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Am Abend des 30. August wurde gegen den bekannten Reichsrats- und Landtagsabgeordneten Doktor Posolda ein Bombenattentat verübt. Gegen halb zehn Uhr, eben als der Hausmeister in Unterhosen und Schlappschuhen über das Vorhaus ging, um das Haustor zu schließen, tat es hinten, im dunkeln Winkel unter der Stiege, einen mörderischen Krach. Gleich darauf quoll eine dichte Rauchwolke über den Flur hin.
Der Hausmeister Wenzel Lefenda hatte bei der Artillerie gedient und noch immer sang er beim Stiefelputzen das Lied vom heldenmütigen Kanonier Jawurek. Aber trotzdem erschrak er im ersten Augenblick so, daß er gegen die Wand taumelte und einen Schlapfen verlor. Dann aber faßte er sich und schnupperte in die Luft. Im Bereich des Scheines der Straßenlaternen wogte weißer Rauch ...
... Pulverrauch ...!
Jemand riß die Türe der Hausmeisterwohnung auf und schrie: »Jeschisch Maria!«
»Bring Licht, Alte!« brüllte Wenzel Lefenda, wütend, weil er vor Verwirrung und Eifer in das Stiegengeländer hineingerannt war.
»Was is los? Was is g'schehn?« fragte eine Menge von Stimmen von oben herunter. Da stand in jedem Stockwerk ein Haufen von Menschen bestürzt, erregt, neugierig, schadenfroh.
»Es hat sich jemand erschossen!«
»Hausmeister, holen S' die Rettungsgesellschaft.«
»Ich geh' hinunter, nachschauen,« sagte Herr Abendgeleit, der Reserveoffizier war.
Aber Frau Ottilie packte ihn sogleich an der Rockfalte: »Nein ... ich laß dich nicht ... daß dir was geschieht!«
Inzwischen hatte Frau Lefenda Licht gebracht. Wie ein Känguruh sah sie aus, wie sie so dastand, mit dem stark entwickelten Unterleib und dem verkümmerten Oberkörper, über dem sie die Arme hielt wie Hasenpfoten.
Wenzel hatte ihr die Küchenlampe aus der Hand gerissen und leuchtete umher. Da lag eine verbogene und zerrissene Sardinenbüchse mit einem schwarzen Satz verbrannten Pulvers, und ringsherum war eine Menge von Glassplittern und kleinen Tapezierernägeln ausgestreut. Zuerst betrachtete Herr Lefenda diese Dinge mit nicht geringem Erstaunen, dann tat es in seinem Kopfe einen Knall, fast ebenso mächtig wie der der Sardinenbüchse vorhin. Er erinnerte sich auf einmal der Schreckensnachrichten aus Rußland, der in die Luft gesprengten Generale, der zerrissenen Polizeimeister, der erschossenen Großfürsten und verstümmelten Präfekten. »Eine Bombe,« murmelte er, »eine Bombe! Da haben wir's. Jetzt geht es bei uns auch schon so ...« Und noch schreckensbleich, aber im Vollgefühl seiner Verantwortung für alles, was nun folgen mußte, begann er Glassplitter und Tapezierernägel mit den Händen zusammenzufegen und in die Sardinenbüchse zu schaufeln.
Dann lief er die Stiegen hinauf und drängte sich durch die Neugierigen im Mezzanin, indem er die Sardinenbüchse hochhob, wie ein Speisenträger in einem überfüllten Wirtshausgarten seine Teller.
»Was is das? Zeigen S', Herr Lefenda!« rief man ihm zu.
»Eine Bombe,« schrie er zurück und lief schon die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Lächerlich ... a Sardinenbüchsen!« sagte Herr Abendgeleit.
»Kann auch a Malheur geschehn!« erwiderte Frau Ottilie.
Im ersten Stock erwartete der Hausherr Doktor Posolda seinen getreuen Beschließer. Er schob ihn ohne weiteres vor sich her in die offenstehende Türe seiner Wohnung; die anderen Leute, die da herumstanden, brauchten nicht zu hören, was er mit Lefenda zu verhandeln hatte.
Doktor Posolda war allein zu Haus. Frau und Kinder befanden sich noch auf Landaufenthalt. Sonst pflegte der Doktor um diese Zeit erst vom Nachtmahl zu kommen; heute aber war er schon daheim, einer dringenden Arbeit wegen, denn es galt, die Stellung des Jungtschechenklubs für die bevorstehende Einberufung des Reichsrates in einem Leitartikel klar zu umschreiben. Auf dem Schreibtisch lagen im Bereich einer Husbüste und des begeisternden Blickes eines Palackybildes einige Manuskriptblätter, eine Anzahl von Zeitungen, und neben einer Aschenschale stand eine Flasche Bordeauxwein mit dem dazugehörigen Glas.
Doktor Posolda richtete sich hoch auf, wie ein Mann, der einen historischen Moment mit vollem Bewußtsein durchlebt. Sein glattrasiertes Bauerngesicht war ernsthaft und gespannt. So nahm er aus den noch immer zitternden Händen Lefendas die Sardinenbüchse entgegen.
»Das ... das ist es gewesen ...« sagte der Hausmeister.
»Das da? ... diese Sardinenbüchse.« Doktor Posolda roch an ihr: »Pulver!« sagte er.
»Eine Bombe!« nickte Lefenda.
