Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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16

Auf dem Kirchhof zu Erbach waren die Leidtragenden versammelt. Es waren ihrer nur wenige. Die nun verstorbene Frau Gymnasialdirektor Merker hatte sich schon seit vielen Jahren so still in ihren Witwensitz im Odenwald zurückgezogen, daß die meisten der alten Freunde und Bekannten schon lange nicht mehr wußten, ob sie überhaupt noch lebte oder auch schon heimgegangen war.

So standen nur die nächsten Familienangehörigen auf dem Gottesacker in süddeutscher Waldwelt, Helmut Merker und sein Bruder Leopold mit ihren Frauen, Kurt, der Jüngste, in seiner Offiziersuniform der Handelsmarine, ihre einzige Schwester und deren Mann, der Oberlehrer. Nur einer fehlte – der, der eigentlich und zum letzten der Mutter das Herz gebrochen – der verlorene Sohn. Niemand wußte, wo Hugo Merker, der Bankvolontär außer Diensten, augenblicklich weilte – welchen Namen er gerade führte. Niemand vermißte ihn. Man erwartete auch keinen weiteren Trauergast mehr. Es war alles zur Stelle.

Die Bäume umher trugen das erste zarte Laub. Maiblau wölbte sich der Himmel. Leise wehte der Wind. Es war ein rauschendes Grünen auf den sanftgeschwungenen Höhenwellen im Umkreis. Eben wollte der Geistliche beginnen. Da tönte ganz aus der Nähe das verhaltene, wie dumpf um Aufschub bittende Tuten eines Automobils. Eine lange Staubfahne auf der weißen Chaussee zeigte den Weg, den es von Norden, vom nahen Michelstadt her, genommen. Jetzt verlangsamte es seinen Lauf und hielt beinahe lautlos vor dem Kirchhofsgitter. Ein großer, bejahrter Herr in aufrechter Haltung und mit gebieterischem Gesicht warf den Pelz von sich, unter dem der Traueranzug zum Vorschein kam, vertauschte die Automobilmütze mit dem umflorten Zylinder, den ihm der Diener aus dem Futteral reichte, und betrat, die schwarzen Handschuhe in der Rechten, auf den Fußspitzen, um nicht zu stören, den Friedhof. Erstaunte Blicke richteten sich auf ihn. So fremd waren, durch die Ehe der jetzt Verstorbenen, die Frankfurter Wildings der Familie Merker geblieben, daß von diesen niemand den in ganz Deutschland genannten Industriegewaltigen kannte oder auch nur erkannte. Nur Helmut wußte Bescheid und sagte, auf die halblaute Frage des Oberlehrers neben ihm: »Wer das ist? Mamas Bruder. Der Geheime Kommerzienrat von Wilding . . .«

Der Frankfurter Millionär hatte die in bescheidenen Verhältnissen lebende Schwester vor so manchem Jahr zum letztenmal gesehen. Aber jetzt war er doch gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Er stellte sich in die vorderste Reihe, begrüßte Helmut mit einem kaum merklichen Blick, faltete die Hände und senkte während des Gebets das entblößte, graubuschig-mächtige, durchgearbeitete Haupt. Und der tiefe Ernst auf seinen hartgeschnittenen Zügen leitete ihn, den pflichtbeladenen, kampfumtobten Mann, in Gedanken in jene fernen Tage der Kindheit zurück, wo er und die jetzt Heimgegangene und John Wilding, den nun auch schon fern in England der grüne Rasen deckte, drüben im alten Frankfurt, im Hause des Onkel Senator, miteinander gespielt und gelacht . . .

Nach Schluß der Trauerfeier drückte er stumm den Kindern und Schwiegerkindern der Entschlafenen die Hand. Er sprach mit ihnen nichts, weil er sie nicht kannte. So wäre jedes Wort hier, am offenen Grabe, nur eine leere Alltäglichkeit gewesen. Zuletzt trat er zu Helmut und Edith. In der Art, wie er ihnen die Rechte reichte, lag eine verhaltene Herzlichkeit, die eigentlich über das Maß ihrer früheren Beziehungen, als das Leutnantsehepaar Merker noch in seinem Hause verkehrte, hinausging.

