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Es war ziemlich spät nachmittags, als der Afrikaforscher, nach langer Reise in Genf eingetroffen, in den Hotelgarten trat.
Der lag am Quai du Montblanc. Hart vor ihm spülte die Rhone ihre grasgrünen Wellen eilig unter den Brücken hindurch, jenseits standen neue Häuserreihen und Baumgruppen, und dahinter schlossen weißliche Abendwolken den Blick in jene Ferne ab, aus der bei ganz klarem Wetter der Montblanc herübergrüßt.
Rings im Garten die internationale Reisewelt der schon beginnenden Hauptverkehrszeit – weißbärtige, bewegliche Franzosen mit dem roten Bändchen im Knopfloch und lächelnde Yankees in Schaukelstühlen, graziöse Pariser Damenwelt, Briten in Masse, streng nach der zwanglosen Mode des Sommernachmittags gekleidet, und dort – waren das nicht alte Bekannte?
Richtig – da stand der alte Herr mit dem eisgrauen Schnauzbart auf, reckte seine hagere, in einem zu kurzen Sommerjäckchen und ganz engen Beinkleidern steckende Gestalt und winkte ihm zu. Und auch die neben ihm kerzengerade dasitzende, schwarz gekleidete Dame wurde lebendig. Der Major und die Gouvernante! Das Paar hatte er am wenigsten gesucht. Aber es half nun nichts. Er mußte hin und sie begrüßen.
Die beiden ältlichen Menschen waren wie ausgewechselt in ihrem herbstlichen Zug von Herz zu Herzen. Über ihrem Gesicht lag ein geradezu sanftes, wehmütiges Lächeln an Stelle der früheren Düsterkeit, und er hatte sich – ganz im Gegensatz zu seinen wilden Auftritten mit Cook und Sohn – ein völlig feierliches Wesen, eine Art altfränkischer Sanftmut beigelegt, die seine verwitterten Züge verklärte. Jedenfalls waren die beiden vollkommen glücklich und kümmerten sich wenig darum – wenn sie es überhaupt merkten –, daß sie unter dieser blasierten, medisanten Touristenwelt wie die Dohlen zwischen den Ziervögeln saßen.
Er nahm bei ihnen Platz, und unaufgefordert, als ob sich das von selbst verstände, erzählten ihm die beiden zugleich von Klara. Die Reise sei ohne Zwischenfälle verlaufen, und gestern früh habe man die Kleine in ihre neue Stellung gebracht. Aber heute schon sei ein flehender Brief von ihr gekommen, die Schwester möge sie doch umgehend besuchen. So sei Klara eilends dorthin gegangen und müsse nun wohl bald zurückkommen.
Den Afrikaner, der zerstreut zuhörte, interessierte nur das letztere. Was lag ihm an all diesen verwandtschaftlichen Abenteuern? Am liebsten wäre es ihm gewesen, hätte die blonde Malerin ganz ohne Anhang auf der Welt dagestanden. Denn diese Philister – gewiß, es waren ja treffliche, gute Menschen, aber er paßte so gar nicht zu ihnen, und sie verstimmten ihn, ohne es zu wissen und zu wollen, in ihrer Sprache, ihrer Haltung, ihren Kleidern – in allem.
Die beiden Damen, die jetzt in den Garten traten, fielen auch durch ihre Schlichtheit und Anspruchslosigkeit auf. Zwischen dem raffinierten Luxus der Amerikanerinnen und Pariserinnen ringsumher sahen sie in ihrer einfachen Reisegarderobe wie Kammerfrauen oder Gouvernanten aus.
Nun natürlich – es waren ja doch auch Gouvernanten, die älteste, die da neben ihm saß, und die jüngste, die da trotzigen Gesichts herankam. Und die hübsche Blondine neben ihr konnte sich doch nicht anders kleiden wie ihre Schwestern.
Es dauerte einen Augenblick, bis er sich überzeugt hatte, daß es Klara war, und fast zugleich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, einen wie großen Unterschied es doch macht, ob man ein Mädchen allein mitten in der dämmernden Wüste, in kleidsamem Reitkostüm, als die erste Europäerin seit Jahren erblickt, oder wie hier in einem Kreise glänzender, selbstbewußter und unmerklich spöttisch lächelnder Frauen.
Gleich darauf zürnte er sich wegen dieser Regung. Er ging raschen Schrittes auf Klara zu und drückte ihr herzlich beide Hände. Sie erwiderte leise den Druck und schaute ihm heiter ins Gesicht. Eine seine Röte durchleuchtete ihre freundlichen offenen Züge, aber sie sprach kein Wort.