»Eine Bombe ... natürlich eine Bombe.« Und nach einem kleinen Sinnen fügte der Doktor hinzu: »Ein Attentat auf mich, mein Lieber ... ein regelrechtes Attentat.«
Dieser Gedanke war Lefenda bisher noch nicht gekommen. Aber nun, da es der Doktor gesagt hatte, war es unzweifelhaft, daß es so war. Lefenda war stolz darauf, einem Mann wie Doktor Posolda zu dienen, einem Nationalhelden, einem Politiker von solcher Bedeutung, einem zukünftigen Minister, dem es vorbehalten war, alle Slawen Österreichs zu einem großen Bund zu vereinigen, diesem scharfsinnigsten und klügsten Mann, dessen Reden man bloß zu lesen brauchte, um zu wissen, was man an ihm besaß. Der Gedanke, daß man auf diesen Mann einen Anschlag verübt hatte, versetzte Lefenda in eine maßlose Wut. Er knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und rollte die Augen: »Man sollte diese Deutschen alle zerreißen ... man sollte sie niederschießen wie Hunde ...«
»Hast du eine Ahnung, wer es gewesen sein kann? Hast du jemanden gesehen?«
»Nein. Ich habe niemanden gesehen. Ich habe zuerst den Gashahn abgedreht ... und bin dann zum Haustor gegangen ... absperren ... und da hat es diesen Krach getan ... wie aus einer Pistole ... aber, wie soll man jemanden finden ... wir haben ja das ganze Haus voll Deutsche ...«
»Ich werde alle Deutschen hinausschmeißen,« sagte der Doktor.
Sein Zorn ließ Lefenda alle Trinkgelder und gelegentlichen Schnäpse vergessen, die er von den Parteien im Haus erhalten hatte: »Das wäre recht,« murmelte er, »die müssen alle hinaus. Und ich werde ihnen dazu aufspielen ...«
»Wir sprechen morgen noch darüber ... die Bombe laß mir da ... und morgen sprechen wir noch darüber ... denke nach, vielleicht fällt dir ein, wer es gewesen sein kann.«
Als Wenzel Lefenda sich hinausgeschoben hatte, nahm Doktor Posolda sein Tischtelephon und gab der Redaktion seines Blattes die Nachricht, daß man gegen ihn ein Attentat verübt habe. Ein großes Metallgefäß, gefüllt mit Glas- und Eisenstücken, war genau zu der Zeit im Flur seines Hauses explodiert, zu der er sonst aus dem Wirtshaus heimzukommen pflegte. Und wenn er nicht eben an diesem Abend zufällig schon viel früher an seinem Schreibtisch gesessen hätte, so wäre den ruchlosen Buben ihr Anschlag sicher gelungen. Seinem Glück und seinem Eifer im Dienst der Nation habe er es zu verdanken, daß es bei schweren Sachbeschädigungen und bei der Demolierung seines Stiegenhauses geblieben sei. Es werde sich nun zeigen, ob die Polizei mit demselben Eifer dahinter her sei, wie wenn es sich um die Verhinderung einer harmlosen Straßendemonstration des tschechischen Volkes handle. Diese Nachricht sollte der Welt, entsprechend breit und weit und dick und fett gedruckt, gleich zum Frühstück mitgeteilt werden.
Dann rief Doktor Posolda noch die Polizei an und erstattete auch ihr seine Meldung. In ironischem Ton fügte er bei, er hoffe, daß es ihr gelingen werde, die Verbrecher auszuforschen. Und als er den Hörer angehängt, lehnte er sich behaglich zurück und zündete eine der deutschen Zigarren an, die er bei seiner letzten Reise von München über die Grenze geschmuggelt hatte. Ein Lächeln spannte sich über sein Gesicht, von einem Backenknochen zum andern, und die dicke Nase saß in diesem Lächeln wie ein Knödel im Fett. Er beglückwünschte sich selbst. Gewisse Anzeichen hatten darauf hingedeutet, daß seine Gefolgschaft nicht mehr so unbedingt mit ihm ging. Nun – gab es vielleicht ein besseres Mittel, eine schwindsüchtige Beliebtheit wieder zu beleben, als ein Attentat?
*
Der deutsche Jugendbund hatte sein Heim im dritten Stock eines alten Hauses der Radetzkystraße. Es gab viele alte Häuser hier herum, und wenn eines von ihnen abgerissen wurde, so fand man bei den Grundarbeiten für das neue ganz gewiß und sicher unter den alten Gewölben und Mauern Tontöpfe und Krüge und manchmal sogar eine Handvoll Silbermünzen. Das wanderte dann alles ins städtische Museum, und die Nachbarschaft sah aus solchen Funden mit historischen Schauern, wie alt die Häuser eigentlich waren, in denen man wohnte.
Das Haus des Jugendbundes war aber vielleicht eines der ältesten unter diesen alten Häusern. Wenn man durch die Haustüre trat, so kam man ins leibhaftige Mittelalter. Da wölbte sich einem der Flur über dem Kopf und zog sich mit massigen Bogen zu Winkeln zusammen. Da hockte hinten eine Wäscherolle, so groß und plump wie eine husitische Belagerungsmaschine. Wenn man aber glücklich die dunkeln Treppen emporgetappt war und in das Heim des Jugendbundes kam, war man, wieder in der Gegenwart. Im Vorraum hätte man sich noch nicht entscheiden können, wo man eigentlich war, denn hier war das Licht überhaupt eine rare Sache. Von den beiden Fenstern des größeren Zimmers aber sah man über Brandmauern und Höfe und Dächer hinweg auf einen Haufen von Schornsteinen, die wie die Enden ungeheurer Achsen, um welche die Arbeit schwingt, aus der Erde standen. Sie hatten Rauchkappen auf, wenn die Luft schwer auf der Stadt lag; oder sie ließen schmutzige graue Tücher wehen, wenn der Wind daherkam, alle nach einer Seite, wie wohlorganisierte Genossen, die alle nur die eine Meinung haben, die man von Partei wegen verlangt. Auch den Rathausturm konnte man sehen, aber der war trotz seiner Ehrwürdigkeit bedeutungslos geworden neben einer vier Stock hohen, gelbgestrichenen, mit einer Dachbrüstung und einem schwebenden Merkur geschmückten Scheußlichkeit. Das war ein Bankgebäude, das so modern war, daß sich beinahe niemand daran vorübergetraute.
