August Strindberg
Die Inselbauern
August Strindberg

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Viertes Kapitel

Es poltert zur Hochzeit; die Alte wird ums Geld genommen.

Das Heu war unter Dach, Roggen und Weizen geborgen. Der Sommer war zu Ende und er war gut gewesen.

– Er hat Glück, der Kerl! sagte Gustav über Carlsson, dem man nicht ohne Grund die Erhöhung des Wohlstandes zuschrieb.

Der Strömling war gekommen, und alle Männer ausser Carlsson waren draussen in den äussersten Schären, als die Familie des Professors zur Eröffnung der Oper nach Haus musste.

Carlsson hatte auch das Packen übernommen und lief den ganzen Tag mit der Bleifeder hinterm Ohr herum; trank Bier am Küchentisch, am Anrichteschrank, im Vorbau. Hier kriegte er einen abgelegten Strohhut, dort ein Paar ausgetretene Segelschuhe; eine Pfeife, ungerauchte Zigarren nebst Spitze, leere Schachteln und Flaschen, Angelruten und Liebigbüchsen, Korke, Segelgarn, Nägel – alles, was man nicht mitnehmen konnte oder für unnötig hielt.

Es fielen so viele Brosamen von des Reichen Tische, und man hatte allgemein das Gefühl, man werde die Abreisenden vermissen; von Carlsson an, der seine Liebste verlor, bis hinunter zu den Hühnern und Ferkeln, die nicht länger Sonntagsessen aus der herrschaftlichen Küche kriegten. Am wenigsten bitter war der Kummer für die verlassenen Mägde Clara und Lotte; trotzdem sie so manche gute Tasse Kaffee bekommen hatten, wenn sie Milch hinaufbrachten, fühlten sie doch, ihr Frühling werde wiederkommen, wenn nur der Herbst die Mitbewerberinnen auf dem Liebesmarkte entfernte.

Am Nachmittag, als der Dampfer kam und anlegte, um die Familie abzuholen, war grosse Aufregung auf der Insel, denn noch nie hatte dort ein Dampfer angelegt.

Carlsson leitete die Landung, gab Befehle und führte das grosse Wort, während der Dampfer an die Brücke heranzukommen suchte. Da aber hatte er sich auf ein Eis begeben, das ihn nicht tragen konnte, denn das Seewesen war ihm fremd; und gerade in dem stolzen Augenblick, als die Leine geworfen wurde und er, in Idas und der Herrschaft Gegenwart, seine Gewandtheit zeigen wollte, kriegte er einen Arm voll Tau von oben auf den Kopf, dass ihm die Mütze heruntergeschlagen wurde und in die See fiel. In einem und demselben Augenblick wollte er die Trosse anziehen und nach der Mütze greifen; aber der Fuss blieb in einer Fuge hängen, er machte einige Tanzschritte und fiel nieder, während der Kapitän ihn schalt und die Matrosen ihn auslachten. Ida wandte sich fort, böse über das ungeschickte Benehmen ihres Helden; beinahe hätte sie geweint, so schämte sie sich seinetwegen. Mit einem kurzen Lebewohl liess sie ihn schliesslich am Landungssteg zurück; und als er ihre Hand behalten und vom nächsten Sommer, von Briefwechsel und Adresse, plaudern wollte, wurde der Landungssteg ihm unter den Füssen fortgerissen; er kippte nach vorn über, und die nasse Mütze rutschte ihm in den Nacken; gleichzeitig brüllte der Steuermann ihm von der Kommandobrücke aus zu:

– Wirst du endlich das Tau losmachen!

Ein neuer Schauer Scheltworte hagelte auf den unglücklichen Liebhaber nieder, ehe er die Trosse losbekam.

Der Dampfer fuhr den Sund hinunter, und wie ein Hund, dessen Herr fortreist, lief Carlsson am Strand entlang, sprang auf Steine, strauchelte über Wurzeln, um die Landzunge zu erreichen, auf der er seine Flinte hinter einem Erlenbusch versteckt hatte, um den Ehrengruss abzugeben. Aber er musste mit dem falschen Bein zuerst aus dem Bett gestiegen sein, denn gerade, als der Dampfer vorbeifuhr und er die hoch erhobene Flinte abfeuern wollte, versagte der Schuss. Er warf die Flinte ins Gras, holte sein Taschentuch heraus und winkte; lief am Strand entlang und schwang sein blaues Taschentuch, hurrahte und schnaubte.

Vom Dampfer aber antwortete niemand; nicht eine Hand erhob sich, nicht ein Taschentuch bewegte sich. Ida war verschwunden.

Aber unermüdlich, rasend lief er über Granitfindlinge, sprang ins Wasser, stürzte gegen Erlenbüsche, kam an einen Feldzaun und fuhr halb durch ihn hindurch, dass er sich an den Pfählen riss. Schliesslich, gerade als das Boot hinter der Landzunge verschwinden wollte, stiess er auf eine Schilfbucht; ohne sich zu bedenken, sprang er ins Wasser, schwang noch einmal sein Taschentuch und stiess ein letztes verzweifeltes Hurrah aus. Das Achter des Dampfers kroch hinter die Kiefern, und er sah, wie der Professor mit seinem Hut zum Abschied winkte. Dann fuhr der Dampfer hinter die Waldspitze, die blaugelbe Flagge mit dem Posthorn hinter sich her schleppend, die noch einmal zwischen den Erlen hindurch schimmerte. Dann war alles verschwunden, nur der lange schwarze Rauch lag noch auf dem Wasser und machte die Luft dunkel.

Carlsson plumpste ans Land und ging Schritt vor Schritt nach seiner Flinte zurück. Er blickte sie mit bösen Blicken an, als sehe er eine andere, die ihn im Stich gelassen; er schüttelte die Pfanne, setzte ein neues Zündhütchen auf und feuerte ab.

Darauf kam er an die Landungsbrücke zurück. Er sah den ganzen Auftritt noch einmal; wie er gleich einem Hanswurst auf den Brückenplanken umher tanzte; hörte das Lachen und Schelten, erinnerte sich an Idas verlegene Blicke und kalten Handschlag; spürte noch den Dunst von Steinkohlenrauch und Maschinentalg, vom Bratenfett aus dem Küchenherd und von der Oelfarbe der Schiffsbekleidung.

Der Dampfer war hierher in sein künftiges Reich gekommen und hatte Stadtmenschen mitgebracht, die ihn verachteten; die ihn in einem Augenblick von seiner Leiter herabstürzten, auf deren Sprossen er schon ein gutes Stück hinauf geklettert war; die ihm – er schluckte in der Halsgrube – sein Sommerglück und seine Sommerfreude entführten.