»Mein Sohn wäre gerne selbst gekommen,« sagte er. »Aber er konnte unmöglich gleich wieder aus Berlin fort. Er hat mir viel von euch erzählt . . .«

Er brach ab, machte eine Pause und frug dann: »Wann gehst du nach England zurück?«

»Morgen!«

»Du mußt ja über Frankfurt fahren! Besuche mich da, bitte! . . . Versprech' es mir!«

»Wenn du willst . . .«

»Ja. Ich will!«

Der Geheimrat von Wilding betonte diese Worte mit der ihm eigenen, keinen Widerspruch duldenden Bestimmtheit, wandte sich ab und zog den Pfarrer noch in ein kurzes Gespräch. Dann verabschiedete er sich. Für ihn war jede Minute kostbar. Jede Stunde hatte ihren baren Geldwert. Mit Sechzigkilometergeschwindigkeit raste sein Automobil, in stoßweisem, dumpfem Brüllen, nach der Handelsstadt am Main zurück.

Helmut Merker und Edith blieben den Tag über in Erbach und ordneten zusammen mit den anderen die gesetzlichen Vorschriften. Leopold, der Chemiker, versprach den beiden Brüdern, die ihr Lebensweg bald wieder über die deutschen Grenzen hinausführte, hier, daheim, vom Rhein aus, für alles Nötige zu sorgen. Er wollte in dieser Nacht noch wieder in Ludwigshafen sein. Er forderte das Ehepaar Merker auf, als seine Gäste mit ihm zu kommen. Aber Helmut lehnte ab: »Wenn ich nur vierundzwanzig Stunden zu spät in Liverpool antrete, finde ich womöglich meinen Platz schon besetzt! Ich glaube manchmal, die Kerle warten nur darauf und suchen nur nach einem Vorwand – nicht wegen mir – mich würden sie ohne viel Federlesens auf das Pflaster setzen – sondern wegen Mr. Mathes . . . Aber wir können wenigstens in deinem Wagen bis zur Bergstraße fahren und von da mit der Bahn nach Frankfurt!«

Unterwegs redeten die beiden Brüder wenig. Auch Edith saß still neben ihrer Schwägerin. Der Wagen rollte rasch auf der sanft gegen Westen abfallenden Straße. Die Sonne stand dort drüben schon tief. Sie lugte in blutigem Gold über die niederen, tannenbewachsenen Kämme des Odenwaldes. Am Osthimmel, gegen den Katzenbuckel zu, grüßte schon flimmernd der Abendstern. Es war ein Käferbrummen in der Luft . . . Mainacht . . . Sie hörte, wie der Schwager an ihrer Seite ernst sagte: »Damals . . . da hab' ich dir ja gerne als junger Leutnant mit durchgeholfen, Helmut . . . Aber du weißt: ich hab' eine große Familie. Meine Mittel sind auch beschränkt. Ich muß an die Meinen denken! Immerhin: Für die Überfahrt . . . für die erste Zeit in Amerika kannst du auf mich rechnen!«

Und in diesem Augenblick wußte sie: ›Es ist entschieden! Wir gehen über das große Wasser!‹ Ihr war es gleich. Sie hatte auf dem Inselreich nicht die Scheu der Festländer vor Übersee gelernt. Sie blieb bei ihrem Mann. Gott mochte helfen . . .

Der Kutscher trieb die Pferde an. Die Ludwigshafener mußten sich eilen, wenn sie noch den Zug erreichen wollten. Unten dehnte sich, weit und groß und flach wie das Meer, die Rheinebene. Die Lichter unzähliger Dörfer glommen im Abendschein. Da, um die Ecke, endlich die Laternen des Städtchens an der Bergstraße. Der Wagen rasselte in gestrecktem Trab über das holperige Pflaster, hielt an der Station. Doktor Merker und seine Frau hatten gerade noch Zeit, den Zug zu besteigen. Dann rollte der schon hinaus in die Nacht . . .

Und nun erst standen Helmut und Edith, die hier bis zur Weiterfahrt noch eine Stunde Aufenthalt hatten, auf dem freien Platz vor dem Bahnhof und blickten sich, wie zum Bewußtsein kommend, gegenseitig erstaunt an und merkten auf einmal: Herrgott . . . wir sind ja in Alsheim . . .

