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Die Musik vor diesem Akt:
Haydn, Sieben Worte,
Largo No. I: Pater dimitte illis.
Dieselbe Ausstattung, aber die Gardinen vorgezogen und von außen von der Gaslaterne beleuchtet. Die Hängelampe ist angezündet; auf dem Eßtisch steht eine kleine brennende Petroleumlampe. Feuer im Glimmerofen.
Am Nähtisch sitzen Elis und Kristina unbeschäftigt. Am Eßtisch sitzen Eleonora und Benjamin einander gegenüber und lesen, die Lampe zwischen sich. Eleonora hat einen Schal um die Schultern.
Alle sind schwarzgekleidet; Elis und Benjamin haben weiße Halsbinden.
Auf dem Schreibtisch liegen die Gerichtsakten ausgebreitet. Auf dem Nähtisch steht die Osterblume. Auf dem Eßtisch eine alte Standuhr.
Von Zeit zu Zeit erscheint auf den Gardinen der Schatten eines auf der Straße Vorübergehenden.
Elis halblaut zu Kristina. Ja, Karfreitag! Aber so entsetzlich lang! Und der Schnee hat sich auf die Pflastersteine gelegt wie Stroh vor die Wohnung eines Sterbenden; jeder Laut hat aufgehört – außer den Bässen der Orgel, die ich sogar hier höre ...
Kristina. Mama ging wohl in den Abendgottesdienst ...
Elis. Ja, weil sie sich nicht in den Hauptgottesdienst wagte ... die Blicke der Menschen verletzen sie ...
Kristina. Es ist wunderlich mit diesen Menschen; sie verlangen, daß wir alle uns fernhalten, sie finden das passend ...
Elis. Ja, und vielleicht mit Recht ...
Kristina. Um eines Einzigen Fehltrittes willen ist die ganze Familie in Bann getan ...
Elis. Ja, so ist es!
Eleonora schiebt die Lampe zu Benjamin hinüber, damit er besser sehen kann.
Elis zeigt auf Eleonora und Benjamin. Sieh die da!
Kristina. Ist das nicht schön! ... Und so gut sie miteinander auskommen!
Elis. Welch Glück, daß Eleonora so ruhig ist! Ach, möchte das doch vorhalten!
Kristina. Warum sollte es das nicht?
Elis. Weil ... das Glück nicht von langer Dauer zu sein pflegt! Ich habe heute vor allem Angst.
Benjamin schiebt leise die Lampe zu Eleonora hinüber, damit sie besser sehen kann.
Kristina. Sieh doch die beiden!
Elis. Hast du gemerkt, wie verändert Benjamin ist! Der dumpfe Trotz ist einer stillen Ergebung gewichen ...
Kristina. Wie lieblich sie in ihrem ganzen Wesen ist – um nicht das Wort schön zu gebrauchen!
Elis. Und sie hat einen Friedensengel mitgebracht, der unsichtbar umhergeht und eine stille Ruhe atmet ... Selbst Mutter zeigte eine Ruhe, als sie sie erblickte, eine Ruhe, auf die ich nicht gefaßt gewesen war!
Kristina. Glaubst du, daß sie jetzt geheilt ist?
Elis. Ja, wenn nicht diese übertriebene Empfindsamkeit zurückgeblieben wäre. Jetzt sitzt sie da und liest Christi Leidensgeschichte, und von Zeit zu Zeit weint sie.
Kristina. Nun, ich entsinne mich, daß wir das in der Schule des Mittwochs während der Fasten auch taten ...
Elis. Sprich nicht so laut, sie hört so scharf!
Kristina. Jetzt nicht! Sie ist so weit weg!
Elis. Hast du bemerkt, daß Benjamin etwas Würdiges, Vornehmes in seinen Zügen bekommen hat?
Kristina. Das ist das Leiden; die Freude macht alles banal.