Er blickte eine Weile ins Wasser, das die Radschaufeln zu einer einzigen Brühe aufgerührt hatten, auf deren Oberfläche Russ in Flocken und Oel in Spiegeln lag; diese Spiegel flammten in Regenbogenfarben wie eine alte Fensterscheibe. Allen möglichen Schmutz hatte das Untier in der kurzen Zeit von sich gegeben und damit das klare grüne Wasser verunreinigt: Bierkorke, Eierschalen, Zitronenrinde, Zigarrenstummel, abgebrannte Streichhölzchen, Papierfetzen, mit denen Uckeleis spielten. Es war, als sei der Rinnstein der ganzen Stadt hierher geflossen und habe auf einmal Unrat und Schelte ausgeworfen.

Es war ihm einen Augenblick schaurig zu Mut, als er daran dachte, wenn er sich wirklich seine Liebste erringen wollte, müsse er in die Stadt, in die Gassen und Rinnsteine, wo es den hohen Tagelohn und den feinen Rock gab, Gaslaternen und Schaufenster, das Mädchen mit Krause, Manschetten und Knöpfstiefel; wo alles, was lockte, war. Aber er hasste die Stadt auch, wo er der Letzte war, wo seine Mundart ausgelacht wurde, seine grobe Hand die feinen Arbeiten nicht leisten konnte; wo seine mannigfachen Fertigkeiten nichts abzuwerfen vermochten. Und doch musste er daran denken, denn Ida hatte gesagt, mit einem Bauernknecht werde sie sich nie verheiraten, und Bauer konnte er nicht werden!

Konnte er nicht?

Ein kühler Wind, der immer stärker wurde, rührte das Wasser auf; das schlug gegen die Brückenpfähle, fegte den Russ fort und klärte den blanken Abendhimmel auf. Das Rauschen der Erlen, das Plätschern der Wellen, das Zerren der Boote, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er warf die Flinte über die Schulter und wanderte heimwärts.

Der Weg ging unter den Haselbüschen über einen Hügel; über dem hing noch eine höhere Grausteinwand, die mit Kiefern bewachsen war; die hatte er noch nie besucht.

Von Neugier gelockt, kletterte er zwischen Farnkraut und Himbeerdickicht hinauf; bald stand er oben auf einem Grausteinfelsen, auf dem ein Seezeichen errichtet war.

Im Sonnenuntergang lag die Insel vor ihm ausgebreitet; mit einem einzigen Rundblick konnte er ihre Wälder und Aecker, Wiesen und Häuser übersehen; und dahinter Holme, Kobben, Schären, bis aufs offene Meer hinaus. Es war ein grosses Stück der schönen Erde, und Wasser, Bäume, Steine: alles konnte sein werden, wenn er nur die Hand ausstreckte, die eine nur, und die andere zurückzog, die nach Eitelkeit und Armut griff. Es brauchte kein Versucher neben ihm zu stehen und zu betteln, vor diesem Bild auf die Knie zu fallen, das die zauberischen Strahlen einer sinkenden Sonne rosig färbten; auf dem blaues Wasser, grüne Wälder, gelbe Aecker, rote Hütten sich zu einem Regenbogen mischten, der auch einen schärferen Verstand betört hätte, als ein Bauernknecht ihn hat.

Von der absichtlichen Vernachlässigung der Treulosen gereizt, die in fünf Minuten das letzte kleine Versprechen, ihm zum Abschied zu winken, vergessen hatte; von den Schimpfworten der übermütigen Stadtflegel so verletzt, als habe er den Stock gekostet; vom Anblick der fetten Erde, der fischreichen Gewässer, der warmen Hütten entzückt, fasste er seinen Entschluss: einen letzten Versuch oder zwei zu machen, um das falsche Herz zu prüfen, das ihn vielleicht schon vergessen hatte; dann aber zu nehmen, was genommen werden konnte, ohne dass man stahl.

 

Als er nach Haus zurückkam und die Grossstuga leer stehen, die Rollgardinen herabgelassen, Stroh und leere Kisten draussen herumliegen sah, würgte es ihn im Hals, als habe er Apfelstücke quer geschluckt.

Nachdem er seine Andenken an die ziehenden Sommergäste in einen Sack gesammelt, schlich er so lautlos wie möglich auf seine Kammer hinauf. Dort verbarg er seine Schätze unter dem Bett, setzte sich an den Schreibtisch, holte Papier und Feder hervor und machte sich bereit, einen Brief zu schreiben.

Die erste Seite ergoss sich in einem einzigen Wortstrom, teils aus seiner eigenen Vorratskammer, teils aus der »Sagengeschichte« und den »Schwedischen Volksliedern« von Afzelius; die hatten einen stärken Eindruck auf ihn gemacht, als er sie beim Verwalter in Wärmland gelesen.

– Liebe, geliebte Freundin! begann er. Einsam sitze ich hier auf meinem Kämmerchen und sehne mich ganz furchtbar nach Dir, Ida. Als seis gestern gewesen, weiss ich noch wie Du hierher kamst: wir säeten Frühlingsroggen und der Guckuck rief im Ochsenhag. Jetzt ist es Herbst, und die Burschen sind draussen auf der Schäre, um Strömling zu fangen. Ich würde nicht so viel danach fragen, wenn Du nicht abgereist wärst, ohne mich vom Dampfer noch einmal zu grüssen, wie es der Professor so freundlich vom Achterdeck getan. Es war leer wie ein Loch nach Dir heute abend, und das ist vor allem der Grund, warum der Kummer so schwer lastet. Damals beim Schnittertanz hast Du etwas versprochen, Ida, erinnerst Du Dich noch? Ich erinnere mich so gut, als hätte ichs aufgeschrieben; aber ich bin auch imstande, zu halten, was ich verspreche. Dazu sind aber nicht alle imstand; doch das ist einerlei, und ich frage nicht so genau danach, wie die Menschen gegen mich sind; die ich aber einmal liebe, die vergesse ich nicht; das möchte ich gesagt haben.

Die Trauer des Vermissens hatte sich jetzt gelegt, und die Bitterkeit kam; die Furcht vor unbekannten Nebenbuhlern tauchte auf, vor den Versuchungen der Stadt mit ihren Vergnügungen; und im Bewusstsein, dass er ausser Stande sei, den befürchteten Sündenfall zu verhüten, schlug er die edlern Gefühle an. Sofort kamen ihm alte Erinnerungen an die Zeit, da er Reiseprediger war. Er wurde hochgestimmt, streng, sittlich; ein strafender Rächer, durch dessen Mund ein Andrer sprach:

– Wenn ich bedenke, wie Du jetzt allein in der grossen Stadt umhergehst, ohne dass ein Arm Dich stützt, der Gefahr und Versuchung von Dir abwenden kann; wenn ich an alle die sündhaften Gelegenheiten denke, die den Gang breit und den Fuss leicht machen, fühle ich einen Stich in meinem Herzen; ist mirs, als habe ich vor Gott und Menschen unrecht getan, dass ich Dich ins Garn der Sünde liess; wie ein Vater hätte ich Dir sein sollen, Ida: und Du hättest dem alten Carlsson wie einem rechten Vater vertraut ...

