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»Du hast mehr Glück als Verstand, du Lausbub!« sagte der Vormund Franz Kral.

Gustav Gruber erwiderte nichts; er war ja zu einer neuen Weisheit gekommen: daß jeder Mensch von seinem Standpunkt aus recht hatte. Hatte keiner von den anderen etwas voraus und keiner war dem anderen von vornherein überlegen.

Franz Kral nahm es als sein selbstverständliches vormundschaftliches Recht in Anspruch, gegen Gustav grob zu sein. Gustav trug es ihm nicht nach. Er hatte gehört, daß des Vormunds älterer Sohn zum Militär eingerückt war und wegen eines Kameradschaftsdiebstahles in Garnisonsarrest saß. Franz Krals Masseurgemüt war vom Unglück ganz verquollen und konnte sich der Gerechtigkeit nicht öffnen.

Er verstand nicht, wie es möglich war, daß Gustav Gruber gleich nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis wieder sein guter Posten bei Morek zufiel – während der Ludwig im Garnisonsarrest saß.

Gustav war glücklich über den toten Punkt hinweggelangt. Es ging nicht an, im Wohnzimmer zu sitzen und zu zählen, wie oft die Ladentüre geöffnet wurde. Er wußte jetzt, wie es kam, daß er so wenig zu zählen hatte. Und außerdem wohnte dort drüben ein junges Mädel, das monatlich achtzig Kronen verdiente und vom ersten Jänner hundert Kronen verdienen würde.

Als er der Mutter seinen Entschluß mitteilte, sich wieder um eine Arbeit umzusehen, kamen der alten Frau die Tränen in die Augen. Der Herr Morek war dagewesen, lange ehe Gustav zurückgekommen sei, und habe sie gebeten ... gebeten! ... Gustav nur gleich zu ihm zu senden, wenn er frei sei. Er könne sogleich wieder bei ihm eintreten. Aber sie habe bisher nichts gesagt. Es sollte nicht so aussehen, als wolle sie ihn sogleich wieder in eine Arbeit drängen.

Gustav stand vor seiner Mutter in tiefer Scham. Er hätte ihr die Hände küssen mögen. Wie weich die harte Frau geworden war. Er hatte ein ganz qualvolles Verlangen, diese alten, welken Hände zu küssen. Aber er biß die Zähne zusammen und ging hinaus.

Herr Morek empfing Gustav auf eine seltsame Art. Genau als ob der junge Mann von einem achttägigen Urlaub zurückkehre und sich zum Dienstantritt melde. Er stellte keine Fragen und machte kein Wesen. Gustav möge nur hineingehen und sich beim Kanzleileiter vorstellen. Der wisse schon davon und werde ihm seine Arbeit zuweisen.

So saß Gustav wieder an seinem alten Schreibtisch, tat seine Arbeit, aß zur selben Zeit wie früher sein Gabelfrühstück aus der mütterlichen Gemischtwarenhandlung und meinte manchmal, das Leben lasse sich an, als wolle es dort fortfahren, wo es unterbrochen worden war.

Die Bureaukollegen benahmen sich anständig. Der Kanzleivorstand hatte strenge Weisung darüber zu wachen, daß Gustav nicht behelligt würde. Nur Wenngraf – wenn das Wenn nicht wäre, so wäre der Wenngraf ein Graf! – machte manchmal taktlose Witze. Er meinte, er sei der nächste dazu. Gustav ließ sie über sich ergehen, weil jeder Mensch von seinem Standpunkt aus recht hatte.

Übrigens war ein Bekannter aus dem germanischen Heldenzeitalter da. Viktorin, der Saxone, Viktorin, der Volkstümliche, Viktorin, der Einflußreiche. Über der roten Mütze lag die erste leichte Staubschicht des Philistertums, dafür war ein blankgeputztes Doktorat der Chemie da. Es war so funkelnagelneu, daß es noch dringend nach Bewunderung und Hochachtung verlangte.

Viktorins Kenntnisse entfalteten sich in Herrn Moreks Laboratorium. Sie entfalteten sich mit solch ungeahnter Ausdehnungskraft, daß Viktorin schon jetzt voraussah, dieser Wirkungskreis hier würde ihm bald zu klein werden. Das war nur ein Anfang, ein Sprungbrett. Hier war die Chemie dem Stahl untergeordnet. Aber Viktorin fühlte die Kraft in sich, irgendwo zu wirken, wo sie ganz obenauf war. Eine selige Morgentraumdeutweise sang ihm manchmal vor, die Welt werde noch einmal voll sein von irgend einem unentbehrlichen Ding, das Viktorin hieß, so wie es ein Vaselin gab und ein Aspirin.

Als Gustav zum erstenmal in das Laboratorium kam, traf es ihn schwer. Auf einmal stand es vor ihm: was doch alles in zwei Zähre hineinging, welcher Zeitraum dies war.

Er hielt sich verlegen in der Nähe der Türe ... die Hände an der Hosennaht.

Viktorin war gnädig. »Sie sind ein armer Teufel, Herr Gruber ... Sie haben es schwer büßen müssen. Na, Sie sind ja noch jung ...«

Viktorin bestand aus einem grünen Arbeitskittel und aus einem roten großen Kopf, die voneinander durch einen engen hohen Hemdkragen getrennt waren, das war eine besorgniserregende Erscheinung. Es sah aus, als werde das Wohlwollen durch diese dünne Röhre nur mühsam hervorgequetscht.

Gustav beging den Fehler, an Gemeinsamkeiten zu erinnern. »Sie sind uns ein Vorbild gewesen, Herr Viktorin!« Das war nur aus schwerer Verlegenheit herausgewachsen.

Aber Viktorin wurde zusehends noch länger, als solle sich der ganze Körper durch die Kragenröhre hindurchziehen. Erstens vergaß dieser Jüngling das blanke blitzende Doktorat. Und zweitens bis zehntens war überhaupt doch ein Abstand da. Viktorin äußerte also, er habe wenig Zeit und Gustav solle endlich seinen Auftrag ausrichten.

