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Die Wintersonne lag über der Heide; sie spiegelte sich in den Fensterscheiben eines neuen strohgedeckten Hauses, das in dieser Einsamkeit wie hingestellt war auf die braune, unabsehliche Decke des Heidekrautes. Nur seitwärts dahinter lag noch eine mäßig große Scheuer, und neben derselben, dem Tor des Hauses gegenüber, ragte die lange Stange eines Brunnens in die Luft. Ein paar Schritte weiter ein niedriger Wall aus Sand und Steinen, der sich auch nach vorn um das Haus herumzog; und dann wieder nichts als der leere Himmel und die braune, gleichmäßige Ebene.
Das Gehöft lag in dem nördlichsten deutschen Lande, das nach blutigem Kampfe jetzt mehr als jemals in der Gewalt des fremden Nachbarvolkes war. Erbaut war es vor wenigen Jahren von einem wohlhabenden Kaufmann der kleinen Seestadt, deren Turmspitze man aus den Fenstern der Vorderstube am Horizont erblickte. – Bald nach Beendigung des unglücklichen Krieges hatte er von mehreren Gemeinden, deren Feldmark hier zusammenstieß, die nicht unbeträchtlichen Bodenstrecken käuflich erworben.
Die Lage war für die Entstehung eines ländlichen Heimwesens günstig; denn einen Büchsenschuß nördlich von dem jetzt dort mit der Fronte gegen Abend schauenden Hause drängt sich ein mäßig breiter, fischreicher Strom durch die Heide, abwärts einem Landsee zu, der sein ovales Becken bis fast an die Stadt erstreckt.
Aber noch ein anderes mochte der einsichtige Mann bei Abschluß seines Kaufes in Rechnung genommen haben. Die drunten vor der Stadt am Ufer des Sees gelegene herrschaftliche Wassermühle erforderte, nachdem das Getriebe bei einer Pachtveränderung erweitert war, eine größere Wassermasse, als der an Untiefen leidende See herzugeben vermochte. Die Anlegung eines Kanals durch denselben konnte nicht ausbleiben. Und als bald darauf unten im See die Arbeiter den ersten Spatenstich taten, ließ auch der Herr Senator jenseit desselben die Gebäude auf seiner Heide bauen; denn nun hatte er die Gewißheit, das sumpfige Stromufer in grasreiche Wiesen verwandeln zu können. Noch im Herbste desselben Jahres standen das Wohnhaus mit der kleinen Tenne und dem Milchkeller, und hinter demselben die Scheuer mit den Stallräumen fertig da. Im Frühjahr darauf zogen die Kolonisten ein; in das Haus ein alter Knecht, eine kleine Magd und eine ältliche »Mamsell«, ein altes Inventarienstück der Familie; der Stallraum in der Scheuer wurde von zwei Ponys und einer Kuh bezogen; den Wassertümpel, der zwischen dieser und dem Wohnhaus lag, wußte Mamsell in kurzem mit einer schnatternden Entenschar zu bevölkern, und auf dem Dunghaufen, der sich allmählich daneben erhob, scharrte ein goldfarbiger Hahn mit einem halben Dutzend eierlegender Hennen. Zur Vervollständigung der Wirtschaft und sich zur Gesellschaft hatte außerdem der alte Marten noch einen kleinen Dachshund ausgezogen. – Mit diesen Kräften begann die allmähliche Urbarmachung des neuen Besitzes; und schon glänzten drunten gegen den Strom hin überall die sorgfältig gezogenen Abzugsgräben; und das zum erstenmal in dieser Jahreszeit nicht überschwemmte Wiesenland versprach auf den Sommer eine reiche Heuernte.
Im Wohnhause selbst war hinter dem nach vorn hinaus liegenden Stübchen der Haushälterin ein großes Zimmer für die Herrschaft eingerichtet und nicht allein mit Tisch und Stühlen, sondern sogar mit einem stattlichen Sofa versehen, das freilich für gewöhnlich von Mamsell sorgsam mit einem weißen Überzuge verhüllt gehalten wurde.
So konnte der Senator mit den Seinen in der Sommerzeit aus der unheimlich gewordenen Heimatstadt mitunter doch in eine Stille entfliehen, wo er sicher war, weder die ihm verhaßte Sprache zu hören, noch die übermütigen Fremden als Herren in die alten Häuser seiner vertriebenen Freunde aus und ein gehen zu sehen; aber wo im Glanz der Junisonne die blühende Heide lag, wo singend aus dem träumerischen Duft die Lerche emporstieg und drunten über dem Strom die weißen Möwen schwebten.
Jetzt war es Winter, ein weicher, nasser Tag ohne Frost und Schnee; obgleich es der Nachmittag des Weihnachtabends war.
Droben das Haus stand leer, bis auf die Hühner, die in der matten Wintersonne sich vor der Tür im Sande streckten; die ganze kleine Menschenbesatzung schwamm drunten auf dem Strom in einem Flachboot, das eben in eine kleine schilfreiche Bucht hinabglitt. Auf dem Boden des Fahrzeugs kauerte die Magd neben einem Kübel, der schon mit Hecht und Karpfen fast gefüllt war; dahinter stand ein ältliches Frauenzimmer in einem dunkeln Wollenkleide. Sie schirmte die Augen mit der Hand, denn vor ihnen lag die Sonne blendend auf dem Wasserspiegel. »Sind Seine Reusen noch nicht alle, Marten?« fragte sie.
»Kann bald werden, Mamsell,« sagte der alte Knecht, indem er die Ruderstange gemächlich auf den Grund stieß.
Seitwärts im Schilf wurde das Gekläff eines kleinen arbeitenden Hundes hörbar. Marten, indem er selbstzufrieden nickte, zog die Stange ein und faßte rasch nach einer Flinte, die neben ihm im Boote lehnte. In demselben Augenblick brauste dicht vor ihnen eine schwere Ente aus dem Schilf; der Knecht wandte sich, und während die beiden Frauen einen Schrei ausstießen, knallte auch schon der Schuß über ihre Köpfe hin. Als sie sich umblickten, sahen sie den großen gelbbraunen Vogel unweit des Bootes scheinbar unverletzt auf dem Wasser schwimmen, das blanke, schwarze Auge unverwandt auf sie gerichtet. Als aber Marten Miene machte, mit dem Boot in seine Nähe zu kommen, tauchte er dicht am Schilfe unter und verschwand. »Das beißt sich in den Grund,« sagte der Alte verdrießlich und ließ die Arme hängen, »das sind boshafte Kreaturen, Mamsell.«
Die Haushälterin sah mit einem Blick des Mitleids auf den Punkt, wo das Tier verschwunden war. »Wenn Er nur Seine alte Donnerbüchse zu Hause lassen wollte,« sagte sie.
»Ei ja, Mamsell, der gebratene Entvogel hätte morgen doch geschmeckt!« Dann wies er mit der Hand nach dem jenseitigen Ufer aus einen Strich verkrüppelten Buschwerks, das sich weit hinaus in die Heide dehnte, nur mitunter durch kleine Wassertümpel unterbrochen. »Dort liegen auch Bekassinen,« fuhr er fort, »das gäb einmal ein Herrengut, wenn wir den Eichenbusch noch dazuhätten!«
»Wem gehört's denn, Marten?«
»Dem Bauervogt unten im Dorf; er will hoch damit hinaus; aber der Herr sollt es nicht fahren lassen; denn da steckt auch der Mergel und – den müssen wir haben.« Mit diesen Worten hatte er die letzte Reuse aus dem Wasser gezogen und, da nur allerlei kleines Zeug darin zappelte, nach Befreiung der Gefangenen wieder hinabgelassen. Zugleich war auch der Hund aus dem Schilf ins Boot gesprungen und sah, sich schüttelnd und prustend, zu seinem Herrn empor. »Auf ein ander Mal, Täckel,« sagte Marten, seinen Liebling auf das nasse Fell klopfend, »unsere Beine waren für dieses Mal zu kurz.« Er hatte das Boot gewandt und schob es wieder stromaufwärts. Unterhalb des Hauses stiegen sie ans Land, zuerst auf einzelnen Feldsteinen über die Wiesen gehend, dann eine Strecke noch durch hohes Heidekraut bis zu dem niederen Wall, der das Gehöft von der umgebenden Ebene trennte.
Bald darauf hantierte die Magd mit dem Kaffeekessel in der Küche, während Marten die gefangenen Fische zwischen Graslagen in einen Korb verpackte, um sie der Herrschaft zur Abendtafel in die Stadt zu bringen.