Bei den Worten »Vater« und »alter Carlsson« wurde er weich und erinnerte sich an das letzte Begräbnis, das er mitgemacht hatte.

– Einem Vater, der immer Nachsicht und Verzeihung im Herzen und auf den Lippen hat. Wer weiss, wie lange der alte Carlsson (er liebte das Wort bereits) hier noch wandelt; wer weiss, ob nicht die Zahl seiner Tage gezählt sind, wie die Wassertropfen in der See oder die Sterne in der Luft; vielleicht, ehe man sichs versieht, liegt er da wie trockenes Heu ... Dann wird vielleicht Jemand ihn ausgraben wollen, ders jetzt nicht glaubt; aber wir wollen hoffen und beten, dass er noch den Tag erlebt, da die Blumen wieder aus der Erde kommen und die Turteltaube sich in unserem Land hören lässt. Dann ist eine liebliche Zeit für manchen, der jetzt klagt und seufzt und mit dem Psalmisten singen möchte ...

Er hatte vergessen, was der Psalmist sang, und musste das Testament aus seinem Kasten holen, um nachzuschlagen. Aber er hatte die Wahl zwischen hundert Psalmen, und Clara rief schon zum Abendbrot; er musste also aus der Menge einen herausgreifen, und er nahm:

– Die Weiden in der Wüste sind auch fett, dass sie triefen, und die Hügel sind umher lustig. Die Anger sind voll Schafe, und die Auen stehen dick mit Korn, dass man jauchzet und singet

Als er die Stelle durchlas, fand er darin eine glückliche Anspielung auf die Vorzüge, die das Landleben vorm Stadtleben hat; und da das gerade der wunde Punkt war, beschloss er, ihn nicht mehr zu berühren, sondern die Anspielung für sich sprechen zu lassen.

Dann überlegte er, was er noch schreiben solle; fühlte sich hungrig und müde; konnte sich nicht verhehlen, dass es schliesslich einerlei sei, was er schrieb, denn Ida war ihm doch wohl verloren, bis der Frühling wiederkam.

Darum unterzeichnete er »Treu und ergeben« und ging hinunter in die Küche, um zu Abend zu essen.

 

Es war dunkel geworden und der Wind hatte sich aufgemacht. Unruhig kam die Alte und setzte sich an den Tisch, an dem sich Carlsson niedergelassen, nachdem er ein Talglicht angesteckt hatte. Die Mädchen gingen still und abwartend zwischen Herd und Tisch hin und her.

– Carlsson, er soll heute abend ein Glas Branntwein haben, sagte die Alte. Ich sehe, er hat's nötig.

– Ja ja, es war nicht so leicht, die Sachen an Bord zu bringen, antwortete Carlsson.

– Darum muss er sich jetzt ausruhen, meinte die Alte und ging nach dem Stundenglas. Aber was das für ein Wind heute abend ist, und von Osten kommt er auch; die Burschen werden es heute nacht schwer haben mit den Netzen.

– Da kann ich ihnen nicht helfen; übers Wetter vermag ich nichts, biss Carlsson den Faden ab. Aber nächste Woche muss es schön werden; da denke ich mit dem Fischboot nach der Stadt zu fahren, um selber mit dem Fischhändler zu sprechen.

– Soso, das will er, Carlsson?

– Ja, ich finde, die Burschen erzielen nicht den richtigen Preis für die Fische; und das muss doch wohl an irgend etwas liegen; wer nun die Schuld haben mag.

Die Alte zupfte am Tisch und dachte wohl, ein anderes Geschäft als der Fischhandel führe ihn nach der Stadt.

– Hm! sagte sie. Dann ist er wohl so artig und spricht beim Professor vor?

– Ja, das tue ich wohl, wenn ich Zeit habe; er hat nämlich einen Flaschenkorb hier vergessen ...

– Sehr nette Menschen waren es jedenfalls ... Will er nicht noch eine Halbe nehmen, Carlsson ?

– Danke sehr, Tante! Ja, das waren feine Leute, und ich glaube, sie kommen wieder, wenigstens nach dem, was ich von Ida hörte.

Mit grossem Vergnügen sprach er den Namen aus, und er legte seine ganze Ueberlegenheit hinein. Die Alte fühlte auch, wie sehr sie ihm unterlegen war; eine Glut stieg ihr in die Wangen und ein Brand in die Augen.

– Ich glaubte, es sei aus zwischen ihm und Ida, flüsterte die Alte.

– Nein behüte, weit davon, antwortete Carlsson, der sehr wohl wusste, wie er seine Schnur einholen musste und dass etwas am Haken sass.

– Wollt ihr euch denn heiraten?

– Gewiss, wenn die Zeit kommt; aber ich muss mich erst nach einer neuen Stellung umhören.

Es zuckte in dem gefurchten Gesicht der Alten, und die magere Hand zupfte und zupfte, wie die Hand eines Fieberkranken am Laken zupft.

– Er gedenkt uns zu verlassen? wagte sie mit zitternder, vertrockneter Stimme zu sagen.

– Einmal muss es doch sein, antwortete Carlsson; früher oder später will man sein eigener Herr werden; und sich für andere abarbeiten, tut man nicht gern um nichts.

Clara war mit dem Mehlbrei gekommen, und Carlsson wurde plötzlich von einer Lust erfasst, mit ihr zu schäkern.

– Nun, Clara, seid ihr nicht bange davor, heute nacht allein schlafen zu müssen, da die Burschen fort sind? Vielleicht wollt ihr, dass ich hinunterkomme und euch Gesellschaft leiste?

– Oh, das ist durchaus nicht nötig! antwortete Clara.

Einen Augenblick herrschte Schweigen in der Küche. Man hörte, wie draussen der Sturm durch den Wald sauste, das Laub von den Birken riss, an den Feldzäunen rüttelte, an Wetterfahnen und Dachtraufen zauste. Zuweilen fuhr ein Windstoss in den Schornstein hinein und blies Feuer und Rauch aus vom Herdmantel, dass Lotte sich die Hand vor Augen und Mund halten musste.

Als der Wind einen Augenblick ausblieb, hörte man das offene Meer gegen die östliche Landspitze schlagen. Plötzlich gab der Hund draussen auf dem Hof Hals, und das Gebell entfernte sich, als sei der Hund jemandem entgegen gesprungen, um ihn zu begrüssen oder zu bedrohen.

– Sieh er bitte nach, wer das sein kann, sagte die Alte zu Carlsson.