Auch die Arbeiter nahmen in ihrer Art Kenntnis von der Rückkehr Gustavs. Für sie war er der Attentäter, dessen Anschlag dem verehrten Doktor Posolda beinahe das Leben gekostet hätte. Sie kannten die Geschichte nur in der Darstellung ihrer tschechischen Zeitungen, und da hatte sie fürchterlich genug ausgesehen.

»Er ist wieder da. Der Alte hat ihn wieder aufgenommen!«

Sie waren nicht damit zufrieden, daß Gustav nur zwei Jahre bekommen hatte.

»Wenn das einer von uns gewesen wäre!«

»Da hätten sie anders zugepackt ...«

»Man sollte ihm einmal eins auswischen ...«

Und wenn Gustav vorüberging, da flog ein Murmeln hinter ihm drein, die entzündeten Augen funkelten in den rußigen Gesichtern, die Fäuste ballten sich. Aber sie wußten, der Alte hielt seine Hand über dem Menschen, und vor dem Wiking duckten sie sich, wenn sie seinen blonden Bart und seine breiten Schultern nur von weitem sahen.

Auch noch anders drängte sich die Vergangenheit an ihn heran. Zwei abstehende Ohren und ein süßsaures Wimmerlgesicht ... Hildebrand, der Finnenkönig, erwartete ihn vor dem Tor der Fabrik.

»Servus, Hagen!«

Die Hände staken in den Säcken eines Winterrocks, der einen sanften Spiegelglanz besaß. Um die Knopflöcher war dieser Glanz zu kleinen Monden zusammengeronnen. Aus allen Poren von Standeras Wesenheit hauchte der Geruch eines Morgengulasch', wie man es nach Nächten mit sehr vielem Bier in Kellerlokalen bereitet findet.

Da verwunderte sich Gustav darüber, daß er stehenblieb, trotzdem ihn etwas weitertrieb. Es war vielleicht auch bloß die Angst vor dem Aussehen. Standera würde hinter ihm herlaufen und schreien ... übrigens war es doch eine seltsame Sache mit dem Menschen und dem Menschlichen, daß sich schließlich, wenn aller Schmutz und alle Verwirrung abgetan war, doch ein Leuchtendes zeigte, eine Flamme, eine feurige Schrift auf dem Hintergrund des Ewigen.

»Dir geht's gut!« sagte Standera mit schiefem Mund und einem verbogenen Blick.

»Mein Gott ... wenn man seine Arbeit hat!« Kaum war das gesagt, so kam sich Gustav unsäglich blödsinnig und pastorenhaft vor. Das war wie aus einem moralischen. Traktätlein geredet. Und außerdem war es gar nicht wahr.

»Ja ... ja ...« sagte Standera und verdrehte die Augen, »du bist untergekommen ... das mein' ich ja eben. Aber ich ... ich bin unter die Räder geraten. Ich kann keine Arbeit finden. Für mich gibt's in der ganzen Stadt keine Arbeit.«

Standeras ganzes System war irgendwie windschief, mit wackligen Achsen. Er klappte plötzlich mit den Schuhsohlen auf und stand einen Moment lang auf den Absätzen. Dann war wieder alles in Ordnung. Nur der Gulaschduft wehte herüber.

»Geh' zur deutschen Stellenvermittlung oder zum Volksrat. Die werden doch wissen, wo du eine Arbeit bekommen kannst.«

Standera winkte ab, von oben herunter, mit schaufelförmigen Händen: »Keine Spur. Nicht zu machen. Ist alles nur wieder Protektion. Ja – Mädchen für alles werden sehr gesucht. Kann ich als Mädchen für alles gehen? Was möcht' denn da die gnädige Frau sagen?« Er sah vor sich hin, gramumwölkt, in seinem linken Mundwinkel stieg eine kleine Speichelblase auf.

Gustav umfing ihn mit aufrichtiger Betrübnis. Irgendwie trug auch er die Verantwortung für dieses Schicksal. Ein schneller, schielender Blick entging ihm.

»Wie ich schon ausschau',« sagte Standera, fuhr in die Taschen und zog zwei zerlumpte, schmutzige Säcke hervor. »Das ist die Innenseite! Wenn das noch lang so dauert, so kann ich mich gar nicht mehr vorstellen.«

Es war ein Mensch in der Welt, der war die Güte und die Stärke. »Warte,« sagte Gustav, »ich werde mit Herrn Morek sprechen. Der wird dir helfen.«

Wieder schnellte der krumme Blick. »Das wär' schön ... aber es müßt' gleich sein, Hagen. Denn ich bin in Not ... ich hab' gar kein Geld.«

Der Gulaschduft wehte wieder. Der ganze Mensch war in diesem Augenblick eine Mischung von gutem Magen und schlechtem Gewissen.

Gustav sann nach, wie es zu machen sei, daß Standera möglichst rasch zu Geld käme. Vielleicht gab Herr Morek einen Vorschuß.

Unter der Wimmerlhaut lief eine Gemütsbewegung dahin. Standera trat dicht unter Gustavs Blick: »Weißt du ... du könntest mir vielleicht fünf Kronen geben. Ich geb' dir's dann zurück, wenn ich einen Posten habe.«

Da war Gustav erlöst, daß es darauf hinauslief. Er gab Standera ein blankes, schweres Fünfkronenstück, das rund und wertbewußt einen Augenblick in seiner Hand lag. Er hätte sagen können, es ist mein letztes, aber er sagte nichts.

Nachmittag erschien Gustav bei Herrn Morek und bat für Standera. Der Chef versprach, etwas für ihn zu tun. Aber Standera kam nicht.

*

Gustav versuchte es, sich in der Arbeit festzuankern.

Aber manchmal war es wie Sturmflut und Seebeben, daß alle Anker rissen. Dann mußte er aufspringen und hinauslaufen. Er trieb sich auf den winterlichen Feldern herum. Da lag die Welt mit tausend Wegen, deren jeder zu seltsamen Fernen führte. Er war hier festgebannt und doch wurzellos.