Natürlich in Alsheim. Von hier führte für die ganze Umgegend der große Talweg in den Odenwald, den sie herabgefahren waren. Aber sie hatten nicht darauf geachtet. Jetzt sahen sie es . . .

Der Mond war aufgegangen. In bläulichem, fast taghellem Schimmer lag das friedliche Städtchen. Weißer Blütenschnee leuchtete geheimnisvoll von den Wäldern der Obstbäume, in die es sich bettete. Ein süßer, würziger Hauch erfüllte die herbe Frühlingsluft. Rot leuchteten die Feuerpunkte der Fensterchen. Vom Kirchturm bimmelte eine Glocke die Nacht ein. Die beiden schritten stumm und still, fast ängstlich, durch die wohlvertrauten Straßen. Ja . . . das war noch das alte Alsheim, mit seinem Pfälzer Lärm und Leben, seinem Kindergeschrei und Hundegebell auf der Gasse, seinen vielen, menschengefüllten, nach dem Bürgersteig zu offenen Wirtshäusern. Das alles kannten sie so gut – den Marktplatz mit dem Kriegerdenkmal . . . und das Rathaus . . . und das Heidelberger Tor mit dem alten kurfürstlichen Löwen aus rotem Sandstein . . . und es war doch wie ein Traum und der Boden hier, über den sie gingen, nur noch das Sprungbrett zu einem andern Land.

Auf einmal machten sie zu gleicher Zeit, ohne ein Wort zu sagen, Halt. Auf einem Parkhügel hob sich, in der Dämmerung des Mondes weiß leuchtend, eine prunkvolle Villa, die größte weit und breit, aus den Kieswegen und Rosenhecken und Lorbeerwipfeln des Ziergartens. Ein Teil der Fenster war hell. Man hörte fröhliche Stimmen von Herren und Damen – man sah lachende Mädchenköpfe . . . die Gesichter junger Männer . . . Dienerschaft ging ab und zu . . . Es schienen Gäste da zu sein . . . Gläser klangen . . .

Edith legte die Hände ineinander und starrte mit offenem Mund hinauf.

»Oh . . . unser Haus, Hellie!« sagte sie.

Und er: »Ja . . . da haben wir einmal gewohnt!«

Sie standen im Schatten der Büsche, damit man sie nicht sähe, vor dem Gartengitter ihres einstigen Heims. Sie kamen sich wie Verstoßene vor. Sie kehrten still um und gingen in die Stadt zurück. Sie hatten jetzt auf einmal Angst, alle Welt müsse sie hier kennen, anhalten, fragen: ›Ja . . . was ist denn aus euch geworden?‹ . . . Aber jetzt, in der Nacht, achtete niemand weiter auf sie. Es war zu dunkel auf den Gassen. Nur an einer Stelle eine breite Lichtbahn, von oben, von der Terrasse des Kasinos herab. Auf ihr alles bunt von Uniformen und duftigen Frühlingskleidern . . . Ordonnanzen . . . Gläser und Flaschen . . . und ein Gesang . . . wieder das alte Leiblied, wie damals:

»An den Rhein, an den Rhein,
Zieh nicht an den Rhein!
Mein Sohn, ich rate dir gut . . .«

Die beiden unten, der junge Mann und die junge Frau, wagten nicht, diesen Lichtkreis zu überschreiten. Sie schauten nach oben wie vorhin nach der Villa. Es war wie ein Blick in ein verlorenes Paradies. Dann gingen sie langsam, mit gesenktem Haupt, einen Umweg durch Hintergassen machend, ihres Weges, und Helmut sagte halblaut: »An solch einem Abend sind wir damals von der Hochzeitsreise nach Alsheim gekommen, Edith! Erinnerst du dich?«

Sie seufzte. Nach einer Weile meinte sie: »Es ist alles so anders geworden, Hellie! . . . Und es ist doch nur ein paar Jahre her . . .«

Der Leutnant a. D. Merker nickte.

