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Der Regen rauscht, die Wolken fliegen – weiter, immer weiter durch das dämmernde Land. Stunde um Stunde verstreicht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, unter den Hufen fliegt der Boden, Gebüsch und Bäume gleiten rechts und links vorbei – so fließt die Welt dahin, so rollt das Leben in das Meer der über den Berggipfeln aufflutenden Nacht ...
Wozu lebst du? Was treibt dich ruhelos vorwärts – zu immer neuem Begehren, neuer Erfüllung, neuen Wünschen, wo nur das eine sicher ist, das Ende, das all unser vielfach verschlungenes Hasten und Mühen auslöscht, wie das Kind ein Rechenexempel mit feuchtem Schwämme von der Schiefertafel wischt? Von Tag zu Tag zerrinnt das Dasein unter deinen Händen, unaufhaltsam, unwiederbringlich. Nutze es, ehe es zu spät ist.
»Ärra ... ärra ... rrrschât!« Die Berberknechte treiben die Tiere an. In langen Galoppsprüngen geht es weiter und weiter in das dunkle Land hinaus. Was dahinter liegt, versinkt im Schatten, was vorne ist, ruht in geheimnisvollem Grauen, im Dämmern liegt rechts und links die weite Welt.
Die weite, in abenteuerlichen Querfahrten so oft durchmessene Welt! Bunte Bilder weben im Kopf des einsamen Reiters, der da, fiebergeschüttelt, im schaukelnden Sattel nach vorn gebogen, wie im Traum den Nachtwind um die Ohren brausen fühlt.
Das Brausen wird stärker und stärker. Es sprüht mit kaltem Salzhauch ins Gesicht, klagende Möwenschreie dazwischen – jawohl, da ist das Meer! Blutrot steht die Mitternachtssonne über den tiefblauen, von weißem Schaum gekrönten Fluten des Eismeers, wie geschmolzenes Gold ruht ihr langer zitternder Widerschein auf der unendlichen Fläche, von den unerforschten Höhen des Nordpols hin bis zur Küste Lapplands, wo in mattviolettem Glanz die Schneefelder grüßen und der Vollmond aschgrau und trübselig, als schäme er sich seiner Verwandlung, zwischen rosig lachenden Lämmerwölkchen dahinsegelt. In der Ferne blasen die Walfische ihren Wasserstaub in die Luft, die Heringsschwärme ziehen, am Ufer wirbeln, Tausende von weißen Flocken, die Möwen, und der faulige Geruch des Seetangs weht herüber ...
Nein – das ist ein anderer Dunst. Der süßliche Pestbrodem der afrikanischen Sümpfe. Das Fieber dampft aus den reglosen Lachen, aus denen weit in der Runde die schlanken Palmenbäume aufschießen. Hoch oben in der Luft wölben sich ihre buschigen Federkronen, auf leicht geneigten Stämmen einander grüßend und fliehend, und hinter den beinahe schwarzen, langgefiederten Wedeln steht dräuend ein großes blutrotes Ding am Himmel. Die Sonne geht unter, die Sümpfe dünsten, nichts regt sich in dem weiten Säulenwald der Palmen. Nur dort, in der Ferne, zwischen den braunbehaarten Wurzeln, scharrt und schmatzt ein einsamer, pechfarbener Eber. Sein Grunzen tönt zuweilen herüber, über den Pfützen steht der weiße Abendhauch, das Fieber kommt und wird stärker und stärker ...
Wer da reine Luft schöpfen könnte – hoch oben auf den ewigen Höhen. Nur wenige Schneehügel noch – dann sind wir oben. Auf der Spitze des Montblanc. Rings ist die Welt geschwunden. Fürchterlich stahlblau der Himmel über uns, eishart knirschend der Firn unter dem Nagelschuh. Die Brust wölbt sich. Sie lechzt nach Atem. Nur langsam – weiter, immer weiter empor. Wie der Adler über den Wolken kreist, gleichgültigen Auges eine Welt unter seinen Fittichen messend, dem Himmel näher als der Erde, die tief unten mit ihren kleinen Ländern, ihren Städtchen und ihrem Menschengewimmel als ein Ameisenhaufen verschwimmt ...
»Tetuan, Herr!« Der maurische Diener war mit zwei Galoppsprüngen an der Seite des Reisenden und wies in die Ferne. Ein schneeig weißer Streifen zog sich dort langgestreckt über einen Bergkamm hin, wie eine Märchenstadt durch das Abendgrauen grüßend.