Er kam abends oft zu Breitnickels und wollte sich die Freude an stetiger Arbeit – Spatenstich um Spatenstich – holen. Wollte wieder einen Sinn für seine Tage. Er wartete geduldig, bis die Türe aufging und Steffi kam. Bis sie den Schnee von den Füßen stampfte und den Velourhut gegen den Ofen hin schwenkte.

Es wurde oft sehr spät, bis sie kam. Sie hatten viel Arbeit in der Kanzlei. Es ging gegen Weihnachten, und man konnte durch Überstunden verdienen.

Gustav hatte wenig Freude an diesen Besuchen. Die Alten saßen mürrisch und verschlossen. Steffi war seltsam fremd und traurig. Manchmal schlug sie ihm mit einer unbekannten Lustigkeit schmerzhaft ins Gesicht.

Gustav hatte gelernt, Unausgesprochenes lange in sich zu tragen. Er wartete, bis es sich von selbst zum Wort drängen würde. Aber es kam nichts. Einmal begleitete ihn Steffi hinaus. Es war ihm, wie sie da in der Finsternis atmend neben ihm stand, als ob sie ihm etwas sagen wolle. Sein Herz hämmerte ungefüge, in einem überstürzten Takt.

Leise rührte er ihre Hand. Er hätte hinsinken mögen, alle Sehnsucht ausströmen, ihr sagen, daß alle Tage, alle Stunden von zwei vergeudeten Jahren an sie festgesaugt waren, daß sie ihr gehörten, daß alles Leid auf einem großen Opferstoß lag, den ein Wort von ihr hätte entzünden können. Jetzt war es ja noch anders als früher. Jetzt war sie nicht das Selbstverständliche mehr, sondern das Geheimnis und die Rechtfertigung.

Einen Augenblick lang lagen ihre Finger verschränkt. Da entzog sie sich ihm, da unterbrach sie den Strom. Die Hand glitt in die Finsternis zurück. »Gute Nacht,« sagte sie leise. Ein Lichtwürfel stand im dunkeln Vorhaus. Die Türe ging wieder zu ... die Nacht sank wie schwarze Wolle um ihn.

Oft kam eine Kindheitserinnerung. Da war ein Teich, der sich aus Weidengestrüpp in die Unendlichkeit dehnte. Vielleicht bis nach Amerika. Am Ufer lagen schwarze, algenüberzogene Muscheln. Sie fühlten sich glatt und schleimig an. Irgend jemand hatte gesagt, in diesen Muscheln sei das Perlmutter; das Glimmernde, Gleißende, Regenbogenfarbige, in dem die Sonnenstrahlen durcheinanderflirrten. Wenn man die Schalen auseinanderbrach, so lag die Herrlichkeit am Tage und das Licht tanzte darüber hin. Aber die Schalen hielten fest, ein geheimnisvoller Zug war stärker als Kinderfinger. Dann kam der Freudentag des ersten Taschenmessers. Und nun war das Geheimnis der schwarzen Muscheln geliefert. Die Klinge blitzte, schob sich, senkte sich in den haarfeinen Spalt. Ein Kinderatem ging rasch, die Finger entfalteten Hebelkräfte – ein rascher dünner Knacks und die Klinge war entzwei. Geheul zitterte über den blauen Teich – vielleicht bis nach Amerika. Irgend jemand sagte, man sei ein dummer Bub und solle einfach warten, bis das Muscheltier gestorben sei und die Schalen von selber klafften. Von solchen offenen Muscheln lägen genug herum, um hundert zweireihige Damenmäntel mit Knöpfen zu versehen. Aber war denn das dasselbe? ...

Irgendwie hing das alles mit Steffi zusammen ...

Unrast war in Gustav. Es litt ihn nicht an seinem Schreibtisch im Bureau. Alles, Papier und Tinte und Worte und Zahlen, war voll geheimer, boshafter Widerstände gegen ihn. Plötzlich nahm er den Winterrock und rannte hinaus, ohne jemandem zu sagen, wohin und warum.

Der Kanzleivorstand mußte sich endlich beschweren. Gustav Gruber vernachlässige seine Arbeit und gehe aus dem Bureau, ohne um Erlaubnis zu fragen.

»Lassen Sie ihn nur,« sagte Herr Morek, »es wird schon wieder werden. Er hat etwas Schweres mit sich abzumachen.« Und er ordnete an, daß Gustav am Samstag die Auszahlung an die Arbeiter vorzunehmen habe.

Da standen sie vor ihm, drängten sich vor dem Pult, eine wüste Masse, voll gespannter Feindseligkeit, obzwar sie aus seinen Händen Geld empfingen. Sie schoben ihm die Lohnzettel hin wie Beleidigungen, sie schrien plötzlich ingrimmig los, wenn sie glaubten verkürzt zu sein. Ihre Zeitungen hatten Gustav Gruber in ihre Spalten gespannt wie auf die Streckfolter. Herr Morek hatte also die Unverschämtheit gehabt, den abgestraften Verbrecher wieder in seinen Dienst zu nehmen!

Das widerhallte in ihren dumpfen, enggebauten Seelen.

Wenn Gustav zwischen ihnen hindurchschritt, dann brannten im Schimpfworte in den Nacken: »Du Elefant!« »Du Stier!« »Du Gestank!« Er hörte sie, aber er tat, als höre er nichts, denn er wußte, ein Wort von ihm, und Herr Morek beförderte sie hinaus, daß sie die Absätze verloren.

Einmal flog ihm auf den Hof eine schwere Schraubenmutter nach und schlug ein Stück des Bewurfes aus einer Wand. Gustav wandte sich nicht um, denn wenn er den Täter gesehen hätte, so hätte er ihn anzeigen müssen.

Da merkten sie, daß er sich alles gefallen ließ, und Wut und Übermut wuchsen miteinander. –

Und eines Abends war Hildebrand, der Finnenkönig, wieder da.

Gustav kam als letzter aus dem Bureau, die Kassaschlüssel klirrten in seinem Sack.