Statt ihrer fing die Kleine an. Sie befand sich in höchster Aufregung und wartete gar nicht ab, daß man sie nach dem Grund der Rückkehr fragte. Sie müsse eben zurückkommen! Sie habe Klara gebeten, sie nur gleich wieder fortzunehmen, und das habe die nach einer gütlichen Aussprache mit der Familie denn auch glücklich getan. Und da sei sie nun wieder. Um eine traurige Erfahrung reicher! Aber das mache nichts! Es sei schon besser so!
»Ja, was hat es eigentlich gegeben?« fragte die älteste streng.
»Gar nichts. Gestern abend, wie ich mich eben eingerichtet hatte und es mir so recht schwer ums Herz war, da klingelte es, und er ist da! Ihr könnt euch denken, wie mir da das Herz geklopft hat. Er war direkt von Gibraltar durchgefahren und wollte sich in Genf eben nur die paar Stunden aufhalten, um mich zu sehen – dann gleich weiter!«
»Ja, wer denn?«
»Wer?« Die Kleine schien höchst erstaunt, daß nicht alle Welt das sofort wußte. »Nun, Herr Steffen doch natürlich. Ich erkannte ihn doch auch gleich, obwohl es dämmerte, an dem großen blonden Vollbart und war so froh ...«
»Aber die Familie wohl nicht?«
»Nein. Der Hausherr, dieser langweilige alte Mucker – aber so soll es viele hier in Genf geben – der frömmelte da was zusammen: das sei doch ein starkes Stück! Gleich am ersten Abend Herrenbesuch von zugereisten Ausländern. Und man könne doch gar nicht wissen ... und überhaupt ... und das ginge nicht. Ich wagte ja auch gar nichts zu sagen und fing nur an zu weinen. Da wurde Herr Steffen auf einmal so furchtbar grob und fing in einem so greulichen Französisch zu wettern an, wie ich es nie zuvor gehört hab'! Mir wurde ganz angst und bang!«
»Was hat er denn gesagt?«
Die Kleine hob ihr blasses Gesichtchen und sah sehr stolz und ernst aus. »Das verbäte er sich, hat er gesagt, daß man seine Braut so behandle! Das dulde er nicht!«
»Seine Braut?« Die Gouvernante und der Major riefen es gleichzeitig und ziemlich erschrocken.
Auch Hilda war etwas beklommen. »Ja, jetzt bin ich es! Der alte Frömmler hat mich auch gleich gefragt, warum ich denn gar nichts davon gesagt hätte, daß ich verlobt sei. Und ich hab' ihm erwidert: ›Ich bin es ja auch seit eben erst, und jetzt bleib' ich's!‹ Da hat er gemeint, dann sei es wohl besser, wir trennten uns wieder, und ich habe geantwortet: ›Das glaub' ich auch!‹ und hab' an Klara geschrieben. Und da bin ich nun, und es ist alles gut!«
Das schienen die anderen nicht anzunehmen. Wenigstens legte sich ein gedankenvolles Schweigen über die Gesellschaft.
»Hm ...,« sagte endlich der Major und räusperte sich ... »Hm ... aber ... liebes Kind ... wenn Sie mir gestatten, daß ich mich einmische ... erwägen Sie doch nur ... ein Mann, der, mit Blutegeln und Honig feilschend, in der Wildnis herumreitet ... hin und her ... wir kennen ja alle dies Land ... jräßlich ...« Unwillkürlich kam ihm ein früheres Lieblingswort über die Lippen: »jräßlich ist es dort. Sie haben ja selbst am meisten darunter gelitten. Wie wollen Sie ihm dahin folgen?«
»Wenn es sein muß, folge ich ihm bis ans Ende der Welt«, erklärte die Kleine trotzig. »Aber wahrscheinlich kehrt er ja gar nicht mehr nach Marokko zurück. Er ist ja doch gleich gestern abend weiter von Genf, nach Chamonix, zu dem Herrn Rey, der die schöne Jacht hat. Der hat ihn eingeladen, ihn zu besuchen, und der ist furchtbar reich! Nicht wahr?« Sie wandte sich zu dem Afrikaner. »Er ist ja doch Ihr Freund, und Sie wissen, wieviel Geld er hat.«
»Mein Freund ist er nun eigentlich wohl nicht! Aber ich kenne ihn gut und weiß, daß er viele Millionen besitzt.«
»Und davon wird er wohl nun deinem Herrn Steffen eine schenken?« bemerkte die Gouvernante spitz.