Das Haus, in dem der Jugendbund sein Heim hatte, war demnach so gestaltet, daß man vom Mittelalter zur Gegenwart emporstieg. Wenn man aber auf andere Anzeichen mehr Gewicht legen wollte, so war es, als mache man den umgekehrten Weg. Denn zu beiden Seiten des breiten Haustores hatte sich die allerjüngste Gegenwart eingenistet, links mit einem Grammophongeschäft und rechts mit einem Kinotheater. Und wenn man dann in den dritten Stock kam und die jungen Leute miteinander sprechen hörte, dann hießen alle Roland und Hagen und Hildebrand und Gunther und Thassilo und Armin, ja sogar ein Baldur war darunter.
Die Ausstattung des Raumes war von stolzer Einfachheit, germanisch sozusagen. Ein langer Tisch in der Mitte des Zimmers, zwei kleinere in den Ecken, einige Stühle, eine Bank und zwei Wandschränke. In dem einen wurden die Verhandlungsprotokolle des Jugendbundes und in dem anderen die Bücherei – dreiundzwanzig Bändchen Reclam und ein alter Jahrgang Fliegende Blätter – aufbewahrt. Das stand da, in biederer Ungeschlachtheit, und sah aus wie Eichenholz. Und daß es in Wirklichkeit nur weiches Fichtenholz war, hatte gar nichts zu sagen, denn es war so genial angestrichen, daß man es für Eiche halten mußte, wenn man das rechte Ideal hatte.
Daß man es aber hier nicht mit alten Germanen, sondern mit solchen von heute zu tun bekam, konnte man außer an den Fabrikschornsteinen vor dem Fenster auch noch an den Bildern, an den Wänden und an den Zeitungen ersehen, die an einem eisernen Rechen aufgereiht waren. Ein gipserner Turnvater Jahn war da. Bismarck und Richard Wagner schauten aus Rahmen herab, die sehr sinnvollen Schmuck zeigten. Ein kunstreicher und begeisterter Jüngling hatte diese Rahmen mit einer dicken Leimschicht bestrichen, sie dann mit Grieß bestreut und in regelmäßigen Abständen mit halben Nüssen und in den Ecken mit je zwei Eicheln beklebt. Nachdem man das Ganze noch mit Goldbronzetinktur überstrichen hatte, besaß man die hübschesten Rahmen, die man sich denken konnte, und nicht einmal die Eichensymbolik fehlte ihnen. Bismarck und Richard Wagner fanden sich hier ganz gut zurecht. Sie waren es gewohnt, auf die Jugend herabzusehen. Aber Arthur Schopenhauer, der ihnen gerade gegenüber hing, wunderte sich nicht wenig und konnte es noch immer nicht fassen, daß er sich hier befand; und er war doch schon vor drei Wochen als Geschenk des Ehrenobmannes, des Bäckermeisters und Stadtrates Wschiansky, zur Ausschmückung gespendet worden.
Heute war Abendprobe der Sängerriege, aber niemand dachte daran zu singen. Man war erregt. Man erörterte das gestrige Attentat auf den Landtags- und Reichsratsabgeordneten Doktor Posolda. Die ganze Stadt war voll davon, die Zeitungen hatten Sturm geläutet und man war gespannt, was daraus werden würde.
»Da ... bitte,« sagte Viktorin, cand. chem., und warf die »Deutsch-mährische Tagespost« auf den Lesetisch, »... pfui Teufel ... das sind unsere deutschen Zeitungen! ... statt zu sagen: Gott sei Dank, daß man es endlich einmal deutlich gezeigt hat, unsere Geduld ist zu Ende ... statt der Anerkennung einer tapferen Tat ... was steht hier? Nur ein Gewinsel, eine Rechtfertigung ... eine Entschuldigung.« Und er nahm die Bierflasche, die vor ihm auf dem Tisch stand, hielt sie gegen das Gaslicht und schüttelte sie ein wenig. Dann schenkte er den schäbigen Rest in das gerippte Wasserglas und trank ihn rasch aus.
Viktorin, der den erzenen Kneipnamen Roland trug, stand als einziger akademischer Bürger unter den jungen Leuten. Die anderen waren zumeist Angehörige des Handels- oder Gewerbestandes, Kommis, Lehrlinge, junge Angestellte. Viktorin war von der Ferialverbindung Saxonia beauftragt, zweimal in der Woche in den Jugendbund zu gehen, um den Zusammenhang zwischen Volk und Studentenschaft aufrechtzuhalten. Das war nötig, wenn man gemeinsam vorgehen wollte. Und Roland taugte gut zu seiner Sendung. Er wußte sich volkstümlich zu geben, hatte sich Einfluß erworben, und sein Wort galt etwas. Aber, wenn er in den Jugendbund ging, ließ er seine rote Kappe zu Hause und knöpfte den Rock über dem farbigen Band zu.