»Ja. Ganz anders wie damals. Da waren wir wie die spielenden Kinder. Und haben verspielt! . . . Kopf hoch! . . . Komm! . . . Nur nicht sich vor dem Leben fürchten!«

Es klang rauh. Aber Kraft war darin. Trost für die junge Frau. Die schritt straff an seiner Seite bis zum Bahnhof. Da wandte er sich noch einmal um und sah im Mondschein sein Heimatland und nahm Abschied vom deutschen Süden und vom Grab der Eltern und von der Erinnerung an glückliche Tage. Und durch die Nacht brauste schon der Zug heran, der sie beide fort von hier und, für diesen Abend, nur bis Frankfurt führte.

»Hier habe ich den folgenschwersten Leichtsinn meines Lebens begangen!« sagte Helmut Merker zu seiner Frau, als sie am nächsten Morgen die Steinstufen des von Wildingschen Prunkhauses in der Bockenheimer Landstraße hinaufstiegen. »Damals, wie wir von Alsheim mit wildem Urlaub hierhergefahren sind und sie mich am nächsten Tag in Stubenarrest gesteckt haben, und deine Verwandten lachten mich aus . . . Rein verrückt vor Ärger haben sie mich gemacht . . . England hat mir nie Gutes gebracht, außer dir . . .«

Sie blieben stehen, sahen sich um, ob jemand in den weiten Treppenhallen sei, und gaben sich einen Kuß. Dann meinte er im Weitersteigen: »Um ein Uhr geht unser Zug. Jetzt ist es zehn. Viel Zeit haben wir nicht für den Geheimrat. Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier tu'!«

»Warum gehen wir denn dann hin, Hellie?«

»Na – wenn er's wünscht . . . Und dann . . . weißt du . . . ich war doch damals ein ziemlicher Fatzke . . . ich bin überzeugt, daß ich bei ihm seinerzeit nur sehr mäßiges Wohlgefallen erregt hab' . . . Da will ich wenigstens jetzt zum Schluß einen etwas leidlicheren Eindruck hinterlassen . . .«

In dem Empfangsraum, in den man sie führte, erschienen sehr bald der Geheimrat von Wilding und seine Frau. Gleich nach der ersten Begrüßung sagte der große, grauköpfige Mann zu Helmut: »Wir wollen die Damen einander überlassen! . . . Komm, bitte, mit in mein Zimmer . . .«

Dort setzten sie sich. Der Finanzgewaltige traf alle Anstalten, um ungestört zu sein. Er schaltete den Anschluß des auf dem Tisch stehenden Telephons aus, schickte seinen Sekretär weg, sagte dem Diener: »Franz! . . . Ich bin in die Aufsichtsratssitzung hinüber nach Höchst gefahren!«, brannte sich eine Havanna an, nachdem er seinem Gast die erste angeboten, und begann unvermittelt: »In dem Stuhl, in dem du sitzst, hat dein Schwiegervater voriges Jahr drei Tage vor seinem Tod gesessen. Er war zu mir nach Deutschland gekommen! . . . Er wollte etwas von mir! Ich hätte es tun können. Aber ich tat es nicht. Es ging mir gegen den Strich. Ich hab' gesagt: ›Bedaure! Nein!‹«

Das ›Nein‹ klang hart und herrisch durch das Gemach. Herr von Wilding fuhr fort: »Ich hab' mir gleich gedacht: ›Es wird sein Ende sein. Der Mann ist verbraucht!‹ . . . Und es war sein Ende. Es stand ihm schon auf der Stirne geschrieben, wie er hier aufstand und wegging. Ich fürchtete sogar, er würde sich etwas antun! Das geschah ja nun nicht. Das Schicksal kam von selbst. Aber den letzten Rest hab' ich ihm doch eigentlich geben müssen . . .«

Er streifte die Asche von der Zigarre und zuckte die Achseln.

»Da kann ich nichts dafür. Ich sage immer: Mitleid gegen jedermann ist Grausamkeit gegen die paar, die's wert sind! . . . Das verstehen die draußen natürlich nicht. Da bin ich als Gewaltmensch verschrieen. Na – meinetwegen! Ich ließe mir darüber keine grauen Haare wachsen, wenn ich sie nicht so schon hätte. Da gehe ich zur Tagesordnung über! Habe ich auch in diesem Fall getan . . .«

Nun fing er an, langsamer zu sprechen, die Worte bedächtig wägend.