Die Kleine geriet in Zorn. »Schenken natürlich nicht! Aber eine Stellung wird er ihm verschaffen, eine Lebensstellung. Was wißt ihr denn überhaupt vom Seebad Tanger und all unseren Plänen, bei denen der Herr Rey uns hilft? Er ist gewiß ein guter Mensch! Nicht wahr?« Wieder rief sie den Forschungsreisenden zu Hilfe. »Mit seiner Tochter, der schönen Frau, die wir in Tanger gesehen haben – mit der sind Sie doch befreundet? Sie haben es ja selbst uns gesagt. Wenn Sie die vielleicht bitten, daß sie uns hilft ... sie ist mit ihren beiden Reisebegleitern auch in Chamonix ... wenn Sie ihr ein paar Zeilen schreiben ...«
»Ich glaube nicht, daß das etwas nützen würde.« Er mußte unwillkürlich lächeln. »Und Herzensgüte scheint mir gerade nicht ein hervorstechender Charakterzug bei Nikolai Augustus Rey zu sein. Aber wenn bei einer Sache Geld zu verdienen ist ...«
»Viel Geld!« rief die Kleine hochrot vor Aufregung und so laut, daß die Umsitzenden die Köpfe nach ihr wandten. »Millionen! Wir haben alles ausgerechnet! Es ist gar kein Fehlschlag möglich! Nur das Kapital zum Anfang brauchen wir! Das muß uns Herr Rey geben! Er muß! Er muß!«
»Hoffen wir!« meinte der Afrikaner trocken. Es verstimmte ihn, daß er mitten in all dieses Verwandtentreiben hineingeraten war und schon wie zur Familie gehörig betrachtet und zu Rat und Tat herangezogen wurde. Seit Jahren gewohnt, allein zu stehen, allein zu handeln, begriff er dies den anderen offenbar so selbstverständliche Gefühl der Verwandtschaft nicht, dies Zusammenfließen einander vielleicht ganz fremder, innerlich grundverschiedener und nur zufällig angeheirateter und verschwägerter Menschen zu einer kleinen Herde, zu einem nach außen geschlossenen Bunde im übrigen Weltgetriebe.
Da mußte man sich doch wenigstens gleich sein, so viel empfangen, wie man gab! Aber was konnten ihm diese unbedeutenden Existenzen sein, die sich jetzt schon vertrauensvoll an ihn hängten? Was gingen sie ihn an? Er heiratete eine Frau, nicht eine ganze weitgegliederte Sippe, von der ein Hauch der Kleinlichkeit und Alltäglichkeit über sein ganzes Leben wehen mußte! Hing dieses Bleigewicht an ihr, dann konnte er nicht die Künstlerin in Klara zu sich, in seine freie Welt emporziehen und zu dem machen, was er wollte. Zu dicht herum lauerte das Philistertum in Gestalt von Onkeln und Tanten, Schwägerinnen und Schwägern.
Die Kleine hatte unbekümmert, daß er nicht mehr zuhörte, den anderen leuchtenden Auges weiter die Vorzüge des Seebades Tanger gepriesen und es ihnen ausgemalt, wie schön es sein würde, wenn erst einmal die englischen Lords zu Dutzenden dort am Strande galoppierten und die amerikanischen Millionärinnen zu Hunderten nebenan in den Wellen plätscherten – jetzt brach sie plötzlich ab und starrte nach dem Eingang des Gartens.
Eine breitschulterige, blondbärtige Gestalt, unmodern, aber in auffallender Weise gekleidet, war dort erschienen und steuerte, ohne allzuviel Rücksicht auf die Nebenmenschen zu nehmen, quer durch die Gruppen auf die drei Schwestern zu.