Elis. Vielleicht ist es viel mehr ... die Liebe! Glaubst du nicht auch, daß die Kleinen da ...
Kristina. Still, still, still ... nicht die Flügel des Schmetterlings berühren! Dann fliegt er davon!
Elis. Sie sehen einander gewiß an und tun nur so, als wenn sie läsen, denn sie wenden kein Blatt um, soviel ich hören kann.
Kristina. Still!
Elis. Sieh, jetzt kann sie sich nicht mehr bezwingen ...
Eleonora steht auf, geht auf den Zehen an Benjamin heran und legt ihren Schal um seine Schultern. Benjamin leistet einen sanften Widerstand, gibt aber nach; worauf Eleonora sich wieder setzt und die Lampe nach Benjamin hinüber schiebt.
Kristina. Sie weiß nicht, wie gut sie gegen ihn sein soll, die arme Eleonora.
Elis erhebt sich. Jetzt kehre ich zu meinen Gerichtsverhandlungen zurück.
Kristina. Kannst du einen Zweck in diesem Lesen erblicken?
Elis. Nur den einen: Mutter in der Hoffnung zu erhalten! Aber wenn ich auch nur so tue, als wenn ich lese, bleiben dennoch Worte wie ein Dorn auf dem Grunde meines Auges. Die Zeugenangaben, die Zahlen, Vaters Geständnisse ... Und dann hier: »der Angeklagte bekannte unter Tränen« ... So viel Tränen, so viel Tränen. Und diese Papiere ... mit ihren Stempeln, die an falsche Banknoten erinnern oder an ein Gefängnisschloß; und die Schnüre und die roten Siegel ... Jesu fünf Wunden gleichen sie ... und die Sätze, die nie ein Ende nehmen, die ewigen Qualen ... Das ist Karfreitagsarbeit ... gestern schien die Sonne, gestern fuhren wir aufs Land, in Gedanken ... Kristina ... stell dir vor, wenn wir im Sommer hier bleiben müßten!
Kristina. Dann würden wir viel Geld sparen, aber traurig wäre es!
Elis. Ich würde es nie überleben ... Drei Sommer bin ich hier geblieben ... und es ist wie ein Grab. Mitten am Tage, und man sieht die lange, graue Straße sich dahinschlängeln wie einen Laufgraben ... nicht ein Mensch und nicht ein Pferd, nicht ein Hund ... Aber aus den Kloakenmündungen kommen die Ratten heraus, während die Katzen auf Sommerfreuden aus sind ... Und drinnen hinter den Spionen sitzen einige Daheimgebliebene und spähen aus nach den Kleidern ihres Nächsten ... »Sieh, der da geht in Winterkleidern!« ... und nach ihres Nächsten schiefen Absätzen und ihres Nächsten Fehlern ... Und aus den Stadtvierteln der Armen schleichen Krüppel hervor, die sich bisher verborgen hielten, Menschen ohne Nase und Ohren, boshafte Menschen und Unglückliche ... Und sie sitzen auf der großen Promenade und sonnen sich, ganz als ob sie die Stadt eingenommen hätten ... wo eben noch schöne, wohlgekleidete Kinder unter den aufmunternden Zurufen schöner Mütter spielten, streichen jetzt Scharen Zerlumpter umher, die fluchen und einander quälen ... Ich entsinne mich eines Hochsommertages vor zwei Jahren ...
Kristina. Elis, Elis! Schau vorwärts, vorwärts!
Elis. Ist es dort lichter?
Kristina. Laß uns das glauben!
Elis setzt sich an den Schreibtisch. Wenn es nur da draußen aufhören wollte zu schneien! So daß man hinauskommen könnte und wandern!