Die Haushälterin trat in ihre Stube; gegenüber auf der alten Standuhr schlug es eben zwei. – Nachdem sie sich einen Augenblick die verklommenen Finger an dem Kachelofen gewärmt hatte, trat sie an eine messingbeschlagene Kommode und nahm aus verschiedenen Schubladen derselben ein neues schwarzes Wollenkleid, eine schneeweiße Haube und ein seidenes Tuch. »Es ist doch Heiligabend!« sagte sie für sich. – Auch erwartete sie ja noch Besuch; nicht nur die Weihnachtsbriefe von ihrem Bruder, einem wohlstehenden Kaufmann in einem deutschen Nachbarlande, und dessen einzigem Sohne, der seit einigen Jahren aus einem größeren Gute die Landwirtschaft erlernte, sondern auch den alten Lehrer drunten aus dem Dorf, wohin der Fußsteig hier vorbei über die Heide führte. Sie hatte ihn, da er am Vormittag in die Stadt ging, gebeten, die Briefe für sie von der Post mitzubringen.
Nun mußte er bald zurück sein; und er hatte ja auch im vorigen Jahr sich zu einem Schälchen Kaffee Zeit gelassen. – Nachdem sie dann noch eine frische Serviette über das unter dem Fenster stehende Tischchen gebreitet, ging sie mit ihren Festkleidern in das nebenan liegende Schlafkämmerchen, um sich anzukleiden.
Es war eine halbe Stunde später. Marten und Täckel waren mit den Fischen in die Stadt gegangen, nachdem ersterer noch das Fell einer kürzlich erlegten Fischotter über den Rücken gehangen hatte, das er bei dieser Gelegenheit zu verwerten dachte. In dem Stübchen drinnen stand auf der weißen Serviette ein sauberes Kaffeegeschirr; die vergoldeten Tassen und die Bunzlauer Kaffeekanne blinkten in den schrägfallenden Sonnenstrahlen.
Vor dem Tische in dem großen Ohrenlehnstuhl saß der Schullehrer, ein ältlicher Mann, mit ernstem Antlitz und trotz der ausgeprägten Gesichtsformen mit jenem weichen Leidenszuge um die grauen Augen, der sich nicht selten unter den Friesen findet. Die Eigentümerin des Stübchens, in ihrem Festanzuge, der weißen Haube und dem lila Seidentüchlein, präsentierte eben ihrem Gaste die braunen Pfeffernüsse, die sie zuvor unter dem Ofen aus dem grünen Blechkästchen genommen hatte. »Die Frau Senatorin hat sie mir herausgeschickt,« sagte sie lächelnd, »sie backt sie alle Jahr zu Weihnachtabend.«
Der alte Mann nahm etwas von dem Backwerk; aber seine Augen hafteten mit einem Ausdruck von Verlegenheit an der andern Hand seiner Gastfreundin, die schon längere Zeit auf einem noch immer versiegelten Briefe geruht hatte: »Wollten Sie nicht lesen, liebe Mamsell?« fragte er endlich.
»Hernach, Herr Lehrer; das ist meine Gesellschaft auf den Abend.« Und sie strich mit leisem Finger über das Kuvert.
»Aber der Herr Senator hat Sie doch gewiß zum Christbaum eingeladen?«
Der Ausdruck ruhiger Güte verschwand für einen Augenblick aus dem etwas blassen Antlitz des alten Mädchens. »Es ist heute ein Tag des Friedens,« sagte sie, und ihre sonst so milde Stimme klang scharf; »ich mag nicht in die Stadt.« Der alte Mann sah mit großen teilnehmenden Augen zu ihr hinüber.
»Ich bin zuletzt im Juni dort gewesen, seitdem nicht wieder,« fuhr sie fort; »wir hatten hier keine Blumen; aber in den Gärten der Stadt und auch am Hause unseres alten Bürgermeisters blühten sie. Der gute Mann hat in die Fremde gehen müssen; aber die Rosen, die er selber pflanzte, hatten schon die ganze Fronte seines großen Hauses überzogen. Jetzt wohnt der neue Bürgermeister darin. Als ich im Vorübergehen die geputzten Kinder mit ihrem lauten fremden Geplapper die schönen dunkelroten Rosen vom Spalier herabreißen sah, – mir war's, als müßte Blut herausfließen.«
Ihr Gast schwieg noch immer; aber um seine Lippen zuckte es, als stiege ein Schmerz auf, den er vergebens zu bekämpfen suche.
»Wir sind mit dem Senator aufgewachsen,« begann sie wieder, »mein Bruder und ich; wir waren Nachbarskinder.« – Und mit diesen Worten trat ein Lächeln in ihr Antlitz, als blickte sie unter sich in eine sonnige Landschaft. »Es waren arge Buben damals, die beiden,« sagte sie, »sie haben mich was Ehrliches geplagt.«
Mamsell hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und blickte durchs Fenster auf die Heide hinaus. Das feuchte Kraut der Eriken glitzerte in dem Schein der untergehenden Sonne; und wie schwimmend in Duft gehüllt stand fern am Horizont der spitze Turm der Stadt. Auch das alte Mädchen saß da, vom blassen Abendschein umflossen. Es war ein Antlitz voll stillen Friedens, in dem freilich der Zug des Entsagens auch nicht fehlte; aber er war nicht herbe, es mochte wohl nur ein bescheidenes Glück sein, das hier vergeblich erhofft worden war. »Nach unseres Vaters Tode«, sagte sie leise, »war der Senator mir ein hülfreicher Freund, ich habe lange in seinem Hause gelebt, und später hat er mir dann auf meine Bitten diesen Posten hier gegeben Es ist jetzt der rechte Platz für einen einsamen, alten Menschen.«
»Aber«, sagte der Lehrer und legte den Teelöffel sorgfältig über die geleerte Tasse, »hieß es nicht vor Jahren einmal, liebe Mamsell, daß Sie den ledigen Stand hätten verrücken wollen?«
Sie schlug die Augen nieder und strich mit der flachen Hand ein paarmal über das Damasttuch. »Ja,« sagte sie dann, indem sie auf ein getuschtes Profilbildchen blickte, das in einem Strohblumenkranze über der Kommode hing. »Vor Jahren, Herr Lehrer; aber es kam anders, als wir gedacht hatten.«
Der Lehrer war aufgestanden und besichtigte das Bild. »Ja, ja,« sagte er, »der alte Ehrenfried, wie er leibte und lebte; der Herr Senator haben bis zu seinem Tode große Stücke auf ihn gehalten; ich habe manches Päckchen Schnupftabak von ihm zugewogen bekommen.«
Die Haushälterin nickte. »Ich mag es Ihnen wohl erzählen,« fuhr sie fort, »Sie haben auch Ihre Lebensfreude, Ihren einzigen Sohn, in unserm Kriege dahingegeben, und haben ihm den schönen Spruch aufs Grab setzen lassen.«
Der Alte beugte sich vornüber und legte seine Hand wie beschwichtigend auf den Arm seiner Freundin. »Das ist nun vorbei,« sagte er, und seine Stimme zitterte. »Er starb für seine Heimat, für welche wir bald nicht mehr leben dürfen; denn auch in meiner Schule soll nächstens, wie es heißt, die deutsche Sprache abgeschafft werden. Mein Wirken ist dann zu Ende.« – Der alte Mann seufzte. »Doch«, fuhr er fort, »Sie wollten ja erzählen!«
Sie stand auf und füllte erst noch einmal die Tasse des Gastes und präsentierte ihm die Schüssel mit den Weihnachtskuchen. – »Mein Vater«, begann sie nach einer Weile, »hatte einen kleinen Posten bei der Stadt und nur ein notdürftiges Einkommen, aber er saß nachts an seinem Pult und schrieb Noten für die Klavierschüler des Organisten, oder er fertigte die Rechnungen für die Armen- oder Klostervorsteher, die mit der Feder selbst nicht umzugehen wußten. Er war ein schwächlicher Mann und hat mit den vielen Nachtwachen sein Leben wohl verkürzt. Doch als er starb, fand sich für meinen Bruder und mich, die wir beide noch kaum erwachsen waren, ein kleines sauer verdientes Kapital. Es mochte für jeden wohl ein paar tausend Mark betragen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Über dieses Kapital,« sagte sie dann, »das ich besaß, da Ehrenfried und ich unsern Verspruch taten, konnte ich späterhin nicht mehr verfügen.«
»Nein, nein,« setzte sie hinzu, da sie bemerkte, daß ihr Gast einen Blick des Vorwurfs auf das Bildchen an der Wand warf, »denken Sie nichts Unrechtes von dem Seligen, er hat nichts gegen mich verschuldet.«
Der Schullehrer ließ sich diese Versicherung gefallen; denn auch das treuherzige Männergesicht, das dort so ruhig aus dem hohen Rockkragen herausschaute, schien gegen jeden derartigen Verdacht einen stummen Protest einzulegen.