»Hurra!« rief Albrecht Steffen schon von weitem, zwar, so gut er konnte, gedämpft, aber immer noch mit einem Bärenbaß, der ein flüsterndes Echo, ein leises » shocking« und Achselzucken im Garten weckte. »Hurra!« wiederholte er, die dargebotenen Hände schüttelnd. »Guten Tag, Hilda! Habe die Ehre, den berühmten Afrikareisenden ...? Freut mich, Herr! Hab' schon neulich mit Ihnen in Tetuan übernachtet und bringe Ihnen Grüße von Herrn Rey. Sie möchten doch bald einmal hinüberkommen! Er erwartet Sie! Seine Tochter auch und ihre Freunde! Hören Sie mal: das sind zwei tolle Knöpfe ... Kennen Sie sie näher?«
»Nein«, sagte der Afrikareisende kurz. Es verdroß ihn, daß der Handlungsreisende ihm eben jetzt, mitten im Philistertum, die Erinnerung an jene freien, kraftstrotzenden Wesen da drüben wachrief, wie sie gleichmütig auf den Höhen der Berge und der Menschheit wandelten. Plötzlich begriff er, wie einem Vogel im Käfig zumute ist, der den weiten Himmel schaut und in die blaue Unendlichkeit hinaus möchte, trotz aller Pflege, Sicherheit und Ruhe zwischen den Gitterstäben. Und wie ein Freundesgruß aus altewiger Zeit stieg plötzlich vor seinem Geist ein lachendes Gesicht empor, mit wogenden Locken und geheimnisvoll leuchtenden blauen Augen, und ein übermütiges Lachen verhallte in seinem Ohr, ein Widerklang ferner Tage, da er an Angelas Seite durch den ewigen Schnee und über die Riesenstufen der Pyramiden wie mit einem lang vertrauten Freunde emporgestiegen.
Wer dich vergessen könnte, Frau Aventiure! Er wußte es wohl: er konnte es nie und nimmer. Die Erinnerung blieb. Und jetzt stärker denn je, wo sie ihm so nahe und doch für immer verloren war. Denn jetzt trennte sie die unüberbrückbare Kluft: sie wandelte in lachender Gesundheit, und er war zu Tode siech. Er wußte, welche Scheu sie vor kranken und unglücklichen Menschen hatte! Sie wich ihnen aus, wo sie nur konnte, und empfand als echte Tochter Nikolai Augustus Reys viel weniger Mitleid als Angst und Ärger, wenn sie dem Anblick menschlichen Leidens einmal doch nicht zu entrinnen vermochte.
Wo es ging, kaufte sie sich dann wohl mit einer reichen Spende von ihrem eigenen Gewissen frei. Wie sie den blinden Bettlern im Orient, den klagenden Krüppeln in Rußland, abgewandten Gesichtes und ihre Schritte beschleunigend, eine Handvoll Münzen hinwarf, so fand sie gewiß auch für den einstigen Freund einige äußerliche Zeichen der Teilnahme und des Trostes. Aber die begehrte er nicht. Fester denn je war er jetzt entschlossen, sie niemals wiederzusehen. Eine zornige Sehnsucht rang sich dabei in ihm empor, aber der Handlungsreisende ließ ihn, weiterplaudernd, nicht mehr zur Besinnung kommen.
»Ein famoser Mensch, dieser Rey!« sagte er. »Zu solch einem Freund können Sie sich gratulieren! Ich weiß ja – Sie waren neulich erst bei ihm auf der ›Liberty‹ in Gibraltar und haben mit ihm zu Abend gegessen. Na, das hab' ich ja freilich nun nicht. Aus einem sehr einfachen Grund: er hat mich nicht eingeladen! Und das war mir eigentlich lieb. Denn unter solch pikfeinen Leuten, einem wirklichen Prinzen und Gott weiß was für Millionären in Frack und weißer Binde – da fühle ich mich nun einmal durchaus nicht behaglich ...«
»Kann ich mir denken«, brummte der Major. »Ich kann solches Volk auch in den Tod nicht leiden!« Und seine schwarz gekleidete Freundin nickte Beifall. »Ich bin ja als Gouvernante zuweilen diesen Kreisen nahertreten«, sagte sie streng. »Aber ich habe immer den Eindruck gehabt: es steckt nichts Rechtes dahinter. Eine glänzende Außenseite und innen Frivolität der Gesinnung, Gleichgültigkeit gegen alles Höhere und Edlere ...«
»Ach, nun laßt doch mal diese Leute!« Die Kleine starb fast vor Ungeduld. »Was liegt denn an denen? Wie es mit Herrn Rey ausgegangen ist, will ich wissen! Was hat er denn zu dem Seebad Tanger gesagt? Er muß doch begeistert gewesen sein!«
»Na, das gerade nicht!« meinte der junge Kaufmann etwas gedämpfteren Tones als bisher. »Wie ich fünf Minuten gesprochen hab', lächelt er mich plötzlich ganz spitzbübisch an, schiebt sich seine strohblonde Perücke zurecht, fährt sich mit der Hand um sein Kinn wie ein Prediger, dem nichts einfällt, und murmelt mit ganz Heller Stimme vor sich hin: ›Das ist Unsinn, lieber Herr ... Unsinn ... Unsinn ... Unsinn ...‹«
»O weh!« rief Hilda und schloß schmerzlich die Augen.