Der stand sofort auf und ging zur Tür hinaus. Er sah nur ein Dunkel, das so dick war, dass man es mit einem Messer schneiden konnte; und der Wind empfing ihn mit einem Stoss, dass ihm das Haar wie Erbsensträucher um den Kopf stand. Er lockte den Hund, aber das Gebell war bereits unten auf der Quellwiese und klang jetzt freudig, als erkenne das Tier einen Menschen.

– Es kommt so spät noch Besuch, sagte Carlsson zur Alten, die sich in die Tür stellte. Wer kann das sein? Ich muss wohl gehen und nachsehen. Clara, steck die Laterne an und gib mir meine Mütze!

Er bekam die Laterne und arbeitete sich gegen den Wind auf die Wiese hinaus, folgte dem Gebell und gelangte in das Kieferngehölz, das die Wiese vom Strande trennte. Das Gebell war verstummt, aber zwischen den rauschenden und knackenden Föhren hallten Schritte von eisernen Hacken gegen den Bergfelsen; krachten Zweige, die jemand brach, der seinen Weg suchte; spritzten Wasserlachen auf; antworteten Flüche auf das Winseln des Hundes.

– Wer da? rief Carlsson.

– Der Pastor! antwortete eine rostige Stimme. Carlsson sah Funken sprühen, die ein eiserner Hacken an einem Granitfindling schlug, und aus einem Dickicht stürzte ein kleiner, breitschultriger Mann den Hügel hinab. Das grobe, wetterharte Gesicht wurde von wildem, grauem Backenbart eingerahmt und von kleinen scharfen Augen belebt, deren Brauen Astmoos glichen.

– Höllische Wege habt ihr hier auf der Insel! zankte er zum Gruss.

– Herr Jesus, sind Sies, Herr Pastor? In diesem Hundewetter unterwegs? beantwortete Carlsson achtungsvoll die Willkommsflüche seines Seelsorgers. – Aber wo ist denn das Boot?

– Es ist das Fischboot, und das hat Robert in den Hafen gebracht. Lass uns nur unter Dach kommen, denn heute abend weht der Wind einem durch den Leib. Vorwärts marsch!

Carlsson ging mit der Laterne voran und der Pastor folgte, während der Hund in den Büschen herumschnüffelte, nach einem Birkhuhn, das sich im Bruch eben erhoben und so gerettet hatte.

Die Alte war dem Laternenschein auf den Hof hinaus entgegen gegangen; als sie den Pastor erkannte, freute sie sich und hiess ihn willkommen.

Der Pastor hatte Fische nach der Stadt bringen wollen und war unterwegs vom Sturm überrascht worden, der ihn zum landen zwang. Er fluchte und schalt, weil er nicht zur Zeit nach der Stadt kommen konnte, um seine Fische los zu werden.

– Jetzt sind ja alle Teufel draussen und kratzen nach jedem einzigen Fisch, der im Wasser lebt.

Die Alte wollte ihn in die Stube führen, er aber ging geradeswegs in die Küche hinein, denn er zog das Herdfeuer vor: dort konnte er trocken werden.

Wärme und Licht schienen indessen dem Pastor nicht gut zu bekommen; er zwinkerte mit den Augen, als wolle er sich ermuntern, während er die nassen Schmierstiefel auszog. Carlsson half ihm unterdessen aus einer graugrünen Joppe, die mit Schaffell gefüttert war. Bald sass der Pastor in wollenem Wams und blossen Strümpfen an der Ecke des Tisches, den die Alte abgeräumt und mit Kaffeegeschirr gedeckt hatte.

Wer Pastor Nordström nicht kannte, hätte nicht vermutet, dass dieser Mann aus dem Stockholmer Inselmeer ein geistliches Amt bekleidete; so sehr hatten dreissig Jahre Seelsorge draussen in den Schären den Mann verwandelt, der einmal recht fein gewesen, als er von der Universität Uppsala kam. Ein äusserst knapper Gehalt hatten ihn genötigt, sein Auskommen aus See und Acker zu ergänzen; und da es auch dann noch nicht reichte, musste er sich an den guten Willen seiner Gemeinde wenden, den er durch geselliges Wesen, indem er sich seiner Umgebung anpasste, lebendig erhielt.

Doch zeigte sich der gute Wille meist in Kaffeehalben und Bewirtungen, die an Ort und Stelle verzehrt werden mussten, also den Wohlstand des Pfarrhauses nicht erhöhen konnten; eher unvorteilhaft auf den physischen und moralischen Zustand des Empfängers wirkten. Ausserdem wussten die Schärenleute aus teuern Erfahrungen, wie in Seenot Gott nur dem half, der sich selber half; auch waren sie unfähig, einen starken östlichen Wind in Zusammenhang mit dem augsburgischen Bekenntnis zu bringen. Sie machten sich deshalb wenig aus der kleinen hölzernen Kapelle, die sie hatten bauen lassen. Der Kirchgang, der durch lange Ruderfahrten erschwert oder von ungünstigen Winden unmöglich gemacht wurde, war mehr eine Art Volksmarkt, auf dem man Bekannte traf, Geschäfte machte, Ankündigungen hörte. Und der Pastor war die einzige Behörde, mit der man in Berührung kam; der Länsman, der die Polizeigewalt ausübte, wohnte weit entfernt und wurde bei Rechtssachen nie bemüht; die machte man vielmehr unter einander ab, mit einigen Kopfstössen unter der Brust oder einem Schoppen Branntwein.

Nicht eine Spur von Latein und Griechisch konnte man in dieser vom Herdfeuer und zwei Talglichtern beleuchteten Gestalt sehen, einer Kreuzung von Bauer und Seemann. Die einstmals weisse Hand, die in ihrer ganzen Jugend Blätter von Büchern umgewandt hatte, war braun und borkig, hatte gelbe Leberflecke von Salzwasser und Sonnenbrand, war hart und schwielig von Rudern, Segeln, Steuern; die Nägel waren halb abgenagt und trugen von der Berührung mit Erde und Gerätschaften schwarze Ränder. Die Ohrmuschel waren mit Haar zugewachsen und gegen Katarrh und Fluss von Bleiringen durchbohrt. Aus der auf das wollene Wams aufgenähten Ledertasche hing eine Haarschnur, die einen Uhrschlüssel aus einem gelben Metall mit einem Karneol trug. In die feuchten wollenen Strümpfe hatte die grosse Zehe Löcher gerissen, welche die schlingernden Bewegungen der Füsse unter dem Tisch unablässig verbergen wollten. Das Wams war unter den Armen von Schweiss gelbbraun geworden, und der Hosenschlitz stand halb offen, weil Knöpfe fehlten.