»Wir beide«, fuhr die Erzählerin fort, »waren bald nach dem Tode des alten seligen Herrn in das Haus des Senators gekommen. Die Mutter lebte noch, und der junge Herr freite damals um seine jetzige Frau; die Haushaltung ging wie zu den Zeiten des Vaters ihren ruhigen Gang; und es war eine regelrechte Haushaltung, Herr Lehrer, alles wie nach dem Glockenschlag der Amsterdamer Wanduhr, die unten auf der großen Hausdiele steht; das blieb auch so, als die junge Frau ins Haus kam. Der Ehrenfried schien ganz hineinzupassen; des Tages bediente er seine Kunden, des Abends saß er in dem kleinen Laden und klebte seine Düten oder brachte seine Bücher in Ordnung. Ich war meistens für die alte Frau da oder half auch wohl mit in der Haushaltung. So lebten wir neben einander hin, und die Jahre vergingen. Ehrenfried hatte wohl einmal den Wunsch geäußert, einen eigenen Kram zu beginnen; aber er sprach das nur so hin, als sei es für Leute seines Schlages doch nicht zu erschwingen; denn er war fast ohne Mittel. Die Zinsen seines kleinen Vermögens und ein gut Teil seines Verdienstes gab er einer älteren kränklichen Schwester. Das habe ich aber erst späterhin von ihm erfahren. – Ich hatte schon einige dreißig Jahre hinter mir, und Ehrenfried mochte nah an die vierzig sein, da starb die Schwester, und er begann nun wohl mit Ernst auch an sich selbst zu denken.«
Die Alte warf einen liebevollen Blick auf das Bildchen in dem Immortellenkranz. »Sie wissen, Herr Lehrer,« sagte sie dann, »der Herr Senator hat einen Speicher in der kleinen Straße, die nach der Marsch hinuntergeht; dahinter ist ein großer Gemüsegarten, woraus für Winter und Sommer das ganze Haus versorgt wird. Eines Vormittags hatte die Frau Senatorin mich hingeschickt, um etwas Kraut zur Suppe zu schneiden. Es war just am heiligen Pfingsttage – so etwas vergißt sich nicht, Herr Lehrer – man konnte über die niedrigen Stachelbeerzäune weithin auf die Nachbargärten sehen, wo die Leute in ihrem Sonntagszeug zwischen den Beeten umhergingen, denn es lag alles im klarsten Sonnenschein. Der blaue Flieder duftete, der überall an den Steigen wuchs, und drunten von der Marsch herauf hörte man die Lerchen singen. Ich hatte am Morgen einen liebreichen Brief von meinem Bruder erhalten, der seit Jahren mit Hilfe des Herrn Senators im Hannöverschen ein Kommissionsgeschäft errichtet hatte; es ging ihm wohl; er hatte Frau und Kind; aber er vergaß auch seine Schwester nicht. Die blaue Frühlingsluft war nicht heiterer als mein Gemüt dazumalen. So in Gedanken ging ich den breiten Steig hinab; als ich aber bei dem großen Holunderbusch um die Ecke biege – denn der Garten liegt hier im Winkel –, sehe ich Ehrenfried im braunen Sonntagsrock und mit der langen Pfeife zwischen den Spargelbeeten stehen. Er pflegte an Sonn- und Festtagen wohl ein wenig in der Gärtnerei zu hantieren. ›Es gibt nicht viel, Mamsell Meta,‹ rief er mir zu, ›die Beete sind zu alt. – Ja, ja, das Alter!‹ setzte er wie mit sich selber redend hinzu; dann legte er die Hand mit der Pfeife aus den Rücken und begann wieder mit seinem Messer die Oberfläche des Beetes zu untersuchen. Da ich ebenfalls ein Messer in der Hand hatte, so trat ich an die andere Seite des Beetes. ›Ich will Ihnen helfen, Herr Ehrenfried,‹ sagte ich, ›vier Augen sehen mehr als zwei,‹ und zugleich hatte ich schon einen schönen weißen Spargel auf seiner Seite bloß gelegt. Ehrenfried sah eine Weile zu mir hinüber. ›Das ist richtig, Mamsell Meta!‹ sagte er dann, indem er sorgfältig den Spargel aus der Erde hob. Wir gingen suchend an diesem und noch zwei andern Beeten auf und ab, aber die Ernte war nur spärlich.
Als ich ihm mein Teil hinüberreichte, sagte er: ›Für eine Person sind das zu viele und für zwei zu wenig.‹ Und er hatte dabei so einen eigenen Ton, Herr Lehrer, daß mir schon war, als spreche er das nur so sinnbildlich. ›Freilich,‹ erwiderte ich, ›Herr Ehrenfried; aber wir haben schon die von gestern, und morgen gibt es wieder welche, und wenn wir dann übermorgen noch etliche bekommen, so reicht es für die ganze Familie.‹ Er tat einen Zug aus seiner Pfeife und stieß ein paar blaue Ringe in die Luft. ›Ja,‹ sagte er dann, ›mit den Dingen, die unser Herrgott wachsen läßt, da macht sich das von selbst, aber ... ‹ – ›Wie meinen Sie denn: aber, Herr Ehrenfried?‹ – ›Ich meine mit den Kapitalien,‹ sagte er, ›die der Mensch sich sauer verdienen muß; da könnte das bißchen Leben leicht zu kurz werden.‹ Und ich verstand noch immer nicht, Herr Lehrer, wo das hinaus sollte. ›Kann ich Ihnen in etwas dienlich sein, Herr Ehrenfried?‹ fragte ich. – ›Sie wissen vielleicht, Mamsell Meta,‹ fuhr er fort, ohne meine Frage zu beachten, ›ich habe ein kleines Vermögen, ein sehr kleines, wovon meine Schwester bislang die Zinsen genossen hat. – Sie bedarf deren nun nicht mehr.‹ Und er schwieg einige Augenblicke und dampfte heftig aus seiner Pfeife. ›Dieses kleine Vermögen‹, begann er dann wieder, ›ist für mich allein zu viel, denn was ich bedarf, erhalte ich von unserm Herrn Prinzipal; aber es ist wiederum zu wenig, um ein eigenes Geschäft zu beginnen.‹ Und zögernd setzte er hinzu: ›Sie besitzen auch von Vaters wegen eine Kleinigkeit, Mamsell Meta; was meinen Sie, wenn wir zusammenlegten? Ich denke fast – es würde reichen.‹ – Und sehen Sie, Herr Lehrer, so legte ich denn meine Hand in die seine, die er mir über das Gartenbeet hinüberreichte. Es war kein Übermut dabei, aber es war beiderseits doch treu gemeint. – Wir gingen noch eine Weile in dem großen Steige auf und ab und besprachen uns, daß wir die Sache noch geheim halten und beide noch ein paar Jahre in unserer Kondition bleiben wollten, damit wir die Ausstattung davon zurücklegen könnten. Mitunter standen wir still und hörten, wie noch immer drunten aus der Marsch die Lerchen sangen.
So gingen ein paar Jahre hin, und wir gewannen ein rechtes Vertrauen zu einander. Oft in der Morgenfrühe, wenn noch die Häuserschatten über der Gasse lagen, trafen wir uns draußen vor der Haustür. Wenn Ehrenfried hinausging, um die Eisenwaren auf dem Beischlag auszustellen, war ich schon draußen und putzte an der Tür den großen Messingklopfer. ›Nun, Meta,‹ sagte er dann wohl, ›ich denke, wir werden unser Glück doch nicht verschlafen!‹ – Er stand schon in Handel um ein kleines Haus, und wir begannen es in Gedanken mit einander einzurichten; wir kannten schon jedes Stück Gerät in unsern Stuben und jeden Topf, der auf unserm Herde kochen sollte. Oft sprachen wir so in der Morgenstille mit einander, bis dann die ersten Bauerwagen die lange Straße herabklapperten und sich auf dem Markte aufstellten.