Kristina. Lieber Freund, gestern abend wünschtest du die Dunkelheit zurück, damit wir uns vor den Blicken der Menschen verbergen könnten ... »Die Dunkelheit ist so schön, so wohltuend,« sagtest du; »es ist, als zöge man die Decke über den Kopf!«
Elis. Da siehst du, daß das Elend in jedem Fall gleich groß ist ... Liest in den Papieren. Das Schlimmste hier in dem Prozeß sind doch die anmaßenden Fragen nach der Lebensführung meines Vaters ... Da steht, daß wir strahlende Gesellschaften gaben ... Ein Zeuge sagt, er habe getrunken! ... Nein, das ist zu viel! Ich kann nicht mehr! ... Aber ich muß trotzdem ... bis zu Ende! ... Friert dich nicht?
Kristina. Nein, aber warm ist es nicht! ... Lina ist nicht zu Hause?
Elis. Sie ist zur Beichte, wie du weißt.
Kristina. Mama kommt wohl bald nach Hause?
Elis. Ich fürchte mich immer, wenn sie von draußen kommt, denn sie hat so viel gehört und so viel gesehen ... und alles ist böse.
Kristina. Es herrscht eine ungewöhnliche Schwermut in eurer Familie.
Elis. Deswegen haben auch stets nur schwermütige Menschen mit uns verkehren wollen! Die Fröhlichen haben uns gemieden!
Kristina. Jetzt kam Mama zur Küchentür herein!
Elis. Sei nicht ungeduldig gegen sie, Kristina!
Kristina. Ach nein! Sie hat es wohl am schwersten von uns allen! Aber ich verstehe sie nicht!
Elis. Sie verbirgt ihre Schande, so gut sie kann, und daher wird sie unverständlich. Arme Mutter!
Frau Heyst kommt herein, schwarzgekleidet, Gesangbuch und Taschentuch in der Hand. Guten Abend, Kinder!
Alle mit Ausnahme von Benjamin, der stumm grüßt. Guten Abend, liebe Mama!
Frau Heyst. Ihr seid alle schwarzgekleidet, als wenn ihr Trauer hättet. – Schweigen.
Elis. Schneit es noch?
Frau Heyst. Ja, es ist ein Schneetreiben! Es ist kalt hier bei euch! Geht an Eleonora heran und streichelt sie. Nun, mein Hühnchen, du liest und studierst, wie ich sehe! Zu Benjamin. Und du studierst ebenfalls!
Eleonora nimmt die Hand der Mutter und führt sie an die Lippen.
Frau Heyst unterdrückt ihre Rührung. So, mein Kind, so, so! ...
Elis. Du bist im Abendgottesdienst gewesen, Mama?
Frau Heyst. Ja, es war der Hilfsprediger, und den mag ich nicht.
Elis. Hast du Bekannte getroffen?
Frau Heyst setzt sich an den Nähtisch. Es wäre besser gewesen, wenn ich niemand getroffen hätte!
Frau Heyst. Lindkvist! Und er kam zu mir hin ...
Elis. Wie grausam, wie grausam!
Frau Heyst. Er fragte, wie es mir ginge ... und, stellt euch mein Entsetzen vor, er fragte, ob er heute abend einen Besuch machen dürfte.
Elis. Am Festtagabend?
Frau Heyst. Ich war sprachlos! Und er faßte mein Schweigen als Zustimmung auf! Pause. Er kann jeden Augenblick hier sein!
Elis steht auf. Hier? Jetzt?
Frau Heyst. Er sagte, er wollte ein Papier abgeben, das Eile hätte.
Elis. Er will die Möbel nehmen.
Frau Heyst. Aber er sah so sonderbar aus ... ich verstand ihn nicht!
Elis. Dann mag er kommen. Er hat das Recht auf seiner Seite, und wir müssen uns beugen. Wir müssen ihn auf passende Weise empfangen, wenn er kommt.
Frau Heyst. Wenn ich ihn nur nicht zu sehen brauche!
Elis. Du kannst dich ja drinnen in der Wohnung halten.
Frau Heyst. Aber die Möbel darf er nicht nehmen. Worin sollten wir wohl wohnen, wenn er alle Sachen wegnähme. Man kann doch nicht in leeren Zimmern wohnen!