»Aber da blieb nun doch ein ungelöster Rest! Das kommt bei vielen Geschäften vor, daß sie an sich, im großen, durchaus richtig sind – aber es gibt bei ihnen Nebendinge . . . Begleiterscheinungen, die im Gegensatz zum Ganzen stehen! . . . Na – wo Opfer nötig sind, müssen sie gebracht werden! Ich bin so wenig blutscheu, wie ein General im Feld. Aber unnötige Opfer . . . kurz und gut: Auf so einen Widerspruch in sich bin ich jetzt erst, nach Jahr und Tag, vorige Woche durch meinen Sohn aufmerksam gemacht worden . . . Ein gescheiter Bengel – nicht? Oder ist das nur so bei mir die väterliche Affenliebe?«

»Nein! Der wird es weit bringen! Das sagen alle!«

»Na schön! Also seitdem habe ich eine gewisse Unruhe in mir, daß da etwas versäumt worden ist . . . Darüber wollt' ich einmal mit dir sprechen! . . . Ich kenne dich ja wenig . . . du warst ein kleiner Leutnant . . . ein bißchen blasiert . . . ein bißchen sehr von dir überzogen . . . warum, wurde mir eigentlich nie recht klar . . . Deine Frau hat mir besser gefallen als du . . .«

»Mir auch!«

»Warum hast du denn nun damals Knall und Fall den Abschied genommen?«

»Weil ich ein Esel war . . .«

Herr von Wilding sah erstaunt auf seinen Neffen und meinte: »Na . . . das ist wenigstens offen!«

»Darf ich einmal reden, Onkel . . . ganz wie mir's ums Herz ist?«

»Dafür bist du ja hier!«

Da beugte sich Helmut Merker über den Tisch vor und sprach rasch und eindringlich, die Augen fest auf den hartgeschnittenen Charakterkopf ihm gegenüber gerichtet, und es war wie eine Beichte seines ganzen Lebens.

»Ich bin in engen Verhältnissen aufgewachsen, Onkel . . . ich mußte mich immer nach der Decke strecken . . . konnte froh sein, daß ich es mit Anstand bis zum Leutnant brachte . . . war es eigentlich auch . . . aber dabei hatt' ich doch im stillen die Idee: Es fehlt dir was! . . . Es müßte mehr sein . . . Da brach plötzlich England über mich herein . . . Frau . . . Freiheit . . . Geld . . . das war zu viel auf einmal für meinen Grips, Onkel! . . . Ein Mann wie du wird darüber lächeln. Und der Wolfgang ist ja auch zu gescheit dazu. Aber ich war den verfluchten Engländern nicht gewachsen. Die waren stärker als ich. Die haben mich zu sich hinübergezogen. Meine Frau hat gar nicht schieben geholfen. Sie rührte keinen Finger. Sie war einfach wie sie war. Und es ging alles von selbst. In diesem greulichen Übergangsstadium, wie ich schon halb ein britischer Gentleman in preußischer Uniform war, da hast du mich kennen gelernt!«

»Aha!«

»Und wie einem so die alte deutsche Michelei in den Knochen steckt . . . ich glaub', die Sünden der Väter wirken da in einem noch nach . . . die törichte Idee, daß es überall anders besser ist als in Deutschland – so bin ich auch dazu gekommen, Dienst und Deutschland zu verlassen . . . da kam ich mir noch furchtbar groß vor . . . ich dachte, nun wäre ich 'was Rechtes . . . als Londoner Pflastertreter . . . aber beurteile mich nicht falsch . . . das muß ich zu meiner Entschuldigung anführen: der Rausch war kurz und bald der Kater da . . . Und wie ich da wieder Mensch war und nur noch wieder heim wollte, da war die Klappe zu. Da ließen sie mich nicht mehr hinaus aus dem Käfig. Rein durchgebrannt bin ich . . . Frau und Kind hab' ich verlassen . . . durchgehungert hab' ich mich ein halbes Jahr in der Front, in der Wasserpolackei!«