Standera trug ein gönnerhaftes Angesicht im Laternenschein und hatte in den Taschen festgewachsene Hände. Er ging ohne weiteres neben Gustav her. »Oh, du hast eine Schlüsselgewalt,« lachte er.

Gustav rückte seinen Bund zurecht, so daß er nicht mehr klirrte. »Warum bist du damals nicht gekommen? Herr Morek hätte dir eine Stelle verschafft.«

»Soll ich ihnen hier den Narren abgeben? Da weiß ich etwas Besseres, mein Lieber. Ich pfeif' ihnen drauf. Jawohl.«

Nach tagelangem Regen war die pflasterlose Seitengasse weich und tief wie ein melancholisches Gemüt und braun wie ein Tortenüberguß. Jetzt aber war der Frost gekommen, und die braune Sumpfschicht war von hellen Kristallen überkrustet. Die Laternen freuten sich und streuten silberne Funken. Die letzten Wagenspuren und Menschentritte erstarrten zu geheimnisvollen Zeichen, Bruchstücken einer Schrift, die aus dem Dunkel kam und ins Dunkel leitete.

Ein schmaler Übergang führte von einer Seite der Straße zur anderen. Standera ging voran, und zwischen Rockkragen und Hut standen die Topfhenkelohren. Als sie drüben angelangt waren, drehte er sich um: »Jawohl, mein Lieber! Nach Südafrika!«

Da war es immerhin merkwürdig, daß da, jenseits des Weges über den mit Frostkristallen bestreuten Tortenüberguß Südafrika lag. Eine Steppenlandschaft reichte plötzlich aus Jugendtagen herüber, traumhaft absonderliche Kakteen reihten böse Stacheln um kleine rote Blüten, in der Ferne ein träger Zug von Wagen mit braunen Leinendächern, über dem Geier flogen. Im Vordergrund ein Wasserloch, in dem ein Büffel steckte, daß nur das Maul und die breite Stirn mit den tückischen Augen hervorsahen. Und daneben hockte ein Zulu mit einem ovalen Schild und Büscheln von Schilfgras an den Hand- und Fußgelenken. Plötzlich zischte ein Wort mit einer breiten Klinge vorbei: Assagai!

Assagai! Das zischte und sang.

Alle die verworrenen Fernen hatten plötzlich einen Sinn und waren weit geöffnet. Ein dunkles Sehnen hatte auf einmal einen Namen.

Inzwischen hatte Standera eine der festgewachsenen Hände losgerissen und den Arm Grubers erfaßt. Ja, er sei entschlossen, von hier wegzugehen, es sei einfach lächerlich, hier in irgend einem Beruf unterzukriechen und sich zu schinden. Wo doch die Welt so weit sei und ein gesunder kräftiger Mensch überall seinen Platz finde. Da sei einer in Pankraz gewesen, der habe Turkestan gesehen und die Mandschurei und alles zu Fuß. Nach Südafrika sei es aber zu Fuß doch etwas weit. Bis Znaim gehe es ja, aber dann ziehe sich der Weg. Man müsse sich doch, ob man wolle oder nicht, einem Schiff anvertrauen. Das sei nun freilich der Haken bei der Geschichte, denn dazu brauche man Geld ... wenn man nicht etwa unten im Schiffsraum als blinder Passagier bei den Ratten hausen wolle.

Langsam verblaßte das Gelb und Rot der glühenden Steppenlandschaft, durch das buntgestreifte Fell eines Zebras schimmerte schon wieder eine Straßenlaterne und der Zulu hockte nicht mehr neben einem Eukalyptusbaum, sondern vor einer Plakattafel auf gefrorenem Straßenkot. Ein Wort war gesprochen worden, vor dem Südafrika versank: Geld!

Auf einmal klingelte ein Wagen der Straßenbahn vorbei und es roch nach vielen Menschen, die den Atem von Fabriken nach Haus trugen. Sie waren in der Hauptstraße und im Strom der Heimkehrenden.

»Ich wär' schon längst nicht mehr hier, wenn ich Geld hätt',« sagte Standera, »wenn ich wär' wie du ... wo wär' ich da schon ...?«

Jetzt fühlte Gustav einen schnellen, krummen Blick auf seinem Gesicht. Was denn Standera für dummes Zeug rede, ob er denn nicht wisse, daß man mit einem ganzen Monatsgehalt höchstens bis Triest komme.

Natürlich wußte Standera das. Aber man müsse sich eben besser versehen. Einmal ins Volle greifen.

»Du glaubst vielleicht, daß meine Mutter ein Guthaben bei der österreichisch-ungarischen Bank hat, aus dem sie mir die Reise bezahlen kann? Nein ... der geht es schlecht genug, seitdem sie vom alten Posten weg ist. Die hat Sorgen von einem Tag zum andern.«

»Deine Mutter! Wer spricht denn von deiner Mutter?«

»Na also!«

Da zog Standera die Hand aus Gustavs Arm und gab ihm einen Klaps gegen die Tasche, daß der Schlüsselbund klirrte. Der Mund zog sich im Halbkreis bis in die Nähe der Topfhenkelohren. »Wenn man die Schlüsselgewalt hat! Ich weiß doch, daß du die Arbeiter auszahlst!«

Jäh stieg eine dunkelrote Flut aus Tiefen bis in Gustavs Gehirn. »Ich soll stehlen?«

»Schrei nicht so! Wer sagt das? Verlang' ich das von dir? Du nimmst dir, so viel wir brauchen. Spürt das der Morek? Es ist ausgeborgtes Geld. Wenn du unten zu etwas gekommen bist, so schickst du es ihm wieder. Mit Zinsen meinetwegen, damit der Morek keinen Schaden hat. Du kannst ihm ja einen Brief zurücklassen. Und nach einem halben Jahr kriegt er eine Geldanweisung und wieder einen Brief. Er wird sich freuen, daß er dir zu einer Existenz verholfen hat.«

Es wurde manchmal schwer, daran zu glauben, daß jeder Mensch von seinem Standpunkt aus im Recht sei. Wie einfach war das früher gewesen, das Unbedingte, der Wotansglaube, das feste Gefühl, hier ist Recht und da ist Unrecht, wo Zustimmung und Entrüstung so leicht zu scheiden waren! Wie sollte man sich da darein finden, nach Erklärungen zu suchen?