Er holte eine kurze Pfeife aus der Hosentasche, klopfte sie, während allgemeines achtungsvolles Schweigen herrschte, gegen die Tischkante aus, dass sich ein kleiner Maulwurfshaufen von Asche und sauerm Tabak auf den Boden legte. Aber die Hand war unsicher und das Stopfen ging unregelmässig vor sich; war zu umständlich, um nicht Unruhe zu erregen.

– Wie steht es heute abend mit Ihnen, Herr Pastor? Ich glaube, Sie sind nicht ganz wohl, fuhr die Alte dazwischen.

Der Pastor hob das auf die Brust gesunkene Haupt, sah sich nach den Balken der Decke um, als suche er nach der Sprechenden.

– Ich? sagte er und stopfte eine Prise Tabak am Pfeifenkopf vorbei. Dann schüttelte er den Kopf, als wolle er in Frieden gelassen werden, und versank in schwermütige Gedanken ohne bestimmte Form.

Carlsson sah, wie es stand, und flüsterte der Alten zu:

– Er ist nicht nüchtern!

Und im Glauben, einschreiten zu müssen, nahm er die Kaffeekanne und goss die Tasse des Pastors voll, stellte die Branntweinflasche daneben und bat ihn mit einer Verbeugung, fürlieb zu nehmen.

Mit einem vernichtenden Blick hob der Alte seinen grauen Kopf, als wolle er, dass der Schlag Carlsson rühre; mit Ekel die Tasse von sich schiebend, spuckte er aus:

– Bist du hier zu Hause, Knecht? Dann wendete er sich zur Alten:

– Gebt mir eine Tasse Kaffee, Frau Flod ! Und dann versank er für eine Weile in tiefes Schweigen, sich vielleicht an die Grösse früherer Tage erinnernd und erwägend, wie die Unverschämtheit beim Volk überhand nahm.

– Verfluchter Knecht! schnaubte er noch einmal. Mach, dass du hinauskommst, und hilf Robert beim Boot.

Carlsson versuchte es mit Schmeichelei, wurde aber sofort unterbrochen:

– Weisst du nicht, wer du bist? Carlsson verschwand durch die Tür. Nachdem sich der Pastor mit einem Schluck aus der Tasse erfrischt hatte, fuhr er die Alte an, die eine Entschuldigung für den Knecht zu drechseln suchte:

– Habt ihr die Zugnetze draussen?

– Ja, lieber Herr Pastor, öffnete die Alte die Schleusen, und alle Schleppnetze auch. Um sechs herum konnte noch niemand wissen, dass für die Nacht Sturm kommen werde; und ich kenne Gustav. Er würde eher zugrunde gehen, als dass er das Garn heute nacht liegen liesse.

– Ach was, der weiss sich schon zu helfen! tröstete der Pastor.

– Sagen Sie das nicht, Herr Pastor! Mag das Garn meinetwegen draufgehen, es steckt zwar ein gut Stück Geld darin, wenn nur der Junge heil aus der Sache herauskommt ....

– Er wird doch wohl nicht so dumm sein, die Netze in diesem Wetter aufzunehmen? Die ganze See liegt ja drauf!

Das gerade kann man von ihm nicht erwarten! Wie der Vater, hat er immer etwas Besonderes vorstellen wollen, und er wäre imstande, sein Leben daran zu setzen, um die Zugnetze nicht verloren gehen zu lassen.

– Ists so mit ihm bestellt, Frau, dann kann ihm selbst der Teufel nicht helfen! Uebrigens es fischt sich gut! Wir waren vergangene Woche mit sechs Schleppnetzen draussen bei den Erlenkobben, und wir haben achtzehnmal achtzig gefangen.

– War der Strömling denn auch fett?

– Das will ich meinen, fett wie Butter. Aber sagt mal, Frau Flod, was ist das für ein Geschwätz, das von Euch umläuft: Ihr sollt daran denken, Euch wieder zu verheiraten? Ist das wahr?

– Ei potztausend, brach die Alte los, sagt man das? Das ist doch toll, was die Leute schwatzen können.

– Mir geht es ja nicht zu nahe, erwiderte der Pastor; verhält es sich aber so, wie man sagt, dass es sich um den Knecht handelt, so wäre es um den Jungen schade.

– Oh, für den Jungen ist keine Gefahr, und einen schlechtem Stiefvater hat mancher gekriegt

– Es ist also wahr, höre ich. Brennt es noch so heftig in dem alten Körper, dass Ihrs nicht mehr aushalten könnt? Das Fleisch will das Seine haben, hahaha!

– Wollen Sie nicht noch eine Halbe trinken, Herr Pastor? unterbrach ihn die Alte, die ängstlich wurde über die Wendung, die das Gespräch ins Liebesgebiet nahm.

– Bitte, Frau; Ihr seid freundlich! Danke! Aber ich muss auch ins Bett, und Ihr habt wohl noch nicht für mich aufgebettet.

Lotte wurde auf die Kammer geschickt, um das Bett zu machen, nachdem man beschlossen, dass Carlsson und Robert in der Küche, schlafen sollten.

Der Pastor gähnte und rieb den einen Fuss gegen den andern, fuhr mit der Hand über die Stirn bis zur nackten Glatze hinauf, als wolle er namenlosen Kummer fortstreichen; dabei sank der Kopf in kurzen Rucken gegen die Tischplatte, wo schliesslich das Kinn seine Stütze fand.

Die Alte, die sah, wie es stand, trat näher und legte ihm die Hand behutsam auf die Schulter, klopfte sacht und bat mit rührender Stimme:

– Lieber Herr Pastor! Können wir nicht ein gutes Wort heute abend hören, ehe wir zu Bett gehen? Denken Sie an die Alte und ihren Jungen, der auf See ist.

– Ein gutes Wort? Ja! Gebt mir das Buch; Ihr wisst ja, wo es steckt.

Die Alte nahm den ledernen Proviantsack und holte ein schwarzes Buch mit goldenem Kreuz heraus. Wie ein Reisekästchen, aus dem alten Frauen und Kranken stärkende Tropfen geboten werden, pflegte man dieses Buch vorzunehmen. Andächtig, als habe sie ein Stück von der Kirche in ihre niedrige Hütte gebracht, trug sie das geheimnisvolle Buch, behutsam wie ein warmes Brot, auf ihren beiden Händen; schob vorsichtig die Tasse des Pastors beiseite, wischte den Tisch mit ihrer Schürze ab und legte das heilige Buch vor den schweren Kopf.

– Lieber Pastor, flüsterte die Alte, während der Wind im Schornstein lärmte, da ist das Buch.

– Gut, gut, antwortete der Pastor wie im Schlaf; streckte den Arm aus, ohne den Kopf zu heben, tappte nach der Kaffeetasse und fuhr mit dem Finger so gegen den Henkel, dass er die Tasse umstiess; in zwei Bächen floss der Branntwein über den fettigen Tisch.