Es kam anders, Herr Lehrer. Der Krieg brach aus, und niemand hatte Zeit, noch an sich selbst zu denken. Eines Mittags, da zuerst die Freischaren mit ihren Schlapphüten und Pistolen in die Stadt kamen, steht ein großer bärtiger Mann vor mir und reicht mir seinen Quartierzettel. Es schoß mir in die Knie, da ich ihm ins Gesicht blickte. Es war mein Bruder. ›Christian,‹ rief ich, ›was in Gottes Namen willst du jetzt hier?‹ – ›Meta,‹ sagte er, ›das Herz ist immer noch zu Haus; es hat mir keine Ruh gelassen!‹ – Und so hatte er das Geschäft einem Kompagnon anvertraut und Frau und Kind bei seinen Schwiegereltern untergebracht. Ehrenfried schüttelte den Kopf. ›Was soll das nützen,‹ sagte er, ›wir haben junges Volk genug, die Älteren werden schon später daran kommen, sobald es nötig ist.‹ Und als Christian ihn an den Schultern faßte: ›Sei nicht so griesgrämig, Ehrenfried, und mach mir das Herz nicht schwer; es hilft doch nichts, ich muß schon jetzt mit dreinschlagen,‹ da blieb er doch bei seinem Stück: ›Es muß alles in der Ordnung sein.‹ Er hatte nun einmal so das Temperament nicht, Herr Lehrer. Aber auch der Herr Senator sah oft nachdenklich drein, wenn späterhin der Christian uns seine Kriegsberichte schickte. Endlich, wir müssen wohl sagen, leider Gottes, wurde es Frieden.«
Der Lehrer nickte, aber er unterbrach seine Freundin nicht.
»Unsere guten Leute wurden in die Fremde getrieben, und die Fremden kamen und setzten sich im Lande fest. Mein Bruder saß wieder drüben in seinem Geschäft und bei seinen Büchern. Ich will keinem unrecht tun; aber er mochte es doch wohl nicht in den rechten Händen gelassen haben; denn es war mir nicht entgangen, daß zwischen ihm und unseren Herrn plötzlich ein eiliges Schreiben hin und wider lief; und als ich gelegentlich anfragte, drückte der Herr mir die Hand und sagte: ›Sorge nur nicht zu sehr, Meta; in dem Kampf um die alte Heimat ist er mit einer Schmarre davon gekommen; er muß nun hinterher noch um die neue kämpfen; aber du weißt, dein Bruder ist ein tüchtiger Mann; und nun laß uns sorgen, und geh du in deine Küche!‹ Ich sorgte aber doch; denn von Ehrenfried hatte ich gehört, daß auch unsern Herrn Senator schwere Verluste getroffen hatten.
Mittlerweile wurde es wieder einmal Frühling, und es war mir fast, als wenn es von der Sonne käme, die nun so hell in den dunkeln Laden schien, daß Ehrenfried eines Morgens wieder von einem Hauskauf zu reden anfing, und daß wir uns dann endlich das Wort gaben, auf den Herbst unsere Sache in Ordnung zu bringen. Wir hatten es schon auf den nächsten Sonntag festgesetzt, daß wir der Herrschaft unsere Heimlichkeit offenbaren wollten; da, am Freitagnachmittag – wir sollten auf den Abend eine kleine Gesellschaft haben, und ich war eben auf meine Kammer gegangen, um mich ein wenig anzukleiden – bringt mir der Ladenbursche einen Brief von meinem Bruder. Und da stand es denn geschrieben: er war am Bankrott. Aber mein Kapital, was ich von unserm Vater hatte, das – so schrieb er – konnte ihn noch retten. Ich verschloß den Unglücksbrief in meine Schatulle; dann entsann ich mich, daß noch Radieschen zum Nachtisch aus dem Garten geholt werden sollten. Ich nahm ein Körbchen und schlich die Treppe hinab, um unbemerkt aus dem Hause zu kommen; denn ich hätte um alles jetzt dem Ehrenfried nicht begegnen mögen. Ich weiß nicht, wie ich hinten aus dem Hause und die kleine Straße hinab nach dem Garten gekommen bin. Vorn an der Pforte hätte ich fast den Herrn Senator umgerannt. ›Ei, Meta,‹ rief er und hob lachend den Finger gegen mich, ›mit der Küchenschürze über die Straße!‹ Aber so alteriert war ich, Herr Lehrer; das war mir all mein Lebtage noch nicht passiert.
Es wurde schon Abend, und es gemahnte mich recht wie damals; denn der Flieder duftete, und von unten aus der Marsch kam auch wieder wie dazumal ein sanfter Vogelgesang.
Aber ich ging mit dem leeren Körbchen in dem großen Steige auf und ab und zerriß mir unachtlich die Kleider an den Stachelbeerzäunen. Meine Gedanken verloren sich in die alte Zeit, in das Kämmerchen, wo mein armer Bruder und ich als Kinder in unsern schmalen Bettchen schliefen. Mir war wieder, als höre ich nebenan im Wohnzimmer die Schwarzwälder Uhr zehn schlagen; und nach dem letzten Schlage wird drinnen das Schreibpult abgeschlossen, und mein Vater öffnet leise die Kammerkür. Wie oft, wenn ich noch wachend lag, hatte ich heimlich durch die Augenlider geblinzelt, wenn er sich über seinen Liebling beugte und sorgsam das Deckbett über ihm zurecht legte, damit nur keine Zugluft die nackten Gliederchen berühre; bis dann des Vaters Hand sich auch aus mein Haupt legte und ich von seinen Lippen einen Laut vernahm, den ich nicht verstehen konnte, aber den ich doch in meinem Leben nicht vergessen habe. – Die hülfreiche Hand unseres Vaters lag längst im Grabe; aber was sie mit saurem, ehrlichem Fleiß erworben, das war noch da; ich hatte es, und es reichte noch, um die Blöße seines Lieblings zuzudecken. – Und doch, was sollte aus Ehrenfried und mir nun werden? Aber wir lebten ja geborgen, wir gaben nur einen Herzenswunsch daran; der arme Christian hatte sich nicht bedacht, da er alles hinter sich ließ, um seiner Heimat in ihrer Bedrängnis beizustehen.
So hatte ich in schweren Gedanken meinen Korb mit Radieschen gefüllt und trat nun aus dem Garten, dem kleinen Hause gegenüber, was dazumal dem Steinmetzen gehörte. Die Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben, und ich stand eine Weile und betrachtete es mir; denn es war dasselbe, um welches Ehrenfried in Handel stand. Da sielen meine Augen auf die goldene Inschrift eines neuen Grabsteins, der neben der Haustür an der Mauer lehnte; und, Herr Lehrer, ich las die Worte: ›Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde‹«
»Evangelium Johannes, Vers dreizehn im fünfzehnten Kapitel,« sagte leise der alte Mann im Lehnstuhl.
»Es war der Denkstein, den Sie für Ihren gefallenen Sohn bestellt hatten« – und die Erzählerin reichte ihrem Gaste die Hand, der sie schweigend drückte; »ich habe den Spruch seitdem nicht mehr vergessen. Es stand nun fest in mir, daß ich das Geld geben mußte. – Aber als ich dann aus dem hellen Sonnenschein in unser großes dunkles Haus trat, fiel es mir doch wieder schwer aufs Herz, so daß ich's nicht von mir bringen konnte, bis auf den Abend. Als die Herren in der Oberstube an ihrem L'Hombre saßen, ging ich hinab in den Laden. Ehrenfried stand an der Bank und zählte Nägel in Pakete, was sonst der Lehrling zu tun hatte, aber der war zu seinen Eltern über Land. Ich erschrak fast, da ich seine Stimme hörte. ›Nun, Meta,‹ sagte er, ›wo hast du denn gesteckt! Der Steinmetz ist bei mir gewesen von wegen dem Hause, und morgen – wird alles in Richtigkeit kommen.‹ – Es schoß mir in die Knie, und ich zitterte; denn er sah so seelenvergnügt dabei aus. Ich vermochte nur stumm den Kopf zu schütteln. ›Was fehlt dir, Meta?‹ fragte er. ›Nichts fehlt mir, Ehrenfried; aber wir dürfen das Haus nicht kaufen.‹ Und als er mich erstaunt ansah, erzählte ich ihm alles, und was ich zu tun entschlossen war. Aber während dessen wurde sein Gesicht immer ernster und strenger; und als ich zufällig niederblickte, sah ich, daß er sich mit dem Eisenstift, den er in der Hand hielt, den Daumen blutig gerissen hatte. ›Und du willst das Geld geben?‹ fragte er, und seine Stimme klang so gleichgültig, als gehe das ihn selber gar nicht an. ›Ja, Ehrenfried, ich kann nicht anders.‹ – ›Nun freilich, Meta, dann reicht's nicht mehr.‹ – Er schwieg und begann wieder seine Nägel einzuzählen. ›Ehrenfried,‹ sagte ich, ›sprich doch zu mir; wir hatten's für uns beide bestimmt; du mußt dein Wort mit dazu geben!‹ Aber ich bat umsonst; er sah nicht auf. ›Wenn dir dein Bruder näher ist,‹ sagte er und begann seine Pakete einzuschlagen und wegzupacken. Indem wurde ich nach oben gerufen, und als ich nach einer Stunde wieder in den Laden hinabging, war Ehrenfried in seine Kammer gegangen. – Nur der Allmächtige weiß, was ich die Nacht mit mir gerungen habe; eine Stunde um die andere hörte ich unten vom Flur herauf die Wanduhr schlagen.