Gustav schritt rascher aus und Standera baumelte neben ihm her. Ab und zu schnellte ein krummer Blick über Gustavs Stirn. Auf der Welt sei es schon so eingerichtet, daß der eine Geld hätte und der andere keines. Und alle großen Unternehmungen hätten damit begonnen, daß irgend jemand sich irgendwoher Geld verschafft habe. Was sei ein Aktienunternehmen? Die Gründer nähmen von anderen Leuten Geld und gäben ihnen dafür ein Versprechen. Das sei genau dasselbe wie hier. Nur sei der Erfolg viel sicherer als bei einem Aktienunternehmen.

Standera entfaltete die Beredsamkeit eines Versicherungsagenten. Er sprach mit dem ganzen Körper. Die festgewachsenen Hände waren endgültig aus den Taschen gelöst und holten die Gründe aus der Luft, als tanzten sie wie Mücken vor ihnen, sie ballten sich zu Fäusten, als wollten sie die neuen Erkenntnisse wie Keile zwischen Gustavs Überzeugungen eintreiben.

Sie kamen in einen grellen Lichtschein, der breit aus Swatopluk Kožoušeks Laden über die ganze Straße gemauert war. Drinnen drängten sich Frauen in Umschlagtüchern, Frauen in Hüten und Dienstmädchen vor dem Marmortisch. Die Kurbel der Wurstschneidemaschine knatterte, die Registrierkasse klinkte zweimal nacheinander hell auf. Das lachende Gesicht eines Kommis im Hintergrund des Ladens schwamm einen Augenblick lang über der Menge.

»Ich hab' eine alte Mutter, Standera,« sagte Gustav.

»Und glaubst du, die wird sich nicht freuen, wenn du ihr in einem halben Jahr so viel Geld schicken kannst, wie sie noch nie beisammen gesehen hat? Na also ... damit du nicht sagst, ich schneid' auf ... aber in einem Jahr gewiß!«

Sie gingen schief über die Straße. Aus einer schmalen Tür und einem Fensterschlitz kroch ein armseliges, mühsames Licht, als ob es sich kaum auf die Straße getraue. Es war nur der arme Verwandte der strahlenden Herrlichkeit von drüben.

»Gute Nacht!« sagte Gustav.

»Na ... was is also? Du willst nicht?«

»Wie kannst du das von mir verlangen, Standera? Soll ich sein Vertrauen so täuschen?«

Standeras Hände wuchsen wieder in den Taschen fest. Er trat einen Schritt zurück und sein Blick kroch schleimig über Gustavs Gesicht. Und plötzlich brach es aus ihm hervor wie eine Eiterbeule aufplatzt: »Ich hab' es ja schon immer gesagt, daß du ein Schlappschwanz bist.«

»Standera!«

»Ich weiß gar nicht, woher du den Mut genommen hast ... damals zu der Geschichte.«

Gustav senkte den Kopf. Er war das ja gar nicht gewesen. Das hatte ein anderer getan, in dessen Seele die »Wacht am Rhein« klang, der sich beim Sonnwendfeuer als Nachkomme Dietrichs von Bern fühlte und Alarichs, der Rom zerstörte.

»Aber ich weiß, warum du nicht mitgehen willst! Deine Mutter – lachhaft! Die Steffi Breitnickel ist das süße Geheimnis. Na ... ein guter Kerl bist du ja, aber daß du der nicht einen Tritt gibst ... das hab' ich doch nicht gedacht, daß du dir so was gefallen läßt.«

Es war plötzlich ganz sonderbar anders um Gustav. Die Laternen und Häuser waren fort. Er und Standera schwebten in einem leeren Raum, aber auch die Körper waren nicht da. Nur Gehirn und Herz lebten.

»Was ... was?«

»Na ... es muß ja eine nette Bescherung für dich gewesen sein, wie du zurückgekommen bist. Aber du verträgst dich ja recht gut mit dem Herrn Vozihnoj oder wie der Halawachel heißt. Es ist eine ehrliche Teilung. Die Leut' sagen, daß euer deutsch-tschechischer Ausgleich ...«

Eine stählerne Sehne klang in Gustav. Plötzlich fühlte er seinen Körper wieder, und da war ein anderer Körper, der sich unter seinen Fäusten wand.

»Laß aus! Auslassen!«

»Was sagst du? Wer soll das sein?«

»Laß aus ... ich hab' gemeint, du weißt es ...«

Gustavs Fäuste wurden schwer und sanken. Standera hob seinen Hut auf, ein scheuer, krummer Blick schnellte von unten auf. »Ich hab 'wirklich gemeint, daß du es weißt ...«

»Wer ist es ...?«

»Ein tschechischer Techniker ... Vozihnoj oder wie er heißt ... Sie geht doch schon lange mit ihm ...« Standera kroch wieder langsam heran.

Gustav hob die Fäuste: »Geh' fort, du Schuft!«

Da säumte Standera nicht länger. Machte nur eine Grimasse von fratzenhafter Abscheulichkeit und ging. Aber aus fünfzehn Schritt Entfernung rief er noch: »Du Schlappschwanz!«

Gustav ging über die Straße und saß in der kalten Verdrossenheit und dem mürrischen Schwingen der Breitnickelschen Stube, bis Steffi kam. Er mußte bis halb zehn warten.

Als sie ihm die Hand reichte, ließ er sie nicht sogleich und sagte mit einer zitternden und demütigen Stimme, er habe eine große, große Bitte. Eine so unendliche Zärtlichkeit quoll aus seinen Worten, daß ihn Steffi fast erschrocken ansah.