Gustav Gruber, der Viktorin gegenüberstand, nahm bedachtsam die Zeitung vom Tisch. Er hatte den Artikel schon gelesen, und nun stachen ihm noch einzelne Sätze in die Augen: ... »solche unverantwortliche Streiche sind nur dazu geeignet, unsere gute Sache ins Unrecht zu setzen! ... unsere Gegner werden nicht ermangeln, daraus Kapital zu schlagen ... es ist selbstverständlich, daß ein derartiges Bubenstück nicht unsere Billigung finden kann ... es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß wir in keiner Hinsicht uns irgendwie mit den Tätern identifizieren wollen, unsere Waffen sind die Macht des Gedankens und unser gutes Recht, nicht die brutale Gewalt ... andererseits aber muß man auch mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß es einfach lächerlich ist, diesen Dummenjungenstreich so aufzubauschen, wie es unseren Gegnern beliebt ... die ganze Anlage dieses sogenannten Attentates ist von geradezu kindlicher Einfalt, und wir werden kaum fehlgehen, wenn wir seine Urheber unter ganz jungen Leuten suchen, die weder die erforderliche physische noch geistige Reife haben, um sich über alle ihre Handlungen klar Rechenschaft zu geben ...«
Diese Sätze brannten sich in Grubers Netzhaut ein. Er fühlte sie wie Nesseln auf seinem Gesicht. Dann war es ihm, als sei sein ganzer Hals von Schleim erfüllt, Ekel und Angst vermischten sich, seine Stirne war von einer Menge kleiner Schweißperlen übertaut. Er schleuderte die Zeitung von sich wie ein giftiges Gewürm: »Gemeinheit!« sagte er.
Wütender Ingrimm ballte seine Hände zu Fäusten.
»Ja, mein Lieber, das ist der Standpunkt der bürgerlichen Besonnenheit. Das ist der geordnete Untertanenverstand. Alles schön langsam und von Rechts wegen. Und dabei geht uns eines nach dem anderen verloren. Die werden es niemals begreifen, daß einem auch die Galle überlaufen kann.« Viktorin hatte seine Worte mit weiten demagogischen Gesten begleitet, und bei jeder Bewegung ging eine Welle von Karbolgeruch von ihm aus. Er war nachmittags auf dem Mensurboden gewesen und hatte die Säbelklingen mit Wattebauschen abgewischt. Dieser Geruch berauschte die jungen Leute, die um ihn herumstanden und -saßen. Wenn sie abends hinter ihren Ladenpulten und Arbeitstischen hervorkamen, wenn sie ihre abgelaufenen Beine ausruhen lassen oder die gekrümmten Rücken aufrichten konnten, dann war einer da, ein ganzer Kerl, der tagsüber mit dem Waffenhandwerk zu tun hatte und dem der Anblick von Blut und Wunden vertraut war. Dieser aufregende und geheimnisvolle Geruch erzählte davon.
Seine Worte gaben für alle die Richtung ihrer Gedanken an.
»Diese Angstmeier!«
»Sie sind schuld am Untergang der Deutschen.«
»Die Hauptsache ist, daß sie Regierungspartei bleiben ... mehr wollen sie nicht!«
Ein wilder Fanatismus war entbrannt. Niemand wußte, wer die Tat begangen hatte. Aber sie war ganz im Sinne der erhitzten Stürmer und Dränger, sie war eine Entladung lang verhaltenen Zornes, die etwas von der Spannung ihrer Seelen nahm. Man fühlte sich im Geiste mit dem wackeren Attentäter eins. Und nun sah man sich preisgegeben, ohne die allgemeine Zustimmung. Anstatt daß die Maßgebenden erklärten: seht, dahin mußte es kommen, so hoch ist unsere Empörung gestiegen, sah man bedenkliches Kopfschütteln und angstvolles Schweifwedeln.
Am unteren Ende des langen Tisches saß ein ganz junger Bursch. Er mochte noch keine fünfzehn Jahre alt sein, und sein Gesicht hatte noch ganz kindlich weiche Formen. Die Oberlippe war noch ganz weich und die Nase stand kühn in die Höhe. Aber die blauen Augen waren ganz tief und dunkel vor Haß. Ihr Blick hing unverwandt an dem Studenten. Was der sagte und tat, prägte sich dieser jungen Seele leidenschaftlich ein.
»Man sollte alle Leute erschlagen, wenn sie einmal dreißig Jahre alt sind,« sagte er plötzlich.
Das Gewirr der Ausrufe war ein wenig dünner geworden, so daß man deutlich hörte, was er gesagt hatte.
Roland wandte ihm das Gesicht zu. Er lächelte ein wenig überlegen: »Donnerwetter, Wieland ... sind Sie aber scharf! Warum soll man sie denn erschlagen?«
Wieland wurde über und über rot. Seine Ohren waren purpurfarben. Er sah in diesem Augenblick aus wie ein junges Mädchen, das einem geliebten Tenoristen begegnet: »Weil man ...« antwortete er stockend ... »weil man ein Schuft wird, wenn man älter als dreißig Jahre ist.«
Einige der jungen Leute lachten. Sie waren es gewohnt, diesen Jüngsten des Bundes nicht ganz ernst zu nehmen. Viktorin aber sah nachdenklich drein. Da ließen sie das Lachen wieder von ihren Gesichtern gleiten.
»Ja,« sagte der Student, »es ist etwas Wahres dran ...!« Er faßte seine Bierflasche beim Hals und hielt sie wieder gegen das Licht. Das rechte Auge kniff er zu und verzog das Gesicht zu einer komisch-betrüblichen Miene.
Drei ... vier Hände streckten sich nach der Flasche aus. »Sollen wir Ihnen noch ein Bier bringen?« ... »Ich mache einen Sprung hinunter ...« »Geben Sie mir die Flasche ...«
Man bestürmte ihn. Man machte sich eine Ehre daraus, ihm aus dem kleinen Wirtshaus neben dem Kinotheater eine Flasche Bier zu holen.