Aus seinem Träumen erwachend, fuhr der Fremde im Sattel empor und blickte um sich. Längst hatten sie den Höhenpaß und den von ihm niederführenden Bergpfad hinter sich gelassen. Um sie dehnte sich in unbestimmten Umrissen eine weite, von wildzerrissenen Gebirgen umrahmte Ebene, von nichts anderem belebt als den rasch weiterwandelnden fernen Schatten der Kamelkarawane. Da und dort, an den Flanken der Berge, ein einsam flackerndes Nachtfeuer, aus den Gestrüpphalden, hoch von oben her das Geschrei sich balgender Hirtenjungen, fernes Kuhgebrüll und Eselgejammer, Windesraunen und pfeilschneller Wolkenflug um die Zacken des Atlasgebirges am Himmel.
Schon auf der Wetterscheide des Höhenpasses hatte der Regen aufgehört. Der Mond lugte ab und zu aus den im Sturm treibenden Wolkenfetzen und erhellte das weite Flachland, das Schlängelband des Habesch, der träge durch die Steppe seine Silberfluten dem Mittelmeer zurollte, und die weißgetünchte hohe Brücke darüber, eine ganze Brücke in dem verrotteten Land, in dem sonst neben zertrampelten, schlammerfüllten Kamelfurten nur Trümmer eingestürzter Viadukte an die Römerherrlichkeit erinnern.
»Ärra! Ärra!« Die Pferde schnauben, im Silberlicht der aufsteigenden Mondsichel blitzen die Gewehrläufe der vorausjagenden Berber, die Hufe klappern funkensprühend über den Boden. – Weiter, immer weiter, im Galopp über Stock und Stein, durch plätschernde Rinnsale, über aufgeweichtes Ackerland, quer durch grünwogende junge Saat dem weißdämmernden Höhenstreifen in der Ferne zu, der allmählich in den Fluten der Nacht versinkt, einer kalten afrikanischen Höhennacht mit dunklen Wolkenballen um die Zacken des Affengebirges und feinem Rauchfrost auf dem funkelnden Spiegel des Habesch.
Da tauchten die Schatten der Kamelkarawane aus dem Dunkel auf, der weißgekleidete Marokkaner an der Spitze, das Gewimmel eilfertig trabender Esel, der verschleierten Weiber und wollhaarigen Negersklaven rings um die schwerfällig wandelnden, dummstolz die abscheulichen Köpfe wiegenden Trampeltiere. Etwas abseits sprang der Nachwuchs der Karawane, ein Kamelkalb und zwei Pferdefüllen, die nur der Abhärtung wegen die Reise mitmachten, lustig durch Gras und Gestrüpp. Wie sie da im Mondschein mit unglaublich langen, schlenkernden Beinen und nickenden Dickschädeln ihre Kapriolen ausführten, glichen sie mehr einem großen und zwei kleineren Bergkobolden als den geplagten und geduldigen Wesen nebenan auf der Saumstraße.
Vorbei! Vorbei! Ohne Gruß – fast ohne Blick, in gegenseitiger Verachtung! Der Europäer sieht hochmütig auf den halbwilden Nomaden herab, und dem wieder ist der Christ ein halb gefährliches und angstgebietendes, halb unreines und lächerliches Geschöpf. Die Kamelkarawane blieb in der Nacht zurück. Wieder war rings die Einsamkeit der Steppe. Aber da und dort lohten aus ihr die Wachtfeuer der Hirten, blitzten, fast aus den Wolken heraus, die Lichtpunkte hochgelegener Bergdörfer und huschten Schattengestalten lautlos durch die Nacht dahin. Die Nähe der großen Maurenstadt machte sich bemerklich.
In einer halben Stunde war man am Ziel! Bei dem Gedanken daran pochte das Herz des nächtlichen Reiters, und eine Art Krampf zog plötzlich einschnürend seine Brust zusammen. Zu dumm ... dies Abenteuer mit dem Stier! Nun, bis morgen war das gut! Sein Blick wurde finster, und als trage ihn das erschöpfte Pferd noch nicht rasch genug dem Schicksal entgegen, stieß er ihm ungeduldig die Sporen in die Flanken.