Ob sie nicht morgen nachmittag mit ihm ausgehen wolle? Morgen sei Sonntag. Und Steffi sei noch nicht ein einziges Mal mit ihm ausgewesen.

Steffi entzog ihm die Hand und sah von ihm fort. Das sei leider unmöglich. Sie habe bereits einer Freundin ihren Besuch versprochen.

*

Der Sonntag ist ein Tag, in den viel hineingeht, wenn man nicht ein leichtes Gemüt hat.

Wenn man morgens aufwacht und die Freude steht am Bett und lacht aus blauen Augen, dann sind die Morgenwolken mit Gold verbrämt und die Stadt hat lauter blankgeputzte Fenster. Man hat Sonnenschein und Wind in den Segeln, und die Stunden gleiten und tanzen, und auf einmal ist der Abend da, und man weiß gar nicht wie.

Aber wenn man etwas Schweres in sich hat, dann sind die Sonntagsglocken wie böse erzene Vögel, die mit krummen Schnäbeln nach dem Herzen zielen. Man sinkt und sinkt bis auf den Grund des Sonntags und sieht, daß er eigentlich ein nasser, kahler und kalter Raum ist, ein endlos hingedehntes Kellergewölbe, angefüllt mit Bangigkeit und traurigen Gedanken. Es ist abscheulich, wieviel Bangigkeit und traurige Gedanken in einen solchen Sonntag gehen.

Gustav sah auf den Grund des Sonntags, und alles ringsum war Trübsal. Er fühlte etwas Unabwendbares, dem er keinen Namen geben konnte. Alles Tun war sinnlos. Man hätte in den Wintertag hinauslaufen können, um am kurzen Faden wieder zurückzukehren. Aber auch das Stillsitzen war unerträglich.

Die Mutter rechnete in den Geschäftsbüchern, in denen ungefüge Zahlen über die langen, schmalen Seiten hinabrutschten. Und ihr Seufzen zeigte, wie wenig die Rechnung stimmte. Sie schien ganz vergessen zu haben, daß Gustav dasaß.

Die Stunden rollten holpernd vorwärts, in den Achsen knarrend und ächzend, wie die plumpen Räder eines Ochsenwagens.

Plötzlich tat sich im Kellergewölbe des Sonntags eine Türe auf. Standera kam daher, heiter und unbefangen, als ob gestern gar nichts gewesen wäre, als ob sie einander nicht Schlappschwanz und Schuft genannt hätten.

Er sei im Begriff, einen Spaziergang zu machen, und dabei sei ihm eingefallen, er sollte doch einmal nachsehen, ob der Gustav vielleicht zu Hause sei. Tat wie der allerbeste Freund.

Fern am Ende gewölbter Gänge, zwischen steinernen Wänden schimmerte noch ein Stück blauen Himmels.

Die Mutter hatte das schmale Geschäftsbuch zugeklappt, ganz erschrocken, weil sie nicht sicher war, ob man ihr das grausame Urteil der Zahlen nicht auf dem Gesichte lese. Jetzt zog sie noch ein Stück Flickwäsche über das schwarz und grün gestreifte Buch, damit es ganz verborgen sei.

»Ja, Gustav ... du solltest hinausgehen ... ein bissel Luft schnappen.«

»Ein bürgerlicher Ausgang,« meinte Standera, »vielleicht mit einem Topf Bier am Ende.«

Gustav war wie erlöst, weil ihm jemand gesagt hatte, was er zu tun habe. Er zog sich an und ging mit Standera. Denn man soll dem Menschen Irrtümer und Versuchungen nicht nachtragen, und echtes Menschentum ist ständiges Vergeben.

Noch schleifte der Sonntag ein Stück seines blauen Herrschermantels über die leicht beschneiten Felder. Ganz ruhig lag die gewellte Ferne mit rostbraunen, schwarzgrün gefleckten Wäldern und roten Ziegeldächern und blauem Herdrauch. Zwischen der Ferne und den Feldern, auf denen kleine Menschengruppen zerstreut waren, lag eine langgestreckte Vorstadt, wie eine Zunge, mit der die Stadt weit ins Land hinaus leckte. Sonst hatte sie ein heftig pulsendes Leben von Hämmern und Schlägen von Eisen gegen Eisen, heute brachen sich nur vereinzelte blecherne Töne von ihr los. Ein Gurren und Grunzen wildvergnügter, taktfester Tanzmusik. Es war, als wolle sie den ganzen Abend in ihren Polkarhythmus zwingen.

Das einsame Kreuz stand da, nicht weit von dem Bahneinschnitt, durch den jetzt ein Zug kam, von einer schnaufenden Lokomotive gezogen, die recht grimmig dreinsah, damit man nicht merke, wie gutmütig sie im Grunde sei, und daß alle Witze wahr seien, die man sich von ihr erzählte. Auf dem kleinen überfrorenen Wassertümpel unten in der Ziegelei hatten die Buben eine Schleifbahn. Sie fegten nach kurzem Anlauf hintereinander her, mit ausgebreiteten Armen balancierend. Einer, der einen Schlittschuh hatte, war der König. Er gesellte sich nicht zu den übrigen und übte für sich seine einseitigen Künste.

Standera sprach von politischen Dingen. Ging neben Gustav her, mit festgewachsenen Händen, und stürzte die Regierung. Der Staat Österreich wackelte, und der ganzen tschechischen Nation waren die Hosen angespannt und wurden gründlich durchgeledert.

Gustav hörte ihm kaum zu. Er war an die Landschaft festgesogen und trank die Zuversicht und Ruhe, die aus ihr strömte. Es war ihm, als müsse ferne, irgendwo am Ende der Welt, doch auch für ihn ein wenig Glück sein.

Sie waren sachte von den Feldern herabgeschritten, der langgestreckten Vorstadt zu, und kamen über ein glattes, schwarzes, nasses Bahngeleise zwischen niedrige Häuschen. Auf einmal standen sie vor dem Wirtshaus, von dem aus der Polkarhythmus den ganzen Abend unterwerfen wollte.