»Ich will euch nicht bemühen ...« zögerte Viktorin, sehr gehoben durch diesen Eifer in seinen Diensten.
»Aber lächerlich ...« und schon hatte einer die Flasche an sich gerissen und lief davon. Wie ein Huhn, das einen wertvollen Fang vor den anderen in Sicherheit bringen will.
»Aber der Parsifal ist ein Schurke ...« sagte plötzlich ein langer, vornübergebeugter Hutmachergeselle mit einer seltsam gebrochenen Stimme. Er war sehr schnell gewachsen und seine Stimme hatte dieser aufgeschossenen Männlichkeit nicht in demselben Maß nachkommen können.
»Der Parsifal ... wieso?« fragten einige.
»Er hat diesen Artikel in der Deutsch-mährischen Tagespost gesetzt. Ich hätte mich geweigert, so etwas zu setzen!«
Der Parsifal, dessen Schandtat hier aufgedeckt wurde, stand am Fenster und schaute in die Nacht hinaus, über den Schornsteinen schwebte eine dunkle Wolke. Unter ihr am Horizont war ein düsteres Rot, wie ausglühende Schlacke, wie ein böses Geschwür. Dem verwachsenen Menschen, der da am Fenster stand, war die ganze Welt von einer argen, feindseligen Stimmung erfüllt. Nichts als Heimtücke und schlimme Ahnungen hockten da. Die Nacht war unheimlich und schadenfroh und bereitete ein scheußliches Gift. Ein unsägliches Weh wucherte in diesem Krüppel am Fenster, er fühlte sich ungeheuer einsam und verlassen, irgend einer tückischen Macht preisgegeben. Das Schicksal, das ihn außer mit einem Buckel noch mit einem Klumpfuß gezeichnet hatte, hielt ihn in geierhaft scharfen Fängen.
Jetzt hörte er seinen Bundesnamen nennen und zuckte zusammen. Die Anklage traf ihn in seinem ängstlichen Herzen. Er war Schriftsetzer in der Druckerei der Deutsch-mährischen Tagespost und froh, nach langen arbeitslosen Hungerwochen dort untergekommen zu sein.
Jemand trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den krummen Rücken. Parsifal wandte den Kopf und sah Gruber mit dem Blick eines verprügelten Hundes an.
»Ist das wahr, Parsifal, was der Baldur sagt? Daß du, gerade du, diesen Artikel gesetzt hast ...?«
Parsifal atmete kurz und keuchend: »Ja ... es ist wahr ... was soll man tun? Es ist meine Pflicht ... ich muß setzen, was man mir gibt ...«
Gruber ließ die Hand von dem krummen Rücken gleiten und schüttelte den Kopf. Dann sah er den Bundesbruder bedeutungsvoll an: »Du! Gerade du!« murmelte er.
»Na ... also, bitte ... er hat es mir ja selbst gesagt,« krächzte der Hutmachergeselle Baldur. »Ich hätte an seiner Stelle sofort gekündigt!«
Die anderen murrten und Parsifal zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern, als erwarte er jetzt ein Geprassel von harten, vorwurfsvollen Worten.
Aber Viktorin entschied sich für ihn: »Sie können leicht reden, Baldur, Ihnen kann so etwas nicht passieren. Sie sind Hutmacher von Profession. Sie machen Ihre Hüte und kümmern sich nichts drum, wer sie einmal aufsetzen wird.«
Die jungen Leute grinsten vergnügt. Da hatte er's, dieser Baldur. Man vergönnte es ihm, denn er hatte wenig Freunde. Man wußte von ihm, daß er ehrgeizig war und daß er gerne den Obmann Biterolf, einen umgänglichen und verständigen Handelsgehilfen, der heute seltsamerweise fehlte, gestürzt hätte. Aber Baldur hatte wenig Talent zu Umtrieben, und seine Pläne sahen aus wie ein durchlöcherter Mantel.
Viktorin aber fuhr fort: »Nein ... im Ernst gesprochen ... aus so etwas soll man niemanden einen Vorwurf machen! Was kann Parsifal dafür, daß er gerade bei diesem liberalen Idiotenblatt ist? Das ist ein wahnsinniges Zusammentreffen widerstrebender Verhältnisse ...!« So war dieser Roland, tapfer und kühn, und dabei voller Einsicht und Verständnis: und der junge Wieland starrte ihn an, mit dem unsagbar süßen Schmerzgefühl, das man für unerreichbare Menschheitshöhen hat.
Die Türe ging auf und Biterolf trat ein, gefolgt von dem Jüngling, der für Viktorin um Bier gelaufen war.
»Heil, Biterolf!« schrie die Runde.
»Servus, die Herren!«
Biterolfs harmlos heiteres Gesicht war merkwürdig verändert. Seine Mienen brachten sonst eine von keinerlei seelischen Zwiespältigkeiten getrübte Wohlhonorigkeit zum Ausdruck. Aber heute war sein Blick unsicher, und dieses Lächeln schien über einen nur mühsam verwundenen Schrecken gebreitet. Er war Mitglied des Turnvereines Jahn, Vorturner der zweiten Riege und trug sonst mit Wohlgefallen einen gewölbten Brustkasten und breite Schultern zur Schau. Aber jetzt war der Brustkasten eingesunken und die Schultern hingen nach vorne.
»Spät kommt Ihr ...« sagte Viktorin mit klassischem Bezug.
