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Warum war sie gestorben? Diese Frage beschäftigte fortan ausschließlich die ganze Stadt. Auf der Straße – an den Kaffeetischen – auf den Bierbänken war hinfort von nichts anderm mehr die Rede. Man erging sich in den abenteuerlichsten Mutmaßungen und wurde doch um kein Haarbreit klüger.
Die einen Sprachen von unglücklicher, die andern von allzu glücklicher Liebe, und mancher wollte schon immer vorher gesagt haben, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen werde.
Zu Lebzeiten schon war ihr stolzes, düsteres und schweigsames Wesen den guten Spießbürgern ein Rätsel gewesen, nun gab sie ihnen mit ihrem Tode ein noch größeres Rätsel auf. Das war unverzeihlich.
Inzwischen war man dahinter gekommen, daß der Physikus der erste gewesen war, der von dem Selbstmorde Kunde erhalten, und der einzige, dem sie ihr Vorhaben selber anvertraut hatte.
Man drängte sich an ihn – man stürmte ihm fast das Haus – aber er verharrte in Schweigen. So grob, wie nur eben er sein konnte, wies er den lästigen Fragern die Wege. Olgas Brief hatte er noch an demselben Tage den Flammen übergeben, denn er fürchtete, daß die Staatsanwaltschaft ihn ihm abfordern werde. Im übrigen war die Todesursache so klar, daß selbst von einer Sektion des Leichnams Abstand genommen werden konnte. Wie vorauszusehen, war es der Toten nicht gelungen, die Spuren ihrer Tat vollkommen zu beseitigen. In dem Wasserglase, das auf ihrem Nachttische stand, fanden sich, an der Wandung hängend, Tropfen einer Flüssigkeit, deren Geschmack auch dem Laien bewies, daß es sich hier um eine Morphiumlösung handle. Der Tatbestand vervollständigte sich, als man im Garten, zwischen Weißdorngebüschen zu Boden gesunken, Trümmer von Glasflaschen entdeckte, an deren Halse ein Teil des gelösten Giftes sich in weißen, kristallinisch schillernden Streifen ausgeschieden hatte. Sie waren augenscheinlich zum Fenster hinausgeworfen worden und trugen noch die Fahnen, die das Datum des Rezeptes und die Art des Einnehmens bezeichneten.
Wie die Sachen standen, wäre es von seiten des alten Arztes geradezu Wahnwitz gewesen, hätte er es wagen wollen, die selbstmörderische Absicht zu vertuschen, – denn selbst eine Fahrlässigkeit bei dem Gebrauche des schlafbringenden Mittels blieb ausgeschlossen.
Nichtsdestoweniger plagte er sich mit dem Selbstvorwurf, daß er den letzten Wunsch der Sterbenden nicht hatte erfüllen können, und gab sich das feste Versprechen, um so treuer wenigstens das Geheimnis zu wahren, in das sie die Motive der unglückseligen Tat gehüllt hatte.
Wenn er selbst erst nur zur Klarheit gediehen wäre! Aber die Tage vergingen, und noch immer gelang es ihm nicht, das Vermächtnis, das Olga ihm hinterlassen hatte, in seine Hände zu bringen.
Frau Hellinger senior mißtraute ihm – sie sagte ihm offen ins Gesicht, er habe schon immer mit der Toten Durchstechereien gehabt, und hinter seinem Rücken fügte sie hinzu, wenn er die unvernünftig scharfen Morphiumlösungen nicht verschrieben hätte, die arme Olga würde noch lange glücklich und in Freuden gelebt haben. So fehlte nicht viel, daß sie dem alten Freunde des Hauses die Schuld an ihrer Nichte Tod zugemessen hätte.
Jedenfalls litt sie es nicht, daß er fortan auch nur für eine Sekunde unbegleitet in dem Zimmer der Toten weile. Sie hielt dessen Tür sorgfältig verschlossen und erklärte, sie wolle nicht dulden, daß die Hinterlassenschaft der Toten, die sie als Heiligtum betrachte, durch fremde Hände und durch fremde Blicke entweiht werde.
Von Stunde zu Stunde wuchs so die Gefahr, daß jenes Heft, in dem Olga ihre Bekenntnisse niedergeschrieben hatte, der Alten in die Hände fiele.
Sie brauchte sich nur eines Tages gelüsten zu lassen, die kleine Bibliothek, die das Bücherbrett füllte, zu durchstöbern, so war das Unglück geschehen.
Zu dieser Unruhe, die den Alten täglich in das Haus der Hellinger trieb, gesellte sich die wachsende Sorge um Robert, der seit jener Schreckensstunde dumpfer, verzweifelnder Lethargie anheimgefallen war.
Er schien vollständig der Sprache beraubt, litt keinen Menschen in seiner Nähe und ging selbst ihm, dem alten Freunde, scheu und schweigend aus dem Wege; tagsüber trieb er sich auf den Feldern umher, die Nächte hindurch saß er neben dem Bettchen seines Kindes und starrte mit heißen, geröteten Augen darauf nieder.
So erzählten die Dienstleute, die ihn dreimal am Morgen in dieser Stellung gefunden hatten.