Das Schicksal! Das spielt nicht mit uns, wie die gemeine Weisheit lautet, ach nein: wir selbst sind ja unser Schicksal. Wie wir sind, so bleiben wir ein langes Leben lang, was wir tun, das müssen wir tun! Was wir leiden, das müssen wir leiden!
Was hilft das Klagen, wo der Lebenslauf so fest, so unabänderlich mit seinem Maß von Glück und Unglück einem jeden vorgeschrieben ist? Und ist der Lebenslauf kraus und wild, führt er durch alle Länder und Meere, durch alle Höhen und Tiefen in rastlos suchender Abenteurerlust, was hilft das Klagen? Es ist eben etwas mehr Leiden darin, Not, Mühsal und Entbehrung, und etwas mehr jener Freuden, die trotziges Siegerbewußtsein verleiht – schließlich gleicht sich doch alles wieder aus und wird zur großen Null auf dem Grabstein. Und wenn auf ihm die Worte des Dichters stehen:
»Dies Herze sehnt' sich oft
ach nirgendshin und überall doch hin!«
so ist ihm nun die Ruhe ... Durchsetzen muß man sein »Ich« in der Welt, wie es nun einmal geschaffen ist, oder daran zugrunde gehen. Das ist Glück und Unglück und alles.
*
In vollem Glanz schien jetzt der Mond, nur ab und zu von vorüberflutenden Wolkentrümmern verfinstert. Dann herrschte plötzlich tiefes Dunkel, und ebenso rasch stieg, wenn die Sichel wieder aus dem Dunst hervorschwamm, von ihrem bläulichen Licht umschleiert und erhellt, das blendendweiße Häusermeer von Tetuan am Abhang des Berges empor. Ein Gewimmel platter Dächer, von schlanken Minaretten überragt, die zerfallene Burg hoch darüber und alles von einem finsteren, altersgrauen Mauerring umschlossen – so träumte die orientalische Stadt im Mondschein. In weitem Halbkreis standen die zerrissenen Berge, ganz in der Ferne mit Schnee- und Firnglanz übergossen, und auf der anderen Seite, wo die Ebene sich öffnete, strahlte, ein silberner Streifen, das Mittelmeer herüber.
Sie mußten langsam reiten. Der Boden war mit spitzem Steingeröll bedeckt, und überall sprudelte es zwischen den Felsblöcken, den Aloestauden und stacheligen Agavenhecken von unsichtbaren Wassern. Kaum merklich kamen die Reiter der reglos schlummernden, totenstillen weißen Stadt näher und bogen endlich in den Mondscheinschatten ihrer Außenmauer ein.
Die wilden Hunde kläfften auf, während der Trupp an dem alten bröckligen Gestein entlang trabte. Die Stadt dahinter war wie ausgestorben. Kein Laut, kein Lebenszeichen klang heraus.
Aber als sie um einen Winkelturm der Umwallung bogen, fuhr ihnen jäh ein starker Windstoß entgegen und auf seinen Schwingen ein Tollhaus von Tönen, ein Geschrei, Gemecker, Gewieher und Geplärr in wildem Durcheinander.
Vor dem fest verrammelten und verschlossenen Stadttor staute sich allerhand Volk, das erst nach Sonnenuntergang gekommen und nicht mehr eingelassen worden war, Hirten, Händler und Käufer, wie sie der Donnerstag, der allwöchentliche große Markttag, rings vom Lande her nach Tetuan trieb. Sie alle kampierten da zähneklappernd im Freien, eng mit Kindern, Gesinde und Haustieren zusammengeduckt, ein Durcheinander von Negerwollschädeln und kahlen Kabylenköpfen, von flintenüberragten Hammelherden, von buntfarbigen Turbanen zwischen langen Esel- und Maultierohren, breitkrempigen Frauenhüten, Pferdehäuptern, Ziegenbärten, Körben voll kleiner Kinder an den Flanken kauernder Kamele, die ganze Arche Noah von hellem Mondschein übergossen, in Lärm und Gezänk den Tag erwartend, trotzdem man sich doch schon längst heiser gebrüllt hatte und wußte, daß die innen schnarchenden Torwächter gegen alles Schreien und Rufen taub blieben. Es fiel keinem von ihnen ein, auch nur den Kopf herauszustrecken. Nur zwei Kanonen gähnten rechts und links von dem Stadttor mit schwarzen Schlünden in die Nacht hinaus, und dazwischen verschlangen sich über der Wölbung die eingemeißelten Schnörkel eines Koranspruches.