»Ja ... wißt Ihr, wo ich war ...?« Das Wesen des Obmannes zeigte eine etwas krampfhafte Fassung. Er stülpte seinen schwarzen Hut auf die gipserne Jahnbüste; das war eigentlich eine Lästerung, aber sie fiel niemanden auf, denn man fühlte, daß Biterolf eine absonderliche und wichtige Nachricht brachte.
Er sah von einem zum andern. »Auf der Polizei!« sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Auf der Polizei?«
»Ja ... gerade, wie wir sperren, kommt der Wachmann, ich möchte aufs Rathaus kommen.«
Alle waren aufgestanden und drängten sich um ihn. Sogar Viktorin hatte sich erhoben und stand da, mit seiner Bierflasche in der einen und dem Glas in der anderen Hand. Biterolf steckte den rechten Zeigefinger zwischen Hals und Hemdkragen und fuhr zweimal hin und her. Dann zog er ein Taschentuch hervor und wischte den Finger ab.
»Natürlich wegen der Attentatsgeschichte. Man hat mich gefragt, was ich davon weiß.«
Gruber schluckte langsam einen großen Knödel hinunter, der ihm im Schlund saß. »Und was hast du gesagt?« fragte er.
»Was soll ich sagen? Daß ich nichts davon weiß. Weiß ich denn etwas davon? Der Jugendbund steht der Sache jedenfalls vollkommen fern, hab' ich gesagt. Wir sind kein politischer Verein.«
»Aber wissen Sie ... das hätten Sie schon sagen können: wir erblicken darin nur einen Ausdruck der allgemeinen Stimmung,« sagte Viktorin. Es sollte klar werden, daß er auch der Polizei überlegen blieb, und daß ihn niemals sein kühner Mut verließ.
Biterolf sah den Studenten an. Dieser Blick war ein wenig hilflos und kälbern. »Es hat mich niemand gefragt ... was soll ich mir den Mund verbrennen? Daß sie uns nächstens auflösen! ... Die Polizei wartet doch nur darauf.«
»Aber stramm wäre es gewesen,« sagte Baldur, der Hutmacher.
»Na ja ... stramm! ... stramm! ... Darin besteht die Strammheit nicht, einen Blödsinn zu tun.«
Roland räusperte sich. Blödsinn hatte dieser Ladenschwung gesagt! Viktorin setzte sich wieder an den Tisch, schenkte sich ein Glas Bier ein und spülte den Manneszorn hinunter.
Wielands Mädchengesicht zuckte in nervöser Aufregung: »Sie sollen nur untersuchen ... die Polypen ... wenn einer von uns davon weiß – unter uns werden sie keinen Verräter finden! Heil Kyffhäuser!«
Dunkelschattende Sage aus deutschen Vergangenheiten, tiefwurzelnde, als Geheimnis bewahrte Volkshoffnung, die in die Gegenwart hineinragte. Wieland schauderte immer ehrfürchtig, wenn er den heiligen Namen aussprach. Denn er war noch zu jung, um in den engsten Kreis des Jugendbundes aufgenommen zu werden, der sich Kyffhäuser nannte. Das waren die ganz Rücksichtslosen, die Kerntruppen – ein undurchdringlicher Zusammenschluß der Auserlesenen, der geheime Zeichen hatte und im geheimen tagte wie die Feme.
»Heil Kyffhäuser!« antworteten zwei oder drei der jungen Leute. Aber die Stimmung blieb gedrückt. Und sie wurde nicht gemütlicher, als es aus dem weiteren Bericht des Obmannes klar wurde, daß sich die Polizei diesmal offenbar nicht mit einer Scheinuntersuchung begnügte, sondern mit allem Eifer hinter den Übeltätern her zu sein schien.
Es war wahrhaftig nötig, daß Standera kam und wieder Leben in die Runde brachte. Er brach, mit seinem von Mitessern und Wimmerln übersäten Lausbubengesicht, von dem zwei Ohren abstanden wie Topfgriffe, in eine etwas kleinlaute Gesellschaft und brüllte schon von der Türe her: »Na also ... seid ihr schon alle ins Bockshorn gejagt?« Standera war seines Zeichens Photographenlehrling und hieß mit dem Bundesnamen Hildebrand. Man nannte ihn mit Bezug auf seinen rotpunktierten Außenmenschen nach Hildebrand, den Finnenkönig. Damit war zwar die germanische Vorzeit einigermaßen in ihren Grundfesten verschoben, aber die Sache selbst war getroffen.
Standera schwenkte ein Zeitungsblatt: »Hier habe ich euch etwas mitgebracht ... wenigstens einer, der das Maul auf dem rechten Fleck hat. Einer, der sich nicht fürchtet ... da bitte!« Das Blatt hieß »Thors Hammer«, und auf seinem brandroten Umschlag war eine wildwüchsige Männergestalt zu sehen, deren Muskeln wie Geschwülste abstanden. Ein Bartgestrüpp wucherte bis zum Gürtel. Die Beine waren auf ganz urweltliche Art mit Fetzen und Fellen umhüllt. Einer der langen Arme schwang den bewußten Hammer. Dieser Umschlag war von einer unwiderstehlichen Symbolik. Man konnte den Wildling nicht ohne Schaudern betrachten. Und man mußte unwillkürlich denken, welch ein Glück es war, daß er nur auf dem Papier stand und einem in der Wirklichkeit nirgends begegnen konnte.