Elis. Die Füchse haben ihre Höhlen, und die Vögel haben ihre Nester ... es gibt Obdachlose, die im Walde wohnen.
Frau Heyst. Da sollten die Schurken wohnen, nicht aber ehrliche Leute.
Elis am Schreibtisch. Jetzt lese ich, Mama!
Frau Heyst. Hast du einen Fehler gefunden?
Elis. Nein, ich glaube, da sind keine Fehler!
Frau Heyst. Aber ich begegnete vorhin dem Stadtnotarius, und er sagte, es müßte ein Formfehler gefunden werden, ein voreingenommener Zeuge, eine unbewiesene Behauptung oder eine Doppelzüngigkeit. Du liest gewiß nicht genau.
Elis. Freilich, Mama, aber es ist so qualvoll ...
Frau Heyst. Hört einmal, ich begegnete vorhin dem Stadtnotarius – aber das ist ja wahr, das habe ich schon gesagt – und da erzählte er von einem Einbruch, der gestern in der Stadt begangen ist, mitten am hellen Tage.
Eleonora und Benjamin horchen auf.
Elis. Ein Einbruch? Hier in der Stadt? Wo?
Frau Heyst. Es soll in dem Blumengeschäft in der Klosterstraße gewesen sein. Aber das Ganze war höchst sonderbar. Die Sache soll sich folgendermaßen zugetragen haben: der Geschäftsinhaber schloß seinen Laden ab, um in die Kirche zu gehen, in der sein Sohn ... oder war es seine Tochter? ... konfirmiert werden sollte. Als er nun gegen drei Uhr nach Hause kam, es mag auch vier Uhr gewesen sein, aber das tut nichts zur Sache ... ja, da stand die Ladentür offen, es fehlten Blumen, eine ganze Menge, namentlich eine gelbe Tulpe, was er zuerst bemerkte!
Elis. Eine Tulpe! Wenn es eine Osterblume gewesen wäre, würde ich mich geängstigt haben.
Frau Heyst. Nein, es war eine Tulpe, das ist ganz gewiß. Ja, nun hat sich die Polizei in Bewegung gesetzt.
Eleonora hat sich erhoben, als wolle sie reden, Benjamin tritt aber an sie heran und flüstert ihr etwas zu.
Frau Heyst. Wenn man denkt, am Grünen Donnerstag, wo die Jugend konfirmiert wird, einen Einbruch zu verüben! ... Alles Schurken, die ganze Stadt! Und dann sperren sie unschuldige Menschen ins Gefängnis!
Elis. Hat man denn keinen Verdacht?
Frau Heyst. Nein! Aber es war ein sonderbarer Dieb, denn er nahm kein Geld aus der Ladenkasse! ...
Kristina. Ach, daß doch dieser Tag erst zu Ende wäre!
Frau Heyst. Und wenn nur Lina wieder nach Hause käme! ... Ja, ich hörte von Petrus' Mittagsgesellschaft gestern sprechen! Der Landeshauptmann selbst ist dagewesen.
Elis. Das nimmt mich wunder, denn Petrus galt immer als ein Gegner der Landeshauptmannpartei!
Frau Heyst. Dann hat er sich jetzt wohl geändert.
Elis. Er heißt nicht umsonst Petrus, wie es scheint.
Frau Heyst. Was hast du gegen den Landeshauptmann?
Elis. Er ist ein Hintertreiber! Er hintertreibt alles; er hat die Volkshochschule hintertrieben, hat die Waffenübungen der Jugend hintertrieben, er wollte die unschuldigen Radfahrer, die prächtigen Ferienkolonien hintertreiben ... und er hat mein Fortkommen hintertrieben!
Frau Heyst. Das verstehe ich nicht ... und das ist auch einerlei. Indessen hat der Landeshauptmann eine Rede gehalten ... und Petrus hat gedankt ...