»Da oben zwischen den Kanonen steht's geschrieben!« sagte plötzlich jemand aus der grollenden schwarz verschwommenen Masse heraus mit deutschen Worten: › ...Es ist kein Schutz und Hilfe außer bei Allah!‹ Ich werde nächstens auch Mohammedaner!«
»Ja, wenn's was hülfe!« brummte eine andere tiefe Stimme. »Die ganze Menagerie hier glaubt an Allah und muß doch im Freien übernachten wie wir!«
»Und Sie sind allein dran schuld ... mit Ihrem Bärentrotz wie gewöhnlich! Erklären: wir brauchen keine Soldaten zur Begleitung! Was uns an Räubern anfällt, das nehme ich allein auf mich! Und nun sitzen wir da, und Frau Angela hat allen Grund, daß sie seit einer Stunde kein Wort mit uns spricht!«
Statt aller Antwort tönte von irgendwoher aus dem Dunkel ein silberhelles Kinderlachen. Der heranreitende Fremde fuhr bei dem unerwarteten, fast unheimlichen Klang im Sattel empor und lenkte mit jähem Ruck sein Roß der Stelle zu. Aber im selben Moment feuerte der Araber neben ihm seine Flinte, die er aufrecht vor sich auf den Pferdehals gestellt hatte, zum Himmel los, als einfachstes Mittel, den schlafenden Wächtern drinnen das Nahen eines Regierungssoldaten zu verkünden.
Im Augenblick, wo das altmodische Feuerrohr sich mit scharfem Knall entlud, war alles ringsumher lebendig. Die Eselein, die sorgenbeladen mit gesenkten Ohren dastanden, stießen ein durchdringendes sägendes Jammergeschrei aus, die Pferde stiegen aufgeregt in die Höhe, die Maultiere schlugen rechts und links nach der aufspringenden Menschheit, Hammel und Ziegen flohen mit Angstgemecker, und neben den Körben mit schreienden Kindern richteten sich dunkle Klumpen, die bisher still wie Felsblöcke dagelegen, mit drei seltsamen Rucken auf, wurden zu Kamelen und stierten feierlich und blödsinnig über das vom Mond beschienene Gewühl.
Wenigstens hatte der Schuß gewirkt. Oben auf dem Mauerkranz erschienen die Umrisse von Turbanen und Flinten, und ein wildkrächzendes Gespräch flog hin und her. In dem allgemeinen Tumult, dem Meckern, Blöken, Wiehern, Hundegekläff und Yahgeschrei war es kaum möglich, sich zu verstehen, obwohl die braunen Gesellen oben und unten mit Aufgebot ihrer ganzen Lungenkraft brüllten. Und zum Überfluß verschwand jetzt eben der Mond auf Nimmerwiedersehen hinter einer dicken Wolkenwand. Tiefe Dunkelheit trat ein und vermehrte das Chaos.
»So halten Sie doch Ihr Pferd!« rief die helle Silberstimme aus der Finsternis. »Sie drängen mich ja in die Kamele hinein! Das Vieh schreit gerade über meinem Kopf. Ich habe keine Lust, umgetrampelt zu werden!«
Ein hünenhafter Mensch kam daraufhin, schwer mit seinem Roß kämpfend, als eine Schattengestalt nach vorn. »Ich weiß nicht, was das ist!« fluchte er. »Es sticht jemand gegen den Gaul und meine Beine. Warte, du verdammter Kerl!« Er führte, sich im Sattel biegend, mit der Reitpeitsche einen wütenden Hieb nach unten. Dort blökte es unter dem Klatsch kläglich auf, und ein verirrter Hammel, dessen langgedrehte Hörner das Unheil angerichtet, suchte eiligst das Weite.