Es war bedauerlich, daß dieser brandroten Umschlagwucht die Bedeutung und Verbreitung des Blattes nicht im entferntesten entsprach. Die allgemeine Meinung hatte für Thors Hammer nur ein Lächeln. Sein Herausgeber, Redakteur und einziger Mitarbeiter war ein Mensch, dem man alles verzieh, sogar sein Blatt. Er wohnte irgendwo draußen vor der Stadt und sah aus wie ein Bußprediger: Sandalen, ein alter Havelock, der den härenen Mantel vorstellte, ein unbedecktes Haupt mit einer Fülle wallender Locken. Selbstverständlich entsprach seine Gesinnung diesem Äußeren. Er enthielt sich des Fleischessens und des Genusses alkoholischer Getränke, schlief auf hartem Lager und badete im Winter im Flußwasser. Und von allen diesen Dingen erwartete er eine Wiedergeburt germanischen Wesens. Wenn man ihm die Bärenschinken und Methörner der Urvorderen entgegenhielt, so lächelte er nur über solche Einwände. Verschiedene Zeiten mußten sich zur Erreichung desselben Zieles verschiedener Mittel bedienen. Das germanische Volkstum war mit Fleisch und Bier bis an den Rand gesättigt, es war notwendig, den ganzen Organismus umzubauen. Jetzt bedurfte es der Orangen und der Fruchtsäfte. Aber das Ziel war dasselbe: die Eroberung der Welt durch den Germanen. Und diesem Ziel entsprach der kriegerische Ton des Blattes, dieses Stürmen und Drängen nach Taten, diese Verachtung aller Langmut und aller diplomatischen Umwege, diese Verhöhnung der Allzuvorsichtigen. Hinten im Blatt aber stand zu lesen, daß der einzige Weg zur Erlangung der Weltherrschaft sei, das Biertrinken aufzugeben und sich an Ceressaft zu gewöhnen. Denn Herr Fritz Buchaczek war nebenbei Vertreter der Firma Schicht in Außig an der Elbe.
Man hatte Standera das Blatt aus der Hand gerissen und einer stand nun auf einem Sessel und las vor. Es donnerte von großen Worten, eine Lawine von Begeisterung stürzte herab. Fritz Buchaczek begrüßte eine Mannestat, er drückte dem unbekannten Täter seine Rechte. Das Volk steht auf, der Sturm bricht los ... endlich war die Langmut zu Ende. Man sollte sehen, wohin man kam, wenn man den Berserkerzorn noch länger reizte. Das deutsche Volk war wie Dietrich von Bern ... jawohl, wie Dietrich von Bern. Der zögerte auch so lange, aber wenn er erst einmal dreinfuhr, so schlug er alles kurz und klein.
Man war von einem Druck erlöst, man sah sich in seiner Ansicht von der Sache endlich bestätigt. Das gedruckte Wort übte seinen Zauber aus. Jemand hatte sich ehrlich zu dem Attentäter bekannt.
»Es is nur schad, daß der Buchaczek meschugge is,« sagte der Hutmachergeselle Baldur hämisch, »ja – wenn das im Deutsch-mährischen Tagblatt stünd'.«
Gustav Gruber war nahe daran, hinzuspringen und dem Kerl eine Ohrfeige zu geben. War eine Ohrfeige nicht die einzige Antwort auf die Gemeinheit, die darin bestand, den Wert dieser Anerkennung herabsetzen zu wollen!
Aber schon stand Hildebrand, der Finnenkönig, vor dem Hämling und hielt ihm die beiden geballten Fäuste vor die Nase: »Halt's Maul, Baldur ... noch ein Wort, und ich schlag dir die Zähne ein. Volkesstimme ist Gottesstimme und –«
»Gott spricht mit Vorliebe durch den Mund der Meschuggenen,« ergänzte Roland. »Das war schon im Altertum so. Solon mußte sich auch meschugge stellen ...«
Das war ein klassisches Argument, gegen das sich nichts vorbringen ließ. Man mußte es mit aller Hochachtung gelten lassen. Und Wieland heftete seinen Blick wieder mit dankbarer Bewunderung auf den Studenten. Der aber sah nachdenklich in sein Bierglas. Vorhin, als sich alles entrüstet gegen Baldur gewandt hatte, war ihm ein Gesicht aufgefallen. Ein Gesicht voll flammender Empörung, voll gerechter Entrüstung, das Gesicht dieses stillen jungen Menschen mit dem Büschel schwarzer Haare in der Stirn. Es war ihm plötzlich etwas durch den Kopf gefahren, ein heftiger Gedanke: so wie dieser Hagen, wie Gustav Gruber, mußten Menschen aussehen, die für eine Idee sterben können. So waren die Augen von Fanatikern, so waren die trotzigen Lippen von hartnäckigen Bekennern. Roland mußte diesem Gedankengang jetzt nachsinnen, und andere Gedanken schossen heran, und merkwürdige Dinge reimten sich zusammen.
Er erhob sich und trat mit dem wieder bis zum Rand gefüllten Bierglas zu Hagen.
»Wacker, Hagen!« sagte er und hob sein Glas: »Prosit! Gestatte mir!«
Hagen wich ein wenig zurück und wußte nicht, was er sagen sollte: »Was meinen Sie?« fragte er endlich.
»Nun, ich meine: stramm ... was sonst? Sie haben doch nicht Angst?«
Roland hatte sich ausgedacht, daß Hagen beglückt sein würde. Aber der tat ja, als verstünde er ihn nicht und starrte ihn feindselig an. Geärgert trank Roland sein Glas aus und wandte sich ab.
Ein zorniger, heiserer Schrei flackerte auf. Alle kehrten sich dem Fenster zu. Da sprang Standera herum wie ein Besessener, focht mit einem Stück Papier in der Luft, und auf seinem Lausbubengesicht strahlte ein unbändiges Vergnügen. Hinter ihm torkelte Parsifal, der Schriftsetzer, und griff vergebens mit den langen, ungeschickten Armen nach dem Papier.