Elis. Gerührt, vermute ich, und hat seinen Lehrer verleugnet und gesagt: »Ich kenne den Mann nicht.« Und der Hahn krähte zum zweiten Mal! Hieß nicht der Landeshauptmann Pontius mit dem Beinamen Pilatus?
Eleonora macht eine Bewegung, als wolle sie sprechen, beruhigt sich aber wieder.
Frau Heyst. Du mußt nicht so bitter sein, Elis. Menschen sind Menschen, und man muß mit ihnen auskommen.
Elis. Still! Ich höre Lindkvist kommen!
Frau Heyst. Kannst du das bei dem Schnee hören?
Elis. Ich höre seinen Stock auf die Steine stoßen, und ich höre seine Ledergamaschen! ... Geh hinaus, Mama!
Frau Heyst. Nein, jetzt will ich bleiben, dann werde ich ihm etwas sagen!
Elis. Beste Mama, geh! Es wird zu qualvoll!
Frau Heyst erhebt sich, erschüttert. Der Tag, an dem ich geboren wurde, soll vergessen sein!
Kristina. Nicht fluchen!
Frau Heyst mit einem Ausdruck von Seelengröße. »Sollte nicht lieber der Ungerechte dieses Drangsal haben und ein Übeltäter solchen Jammer erleiden?«
Eleonora mit einem Angstschrei. Mama!
Frau Heyst. Mein Gott, warum hast du mich verlassen! Und meine Kinder!
Ab nach links.
Elis horcht hinaus. Er ist stehen geblieben! ... Vielleicht findet er, daß es unpassend ist ... oder zu grausam! – Aber das findet er wohl kaum, er, der so entsetzliche Briefe hat schreiben können! Sie waren immer auf blauem Papier, und ich kann seither keinen blauen Brief sehen, ohne zu zittern!
Kristina. Was willst du sagen? Was willst du vorschlagen?
Elis. Ich weiß es nicht! Ich habe alle Besinnung, alle Überlegung verloren ... Soll ich vor ihm auf die Knie fallen und ihn um Gnade anflehen? ... Hört ihr ihn? Ich höre nur das Blut, das in meinen Ohren saust.
Kristina. Nehmen wir das Schlimmste an. Er nimmt alles ...
Elis. Dann kommt der Hauswirt und will eine Bürgschaft haben, die ich nicht schaffen kann ... Er will eine Bürgschaft haben, da die Möbel keine Garantie mehr für die Miete bieten!
Kristina hat hinter der Gardine auf die Straße hinausgesehen. Er ist nicht mehr da! Er ist gegangen!
Elis. Ach! ... Weißt du, daß Mamas gleichgültige Ergebenheit mich mehr quält als ihr Zorn!
Kristina. Ihre Ergebenheit ist nur erkünstelt oder eingebildet. Es lag etwas von dem Brüllen der Löwin in ihren letzten Worten ... Sahest du, wie groß sie wurde?
Elis. Weißt du, wenn ich jetzt an Lindkvist denke, erscheint er mir wie ein gutmütiger Riese, der nur die Kinder bange machen will. Wie kann ich jetzt nur darauf kommen?
Kristina. Die Gedanken kommen und gehen ...
Elis. Welch ein Glück, daß ich gestern nicht auf dem Mittagessen gewesen bin ... ich hätte sicher eine Rede gegen den Landeshauptmann gehalten ... und dann hätte ich mir und uns alles verdorben! Das war ein großes Glück.
Kristina. Siehst du!
Elis. Hab Dank für den guten Rat. Du kanntest deinen Petrus!
Kristina. Meinen Petrus?
Elis. Ich meinte: meinen! Sieh, jetzt ist er wieder da! Wehe uns! Man sieht auf der Gardine den Schatten eines Mannes, der sich unschlüssig nähert. Der Schatten vergrößert sich allmählich und wird riesengroß. Alle verharren in der höchsten Angst.