»Wo seid Ihr denn?« schrie der Begleiter des Recken aus der Ferne. »Ich schwimme hier zwischen lauter Eseln und Ziegen und halte mich an einem Kuhhorn fest. Gott weiß, wohin die Reise geht!«
»Hierher, Franklin!« rief es hell dagegen. »Wo die Kamele sind ...«
»Ja ... Da gehören wir weiß Gott hin!« tönte es von drüben. »Lieber doch eine Klubhütte als solche Abenteuer. Was machen wir denn nun?«
»Wir warten, bis die Bande ruhig ist!«
»Ach, die schreien bis zum Jüngsten Tag!« knurrte der andere. Aber schon schien inmitten des heillosen Lärms die Verständigung gelungen. »Der Pascha schläft«, meldete irgendwo aus dem Dunkel her die Stimme eines Mauren in greulichem Englisch. »Man geht und holt bei ihm den Schlüssel! Mit dem Schlüssel wird man das Tor aufsperren.«
In Erwartung des großen Ereignisses war eine verhältnismäßige Ruhe eingetreten. Nur ein mißvergnügtes Eselein schrie noch einmal auf. In markerschütterndem Yah entlud es seine Ansicht vom Leiden der Welt und schloß endlich atemlos geworden und unter allgemeiner Stille seine Leistung mit einem dreimaligen, befriedigten Röcheln ab.
Nun konnte man also auf den Schlüssel warten! In schneidenden Stößen pfiff der Wind um Mauer und Türme; vom Himmel, an dem nur noch vereinzelt Sterne zwischen den Wolkenwänden blinkten, spritzte ein feiner Sprühregen mit eiskalten Nadelstichen hernieder.
»Es ist schauderhaft!« sagte die helle Stimme wieder. »So etwas kann einem das Reisen verleiden! Lieber Lebensgefahr als Schmutz und Langeweile!«
Ihre Begleiter erwiderten nichts. Sie schienen im Gedränge wieder etwas abseits geraten. Aber neben ihr lüftete die dunkle Gestalt des Fremden den Hut.
»Guten Abend, Frau Angela!« sagte er gleichmütigen Tons, als hätten sie sich gestern erst im Ballsaal getrennt und sei ihr Zusammentreffen die selbstverständlichste Sache von der Welt.
Sie bog sich im Sattel vor. »Sind Sie das, Prinz?« fragte sie halblaut und betroffen. »Was haben Sie denn auf einmal für eine sonderbare Stimme?«
»Ich bin kein Prinz ... Gott sei gelobt!«
»Ja, Franklin Moore sind Sie doch auch nicht?«
»Ich habe keine Ahnung, wer Franklin Moore ist!«
»Ja ... wer sind Sie denn dann?«
»Kennen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr? Wir haben uns doch schon oft genug auf dieser Lehmkugel getroffen, Frau Aventiure? Wissen Sie nicht mehr, wer Sie zum Scherz so getauft hat ... hoch oben auf dem Gipfel des Montblanc ... bei unserer allerersten Begegnung ...«
»Sind Sie es?« Es fuhr wie ein Ton des Schreckens aus ihrem Munde.
»Nun ... natürlich bin ich es! Wo haben Sie denn nur im Dunkel Ihre Hand? Ich möchte Ihnen doch guten Tag sagen!«
Aber die Schattengestalt vor ihm drängte verstört ihr Pferd hinweg, in ein Gewühl von Ziegen und Hammel hinein. »Sie sind doch tot!« sagte sie halblaut und beklommen. »Sie sind doch längst tot!«
Er folgte ihr und stieß mit spornbewehrtem Fuß die um die Beine des Rosses strudelnden wolligen Pelze zur Seite.
»Halten Sie mich für ein Gespenst?« fragte er lachend. »Woher wissen Sie denn, daß ich tot bin?«
»Alle Welt weiß es doch. Seit einem halben Jahr. Ich habe doch selbst Ihre Nachrufe in den Zeitungen gelesen!«
»Haben Sie selbst meinen abgeschnittenen Kopf in der Hand gehalten?«
»Nein ... das nicht!«
»Nun ... sehen Sie! Ehe man nicht diesen Beweis in Händen gehabt hat, soll man niemand in Afrika für tot erklären. Es gibt Leute, die sind nicht umzubringen. Dazu gehöre auch ich!«
»Aber woher kommen Sie denn?«
»Von Timbuktu her! Dort hatte ich das Abenteuer mit den Schwarzen, aus dem dann wohl das Gerücht von meinem Tod entstanden ist. Aber meine Freunde, die Araber, haben mich gerettet. Mit denen bin ich nordwärts gezogen durch die Sahara. Bis Marrakesch. Von da nach Fez. Und jetzt bin ich ja schon wieder mitten in der Kultur!«
Er warf einen befriedigten Blick auf die Arche Noah ringsumher, die windumpfiffenen Stadtmauern mit ihren rechts und links von den arabischen Runenschnörkeln in die Nacht hinausglotzenden Kanonenschlünden und den vom Mond in gelblichen Zackenrändern bestrahlten Wolkenflug am Himmel.