– Oh oh, klagte die Alte und rettete das Buch; das geht nicht! Sie sind schläfrig, Herr Pastor, und müssen sich niederlegen.

Aber der Pastor schnarchte schon; er ruhte mit dem Arm auf der Tischplatte und hatte den langen Finger zu einer albernen Gebärde ausgestreckt, als zeige er nach einem unsichtbaren Ziel, das augenblicklich unerreichbar war.

– Wie sollen wirs nur anfangen, ihn ins Bett zu bringen? klagte die Alte den Mädchen.

Sie wusste, in welch furchtbare Laune er geraten konnte, wenn er aus dem Rausch geweckt wurde. Ihn in der Küche zu lassen, ging nicht der Mädchen wegen; auch in die Stube durfte er nicht, denn dann hätte man darüber geklatscht.

Die drei Frauen gingen um den Schlafenden herum, wie Ratten die Katze umkreisen, um ihr Schellen anzuhängen, ohne es jedoch zu wagen.

Inzwischen war das Feuer im Herd erloschen, und der Wind drang durch Fenster und undichte Wände. Der Alte, der ja in blossen Strümpfen dasass, musste kalt geworden sein, denn eins, zwei, drei erhob sich der Kopf, der Mund öffnete sich gähnend, und drei Aufschreie, die klangen, wie wenn der Fuchs seinen Geist aufgibt, liessen die Frauen zusammenfahren.

– Ich glaube, ich habe geniesst, sagte der Pastor, erhob sich und ging mit geschlossenen Augen zu einem Fenstersofa; dort sank er nieder, streckte sich auf den Rücken aus, faltete die Hände über der Brust und schlummerte mit einem langen Seufzer ein.

Ihn von dort weg zu bringen, daran war nicht zu denken.

Auch Carlsson und Robert, die jetzt zurückkamen, wagten nicht, ihn anzurühren.

– Er schläft! Nehmt euch in acht, sagte Robert. Gebt ihm nur ein Kissen unter den Kopf und werft eine Decke über ihn, dann schläft er bis zum Morgen.

Die Alte nahm die Mädchen mit in die Stube. Robert musste auf dem Heuboden über dem Vorratsschuppen schlafen. Carlsson ging auf seine Kammer. Die Lichter wurden gelöscht und es ward still in der Küche.

Bald lag das ganze Haus im Schlaf, der mehr oder weniger ruhig war.

 

Am nächsten Morgen, als der Hahn krähte und Frau Flod aufstand, um ihre Leute zu wecken, waren der Pastor und Robert fort. Der Sturm hatte sich etwas gelegt, kalte weisse Herbstwolken zogen von Osten ins Land hinein und der Himmel war wieder blau.

Gegen acht begann die Alte ihre Wanderungen nach der östlichen Landspitze hinunter, um nachzuschauen, ob sich kein Boot draussen auf dem offnen Meer zeige. Draussen in der Rinne zwischen den Kobben tauchte das eine und das andere gereefte Rahsegel auf, verschwand und kam wieder zum Vorschein. Die See lag blau da wie Stahl, und die äussersten Schären dämmerten, hingen wie an luftfarbigen Tüchern, als seien sie aus dem Wasser in die Höhe geflossen und im Begriff, sich wie Nachtnebel zu erheben. Die jungen Sägegänse lagen auf Buchten und Landspitzen und liefen auf den Seen; tauchten, wenn sie den Meeradler auf seinem schweren Flug über sich sahen, und kamen wieder in die Höhe; liefen von neuem, dass das Wasser sprühte.

Sah Frau Flod draussen auf einer Schäre die Möwen fliegen und hörte sie sie schreien, dachte sie: da kommt ein Segel; und es kamen auch Segel, aber alle zogen an der Insel vorbei, entweder nach Norden oder nach Süden. Der kalte Wind und die weissen Wolken peinigten die Augen der Alten; sie ging in den Wald zurück, des Wartens müde. Sie fing an Preisselbeeren in die Schürze zu pflücken, denn sie konnte nicht ohne Beschäftigung sein, sondern musste etwas haben, mit dem sie sich die Unruhe vertrieb. Der Sohn war ihr doch das Liebste; und sie war nicht halb so bekümmert gewesen an jenem Abend, als sie am Zauntritt stand und eine andere dunkle Hoffnung in der Finsternis verschwinden sah. Heute sehnte sie sich mehr nach ihrem Jungen, denn sie hatte ein Gefühl, er werde sie bald verlassen. Das Wort des Pastors gestern abend über das Geschwätz hatte den Pulverfaden angesteckt; bald würde es puff! machen. Wem dann die Augenbrauen versengt würden, war nicht zu bestimmen; dass aber einem etwas geschehen werde, war anzunehmen.

Schliesslich schlenderte sie langsam nach Haus. Als sie auf die Eichenhöhe kam, hörte sie Stimmen unten von der Landungsbrücke. Durch das Eichenlaub sah sie, wie Menschen sich um den Seeschuppen bewegten, mit einander sprachen, verhandelten, stritten. Es hatte sich, während sie fort war, etwas zugetragen! Aber was?

Die Unruhe jagte die Neugier auf, und sie trabte die Anhöhe hinunter, um zu erfahren, was geschehen war.

Als sie an den Feldzaun kam, sah sie das Achterstück des Netzbootes. Sie waren also um die Insel herum gerudert!

Normans Stimme war deutlich zu hören, wie er den Verlauf schilderte:

– Er ging auf den Grund wie ein Stein; dann kam er wieder in die Höhe; da aber kriegte er den Tod mitten durchs linke Auge; es war genau so, als lösche man ein Licht.

– Herr Jesus, ist er tot? schrie die Alte und stürzte über den Zaun.

Aber niemand hörte sie, denn Rundqvist setzte die Leichenrede im Boot fort.

– Und dann warfen wir die Dregg und als der Ankerflügel ihn im Rücken packte, da ...

Die Alte war hinter die Stangen gekommen, an denen die Netze trockneten, und konnte nicht hindurch; aber sie sah, wie durch einen Schleier vor einem Spiegel, hinter den aufgehängten Netzen, wie alle Leute des Hofes um einen grauen Körper, der im Boot verstaut war, lagen, knieten, krochen. Sie schrie auf und wollte unter den Netzen durch, aber die Schwimmer blieben in ihren Haarflechten hängen und die Senker schlugen wie eine Geissel.

– Was haben wir denn da in den Flundernetzen gefangen? schrie Rundqvist, der sah, dass das Garn lebendig wurde. Nein, ich glaube, das ist Tante!

– Ists aus mit ihm? schrie Frau Flod so laut sie konnte. Ists aus mit ihm?