Elis. Der Riese! Sieh nur, der Riese, der uns verschlingen will!
Kristina. Jetzt ist es zum Lachen, wie in den Märchen!
Elis. Ich kann nicht mehr lachen! Der Schatten wird kleiner und verschwindet.
Kristina. Sieh nur den Stock an, und du mußt lachen!
Elis. Er ist gegangen! Ja, jetzt atme ich auf, denn jetzt kommt er vor morgen nicht wieder! Ah!
Kristina. Und morgen scheint die Sonne, da ist es Auferstehungsabend, der Schnee ist verschwunden, und die Vögel singen.
Elis. Rede weiter! Ich sehe alles, was du sagst.
Kristina. Könntest du doch in mein Herz hineinsehen, könntest du doch meine Gedanken sehen, meine guten Absichten, meine innigsten Gebete, Elis, Elis, wenn ich dich jetzt ... unterbricht sich.
Elis. Was? Sprich!
Kristina. Wenn ich dich jetzt um etwas bitte.
Elis. Sprich!
Kristina. Es ist eine Probe! Denke daran, daß es eine Probe ist, Elis!
Elis. Probe! Prüfung! Nun ja!
Kristina. Laß mich ... Nein, ich wage es nicht! Es kann mißlingen!
Eleonora lauscht.
Elis. Warum quälst du mich?
Kristina. Ich werde es bereuen; ich weiß es! ... Mag es geschehen! Elis, laß mich heute abend in das Konzert gehen!
Elis. In welches Konzert?
Kristina. Haydns Sieben Worte am Kreuz, im Dom!
Elis. Mit wem?
Kristina. Mit Alice.
Elis. Und?
Elis. Mit Petrus?
Kristina. Siehst du, jetzt verfinsterst du dich! ... Ich bereue es, aber jetzt ist es zu spät!
Elis. Ja, es ist recht spät! Aber so erkläre dich doch!
Kristina. Ich habe dich ja darauf vorbereitet, daß ich mich nicht erklären könne, aber deswegen verlangte ich dein grenzenloses Vertrauen!
Elis. Geh! Ich verlasse mich auf dich; aber ich leide trotzdem darunter, daß du die Gesellschaft des Verräters suchst.
Kristina. Das begreife ich! Aber es ist ja eine Probe!
Elis. Die ich nicht zu bestehen vermag!
Kristina. Du sollst!
Elis. Ich will, aber ich kann nicht! – Du sollst auf alle Fälle gehen!
Kristina. Deine Hand!
Elis reicht ihr die Hand. Sieh, hier!
Das Telephon klingelt.
Elis ans Telephon. Hallo! ... Keine Antwort! ... Hallo! ... Es antwortet mit meiner eigenen Stimme! ... Wer da? Wie sonderbar! Ich höre meine eigenen Worte wie ein Echo!
Kristina. So etwas kann ja vorkommen!
Elis. Hallo! ... Jetzt ist es heimtückisch! Klingelt ab. Geh jetzt, Kristina! Ohne Erklärungen, ohne Umstände. Ich werde die Probe bestehen!
Kristina. Tue du das, so ergeht es uns gut!
Elis. Ich tue es! ...
Kristina wendet sich nach rechts.
Elis. Warum gehst du hinaus?
Kristina. Ich habe meine Sachen da draußen. Also, auf Wiedersehn! Ab.
Elis. Leb wohl, mein Schatz! Pause. Auf ewig! Stürzt nach links hinaus.
Eleonora. Gott steh uns bei! Was hab ich nur getan! Die Polizei sucht nach dem Schuldigen, und wenn ich nun entdeckt werde – arme Mama, armer Elis!
Benjamin kindlich. Eleonora, du sollst sagen, daß ich es getan habe!
Eleonora. Du? Kannst du die Schuld anderer tragen, du Kind?