»Aber wie kommen Sie denn von Fez nach Tetuan?« sagte Angela, immer noch unsicher und beklommen im Tone. Es schien, daß sie mehr Schrecken als Freude bei der unerwarteten Begegnung empfand.
»Das hat man mich heute schon einmal gefragt, und es ist doch sehr einfach: ich reite wieder einmal hinter Ihnen her.«
» The key! the key!« schrie es von irgendwoher in gurgelndem Mohren-Englisch. » The pasha has given the key!«
Oben auf den Zinnen erschienen die Turbane und Flintenläufe wieder. Ein betäubender Lärm erhob sich in der ganzen Menagerie, und alles drängte den Torflügeln zu.
Der Schlüssel war glücklich gekommen. Man hörte sein Knarren und Knacken von innen, während sich von außen die geschlossene Phalanx von Mann und Roß, Hammeln, Negern, Kamelen, Kindern, Eseln, Kabylinnen und wilden Hunden hart an die Pforte preßte, kampfbereit, um sich sofort beim Öffnen mit Gewalt den Eintritt in die Stadt zu erzwingen.
Allein die Torwächter innen waren auf ihrer Hut. Kaum klaffte der erste Spalt in der Tür, so gingen sie ihrerseits unvermutet zum Angriff vor und schlugen mit rücksichtslosen Hieben den Vorstoß der Arche Noah zurück. Unter greulichem Geschrei flutete die Menge seitwärts, die Eselchen jammerten, die wilden Hunde kläfften sich heiser, reglos wie Felsen in hoher See ragten die verschwommenen Klumpen der Kamele aus dem Gewühl, durch das die berittenen Araber sich und ihren Reisenden eine Gasse bis zu dem Stadttor bahnten.
»Halten Sie Bakschisch bereit!« mahnten dazwischen die Mauren. »Bakschisch für die Torwachen. Maurisches Geld! Einen halben Dollar!«
Einen halben Dollar? Die bewaffneten Gestalten am Eingang schüttelten schreiend ihre turbanumhüllten Köpfe. Das war zu wenig Bakschisch! Mehr! Mehr! Jeder Reisende einen halben Mohren-Dollar!
Gurgelnd und schreiend mit aufgeregtem Gebärdenspiel drängten sie sich heran und hielten ohne weiteres die Zügel der Pferde fest. Das verdroß den einen der beiden Begleiter Angelas, den hünenhaften, langen Menschen, der, wild und kampflustig wie ein alter Raubritter, vorgebeugt auf seinem viel zu kleinen Berberrosse hing. »Hören Sie mal, Dragoman,« sagte er gelassen auf englisch mit seiner rauhen Stimme, »ich habe die verwünschte Gewohnheit, unbekannten Kerlen, die um Mitternacht in Afrika meinem Pferd in die Zügel fallen, mit diesem Totschläger hier über den Kopf zu tippen, ob nun ein Turban drauf sitzt oder nicht. Erzählen Sie das mal dem braunen Gentleman da zu meiner Linken!«
Er ließ den mit Blei ausgegossenen Totschläger drohend wippen, und noch ehe der Maure seinem Stammesgenossen die Drohung des Prinzen übersetzt hatte, fielen die Zügel nieder und war der Weg frei.
Der Hüne gähnte. »Was krabbeln Sie denn da noch in Ihrer Tasche, Franklin?« schrie er.
»Ich will dem Volk noch eine Kleinigkeit geben«, erwiderte sein Genosse, ein kleiner, schmächtiger Mensch in englisch gefärbtem Deutsch.