Ich konnte mein Leben nicht für meine Freunde hingeben, aber das bißchen Silber, Herr Lehrer, das konnte ich doch. Es war ja auch nicht um mich; ich sah wie eine Wage vor mir: auf der einen Schale war der Name ›Ehrenfried‹ und auf der andern der meines Bruders; ich sann und sann, bis mir das Hirn brannte; aber es wurde nicht anders, wenn die eine Schale sank, so stieg die andere. – Ich mag wohl endlich eingeschlafen sein; denn als ich die Augen aufschlug, kam schon die Morgendämmerung durch die kleinen Scheiben; und als ich mich ermunterte, hörte ich draußen vor der Kammer auf dem Gange einen Schritt. Mitunter blieb es eine Weile an der Tür; dann ging es wieder vorsichtig auf und ab. Ich stieg aus dem Bett und kleidete mich an, und indem glaubte ich auch den Schritt zu kennen. Als ich bald darauf aus der Tür trat, stand Ehrenfried vor mir. Sein Gesicht war blaß, aber freundlich. Er streckte mir schweigend seine Hand entgegen und hustete ein paarmal, als ob er sprechen wollte. ›Es hat nicht sein sollen, Meta,‹ sagte er endlich; ›wir wollen's dem lieben Gott anheimstellen.‹ Dann drückte er mir noch einmal die Hand, nickte mir zu und ging die Treppe hinab an sein Geschäft. Noch an demselben Tage schrieb ich meinem Bruder. – Zwischen mir und Ehrenfried ist dann von diesen Dingen nicht mehr die Rede gewesen; wir lebten wieder still neben einander fort und allmählich war es zwischen uns fast, wie es sonst gewesen; auch das »du« gebrauchten wir nicht mehr, wenn wir, was selten geschah, einmal zusammen sprachen. Aber in den Garten hinter dem Speicher bin ich seitdem nicht gern gegangen, und wir haben uns auch niemals wieder dort getroffen. – Die Jahre vergingen, wir wurden alt, und die Stadt um uns wurde immer fremder.«
Die Erzählerin schwieg. »Ich dächte,« hob der Lehrer an, indem er fast mit einer ehrfürchtigen Scheu auf seine Freundin blickte, »Ihr Herr Bruder sei ein Mann in auskömmlichen Verhältnissen; so ist er wenigstens in der Leute Mund.«
»Er ist es geworden, Herr Lehrer – später, und er hat mir das Darlehn auch bei Heller und Pfennig und mit allen Zinsen zurückbezahlt; aber es war kurz vor Ehrenfrieds Tode und schon in seiner letzten Krankheit. – Ja, was ich sagen wollte, ein paar Tage vor seinem Ende, des Ehrenfried, mein' ich, war viel Besuch in seiner Kammer; die Gerichtspersonen waren dort gewesen, und auch unsern Nachbarn, den Goldschmied, hatte ich am Morgen herauskommen sehen. Als ich nachmittags die Mixtur hineinbrachte, bat Ehrenfried, mich neben seinem Bette niederzusetzen. ›Meta,‹ sagte er, denn ich hatte ihm das vorhin erzählt, ›das Geld wäre nun wohl wieder beisammen, aber das Leben ist indessen alle geworden. – Da hab ich nun, als ich so dagelegen, bei mir gedacht, es müßte doch schön sein, wenn einer, wo es just die rechte Zeit wäre, so einmal aus dem Vollen leben könnte und ohne Kümmernis. Uns ist es so gut nicht geworden und unsern Eltern auch nicht; mir ist, als hätten wir alle nur ein Stückwerk vom Leben gehabt. Und weiter hab ich mir gedacht, wenn unser Kapital zusammenkäme!‹ – Und als ich das abwehren wollte, richtete er sich ungeduldig in seinen Kissen auf. ›Nein, nein, Mamsell Meta,‹ sagte er, ›reden Sie mir nicht dazwischen!‹ – Und dann duzte er mich wieder und legte seine magere Hand auf meinen Arm. ›Es ist ja nicht um dich, Meta, aber dein Bruder Christian hat einen Sohn; ich weiß, er hat ihn tüchtig angehalten, und er wird einmal dein Erbe sein. Vielleicht, um was sich viele gemüht haben, daß es nun einmal Einem zu einem ganzen Menschenleben helfen mag. Darum habe ich in meinem Testament meine verlobte Braut, die Jungfrau Hansen, zu meiner Universalerbin eingesetzt. Du wirst mir das nicht übel nehmen, Meta; wir haben es doch mal so im Sinn gehabt.‹ Und als meine Tränen auf seine Hand seien, nahm er einen goldenen Ring aus einem Kästchen und steckte mir ihn an. ›Der ist für dich allein,‹ sagte er, ›es schickt sich besser vor den Leuten, und‹, setzte er leis hinzu, ›trag ihn auch zu meinem Gedächtnis!‹«
Die alte Jungfrau schwieg und faßte wie liebkosend den schmalen Reif, den sie am Goldfinger trug. – – Es war jetzt fast dunkel in dem kleinen Zimmer; nur ein schwacher Abendschein drang durch die beschlagenen Fensterscheiben.
Der alte Lehrer war aufgestanden. »Wenn ich den Spruch auf meines armen Knaben Stein gelesen,« sagte er, »so habe ich bisher nur seiner dabei gedacht; aber«, setzte er hinzu, und seine Stimme zitterte, »Gottes Wort ist überall lebendig.«
Er bückte sich, um seinen Korb mit den Festtagseinkäufen aufzunehmen, der hinter ihm in der Ecke stand. Mamsell Meta nötigte ihn, noch ein Weilchen zu verziehen, der Mond werde ja aufgehen. Er dankte; »die Meinen warten,« sagte er, »es ist noch eine Stunde Weges bis nach Haus.« Da sie den Gast nicht halten konnte, zündete sie ein Licht an den glimmenden Kohlen im Ofen an und packte noch eine große Düte mit den Weihnachtspfeffernüssen der Frau Senatorin, die sie alles Widerstrebens ungeachtet zu den andern Dingen in den Korb legte; sie erkundigte sich auch – wie hatte sie es nur vergessen können! – nach dem zehnjährigen Töchterchen, dem Nesthäkchen ihres alten Gastes, und er schüttelte ihr die Hand und sagte nicht ohne eine kleine Feierlichkeit: »Ich danke für die Nachfrage, werteste Mamsell, sie wächst zu unserer Freude heran.«
Dann ging die Tür aus, und die Magd trat herein; in vollem Anzug, den Hut auf dem Kopf. »Ich bin fertig, Mamsell,« sagte sie; »wenn sonst nichts zu besorgen ist, so möchte ich nun zu meiner Mutter gehen.«
»Du kannst gehen, Wieb; sei aber morgen zeitig wieder da,« beschied Mamsell Meta. »Nimm auch dem Herrn Lehrer seinen Korb, du hast ja denselben Weg.«
Der alte Mann ließ sich das gefallen. »Sie ist ja mein Schulkind gewesen,« sagte er freundlich nickend.