– Aus wie mit einem toten Hund!

Die Alte kam endlich los und eilte an die Landungsbrücke. Da lag Gustav mit blossem Kopf im Boot auf dem Bauch, aber er bewegte sich, und unter ihm war ein grosser haariger Körper zu sehen.

– Bist dus, Mama? grüsste Gustav, ohne sich umzudrehen. Sieh, was wir gefangen haben!

Die Alte machte grosse Augen, als sie einen fetten Seehund erblickte, dem Gustav gerade das Fell abzog. Seehunde gabs allerdings nicht alle Tage; das Fleisch konnte man essen, wie es jetzt war; der Tran reichte zu manchem Paar Stiefel; das Fell war wohl seine zwanzig Kronen wert. Aber nötiger war doch der Winterströmling, und sie sah nicht eine Flosse im Boot; wurde deshalb etwas verstimmt, vergass sowohl den wiedergefundenen Sohn wie den unerwarteten Seehund und brach in Vorwürfe aus:

– Und der Strömling?

– Dem war nicht beizukommen, antwortete Gustav. Aber den kann man ja schliesslich kaufen, während man Seehunde nicht alle Tage kriegt

– Ja, so sprichst du immer, Gustav! Aber es ist wirklich eine Schande, drei Tage auszubleiben und nicht einen einzigen Fisch heimzubringen. Was sollen wir denn diesen Winter essen?

Sie fand aber keine Zustimmung; vom Strömling hatte man genug bekommen, und Fleisch war Fleisch; ausserdem hatten die Jäger durch ihre Erzählung des merkwürdigen Jagdabenteuers alle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

– Ja, benutzte Carlsson die Gelegenheit, indem er sich ein Stück vom Aas abhieb, hätten wir jetzt nicht den Ackerbau, so kriegten wir nichts zu essen!

An diesem Tag fischte man nicht mehr; der grosse Waschkessel wurde aufs Feuer gesetzt, um den Tran auszukochen; in der Küche wurde gebraten und geschmort; dazwischen trank man Kaffeehalbe. Auf der südlichen Wand der Scheune wurde das Fell wie ein Siegeszeichen ausgespannt; Leichenreden wurden dabei gehalten, und alle kommenden und gehenden Kleingläubigen mussten ihre Finger in die Schusslöcher stecken und anhören: wie das Blei dahin gekommen; wo der Seehund auf den Stein gekrochen war; was Gustav im letzten Augenblick, als der Schuss losgehen sollte, zu Norman sagte; wie sich der sterbende Seehund im letzten Augenblick benahm, als ihm das »Leben wie ein Faden abgeschnitten wurde«.

Carlsson war kein Held in diesen Tagen, aber er schmiedete heimlich sein Eisen; und als das Fischen zu Ende war, setzte er sich mit Norman und Lotte ins Boot, um nach der Stadt zu fahren.

 

Als Frau Flod an die Landungsbrücke hinunter kam, um die aus der Stadt Heimkehrenden zu empfangen, war Carlsson so freundlich und bescheiden, dass die Alte sofort merkte, es war etwas dazwischen gekommen.

Nach dem Abendbrot liess sie ihn in die Stube eintreten, damit er das Geld aufzähle. Er musste sich setzen und berichten. Aber das ging träge; der Knecht schien keine Lust zu haben, etwas mitzuteilen; doch die Alte liess nicht locker, bis er mit einem Reisebericht herausrückte.

– Nun, Carlsson, melkte sie, er ist doch auch bei Professors gewesen, nicht wahr?

– Ja, natürlich war ich dort, antwortete Carlsson, der augenscheinlich von der Erinnerung unangenehm berührt wurde.

– Nun, wie gehts ihnen?

– Sie lassen alle auf dem Hof grüssen; sie waren so freundlich, mich zum Frühstück einzuladen. Es war sehr fein in der Wohnung, und wir haben auch was Gutes gekriegt.

– Was hat er denn Gutes gekriegt?

– Oh, wir haben Hummer mit Schwammpignons gegessen und dazu Porter getrunken.

– Da hat er wohl auch die Mädchen gesehen Carlsson?

– Ja gewiss, antwortete Carlsson freimütig.

– Und die sind sich gleich geblieben, nicht wahr?

Das waren sie nun allerdings nicht; das würde aber die Alte zu sehr gefreut haben; darum antwortete Carlsson nicht darauf.

– Ja, sie waren sehr nett! Wir sind abends in Berns Salon gewesen, um uns die Musik anzuhören; da habe ich sie mit Sherry und belegten Brötchen traktiert. Es war, wie gesagt, sehr nett.

In Wirklichkeit war es aber durchaus nicht nett gewesen; die Sache war nämlich ganz anders verlaufen.

Carlsson war in der Küche von Lina empfangen worden, denn Ida war ausgegangen; an der Ecke des Küchentisches hatte er dann eine halbe Flasche Bier getrunken. Dabei war die Frau des Professors in die Küche gekommen und hatte zu Lina gesagt, sie solle einen Hummer holen, da abends Besuch komme; dann war sie wieder gegangen.

Als Carlsson mit Lina wieder allein war, wurde die etwas verlegen; schliesslich kriegte Carlsson aus ihr heraus, dass Ida seinen Brief empfangen und ihn eines Abends, als ihr Bräutigam dagewesen, laut vorgelesen habe; das war in der Kammer geschehen, wo der Bräutigam Porter trank und Lina Champignons reinigte. Und sie hatten sich halb tot gelacht. Zwei Male habe der Bräutigam den Brief gelesen, laut wie ein Pastor. Am meisten hatten sie sich über den »alten Carlsson« und seine »letzten Stunden« amüsiert. Als sie zu der Stelle von »Versuchungen und Irrwegen« kamen, hatte der Bräutigam – er war Bierfahrer – vorgeschlagen, nach Berns Salon in die Versuchung zu gehen. Und sie waren dorthin gegangen und wurden von dem Bräutigam mit Sherry und belegten Brötchen traktiert.

Ob nun Linas Erzählung Carlssons Sinn erregt und sein Gedächtnis erschüttert hatte; oder ob er sich so lebhaft in die Kleider des Bierfahrers gewünscht, dass er sich in dessen angenehme Lage als Wirt versetzt, sich mit dem Hummer essenden Gast verwechselt, den Porter des Bräutigams getrunken und Linas Champignons gegessen hatte – genug, er stellte die Sache der Alten so dar, dass er die Wirkung erzielte, die er beabsichtigte; und das war die Hauptsache.

Nachdem er so weit gekommen war, fühlte er sich ruhig genug, um zum Angriff überzugehen. Die Burschen waren auf See, Rundqvist hatte sich niedergelegt, und die Mädchen waren für diesen Tag fertig geworden.