Es war die richtige Strampelmusik. Das wichtigste waren die Baßposaune und die Pauken. Die waren die Grundfesten und hielten die ganze musikalische Sonntagsherrlichkeit zusammen. Sie zerfurchten Weltall und Menschheit und säten in die zerrissenen Eingeweide des Kosmos die raschwüchsigen Oberstimmen. Denn was sich da oberhalb der Baßposaune und Pauke bewegte, war nur ein ungegliedertes Geranke, ein Tondickicht, aus dem manchmal ein unvermuteter Klarinettentriller hervorbrach, wie Ziethen aus dem Busch.

Das Tongeranke wucherte üppig aus den rotverhangenen Fenstern des Tanzsaales. Der Polkarhythmus aber sprang herausfordernd aus der Türe, nahm den vornehmen alten Herrn, den Abend, um die Hüften und hopste mit ihm in der Dorfstraße herum.

Gruppen von jungen Burschen und kurzröckigen Mädchen standen draußen, ließen sich den Rhythmus in Blut und Füße strömen und starrten neiderfüllt auf das verwunschene Schloß der Freuden.

Gustav sah auf und las die tschechische Aufschrift über der Türe. Sie lautete »Restauration zum Hadschi Loja«. Das sah in der berühmten tschechischen Rechtschreibung so wunderlich aus, daß sich jeder Seelenzustand in ein Lachen lösen mußte. Aus dem Namen des Bosniaken war ein System von Haken und Strichen geworden.

Das war also der musikerfüllte Tempel der bereitwilligen Vorstadtvenus, in dem die Dienstmädchen mit der bewaffneten Macht zusammentrafen. Hierher flogen die Sehnsüchte des Wochentages. Hier lösten sich alle Unzufriedenheiten und alle Zwistigkeiten mit der Herrschaft in kleine, leichtgekräuselte Seufzer, in Kichern, in schweißtriefende Verklärtheit, in den feuchten Schimmer der Augen und die Hingebung an den Tanz. Die Restauration zum Hadschi Loja hatte einen gewissen Ruf und Namen auch unter den bürgerlichen Schichten der Tschechen. Wer fürs Volkstümliche war, kam hierher, um eine Stunde zuzusehen. Der Wirbel war bunt und lustig. Der unternehmende Jüngling aus dem Handelsstand hatte Aussicht, unter günstigen Umständen durch seine Eleganz ein rasch entflammtes Herz und eine Hand in feuchtem Zwirnhandschuh zu gewinnen.

Standera schritt die fünf Stufen hinan und legte die Hand auf die Türklinke. »Du willst hinein?« fragte Gustav.

»Komm nur ... so weit geht die Feindschaft nicht,« meinte Standera.

Zuerst sah man wenig mehr als einen Urnebel, in dem sich Formloses wälzte. Es war wie am Morgen der Zeiten. Nach und nach schob es sich aus Rauch und Staub: steif gestärkte Röcke, rund um festgefügte Waden, das Sonntagskleid der besseren Mädchen mit zwanzig Kronen Lohn und sechs Kronen Nachtmahlgeld, blauer Rock und weiße Battistbluse und ab und zu ein Stubenmädchen, das sich herabgelassen hatte, in pompöser Überlegenheit. Alles bunt mit Waffenröcken gemischt. Rote Gesichter quirlten durcheinander, schmiegten sich strahlend an breite Schultern.

Aus dem Polkarhythmus war ein Walzertakt geworden. Das Hopsen wandelte sich in Schleifen und Drehen. Die Welt der Zwirnhandschuhe und der Virginier bewegte sich nach neuen Gesetzen. Es schlürfte und surrte und wolkte dahin. Ganz in der Mitte des Saales tanzte ein langer Korporal mit einer hingegossenen Maid fast auf demselben Fleck.

Gustav und Standera hatten sich durch die drehende Welt gewunden und standen an der Wand.

Jetzt tat die Baßposaune noch einen mächtigen Schnarcher und die Klarinette endete erschrocken mitten in einem Triller, der auf mehr berechnet gewesen war. Der Walzer war zu Ende.

»Jetzt trinken wir ein Glas Bier,« sagte Standera, »da im Extrazimmer.« Ein krummer Blick schnellte über Gustavs Gesicht.

Das Extrazimmer lag mit weit geöffneten Flügeltüren neben dem Tanzsaal. Die Tische waren für die besseren Gäste weiß gedeckt. Man sah sogleich, daß es hier sogar eine Speisekarte gab.

Gustav tat einen Schritt voran und blieb plötzlich stehen. Es war auf einmal hartes, klingendes Glas um ihn ausgegossen, das Schritt und Atem festhielt. Nur sehen konnte man mit grausamer Deutlichkeit.

Da saß Steffi an einem kleinen Tisch. Und neben ihr ein junger Mensch mit einem hübschen, regelmäßigen Gesicht, frisch, kühn und lustig wie ein junger Ringkämpfer. Im Knopfloch trug er eine kleine weißblaurote Rosette. Er hatte die Hand auf Steffis Arm gelegt, war zu ihrer Schulter geneigt und flüsterte ihr lachend etwas zu. Und Steffi lachte zurück, mit geschürzten roten Lippen und matt schimmernden Zähnen. Tausend Vertraulichkeiten sprachen aus diesem Lachen. Seine Hand lag auf ihrem Arm mit dem Stolz und dem Übermut des Besitzers.

Ein Gefreiter stand plötzlich vor Gustav, grinste und reichte ihm einen blechernen Doppelliter. Hinter ihm stand ein anderer Krieger mit einem Teller, der mit einer Serviette überdeckt war. Es war eine freundschaftliche und volkstümliche Methode, das Bier im Tanzsaal nicht ausgehen zu lassen.

»Trink!« flüsterte Standera.

Gustav regte sich. Die gläserne Umhüllung zersprang klirrend. Gustav trank, über den Rand des Blechgefäßes sah er Steffi. Sie rückte unruhig, wandte den Kopf, und in ihre Augen kam ein jäher Schrecken. Es war, als wolle sie aufspringen. Der junge Mann neben ihr nahm langsam die Hand von ihrem Arm und sah sich um, sein Blick glitt gleichgültig über die Gruppe an der Türe und kehrte zu ihr zurück.