»Und zeig dem Herrn Lehrer den Weg oberhalb über den neuen Steg,« fuhr Mamsell fort, »das spart ein Viertelstündchen.«
Wieb schüttelte den Kopf. »Das geht nicht,« sagte sie, indem sie den Korb des Lehrers nahm; »der neue Weg ist unter Wasser; wir müssen unterhalb über den alten Steg, und dann den Fußweg durch den Eichenbusch.«
Der Lehrer nickte. »Der Eichenbusch soll verkauft sein,« bemerkte er beiläufig; »so hörte ich heute in der Stadt.«
»Verkauft?« fragte Mamsell Meta; denn es fiel ihr ein, daß bei ihrer Kahnfahrt Marten grade mit diesem Grundstück den Heidehof hatte vervollständigen wollen. »An wen denn verkauft, Herr Lehrer?«
»An einen Fremden; den Namen habe ich nicht gehört.«
»Hm,« dachte Mamsell Meta, »da ist also der Herr Senator diesmal doch zu spät gekommen.«
Dann geleitete sie ihren Gast vor die Haustür. – Es war kalt, die Sterne standen schon am Himmel, nur ein schwacher Schein am Horizont zeigte, wo die Sonne verschwunden war. »Wie unruhig die Sterne sind,« sagte der Alte noch, »wir haben Frostwetter, Mamsell Meta.«
Meta stand in der Haustür und sah den beiden nach, wie sie gegen Westen den Fußsteig nach dem Bach hinabgingen. Das Dunkel der Heide hatte sie bald ihren Blicken entzogen; nach einer Weile aber wurden sie noch einmal in der Ferne sichtbar, auf dem Hügel drüben; fast übernatürlich groß erschienen ihr die Gestalten, wie sie sich schattenhaft gegen den schwachen Schein des Abendhimmels abhoben. Endlich waren sie ganz verschwunden. Dann hörte sie noch unten vom Bach her das Geräusch der Fußtritte auf dem Stege, und dann war alles still. Sie war allein. Nur im Stall in der Scheune waren die kleinen Ponys und die Kuh, und daneben in dem Verschlag saß schlafend das Federvieh auf seinen Leitern; hinter ihr im Hause strichen ein paar scheue Katzen durch die dunkeln Räume.
Leise drückte sie die Haustür zu und ging in ihre Stube.
Mit trockenem Heidereis und Torf brachte sie das Ofenfeuer wieder zum Brennen, daß es gesellig zu prasseln begann; dann, nachdem sie den Tisch abgeräumt und das Licht geputzt hatte, setzte sie sich in den Lehnstuhl und brach das Siegel ihres Weihnachtsbriefes. Sie las langsam und mit ganzer Andacht, und als sie an das Ende des Briefes kam, flog ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht, und die Hand, welche ihn hielt, sank auf den Tisch. »Er kommt endlich, nach zehn langen Jahren!« rief sie vor sich hin. Sie las die Stelle noch einmal, sie hätte nun auch Tag und Stunde wissen mögen; doch es hieß nur: »In nächster Zeit.« Sie mußte sich begnügen. – »Aber warum hat denn der Junge, der Friedrich, nicht geschrieben? – Und auch das Bild, das mir versprochen wurde, ist nicht dabei!« Die gute Tante wäre fast verdrießlich geworden. Aber sie besann sich; sie stand aus und ging mit dem Licht nebenan in die herrschaftliche Stube. Rasch öffnete sie das Schubfach einer Kommode, denn es war kalt hier, und die Möbeln mit ihren Überzügen standen unwirtlich in dem großen leeren Raume; dann, nachdem sie ein Päckchen alter Briefe herausgenommen, ging sie eilig damit in ihr heimliches Stübchen zurück. Bald saß sie wieder in ihrem Lehnstuhl und begann die Briefe sorgfältig durchzusehen. Endlich kam sie an den rechten Jahrgang; ein kleines Lichtbild lag dazwischen, das sie mit zärtlichem Wohlgefallen betrachtete. Es war das Porträt eines kräftigen, etwa vierzehnjährigen Knaben, dessen treuherzige Augen nicht ohne einigen Trotz unter dem buschigen Haar herausschauten. »Aber das war vor sechs Jahren,« sagte sie, »er muß ja jetzt ein ganzer Kerl sein.« Und dann entfaltete sie den Brief ihres Bruders, der das Bild begleitet hatte. »Du wirst den Jungen nicht verkennen,« schrieb er, »auch über seiner Stirn erhebt sich jener widerspenstige Haarwirbel, den der selige Subrektor seinem Vater als eine Opposition gegen die Autorität der Schule auslegte und den er in der Numa-Pompilius-Stunde mir ebenso unermüdet als vergeblich niederzustreichen bemüht war.« Sie lächelte; die kräftige Knabengestalt ihres Bruders stand vor ihren Augen. Sie sah ihn im Streit mit dem rotnasigen Stadtsdiener, der keine Rutschschlitten auf dem abschüssigen Markte dulden wollte, und dann wieder zusammen mit seinem Freunde, dem jetzigen Senator, wie sie draußen im Sonnenschein am Deich lagen und ihre Drachen steigen ließen. »Und wenn ich sie zu Mittag rufen mußte,« dachte sie weiter, »und sie mit ihrem Drachen dann wieder ein Stück weiter aus den Deich hinausrückten, und immer weiter, je mehr ich hinter ihnen herlief, bis sie mich denn am Ende richtig zum Weinen gebracht hatten.« Und kopfschüttelnd setzte sie hinzu: »Das waren ein Paar Gäste, sie kamen nie zu rechter Zeit nach Haus!« – Immer hingebender blickte sie in die Perspektive der Vergangenheit, wo eine Aussicht immer tiefer als die andere sich eröffnete. Die damals so traulichen Straßen ihrer Vaterstadt sah sie belebt von frischen rotwangigen Kindergestalten; sie gingen paarweise mit dem Schulsack überm Arm in eifrigem Geplauder durch die Straßen; oder der Sommerabend war herabgekommen, und sie rannten, Knaben und Mädchen, auf ihren Spielplatz unter den Linden vor der Kirche; sie selbst überall dabei und derzeit, so dachte die alte Jungfrau, keineswegs die Stillste. »Nein, nein! eine wahre Hummel, ein Dreiviertelsjunge, wie der alte Senator immer gesagt hatte.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf; dann, wie müde von all der munteren Gesellschaft der Vergangenheit, lehnte sie sich zurück und faltete die Hände.
Aber die Ruhe war ihre Sache nicht. Bald saß sie wieder aufrecht, und nachdem sie durchs Fenster einen Blick in die Nacht hinaus getan hatte, stand sie auf und verließ die Stube. Sie mußte einmal horchen, ob in den Ställen alles ruhig sei.
Sie ging über die Tenne auf den Hof hinaus. Draußen, an den schweren Torflügel gelehnt, blieb sie stehen. Die Sterne blitzten über ihr; aber auf der Erde, hier gegen Osten, war es gänzlich finster: die Morgenstunde, wo dort am Horizont die Sonne aufgestiegen, war längst vorüber; nicht der leiseste Tagesschimmer war hier auf der Erde zurückgeblieben. Sie beugte sich vor und lauschte. Links vom Hause, ein wenig tiefer hinter dem kleinen Wassertümpel, lag die Scheuer mit den Ställen; aber es war alles ruhig, nur das Rupfen der Kuh an der Krippe war zu hören und mitunter ein Stampfen der kleinen Ponys. Fast unwillkürlich warf sie einen Blick in die Ferne, ob sie drunten im Moor die alte Eiche erkennen möchte, den einzigen Baum, der über Tag von hier aus zu entdecken war. Aber sie sah nur die Brunnenstange vor sich in die Nachtluft ragen; wenige Schritte dahinter begann der dunkle Zug der Heide und streckte sich von allen Seiten schwarz und undurchdringlich in die Nacht hinaus. Ein Luftzug regte sich; leise, langsam durch das rauschende Heidekraut hörte sie es auf sich zukommen. So war es da und zog vorüber, bis sich das Rauschen wieder in die Ferne hinter ihr verlor.
Da plötzlich unten vom Moor herauf schlug ein Tierschrei an ihr Ohr, heiser und gewaltsam. Die Alte schauerte, sie legte die Hand aus den Griff des offen stehenden Tores; ihr war, als habe aus der ungeheueren leblosen Natur selbst dieser Laut sich losgerungen, als habe ihn die Heide ausgestoßen, die so schwarz und wild zu ihren Füßen lag. Und dann! Einige tausend Schritt in das Dunkel hinaus, sie wußte das wohl, stand noch der Pfahl und wurde von der Gemeinde des nächsten Dorfes noch unterhalten, zum Gedenken, daß hier ein Bauernkind von Wölfen zerrissen worden war. Freilich, das sollte über hundert Jahre her sein; es gab längst keine Wölfe mehr im Lande, die mit heiserem Geheul durch die Finsternis trabten. – Aber konnten die Nebel der Heide sich nicht wieder zu diesen unheimlichen Tiergestalten zusammenballen, damit auch das Entsetzen, das nachts auf diesen Mooren lagerte, seine Stimme wiederbekäme?
Die Alte schüttelte sich ein wenig; denn die dunkeln Vorstellungen des Volksglaubens, welche die Einsamkeit dieser Küstengegend ausgebrütet, lagen auch in ihrer Seele. Aber sie wußte sich zu fassen. Sie räusperte sich ein paarmal herzhaft und laut, damit sie nur wieder einen Ton der Menschenstimme vernehme; und gleich darauf bedachte sie es, daß ja dort unten, von wo der Schrei gekommen, der Bach durch das Bruchland gehe; es mochten zwei Ottern gewesen sein, die sich um einen Fisch oder um einen erhaschten Vogel gerauft. Ja, das war es gewesen; weiter nichts.