– Was ist das für ein Geschwätz, das hier im Kirchspiel umläuft; das ich überall hören muss? begann er.

– Was schwatzt man jetzt wieder? fragte Frau Flod.

– Ach, es ist das alte Geschwätz: wir dächten daran, uns zu verheiraten.

– Ja, das ist nichts Neues; das haben wir so oft gehört.

– Aber es ist doch ganz unglaublich, dass die Leute behaupten, was nicht wahr ist! Das ist mir ganz unbegreiflich, sagte der listige Carlsson.

– Ja, was sollte er, der junge, hübsche Kerl, auch mit einem alten Weib, wie ich bin, anfangen?

– Oh, was das Alter betrifft, damit hats keine Gefahr. Darf ich für mein Teil sprechen: sollte ich einmal daran denken, mich zu verheiraten, so wäre es nicht mit einer Dirne, die nichts kann und nichts weiss; denn seht, Tante, die Lust ist eins und sich verheiraten ein andres! Denn die Lust, die weltliche Lust, vergeht wie ein Rauch, und die Treue ist wie Kautabak, wenn ein anderer kommt, der Zigarren spendiert. Seht, so bin ich, Tante: mit der ich mich verheirate, der halte ich auch Treue; und so bin ich immer gewesen, und wer etwas anderes sagt, der lügt.

Die Alte spitzte die Ohren und merkte die Anspielung.

– Aber Ida? Ist es nicht Ernst zwischen ihr und ihm? untersuchte sie.

– Ida, ja, die ist ja an und für sich ganz gut; ich brauchte nur den Finger nach ihr auszustrecken, dann hätte ich sie! Aber, Tante, sie hat nicht die rechte Gesinnung; sie ist weltlich und eitel, und ich glaube, sie wandelt sogar auf unrechten Wegen. Uebrigens muss ich sagen, ich fange an alt zu werden und habe keine Lust zum Schäkern mehr. Ja, gerade heraus gesagt: sollte ich ans Heiraten denken, so würde ich eine ältere, verständige Person nehmen, eine, welche die rechte Gesinnung hat. Ich weiss nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll, aber Ihr versteht mich doch wohl, Tante, denn Ihr habt ja die rechte Gesinnung; ja, die habt Ihr.

Die Alte hatte sich am Tisch niedergelassen, um Carlsson Winkelzüge besser verstehen zu können, damit sie nicht die Gelegenheit versäume, ihr Amen zu sagen, wenn er mit seinem Ja herausrückte.

– Aber sag er mal, Carlsson, begann sie ein neues Garnende, hat er denn nicht an die Witwe von Ovassa gedacht, die allein steht und nichts Besseres verlangt, als sich wieder zu verheiraten? – Ach nein, die kenne ich wohl, aber die hat nicht die rechte Gesinnung: wer mich haben will, der muss die rechte Gesinnung haben! Geld und äusseres Getue und feine Kleider, das macht auf mich keinen Eindruck, denn so bin ich nicht! Und wer mich wirklich kennt, der kann nichts anderes sagen.

Der Stoff schien nun von allen Seiten benagt zu sein; einer musste das letzte Wort sagen, solange es noch möglich war.

– Nun, an wen hat er denn gedacht, Carlsson? wagte sich die Frau einen kühnen Schritt vor.

– Gedacht? Gedacht! Man denkt dies und das; ich habe überhaupt noch nichts gedacht. Der etwas denkt, der spreche; ich schweige! Man soll nachher nicht sagen können, ich habe jemanden verlockt: von der Gesinnung bin ich nicht.

Die Alte wusste jetzt nicht recht, wo sie zu Hause war; und sie musste sich noch einmal vortasten.

– Ja, aber, lieber Carlsson, wenn er Ida in Gedanken hat, dann kann er doch nicht in vollem Ernst an eine andere denken.

– Ida, nein, die Füchsin will ich nicht geschenkt haben! Nein, etwas Besseres muss es sein; Kleider am Körper muss sie wenigstens besitzen; und hat sie noch etwas mehr, so schadet es auch nichts; doch sehe ich nicht darauf, denn so bin ich, das ist meine Gesinnung.

Jetzt war man so viele Male hin- und hergefahren, dass man in die Gefahr kam, sitzen zu bleiben, wenn die Alte sich nicht noch einen Ruck gab.

– Nun, Carlsson, was würde er sagen, wenn wir beide uns zusammen täten?

Carlsson wehrte mit beiden Händen ab, als wolle er sofort vom ersten Augenblick an jeden Verdacht einer solchen Niedrigkeit verjagen.

– Aber das kann doch gar nicht in Frage kommen! beteuerte er. Daran wollen wir nicht einmal denken, geschweige denn davon sprechen. Was würden die Leute schwatzen: ich hätte sie fürs Geld genommen. Aber so bin ich nicht, und das ist nicht meine Gesinnung. Nein, über die Sache wollen wir kein Wort mehr verlieren. Versprecht mir das, Tante, und gebt mir die Hand darauf (er streckte seine Hand aus), dass wir nie wieder davon sprechen! Gebt mir die Hand darauf!

Frau Flod aber wollte ihm nicht die Hand darauf geben, sondern sie wollte gerade die Sache gründlich besprechen.

– Warum soll man nicht von dem sprechen, was sich doch zutragen könnte? Ich bin alt, das weiss er, Carlsson, und Gustav ist nicht der Mann dazu, den Hof zu übernehmen. Ich brauche jemanden, der mir zur Seite steht und hilft; aber ich verstehe wohl, dass er sich nicht für andere verbrauchen und sich nicht für nichts abrackern will: darum weiss ich mir keinen andern Rat, als dass wir uns verheiraten. Die Leute lass er nur schwatzen; sie klatschen doch so wie so! Hat er nichts Besonderes gegen mich, Carlsson, so sehe ich nichts, was uns hindern sollte. Was hat er denn gegen mich?

– Gegen Euch habe ich nichts, Tante, durchaus nichts; aber dieses dumme Geschwätz; und übrigens Gustav wird uns das nie vergessen.

– Ach was, ist er nicht Manns genug, den Jungen im Zaum zu halten, so werde ichs schon besorgen. In die Jahre bin ich ja schon gekommen, aber so alt bin ich denn doch noch nicht, und ich muss ihm unter vier Augen sagen, Carlsson ... wenns drauf ankommt, bin ich noch ebenso gut wie ein Mädchen.

Das Eis war gebrochen. Nun kam eine Flut von Plänen und Beratungen, wie man sich Gustav mitteilen und wie man es mit der Hochzeit machen solle.

Die Verhandlungen dauerten lange, so lange, dass die Alte den Kaffeekessel aufsetzen und die Branntweinflasche hervorholen musste. Bis tief in die Nacht hinein dauerten die Verhandlungen.


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