Benjamin. Das ist doch leicht zu tragen, wenn man weiß, daß man unschuldig ist.
Eleonora. Man soll nie betrügen!
Benjamin. Nun, dann laß mich dem Blumenhändler telephonieren und sagen, wie es sich verhält.
Eleonora. Nein, ich habe unrecht gehandelt, und ich soll mit Unruhe gestraft werden. Ich habe durch Einbruch Angst in ihnen erweckt, und ich soll geängstigt werden.
Benjamin. Wenn aber die Polizei kommt! ...
Eleonora. Freilich ist das schwer ... aber dann soll es so sein! – Ach, daß doch dieser Tag zu Ende wär! Nimmt die Uhr vom Eßtisch und dreht die Zeiger herum. ... Liebe Uhr, geh ein wenig schneller! Tick, tack, ping, ping, ping! Jetzt ist sie acht! Ping, ping, ping ... Jetzt ist sie neun! Zehn, Elf, Zwölf! ... Jetzt ist es Osterabend! Nun geht die Sonne bald auf, und dann schreiben wir auf das Osterei! Ich will also schreiben: »Siehe, der Widersacher hat euer begehrt, daß er euch siebe wie Weizen, ich aber habe für dich gebeten!« ...
Benjamin. Warum tust du dir selbst so weh, Eleonora?
Eleonora. Ich! Mir weh tun? Benjamin, denke du an alle aufgeblühten Blumen, an die blauen Anemonen, an die Schneeglöckchen, die den ganzen Tag und die ganze Nacht im Schnee haben stehen und draußen im Dunkeln frieren müssen! Denk nur, was die zu leiden haben! Die Nacht ist wohl am schwersten, wenn es dunkel ist, und sie graulich werden und nicht davonlaufen können ... und sie dastehn und darauf warten, daß es Tag werden soll; alles, alles leidet, aber die Blumen am meisten! Und die Zugvögel, die gekommen sind! Wo sollen die über Nacht schlafen?
Benjamin kindlich. Die sitzen in hohlen Bäumen, das weißt du doch.
Eleonora. Es gibt nicht so viel hohle Bäume, daß sie für alle ausreichen! Ich habe hier in den Parks nur zwei hohle Bäume gesehen, und darin wohnen ja die Eulen, die die kleinen Vögel töten ... Armer Elis, der glaubt, daß Kristina von ihm ging; aber ich weiß, daß sie wiederkommt!
Benjamin. Wenn du das weißt, warum sagst du es dann nicht?
Eleonora. Weil Elis leiden soll; alle sollen heute am Karfreitag leiden, damit sie an Christus am Kreuz denken. Draußen von der Straße tönt der Klang einer Polizistenpfeife herein.
Eleonora fährt in die Höhe. Was war das?
Benjamin steht auf. Weißt du das nicht?
Eleonora. Nein.
Benjamin. Das war die Polizei!
Eleonora. Ach! ... Ja, so klang es, als sie kamen, um Vater einzustecken ... und da wurde ich krank! Und nun kommen sie und holen mich!
Benjamin stellt sich mit dem Rücken gegen die Hintergrundtür vor Eleonora hin. Nein, sie sollen dich nicht holen! Ich werde dich verteidigen, Eleonora!
Eleonora. Das ist lieb von dir, Benjamin, aber das sollst du nicht ...
Benjamin sieht durch die Vorhänge hinaus. Es sind zweie!
Eleonora will Benjamin wegdrängen, aber er leistet sanften Widerstand.
Benjamin. Nicht du, Eleonora, dann – will ich nicht mehr leben!
Eleonora. Setz dich da auf den Stuhl, Kind! Geh und setze dich!
Benjamin gehorcht widerwillig.
Eleonora sieht hinter den Vorhängen hinaus, ohne sich zu verbergen. Es waren nur zwei Jungen! O, wir Kleingläubigen! glaubst du, daß Gott so grausam ist, da ich doch nichts Böses getan, nur gedankenlos gehandelt habe ... Es geschieht mir recht! Warum zweifelte ich!
