sitzenblieb.

Die Mädchen und der Mann schauten jetzt auf das kleine, unbewegliche Tier. Das Abenteuerliche, Phantastische seiner Gestalt und seines Aussehens kam ihnen plötzlich zum Bewußtsein. Es war, als ob auf einmal diese Heuschrecke mit zu der dunklen Geschichte von Michel Schan gehöre, als ob sie irgendeine Rolle darin zu spielen habe.

»Nach einer Weile ist der Wagen wieder angefahren. Es hat einen harten Stoß gegeben, und Michel Schan hat gespürt, daß der andere nach vorne und dann wieder nach hinten fällt. Da tut er einen fürchterlichen Schrei – – –«

In diesem Augenblick machte die Heuschrecke einen federnden, jähen Satz auf Evas weißes Kleid hinüber, und diese schrie auf wie ein zu Tod erschrockenes Kind.

Der Mann wollte lachen. Aber seine Augen wurden weit. Er hatte das Zucken gesehen, das die Finger der kranken Hand streckte, das durch Arm und Bein lief wie ein lebendiger Strom, 236 der den Bann der Lähmung für einen Augenblick siegreich zerbrach. Aber wie eine losgerissene Feder schnellte dieser Strom wieder kraftlos zurück, als der Moment des Schreckens vorüber war. Wer ihn hervorlocken, festhalten, dem geheimnisvollen Gefüge des Organismus wieder richtig eingliedern könnte, der hätte Eva geheilt.

Das heiße Suchen nach Möglichkeiten, nach verborgenen Gesetzen sprang wieder in Heinz Sommer auf, und dazwischen ein demütiges, stummes, fast unbewußtes Betteln um Offenbarungen, um einen Weg in diesen Dingen, die doch kein Menschenhirn errechnen kann.

Eva hatte die gesunde Hand vor die Augen gelegt. Jetzt ließ sie sie sinken. Ihr Gesicht war erblaßt und verändert. »Hanne,« stammelte sie, »ich weiß schon; er war tot, der andere.«

Hanne nickte. Ihre ernsten Augen gingen in die Ferne. »Es war der Baron vom Schloß in Lützelbergen. Der Schlag hat ihn gerührt in seiner Kutsche, als er auf dem Heimweg war vom Gaulsmarkt in Oberstätten. Dort hat er zu viel getrunken. Michel Schan hat noch vors Gericht müssen und alles sagen. Jetzt ist er auch schon lang gestorben. Der Baron geht auf der langen Steige. Es hat ihn mancher gesehen.«

»Du auch schon?« fragte Eva sachlich und ernsthaft.

Hanne schüttelte stumm den Kopf und wandte den Blick nicht von der sonnigen Weite.

Das spottende Wort, das Heinz auf die Lippen treten wollte, erstarrte ihm im Mund. So leidvolle, blasse Gesichter 237 hatten die beiden Mädchen, als sei ihnen eine schwere Last auf die jungen Seelen gelegt. Er sprang empor und reckte die Arme. »Gehen wir! Die Geschichte ist doch aus?«

Eva sah ihm ins Gesicht. »Ich weiß gut, du lachst, du glaubst diese Sachen nicht. Freue dich nur, daß du sie nicht glauben mußt.«

»Mußt du sie denn glauben?« fragte lächelnd der Mann und trat neben ihren Stuhl. Sie hob den Blick zu ihm. Es war eine dunkle, fremde Tiefe darin, die er bis heute nie in ihren Augen gesehen hatte. Wieder überflutete ihn ein fast beklemmendes Gefühl, eine schweigende Erkenntnis, daß das Kind Eva unwiderruflich dahin und ein neues, ein anderes Wesen aufgetaucht sei, das ihm neu und anders gegenübertrat.

»Ich muß,« sagte sie ruhig, »wenn ich's nicht müßte, würde ich's nicht tun. Etwas in mir unterscheidet immer zwischen den Dingen, die ich glauben muß, und denen, die ich nicht glauben muß. Ich kann da gar nichts dazu tun.«

Hanne schaute hinüber. »So ist's bei allen Leuten, nur wissen sie's nicht.«

Heinz zwang sich zu einer Leichtigkeit, einer Überlegenheit, von der er innerlich nichts wußte. »Kinder,« sagte er, »ihr wißt wohl gar nicht, daß ihr da philosophische Blümlein rupft. Ich meine, wir sollten heimfahren, sonst läßt man uns noch suchen.«

Hanne raufte eine Handvoll Gras aus. »Mich sucht niemand,« sagte sie vor sich hin. Da tauchte auf dem Weg die lange Gestalt Semmes auf. Er kam, um nach seinen Schützlingen zu sehen. 238

Ein Rot wie Freude lief über Hannes dem Emporsteigenden zugewendetes Gesicht. Das gab ihm eine seltsame Fremdheit und Verklärtheit. Einen Zug, der von Dingen sprach, die noch nicht waren und doch schon heraufzogen.

Heinz sah es und stutzte. Hatte er eben den tiefen Graben erschaut und ermessen, der das Einst der vergangenen Kindheit vom Heute schied? Geahnt hatte er ihn längst und oft; aber es war ihm immer unbequem, unlieb gewesen, ihn anzuerkennen. Er hatte beständig noch Brücken gezimmert, um nach freiem Ermessen herüber und hinüber zu können! Nun aber, als der Knecht grüßend herzutrat und nach dem Griff des Fahrstuhls faßte, brachen auf geheimnisvolle Weise diese leichtgezimmerten Brücken zusammen. »Laß nur, Semme,« sagte Heinz hastig, fast unfreundlich, »ich schiebe den Stuhl selbst.«

Da setzte sich Eva aufrecht, und ihre dunklen Augen strahlten auf, ohne daß sie es wußte. Der Mann aber, der, neben dem Knecht und Hanne schreitend, den Stuhl schob, tat unterwegs immer wieder, als ob er nur Augen und prüfende Sinne habe für die Mechanik des Fahrzeugs. Das war die Brücke, die sein männlicher Stolz doch wieder ins Neue hinüberschlug, weil kein echter Mann sich eingesteht, daß er anders als auf eigenen Füßen über einen Graben komme und je gekommen sei.

*


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