»Ja – das hab' ich alles jetzt erst gehört!«

»Und dann war auch das umsonst . . . nach dem großen Unglück . . . Ich mußte abermals nach England, um Frau und Kind zu ernähren! . . . Ich muß in zwei Stunden wieder nach England . . . Ich bin England mit Haut und Haar verschrieben und komme nicht mehr von ihm los. Es ist die Strafe, weil ich in meinem Leben eine schwache Stunde und ein schwaches Jahr gehabt hab' . . . Jetzt sitz' ich drüben unter den Kerlen . . . Hol sie der Kuckuck! . . . Es ist vielleicht unrecht, das zu sagen. Ich hab' ja bei ihnen mein Brot! . . . Aber ein Vergnügen ist's nicht . . . Brot in der Fremde . . . ich wandere lieber noch weiter aus . . . Amerika ist immer noch besser!«

»Was willst du denn dort anfangen?«

»Das weiß ich selber noch nicht! . . . In Liverpool lassen sie einen schließlich auch mal auf der Straße verhungern!«

Der alte Kämpe vor ihm tat einen nachdenklichen Zug an seiner Zigarre.

»Mit dir werden die Yankees nicht viel anfangen können!« sprach er. »Du wirst schließlich selber einer von ihnen. Aber keiner von den Großen!«

»Ja . . . rate mir doch etwas Besseres, Onkel! Ich weiß nichts!«

»Hm . . . sieh mal . . . Eigentlich ist es ja wenig feinfühlig von mir, dir heute alle diese Gewissensfragen vorzulegen . . . wenn man eben von einem offenen Grab kommt . . . ich verstehe deine Ungeduld und deinen Schmerz wohl. Aber man wird eben in Geschäften ein Dickhäuter. Man sagt sich: ›Zeit ist Geld!‹ . . . Zeit haben wir beide nicht. Geld nur ich . . . also . . . darf ich weiterreden?«

»Bitte, Onkel?«

»Hast du denn nie daran gedacht, deinen alten militärischen Beruf wieder aufzunehmen?«

Der junge Mann lachte bitter.

»Soll ich denn von der Luft leben?«

»Aber wärest du denn gerne wieder Offizier?«

»Das fragst du noch . . .?«

»Nun ja . . . nachdem du doch freiwillig schon einmal das schlichte Gewand des Bürgers, wie ihr's im Kasino nennt, angezogen hast . . .«

Helmut Merker sprang auf.

»Erinnere mich nur nicht daran, Onkel! . . . Ich hab's ja vorhin schon gesagt: . . . Und wenn ich alt und grau bin – das bereue ich bis an mein Lebensende! . . . Daß ich einmal in meinem Leben dem innerlich untreu geworden bin, was mein Lebensinhalt hätte sein sollen und auch wirklich war und auch immer noch ist . . . wenn auch nur noch in der Erinnerung . . . wenn auch nur in Wünschen . . . in hoffnungslosen Wünschen . . . ich weiß – aber man träumt eben davon! . . . Es ist das letzte, was man hat, wenn es einem so hundsmiserabel geht wie mir, daß man sich Luftschlösser baut und sich einbildet: ›Jetzt wachst du auf, weil der Bursche außen klopft, und draußen hängt deine Uniform und drüben ist die Kaserne und du weißt, wozu du auf der Welt bist . . . und machst dich nützlich, so gut du kannst, – in Deutschland nützlich . . .‹«

»Und wenn du wieder an einen so groben Vorgesetzten gerätst, wie damals . . .?«

». . . mag er das Blaue vom Himmel heruntertoben . . . ich schenk' ihm noch ein Schimpfwörterlexikon extra, wenn ihm nichts mehr einfällt . . . Mich würde das bloß heiter stimmen, daß der Mann sich so aufregt . . . höllisch piepe wäre mir überhaupt alles, wenn ich wieder Dienst tun könnte . . . mögen sie mit mir machen, was sie wollen . . . mögen sie mich Gott weiß wohin versetzen . . . wieder in die Wasserpolackei oder in ein Drecknest an der Lothringer Grenze . . . ich nehm' es mit Handkuß . . . mir wäre alles recht . . .«

Seine Wangen hatten sich gerötet. Seine blauen Augen blitzten.