Benjamin. Aber morgen kommt der, der die Möbel holen will.
Eleonora. Mag er kommen! Und wir müssen fortgehen; fort von dem allem ... von den alten Möbeln, die Vater für uns gesammelt hatte, und die ich gesehen habe, seit ich ein kleines Kind war! Ja, man soll nichts besitzen, das einen an die Erde bindet. Hinaus auf steinige Wege und mit wunden Füßen wandern, denn der Weg führt himmelan, und darum ist er so mühselig ...
Benjamin. Jetzt quälst du dich wieder, Eleonora!
Eleonora. Laß mich! ... Aber weißt du, wovon ich mich am schwersten trenne? Von der Uhr da! Die war mit dabei, als ich geboren wurde, und sie hat meine Stunden und Tage ausgemessen ... Sie hebt die Uhr vom Tisch. ... Hörst du, sie tickt wie ein Herz ... ganz wie ein Herz ... und sie blieb in der Stunde stehen, in der Großvater starb, denn schon damals war sie mit dabei! Lebwohl, kleine Uhr, möchtest du bald wieder stillstehen! ... Weißt du, daß sie schneller zu gehen pflegte, wenn wir ein Unglück im Hause hatten, ganz als wenn sie über das Böse hinwegkommen wollte, um unsertwillen, verstehst du! Aber wenn lichte Zeiten waren, dann ging sie langsamer, damit wir um so länger genießen sollten. Das war die liebe Uhr! Aber dann hatten wir eine häßliche ... die muß jetzt auch in der Küche hängen! Die konnte keine Musik leiden; sobald Elis Klavier spielte, fing sie an zu schlagen, das merkten wir alle, nicht nur ich; und darum muß sie in der Küche sitzen, weil sie unartig war! Aber Lina mag sie auch nicht, denn sie ist des Nachts nicht still, und dann kann sie keine Eier danach kochen ... denn sie werden immer hart, sagt Lina! Nun lachst du!
Benjamin. Ja, was soll ich tun!
Eleonora. Du bist ein guter Junge, Benjamin, aber du sollst ernsthaft sein! Denk an die Rute, die da hinter dem Spiegel steckt!
Benjamin. Aber du sprichst ja so lustig, daß ich lachen muß ... und warum sollte man auch immer weinen?
Eleonora. Wenn man nicht in dem Jammertal weinen soll, wo soll man dann weinen?
Benjamin. Hm!
Eleonora. Du willst gern den ganzen Tag lachen, aber dafür bist du auch bestraft worden. Ich mag dich nur, wenn du ernsthaft bist. Merk dir das!
Benjamin. Glaubst du, daß wir aus diesem allem herauskommen, Eleonora?
Eleonora. Ja, das meiste wird sich schon ordnen, wenn nur erst der Karfreitag vorüber ist! Heute die Rute, morgen das Osterei! Heute Schnee, morgen Tauwetter! Heute der Tod, morgen die Auferstehung!
Benjamin. Wie weise du bist!
Eleonora. Ja, ich fühle schon, daß es sich aufklärt und schönes Wetter wird, daß der Schnee schmilzt ... es riecht hier drinnen schon nach geschmolzenem Schnee ... und morgen brechen die Veilchen an der Südwand auf! Die Wolke hat sich verzogen, das spüre ich beim Atmen ... ach, ich weiß es so gut, wenn es zum Himmel offen ist ... Zieh, bitte, die Gardinen zurück, Benjamin; ich will, daß Gott uns sehen soll!
Benjamin erhebt sich und gehorcht; der Mondschein fällt in das Zimmer.
Eleonora. Siehst du den Vollmond! Das ist der Ostermond! Und nun weißt du, daß die Sonne noch da ist, wenn auch der Mond den Schein gibt!