Wenn nur die Magd die Enten alle in den Stall getrieben hatte! Die eine mit der grünen Tolle pflegte da hinab an den Strom zu gehen und auch wohl einmal draußen zu bleiben. – Das Wässerchen, worauf sie am Tage ihr Wesen zu treiben pflegten, lag schwarz und glitzernd zu ihren Füßen. Sie ging vorsichtig an dem Rand der Pfütze zur Scheuer hinab und öffnete die Tür des Hühnerstalles, aber die Dunkelheit ließ nichts erkennen; nur hinten von der Leiter herab kam ein kurzes unwilliges Gekräh des großen Hahnes.
Mamsell Meta kehrte ins Haus zurück. Noch einmal, als sie den Torflügel hinter sich anzog, schlug aus der Ferne der Tierschrei an ihr Ohr. Hastig legte sie den großen Holzriegel vor; dann aber ging sie über die Tenne, an ihrer Stube vorbei, und trat dann aus dem vorderen Tor wiederum ins Freie. Das Licht in ihrem Stübchen warf durch die Fenster einen geselligen Schein hinaus, auch war hier gegen Westen der Himmel lichter, und drüben, wohin ihre Augen blickten, lag die Stadt und das Haus ihrer Freunde. Ein heimliches Gefühl als wie von Menschennähe überkam sie. Aber die Stadt war nicht zu sehen, nicht einmal die Kirchturmspitze, die sie am Tage aus ihrem Stubenfenster sah, und ihre Augen hoben sich unwillkürlich zu der großen blitzenden Himmelsglocke, die in feierlicher Ruhe auf dem dunkeln Erdenrunde stand. Es war so still, daß sie droben das leise Brennen der Sterne zu vernehmen meinte. Und immer neue, immer fernere drangen, je länger je mehr, einer hinter dem andern aus dem blauen Abgrund über ihr. Und immer weiter folgte ihr Blick; ihr war, als flöge ihre Seele mit von Stern zu Stern, als sei sie droben mit in der Unendlichkeit. »Du großer, liebreicher Gott,« flüsterte sie, »wie still regierst du deine Welt!« Ein roter Schein flog über den Himmel, es mochte der Strahl eines beginnenden Nordlichts sein; da gedachte sie des Weihnachtabends und sagte: »Christkindlein fliegt!« Die Strahlen breiteten sich aus und schossen bis zum Horizont hinab, und als ihre Augen folgten, gewahrte sie unten auf der Erde, dort, wo die Stadt lag, den Schimmer eines Lichtes. Sie nickte und dachte: »Nun zünden sie die Weihnachtsbäume an.« – Aber es fiel ihr ein, sie hatte abends nie die Lichter der Stadt gewahren können, denn eine Erhöhung des Bodens lag dazwischen, auch wenn es doch nicht gar zu fern gewesen wäre. Und jenes Licht vor ihr, es blieb auch nicht an einer Stelle, es wanderte und strahlte seitdem schon weiter rechts, oben wo die große Straße entlang führte. Auch war es offenbar viel näher, als es ihr zuerst geschienen, und jetzt hörte sie drüben auf dem Steindamm der Chaussee einen Wagen rasseln, und der Schall und das Licht kamen immer näher und waren endlich fast in gleicher Richtung mit dem Hause. Plötzlich hörte das Getöse der Räder auf, aber der Schein brannte fort; es war kein Zweifel, der Wagen mußte von der Chaussee aus den Feldweg gefahren sein, der von dort fast in grader Richtung auf das kleine Gehöft führte. Und nun hörte sie auch das Schnauben der Pferde und das dumpfe Rumpeln der Räder auf dem unebenen Heideboden. Dann noch ein Peitschenknall, und eine kleine Halbchaise, an welcher vorn zwei Laternen brannten, rollte durch die Lücke des Walles und hielt in dem hellen Schein, der aus den Fenstern brach. In demselben Augenblick vernahm sie auch das Gekläff ihres kleinen Täckels, und schon arbeitete er freudewinselnd mit beiden Vorderpfoten an ihr empor.
»Da wären wir, junger Herr!« rief Martens bekannte Stimme, der nun vom Kutscherstuhl über das Rad hinabkletterte und dann das Deckleder vor der Chaise zurückschlug. »Guten Abend, Mamsell!«
Mamsell nickte nur schweigend; sie wußte nicht, was das bedeuten solle. Aber schon wurde sie von einem stattlichen jungen Mann begrüßt, den sie erstaunt und knicksend in die Stube nötigte. Ein paarmal, während sie eilig die Briefe auf dem Tisch zusammenräumte, wanderte ihr Blick stutzig und forschend zwischen seinem Antlitz und dem noch vor ihr liegenden Lichtbildchen hin und wider. Als er aber nach Ablegung seiner schweren Wildschur mit der Hand über das buschige braune Haar strich und der eigensinnige Wirbel sofort wieder emporschnellte, da flog ein Lächeln glücklicher Gewißheit über ihr Gesicht. Sie streckte beide Arme nach ihm aus; und: »Meine liebe Tante Meta!« rief der junge Mann. Und das alte Mädchen, das noch eben so allein gewesen, hielt plötzlich einen ihres Blutes in den Armen; und ein stattlicher Junge war's.
»Aber wo ist dein Vater?« begann sie nach einer Weile, während der Neffe fast verlegen geworden wäre unter dem langen, zärtlichen Blick der Tante. »Er wollte ja doch selber kommen?«
»In der Stadt, Tante Meta; und ich bin hergeschickt, um dich zu holen.«
Sie wurde unruhig, zitternd in großer Erregung ging sie in der Stube umher; planlos griffen ihre Hände nach dem und jenem und legten es wieder fort. »Aber ich habe die Magd ja fortgeschickt!« sagte sie.
»Aber, Tante, dein alter Marten ist ja wieder da.«
Und sie ging an den Ofen und nahm die Kaffeekanne aus der Röhre. »Ich will mich fertig machen, Friedrich. Trink indes ein Täßchen und setz dich in den Lehnstuhl!«
So, während sie dazwischen bald eine Pfeffernuß auf seine Tasse legte, bald aufs neue wieder einschenkte, hatte sie endlich ihre Pelzkappe aufgesetzt und sämtliche Mäntel und Tücher umgetan. Fast hätte ihr jetzt der Mut gefehlt, ihren jungen Gast zu stören; er saß so lächelnd da, und wie ihm alles schmeckte! Aber die Sehnsucht nach ihrem Bruder gönnte ihr nun selbst keine Ruhe. Nachdem Marten hereingerufen und gehörig instruiert war, traten sie reisefertig vor die Haustür. Der Mond war indessen aufgegangen; unten von den Wiesen blinkte der Strom herauf. Friedrich, während er die Tante in den Wagen hob, stand noch einen Augenblick und sandte wie prüfend seine Augen über die ungeheuere dunkle Fläche. »Und das ist das Wasser, Tante, wo ihr heute die großen Karpfen gefangen habt?«
»Freilich, Friedrich, und den schönen Hecht nicht zu vergessen.«
»Und dort über dem Wasser liegt der Eichenbusch?«
»Woher weißt du denn das alles, Junge?« rief Tante Meta aus dem Fond der Chaise.
»Nun, was hätte dein alter Marten mir denn unterwegs erzählen sollen? – Aber mehr Leute müßtest du haben, und jüngere,« rief er, indem er zu ihr in den Wagen stieg, und es klang der Tante fast ein wenig übermütig, als er lachend und ihre Hand ergreifend hinzusetzte: »Ihr seid hier eine gar zu ehrenfeste Gesellschaft!«
Ihre Antwort verhallte in dem Geräusch des abfahrenden Wagens. Bald hatten sie die Chaussee erreicht, und nach Verlauf einer kleinen Stunde rollten sie über das Straßenpflaster der Stadt. Hie und da sahen sie im Vorüberfahren noch einen verspäteten Weihnachtsbaum brennen; im allgemeinen schien die eigentliche Feierstunde schon vorüber, nur die bettelnden Haufen der kleinen Weihnachtssänger zogen noch unermüdlich von einer Tür zur andern. Ein paar große Gebäude waren besonders hell erleuchtet; aber Tante Meta schloß die Augen, als sie daran vorüberkamen; denn hier wohnten die »neuen Beamten,« wie sie noch immer von ihr genannt wurden, obgleich schon ein ganzer Nachwuchs für sich und die verhaßte Sprache Geburts- und Heimatsrechte der deutschen Stadt in Anspruch nahm.