Gustav setzte ab und holte tief Atem. Der Soldat nahm den Doppelliter an sich und sagte, der Herr habe einen guten Zug, er sei sicher beim Militär gewesen. Gustav zog seine Börse hervor und schob eine Münze unter die Serviette des hingehaltenen Tellers.

»Gehen wir!« sagte er.

Steifgestärkte Röcke, Schweißgeruch und Staub – dann polterte und trampelte der Polkarhythmus hinter ihnen her in der Nacht.

Da war das Bahngeleise, das sie überschritten hatten. Vor wieviel Jahren doch? Gustav las auf einer Tafel, grell im Schein einer gegenüberstehenden Laterne: »Achtung auf den Zug!« Gut ... gut, dachte er, man wird schon Achtung geben, wenn man nicht geradezu lebensüberdrüssig ist.

Im Hohlweg war der dünne Schnee zertrampelt. Sie kletterten die Böschung hinauf und gingen oben auf den Rändern, jeder auf einer anderen Seite. Zwischen ihnen lag ein schwarzer Riß, ein Spalt, und wenn man nicht gewußt hätte, es sei nur ein Hohlweg, so hätte man glauben können, er gehe bis zum Mittelpunkt der Erde.

Aber dann verflachte der Einschnitt, der Hohlweg wurde wieder ein gewöhnlicher Feldweg, und sie gingen nebeneinander her. Es war dunkel um sie, nur über den Vorstädten hinter ihnen und vor ihnen hing rötlicher Schimmer. Das Gestänge des Windmotors war plötzlich vor diesem Schein gekreuzt, man ging am zackigen Bruch der Lehmgrube hin.

Das einsame Kreuz reckte sich aus dem Boden. Bis hierher reichten Baßposaune und Pauke mit ihrem Strampelrhythmus.

»Wann willst du fort ...?« fragte Gustav.

»Gleich! Ich bin fertig,« sagte Standera hastig, »meinetwegen morgen früh ...«

»Ja ... ja ... morgen früh ...«

»Willst du denn mitgehen?«

»Ja ... ich gehe mit.«

»Und wirst du –«

»Wo treffen wir uns? Hier oben ... bei dem Kreuz ...«

»Auf dem Bahnhof nicht?« Standera war atemlos.

»Nein! Nicht auf dem Bahnhof! Nicht mit der Eisenbahn! Wir wollen zuerst ein Stück laufen.«

Standera überlegte. Es war am Ende besser, wenn man nicht mit der Eisenbahn fuhr. Wenigstens im Anfang nicht – falls man etwa gesucht würde. Und die Hauptsache war, daß Gustav losgeeist wurde. »Gut,« sagte er, »also wir wollen laufen. Hier bei dem Kreuz treffen wir uns! Aber ganz zeitig früh!«

»Um fünf Uhr!«

»Gut – um fünf Uhr. Aber kommst du bestimmt?«

»Ich komme!« Gustav ließ Standera stehen und schritt querfeldein abwärts in die Finsternis, dem rötlichen Baldachin über schwarzem, gezacktem, von Lichtpunkten durchbohrtem Häuserwerk zu ...

Auf dem Tisch stand das unvermeidliche Nachtmahl: Wurst und Bier. Frau Gruber saß mit den Händen im Schoß. Sie hatte Angst vor der kommenden Woche. Das Bräuhaus würde pünktlich seine Rechnung schicken.

Gustav machte so seltsam sinnlose Handbewegungen über dem Nachtmahl, wie an jenem ersten Abend ...

Er ließ die Hände sinken. Dann hob er sie wieder und deckte das Gesicht mit ihnen.

»Was hast du?« fragte die Mutter.

»Hast du es gewußt?« Gustav nahm die Hände nicht vom Gesicht, aber die Mutter sah dennoch das nagende Leid. Also heute – heute hatte er es erfahren müssen.

»Was denn?« fragte sie. Ein törichter Gedanke: vielleicht meinte er etwas anderes.

»Warum hast du es mir denn nicht gesagt? Ich bin zum Gespött geworden ...« Alles zitterte und schwamm vor Frau Grubers Augen. Gustavs Kopf und Hände zuckten und zerflossen. »Schau, Gustav, ich hab' geglaubt ... mach' dir nichts daraus, wenn sie dich so bald vergessen hat ...« Dann schwieg sie. Auf der ganzen weiten Welt war kein Wort mehr, das man hätte sprechen können.

»Ja!« sagte Gustav, nahm die Hände vom Gesicht, das sehr seltsam ruhig war. Er stand auf und ging zur Kommode. »Du hast recht!« Er hob einen kleinen gläsernen Stiefel empor, auf dem ein von Fichtenzweigen und Weidenkätzchen umrahmtes Stadtbild war. »Gruß aus Olmütz« stand darunter. Gustav hielt das gläserne Ding gegen das Licht und steckte es dann in den Sack.

»Ich gehe noch aus!« sagte er.

Frau Gruber sah ihn flehend an. »Kommst du bald zurück?«

»Ja!« Er trat vor die Mutter, mit hängenden Armen und unsicherem Blick. Etwas Unbekanntes umgab ihn, etwas Angsterregendes. Seine Arme schienen sich heben zu wollen, sanken wieder.

»Gute Nacht!« sagte er.

Sie blieb allein mit dem heiligen Aloisius. Mit dem verstand sie jetzt schon zu sprechen, wie mit einem hohen Herrn, der einem viel Güte entgegenbringt. Man ging immer getröstet von ihm. Frau Gruber schlief zuerst sehr unruhig. Mitten in der Nacht war es ihr, als höre sie Gustav zurückkommen. Da gab sie sich erst an den Schlaf hin ... bis in den Montagmorgen hinein.

Aber, als sie erwachte, da sah sie, daß Gustavs Bett leer und unberührt war ...

* * *

 


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