Die Gouvernante und der Major tauschten einen Blick trüben Einverständnisses. Es war doch wirklich unverantwortlich von dem Menschen, das Kind um seine Stellung zu bringen und dann mit leeren Händen des Wegs zu kommen.
Und dabei noch zu lächeln! Denn Albrecht Steffen war ganz guter Dinge. »Ja, also ... Unsinn!« fuhr er fort. »Sowie ich den Mund öffnen wollte, sagte der alte Herr ganz hell und bestimmt wie ein Papagei: ›Unsinn!‹ Wie ich dann endlich ganz still bin, geht er durchs Zimmer und stößt ab und zu ein paar abgerissene Worte heraus: ›Weltverkehr läßt sich nicht zwingen! ... Unsicherheit der Zustände in Marokko ... Widerstand der Behörden ... verpestender Schmutz in der Stadt, den man nicht beseitigen kann ... überhaupt ein wildes, unabhängiges Land. Muß erst wieder annektiert werden wie im siebzehnten Jahrhundert, bis sich das große Kapital hinwagt. Bis dahin: Unsinn!‹
»Na, nun kannst du ja gehen! denke ich und will mich empfehlen. Da sieht er mich ganz eisig an und sagt halblaut: ›Ich kann mich nicht erinnern. Sie schon entlassen zu haben!‹ Ich werde ärgerlich. ›Bin ich denn in Ihren Diensten, Herr?‹ frage ich, und er sagt: ›Ja! Leute wie Sie kann ich brauchen! Keine Arbeitsmaschinen, sondern Menschen, denen zuweilen etwas einfällt. Wenn es diesmal auch ein Unsinn war, so kann es doch ein anderes Mal etwas Vernünftiges sein!‹ Und kurz und gut, ein Wort gab das andere, und ich bin fester Angestellter des Welthauses Nikolai A. Rey in Petersburg und Baku.
Das Nähere wird dieser Tage erledigt. Aber jedenfalls kommt dabei so viel heraus, daß zwei bequem davon leben können. Und wahrscheinlich bleibe ich sogar in Deutschland. Wir bleiben alle beisammen! Ach, Kinders ... es ist ja fast zu schön, als daß es wahr wäre! Was meinst du, Hilda?«
Die legte statt jeder Antwort den Kopf auf den Tisch und brach in ein glückseliges, befreiendes Schluchzen aus. Auch in den Augen Klaras und der Gouvernante schimmerte es feucht, und der Major wischte sich hüstelnd mit dem Taschentuch an den Wimpern herum, während rings sich Blicke voll spöttischer Neugier auf das ungewohnte Bild richteten.
Der Afrikaner sah das wohl, und es erfüllte ihn mit Beklemmung, daß er, statt sich über die Herzlosigkeit der Fremden zu empören, ihnen eigentlich recht gab. Solche Rührszenen waren wirklich hier nicht am Platz. Wenn sie schon sein mußten, gehörten sie in das Innere des Familienlebens, in jene Welt von kleinen Sorgen, Nöten und Freuden, Eifersüchteleien und Zwistigkeiten, gekränktem Schmollen und weichherzigem Mitempfinden, das da erschreckend plötzlich vor ihm aufwuchs, den Blick in die Weite hemmend.
Es war, als ob Klara seine Gedanken erriete. Sie warf ihm einen bittenden Blick zu und schlug dann nach all diesen Gemütsbewegungen einen Spaziergang in der Abendkühle vor. Die anderen waren gleich bereit. Oder besser noch eine Spazierfahrt! In einen Wagen gingen freilich nur vier Personen! Aber man könne ja einen Kahn mieten und auf dem See fahren. In dem Kahn hätten sie alle sechs bequem Platz.
Die Malerin lächelte. »Fahrt nur allein!« sagte sie. »Unserem berühmten afrikanischen Gast machen solche bescheidene Zerstreuungen keinen Spaß. Oder teilt euch besser nochmals zu je zwei und zwei. Bei der Table d'hôte sehen wir uns dann wieder!«
»Ach, und du bleibst inzwischen hier?« Die Kleine hob das von Freudentränen verwaschene Gesichtchen und nickte verständnisinnig. Sie bejahte. – »Ich bleibe hier oder gehe spazieren ... wie es unser Gast wünscht.«
Der sah über den See in die Weite. »Wenn Sie gestatten, bleiben wir hier sitzen«, sagte er langsam. »Ich befinde mich gar nicht wohl. Auf Wiedersehen inzwischen, meine Herrschaften!«
Die beiden Brautpaare, das alte und das junge, empfahlen sich. Sie waren allein.