»Unsinn! Nichts kriegen die Kerle! Sie glauben wohl, Sie sind noch in Transvaal und spielen mit Ihren Millionen Federball? Nichts! Höchstens eins über den Schädel, wenn sie noch mal mucken. Vorwärts! Aus dem Weg, ihr Schwefelbande!«
Er strich sich seinen mächtigen Schnurrbart und trieb sein Pferd rücksichtslos mitten durch den Haufen der Torwächter. Der glattrasierte Kleine sagte nur lächelnd » Well!« und folgte seinem Beispiel. So ritten die beiden nach Tetuan hinein, die andern hinterher, und knarrend schlossen sich hinter ihnen die Torflügel. Von der Arche Noah war niemand hereingekommen als ein versprengtes Eselchen, das jetzt allein und ratlos mitten auf der Straße dastand und mit seinem jammernden Yah das Grollen der Menge draußen und das Murren der Wächter drinnen verschlang.
Dann verstummte auch das. Ringsum war wieder tiefes Schweigen. Nur die Hufe klapperten, während die Reisenden langsam durch das Dunkel dahinzogen. Sie hätten glauben können, sich in einer Totenstadt zu befinden. So weit das Auge auch durch die Schatten spähte und das Ohr sich lauschend mühte – nirgends eine Spur, ein Laut, der darauf hinwies, daß im Umkreis dieser zerbröckelt zu ihrer Rechten sich dehnenden Mauern mehr als zwanzigtausend Menschen schliefen. Niedere fensterlose Häuser, gestrüppüberwucherte Trümmerflächen dazwischen, schachtähnlich enge, stockdunkle Gassen, ein unergründlicher Schlamm am Boden – so ging es weiter und weiter durch die unheimliche weißgetünchte Stadt, in der selbst das Gebell der wilden Hunde verstummt zu sein schien.
Endlich kamen sie aus dem Gassengewirr heraus. Ein wüster, mit Kot und Pfützen bedeckter Platz breitete sich scheinbar endlos rings im Dunkel um sie aus. Angelas Begleiter hielten da, auf die anderen wartend. Ihr Dragoman schwatzte ihnen etwas von einem » nice hotel« vor.
»Jawohl, › nice hotel‹«, brummte der wüste Prinz. »Zwei spanische Herbergen gibt's in diesem Nest. Den Flohzirkus kann ich mir schon vorstellen!«
»Sind das Ihre neuesten Freunde, Frau Angela?« fragte der Forschungsreisende im Heranreiten.
Sie lachte. »Seit vorigem Jahr! Wir haben uns in Norwegen kennengelernt. Sie fuhren dann als Gäste auf unserer Jacht mit nach Island. Und seitdem werde ich sie nicht los. Es sind zwei unglaubliche Menschen!«
»Wer ist's denn eigentlich?«
»Der lange Hüne mit dem fuchsroten Schnurrbart, der wie ein zu spät auf die Welt gekommener Raubritter aussieht, ist ein Prinz aus einer Seitenlinie von irgendeinem vorsintflutlichen mediatisierten Geschlecht. Der andere, der Kleine, ist der Sohn eines millionenreichen Deutsch-Amerikaners. Er kann sich mit seinem Vater nicht vertragen. Das muß auch ein ganz sonderbarer Heiliger sein. Nun ging er vor einigen Jahren auf eigene Faust nach Johannesburg, hat da eine Unmasse Geld verdient, und seitdem treibt er sich müßig in der Welt herum. Das Komische dabei ist, daß sich die beiden, Franklin und der Prinz, eigentlich nicht ausstehen können. Ich muß immer lachen, wenn ich den Großen und den Kleinen so freundschaftlich nebeneinander sehe.«
»Vorwärts, Frau Angela!« schrie der Prinz herüber. »Gleich um die Ecke ist das Grand Hotel Balmoral-Palace mit Lift, Wintergarten und elektrischer Beleuchtung. Die Table d'hôte hat schon begonnen!«
Sie lachte. »Kommen Sie mit!« sagte sie zu ihrem Begleiter. »Ich muß Sie doch mit meinen Freunden bekannt machen!«
Er schüttelte den Kopf. »Heute, bitte, nicht, ich habe Fieber und ganz dumme Stiche im Herzen. Ich hab' ja erreicht, was ich wollte, und Sie getroffen. Nun will ich mich schlafen legen! Ihre Expedition füllt die eine Herberge jedenfalls reichlich. Also gehe ich in die andere!« Er rief seinen Diener und wechselte mit ihm ein paar arabische Worte. »In der Fonda d'España ist, wie ich eben höre, noch ein Bett frei!«
»Nun, dann auf morgen!« sagte sie mit ihrer hellen Stimme und reichte ihm von Pferd zu Pferd kameradschaftlich die Hand.