Auf dem Markt vor dem stattlichen Hause des Senators hielt der Wagen. Die Frau Senatorin empfing ihre alte Freundin an der Tür. »Nicht wahr, Meta,« sagte sie, indem sie auf die große Außendiele traten, »weniger tat es nicht, um dich zu deinen Freunden in die Stadt zu bringen?«
Meta war zu bewegt, um zu antworten. Während die Magd ihr die Reisekleider abnahm, blickte sie zur Linken in den geräumigen Kaufladen, wo sie einst mit Ehrenfried in mancher Morgenfrühe vergebliche Pläne für ein bescheidenes Lebensglück entworfen hatte. Aus der Wohnstube an der anderen Seite des Flurs hörte sie zwei Männerstimmen in lautem Gespräch; die eine kannte sie, die andere war ihr fremd geworden. Die Sprechenden mochten beide die Ankunft des Wagens überhört haben.
Als Meta mit ihrem Neffen hereintrat, sah sie neben dem Senator einen kräftigen älteren Mann mit lebhaft gerötetem Antlitz am Ofen stehen; das volle buschige Haupthaar war schneeweiß. Mitten in seiner lauten Rede brach er ab und sah sie wie zweifelnd mit feinen dunkeln Augen an, aber in demselben Augenblick hielt er die alte Schwester in den Armen.
»Da hast du ihn, Meta,« rief der Senator, »es ist noch immer der alte Hoffegut. Wo der keine Rosen sieht, da werden niemals welche wachsen!«
Dann kam die Freude des Wiedersehens; ein langes, inniges Gespräch, ein stilles gegenseitiges Betrachten. Aber der Erzähler war meist der Bruder; während er vor ihr stehen blieb, hatte sie sich, wie von dem Übermaß der Freude niedergedrückt, auf einen Stuhl gesetzt. Ihre Hände auf die Knie gelegt, sah sie zu ihm empor und lauschte seinen Worten. Fast blieb die Tasse dampfenden Tees unberührt in ihrer Hand, welche die Senatorin ihr gereicht hatte. »Ja, ja, Christian,« sagte sie, »dein Gesicht ist noch das alte; es läßt nur anders bei den weißen Haaren.«
»Meinst du,« rief er lachend, »aber sie lassen sich auch noch jetzt von keinem Schulmeister niederstreichen. Versuch es nur!« Und er legte die Hand der Schwester auf sein Haupt. »Und nun genug von der Vergangenheit, wir wollen den Weihnachtabend nicht vergessen!« Dann, seinem Sohne und dem Senator einen Wink gebend, führte er sie in das gleichfalls erhellte, hinter der Wohnstube gelegene Zimmer; die andern folgten nach. – Es brannte hier kein Weihnachtsbaum; in diesem Hause hatte seit vielen Jahren keiner mehr gebrannt; denn der Senator war kinderlos. Aber aus dem mit einem grünen Teppich bedeckten Tische standen, jeder mit drei brennenden Kerzen, die sonst nur für die Festtafel bestimmten silbernen Armleuchter; zwischen den Leuchtern vor des Senators emailliertem Schreibgeschirr lag ein beschriebenes Blatt Papier, daneben eine frisch geschnittene Feder.
Meta sah ihren Bruder fragend an.
»Schwester,« sagte er, »du bist es, die bescheren soll; noch einmal sollst du deine gesegnete Hand auftun und diesmal, denke ich, dir zur Freude.«
Und seine Hand auf den beschriebenen Bogen legend, fuhr er fort: »Wir haben die Punktationen eines Kaufkontrakts über den Heidehof aufgesetzt: Verkäufer ist unser Freund Albrecht hier, als Käufer sind aufgeführt die Geschwister Meta und Christian Hansen. Die Vollziehung einer andern Punktation über den Eichenbusch – denn der, wie die Sachverständigen und dein alter Marten sagen, gehört notwendig mit dazu – wartet nur auf den Abschluß dieses Handels.«
»Also du«, sagte Meta, »warst der Käufer?«
»Ich nicht allein, Schwester; du mußt allerwegen mit dabei sein; denn meine Kräfte reichen hier nicht zu. – Ich selber kann nicht bleiben,« fuhr er fort, indem er mit begeisterter Zärtlichkeit auf seinen Sohn blickte, »ich muß zurück an meinen Herd, aber ich schicke einen Jüngeren, der die Sache aus dem Fundament gelernt hat. Schon im Februar mag der Friedrich seinen Einzug bei dir halten, und dann könnt ihr bauen und Mergel graben und Heide brennen nach Herzenslust, damit, wenn ich nach ein paar Jahren wiederkehre, aus der braunen Steppe ein grünes Heimwesen mir entgegenleuchte. – Wir wollen einen jungen festen Fuß auf unsere heimatliche Erde setzen; denn trotz alledem,« und seine Stimme sank bei diesem Worte, »ich lasse es mir nicht nehmen, die Herrlichkeit der deutschen Nation ist im Beginnen; und wir von den äußersten deutschen Marken, wir Markomannen, zu Leid und Kampf geboren, wie einst ein alter Herzog uns geheißen – wir gehören auch dazu!«
Der Senator hatte still daneben gestanden. »Du irrst dich, Christian,« sagte er jetzt; »es rührt sich keine Hand um uns; oder« – und er nahm ein Zeitungsblatt neben sich von der Kommode – »wie es hier geschrieben steht:
Die fremde Sprache schleicht von Haus zu Haus
Und deutsches Wort und deutsches Lied löscht aus;
Trotz alledem – es muß beim alten bleiben:
Die Feinde handeln, und die Freunde schreiben.«
Aber der alte Freischärler legte die Faust vor sich auf den Tisch, und die tiefe Narbe über der Stirn begann zu leuchten. »Mögen sie schreiben!« rief er, »das rechte Wort wandert landaus und -ein, rastlos und unantastbar, bis es sein Fleisch und Bein gesunden hat. Langsam geht es, langsamer als anderswo; aber« – und die breite germanische Männergestalt richtete sich in ihrer ganzen Höhe auf – »das Wachstum der Eiche zählt nur nach Jahrhunderten. Laß dich nicht irren von dem, Schwester! – Lies nur die Bedingungen; der Verkäufer hat uns nirgends übervorteilt.«
Sie hatte teilnehmend diesen Reden zugehört. Nun, während der Senator schweigend seine Zeitung zusammenfaltete, nahm sie das Schriftstück und begann es aufmerksam zu lesen. Die Hand, welche das Blatt hielt, zitterte; aber ihr Antlitz verklärte sich wie von junger aufstrebender Hoffnung, da doch das Leben sich schon abwärts neigte.
Der Bruder stand ihr gegenüber; die Arme untergeschlagen, gespannt zu ihr hinüberblickend. – Sie hatte ihn wohl verstanden; er wollte ihr nach Kräften einen Ersatz der Lebensgüter bieten, aus die sie einst durch jenes schwesterliche Opfer hatte verzichten müssen. Sie blickte empor, und die Augen der Geschwister begegneten sich. »Du willst mir gar nichts schuldig bleiben!« sagte sie schüchtern; »aber Christian, du zahlst dich arm dabei.«
Der lebhafte Mann schüttelte sein buschiges Haupthaar, als wolle er das Gefühl abschütteln, das ihn überkam. »Nein, nein!« rief er, die Hand wie abwehrend vor sich hinstreckend; »aber ich dächte, Schwester, du hülfest gern deinem Bruderssohn zu Haus und Hof!«
Sie sah ihn an und lächelte; aber noch einmal verschwand das Lächeln für kurze Zeit von ihrem Antlitz, und sie blickte mit fast schmerzlichem Ausdruck auf das vor ihr liegende Schriftstück. Sie mochte des Toten gedenken, über dessen kleinen Schatz sie jetzt auch verfügen sollte. – Dann, nach einer Weile, tauchte sie die Feder ein und schrieb. »Für mich – und Ehrenfried!« sagte sie.
Der Senator ergriff die Hände des jungen Mannes, der schweigend das Ende der Verhandlungen abgewartet hatte. Sein etwas finsteres Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der festen, ausgeprägten Stirn des Jünglings. »Weil du es denn gewollt,« sagte er, zu seinem Freunde hingewandt, »dein Sohn soll uns willkommen sein. – Und morgen Weinkauf aus dem Heidehof! Nein, Meta, sorge nur nicht; wir kannten dich ja – die Braten sind schon alle hier gemacht.«