»Das ist wie bei einem alten Schlachtgaul, wenn er die Trompete hört!« sagte er. »Da geht die Vernunft mit einem durch! Es ist ja natürlich Unsinn! . . . Woher sollt' es denn kommen . . .? Vom Himmel fällt so 'was nicht . . . Na . . . also Schwamm drüber! . . . Es ist jetzt Zeit für mich, Onkel! . . . Ich will meine Frau holen und mich mit ihr . . .«

Herr von Wilding hatte seinen Platz behalten.

»Bleib nur noch!« sagte er. »Wenn du den Zug versäumst, ist es auch kein Unglück, wie jetzt die Dinge stehen! . . . Ich komm' auf das zurück, mein Sohn, was ich dir zu Anfang unseres Gesprächs über meine Unterredung mit deinem Schwiegervater erzählt hab' . . . Es ist nicht angenehm, jemandem, bildlich, sozusagen die Pistole in die Hand zu drücken . . . Aber wenn man's tun muß . . . Man hat immer gegen mich ein Schlagwort: Mein Weg ginge über Leichen! Ja . . . lieber Gott . . . wenn . . . was sind das dann aber auch für Kerle! . . . Nee . . . nee . . . ich schlafe ganz gut . . . mein Hausarzt, der alte Schmidt, wundert sich immer selbst darüber . . . ich habe ein ganz reines Gewissen . . .«

Er erhob sich langsam aus seinem Ledersessel und trat in seiner mächtigen, breitschulterigen Gestalt vor den Neffen hin.

»Und doch hab' ich in dieser Woche schlecht geschlafen . . . wegen dir, du Schlingel . . . du gingst mir im Kopf herum . . . du kannst eigentlich stolz darauf sein . . . du hast etwas fertig gebracht, was alle Leute, die mich hier den Rhein entlang und in Berlin und in allen möglichen Banken und Volksversammlungen ärgern, beim besten Willen nicht erreichen können . . . nämlich, daß ich sie nicht bei der Nachtischzigarre abends bis zum nächsten Morgen total vergesse . . .«

»Ich weiß aber nicht, wie ich zu der Ehre komme, Onkel . . .«

»Das will ich dir erklären: Es ist nicht deine Person . . . auch nicht, daß du mein Verwandter bist . . . sondern . . . wie ich vorhin sagte: Ein großes Recht kann ein kleines Unrecht in sich bergen! . . . Hat man so 'was entdeckt, muß man es auch wieder gut machen! . . . Ich führe vor mir genau Buch und Rechnung, was ich anderen schuldig bin. Nun wohl: Ich habe deinem Schwiegervater klipp und klar erklärt: Ich fühle nicht die geringste moralische Verpflichtung in mir, irgendeinem Ausländer – und noch gar in den jetzigen Zeiten einem Engländer – mit meinem guten Geld aus der Patsche zu helfen, weil unsere Vorfahren einmal blutsverwandt waren. Da sag' ich umgekehrt: Wasser – das Wasser der Nordsee – ist dicker als Blut! Das trennt die drüben von uns! Gut. Auf dem Standpunkt steh' ich noch heute. Aber nun kommt das Gegenteil: . . . der kategorische Imperativ der Gerechtigkeit: wenn du dem einen Verwandten nicht hilfst, weil er Ausländer geworden ist, so mußt du logischerweise einem anderen Verwandten helfen, weil er deutsch bleiben will und es nicht kann . . . Das ist dein Fall . . .«

Helmut Merker schwieg. Der vor ihm fuhr fort: »Es scheint mir wenigstens meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit! Dadurch, daß ich John Wilding und Kompanie untergehen ließ, bist du in den Strudel nach England zurückgerissen worden und gerätst da oder in Amerika allmählich in die große angelsächsische Stampfmühle, auch wenn du dagegen kämpfst . . . Du bist ja schon wirtschaftlich viel zu schwach zum Widerstand – und es geht wieder ein guter Deutscher wie Millionen vor ihm ohne Not seinem Vaterland verloren! Gegen solche Erscheinungen sträub' ich mich hartnäckig! Und am meisten, wenn ich da selbst nicht ganz 'ne weiße Weste bei dem Handel hab'! . . .« Er machte eine Pause. Dann schloß er.