»Er soll mir's wiedergeben,« zeterte er, »er soll mir's wiedergeben.« »Er hat ein Gedicht gemacht, er hat ein Gedicht gemacht,« brüllte Hildebrand.
»Er hat mir's aus dem Sack gezogen. Das ist eine Frechheit.« Und Hildebrand rannte um den Tisch und warf Parsifal, der ihm folgen wollte, Sessel vor die Füße, riß ein paar Bundesbrüder an den Armen herum und schleuderte sie ihm entgegen. Es war ein heilloser Lärm, ein Johlen und Kreischen.
»Hildebrand, gib ihm's zurück. Wir werden gekündigt!« entschied der Obmann Biterolf mit gerunzelter Wohlhonorigkeit.
Aber die anderen waren nicht gesonnen, auf den Spaß zu verzichten. Sie wußten alle schon längst, daß Franz Hükkel, genannt Parsifal, ein heimlicher Dichter war. Irgendwie war das Geheimnis durchgesickert, ein kleiner Selbstverrat, ein Augenblick der Eitelkeit hatte es entschleiert. Es war diesem schweigsamen Träumer zuzutrauen, daß er dichtete. Und eines Tages hatte ihn jemand den buckligen Lenau genannt – als ob er an dem Namen Parsifal nicht schon schwer genug zu tragen gehabt hätte. Und jetzt wollten sie einmal etwas von ihm hören.
Plötzlich stand Hildebrand, der Finnenkönig, auf dem Tisch und entfaltete das Papier. Seine Topfgriffohren ragten ihm purpurrot zu beiden Seiten des Kopfes. Parsifal knirschte mit den Zähnen und wand sich keuchend unter den rauhen Pranken zweier Bundesbrüder, die ihn an den Armen hielten. Er wollte sich auf Hildebrand stürzen, ihn zerreißen ... Alles brüllte vor Lachen.
Und Hildebrand las:
»Heil dir, du deutsches Volk, du hast noch Helden,
nicht mehr in Gold gepanzert oder Eisen,
nicht solche, die nach Abenteuern reisen,
wie uns die alten Ritterbücher melden.
Die Helden dieser Zeit stehn an Maschinen,
sie sind gekeilt in bürgerliche Enge,
ihr Los ist Arbeit und ist stummes Dienen,
wo ist der Sänger, der von ihnen sänge?
Und doch brennt auch in ihm ein heil'ges Feuer –
in seinem Alltag steht er opfermutig,
ein größrer Held vielleicht, als der, der blutig
hindurchschritt durch ein wildes Abenteuer. –
Du wirst dir keinen Zauberhort erstreiten,
du wirst dir keine Krone mehr erwerben,
du Held von heut, doch ist's dir – wie vorzeiten,
vielleicht vergönnt, noch für dein Volk zu sterben.«
Hildebrand hatte das Gedicht vorgelesen wie ein Schuljunge, abgehackt, messerscharf, unmelodisch. Parsifal weinte vor Wut: »Es ist ja noch gar nicht fertig,« keuchte er.
Aber es war sehr sonderbar. Die jungen Leute, die sich einen Spaß erwartet hatten, dachten gar nicht daran zu lachen. Sie standen da, sahen ernsthaft und verlegen vor sich nieder, und es war so stille geworden, daß das Keuchen des Buckligen übertrieben laut schien. Das Gedicht klang in ihnen nach, irgend etwas darin hatte sie ergriffen, vielleicht war es nichts anderes als die seltsame Überraschung, plötzlich in die Seele eines Menschen zu sehen ...
Auch Standera kletterte stillschweigend vom Tisch herunter, trat auf Parsifal zu und gab ihm das Blatt. Der riß es an sich und steckte es hastig in die Rocktasche.
»Sie brauchen sich gar nicht zu schämen, Parsifal,« sagte endlich Viktorin mit etwas heiserer Stimme, »das Gedicht ist sehr gut ... nur etwas hoffnungslos ...!«
Und auf einmal, man wußte gar nicht, wer damit begonnen hatte, ging ein Summen durch den Raum. Ein Summen, das sich rasch zu einer Melodie zusammenschloß.
»Die Wacht am Rhein ...« schrie Wieland mit blitzenden Augen, ganz blaß vor Aufregung. Und da brauste es auch schon los. Breit und mächtig, wie der Strom, den es besingt. Das wehrhafte Lied der Deutschen Österreichs, das Lied ihrer Empörung und ihrer Zuversicht, das Lied von der deutschen Kraft und Kampfesfreudigkeit. Es strömte dunkel aus den Seelen empor, riß alle Kleinlichkeit und Unlauterkeit fort und hob alles Gemeinsame zu jubelndem Zusammenklang.
Wie aus dem Schoß der Jahrhunderte kam es herauf, aus den tiefsten Schächten, wo der einzelne nichts ist und das Volk alles. Alle Zweifel und alle Hoffnungslosigkeit waren in kühne Begeisterung verwandelt. Und wie eine einzige mächtige Welle schwoll es an und drang zum Fenster hinaus über die Stadt, die sich zum Schlaf rüstete.
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall ...«
Richard Wagner und Bismarck sahen mit stolzen und harten Gesichtern von der Wand, und sogar über Artur Schopenhauers Gesicht ging es wie ein Leuchten.
Nur der Turnvater Jahn konnte nicht mittun, denn er hatte Biterolfs Schlapphut auf dem Kopf und der fiel ihm bis über die Augen, was der Begeisterung sehr hinderlich ist.
* * *