»Ich habe nach dem Besuch deines Schwiegervaters dem Wolfgang gesagt: Lieber als daß ich mein Geld in diese Londoner Hexenküche hineinpfeffere, lieber mache ich eine neue Stiftung für unsere deutschen Kriegsveteranen, um mein Gewissen zu beruhigen. Das hab' ich auch getan. Aber ich muß die Stiftung wiederholen. Nicht für die Veteranen, sondern für einen jungen Kerl, wie dich. Wolfgang hat mir eine verhältnismäßig lächerlich kleine Summe genannt, die du brauchst, um dich mit Anstand bis zum Hauptmann erster Klasse über Wasser zu halten . . . Es kam gerade die Rede darauf, als er euch am Sonntag in Liverpool um eure kalte Hammelkeule schädigte . . .«

»Ja, Onkel! Aber ich schwöre dir: Ich habe auch nicht im entferntesten daran gedacht, dadurch . . .«

»Das behaupte ich ja auch gar nicht!« versetzte Herr von Wilding kaltblütig. »Ich stelle nur fest: diese Summe steht von heute ab zu deiner Verfügung! Wenn du mal das große Los gewinnst, oder Feldmarschall wirst – na ja . . . wahrscheinlich ist mir letzteres gerade auch nicht – dann kannst du sie ja meinen Erben zurückzahlen! . . . Also nun sag den Englishmen drüben, sie könnten dir gewogen bleiben, und geh zu deinem Regiment . . . Na . . . was hast du denn noch?«

»Onkel . . .«

»Ja . . .?«

». . . Es ist mir so schwer, es richtig zu sagen . . .«

». . . Was denn? . . . Komm mir nur nicht mit falschem Stolz! . . . Ich bin dir doch kein Fremder! . . . Ich bin doch der Bruder deiner Mutter!«

»Ja . . . wenn du das gewesen wärst! . . . Aber du hast dich nie um sie gekümmert . . . nie um einen von uns . . . du hast uns geflissentlich nicht anerkannt . . . Erst wie ich durch meine Heirat reich war, da hat sich dein Haus mir geöffnet. Ihr wart hart gegen meine Mutter . . . so furchtbar hart . . . ich komme darüber nicht hinweg . . .«

Der Geheime Kommerzienrat von Wilding wiegte sein graues Haupt.

»Wir sind allzumal Sünder . . .« sagte er langsam. »Und ich bin am wenigsten ohne Schuld und Fehler – das weiß ich und werd' es einmal verantworten müssen. Und so lang man lebt, lernt man nicht aus und hat das Gestern zu bereuen. Das lehrt mich jeder Tag. Es gibt nur einen Weg: ›Besser machen, so lange man's noch kann!‹ Also sträube dich nicht!«

»Onkel . . . ich weiß nicht, ob ich das annehmen darf . . .«

»Oh . . . aber ich nehme es für dich an!« sagte Edith Merker, die, von den Männern unbeachtet, in das Zimmer getreten war. Sie stand im Reisekleid, einen Schleier um das rosige Gesicht, auf der Schwelle. Ihr helles Englisch-Deutsch klang durch die plötzliche Stille.

»Du sollst nach Deutschland zurück, Hellie! Du gehörst dahin. Hättest du mich nicht kennen gelernt, wärest du überhaupt dort geblieben. Ich bin an allem schuld. Also muß ich auch helfen, dich zurückzubringen . . . Bitte, Hellie! Schlag ein! . . . So ist's gut . . .«

Herr von Wilding nahm die Rechte, die ihm der andere stumm bot, und sagte zu dessen Frau: »Und dabei sind Sie selbst keine Deutsche.«

»Ich bin es halb und will es ganz werden! . . . Ich hab' es ihm geschworen. Vor dem Altar . . .«

Sie legte den Arm um ihren Mann. Und in ihrem Ohr klang der Bibelspruch der Trauungsworte nach: »Wo du hingehst, da gehe ich auch hin. Wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Gott ist mein Gott. Dein Land ist mein Land. Und nur der Tod soll uns voneinander scheiden . . .«

 


 


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