Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Schon wieder stand der kleine Herr im blauen Frack an der Wehle, unterhalb des Deiches zu fischen. Vier Angelruten hatte er ausgelegt; die Korke mit den Federposen schwammen auf der blanken Wasserfläche, während die Stöcke in dem üppigen Marschgrase ruhten. Auch der kleine schwarze Hund saß wieder daneben, wie es schien, in die Betrachtung des vor ihm liegenden Netzes versunken, das schon zur Hälfte mit Weißfischen und Aalen gefüllt war; nur zuweilen warf er den Kopf herum und schnappte nach den Schmeißfliegen, die um seine Nase schwärmten. Sein Herr hatte die ausgerauchte Meerschaumpfeife neben sich gelegt und blickte, die Hände auf den Rücken gefaltet, aus seinen kleinen runden Augen gleichgültig vor sich hin; bald auf die schwimmenden Korke, bald über die Wehle nach dem spitzen Turm der nicht gar fernen Stadt. Die Sonne blitzte in den blanken Knöpfen seines Fracks und vor ihm auf dem stillen Wasser; mitunter zog er ein blaugedrucktes Schnupftuch aus der Tasche und trocknete sich damit den Schweiß aus seinen schon ergrauten Haaren. Das Schilf duftete, es war ein heißer Septembernachmittag.
Aus dem Häuschen, das droben auf dem Deiche lag, trat ein bejahrtes Frauenzimmer und stieg eilig an dem abwärts führenden Fußwege hinunter. Der alte Herr hatte sie nicht bemerkt; denn an der einen Angel begann eben die Federpose zu zucken. Als aber jetzt die Frau laut redend und jammernd auf ihn zukam, wandte er sich um und winkte ihr heftig mit der Hand. »Schrei Sie nicht so, alte Person!« sagte er und bückte sich nach seiner Angel. »Hat denn die Mixtur von gestern noch nicht angeschlagen?«
Das Weib schwieg plötzlich und strich sich verlegen mit der Hand über ihre Schürze.
»Ja so,« sagte er, »ich kann's mir denken; Ihr habt wieder einmal selbst gedoktert! – Da habt Ihr mir nun auch den Fisch verjagt!«
Indem hatte er sich aufgerichtet; und in seine kleinen Augen trat ein Ausdruck von Schelmerei, der vor Zeiten diesem unschönen Antlitz eine vorübergehende Anmut mochte verliehen haben. »Kleine Frau,« sagte er, »kennt Ihr das Gebet der Ärzte?«
Die Frau sah ihn verdutzt an. »Nur das Vaterunser, Herr Doktor, und die hinterm Gesangbuch.«
»Nun, so will ich es Euch sagen: Gott behüte uns vor den alten Weibern!«
Die Alte lächelte. »Herr Doktor sind allzeit so spaßig.«
»Und nun,« fuhr der Doktor fort, indem er seinen alten Hut aus dem Grase aufsammelte, »nun bleib Sie hier und paß Sie mir auf meine Fischerei!« – Der kleine Hund sprang gegen ihn empor. »Leg dich, Pankraz!« sagte er und bückte sich, um ihn zu streicheln, mit jener hastigen Innigkeit, womit in Gegenwart anderer einsame Menschen den an sie gewöhnten Tieren zu begegnen pflegen. Dann, während der Hund sich legte, und das Weib, seinem Befehl gehorchend, sich vor den Angelruten an das Wasser stellte, stieg er langsam den Deich hinauf und verschwand in der Tür des kleinen Hauses.
Es war tiefe Dämmerung, als der Doktor, aus seinem Meerschaumkopfe rauchend, auf dem Fahrweg des Deiches nach der Stadt zurückkehrte. Neben ihm ging die alte Frau, in der einen Hand ein Rezept, in der andern das schwergefüllte Fischnetz; der kleine Hund sprang kläffend hin und wider. – So erreichten sie die Stadt. Im Schifferhause am Hafen brannten schon die Lichter und warfen ihren Schein auf die Gasse. Der Doktor tat einen Blick in die Gaststube, wo an dem rot angestrichenen Tisch schon ein Frühgast dem Wirte gegenüber saß; dann beschleunigte er seinen Schritt und ging durch die dunkle Twiete dem Markte zu, wo er mit seiner Begleiterin in ein schmales altertümliches Haus trat, vor dem eine Linde ihre Zweige bis an die Fenster des oberen Stocks hinaufstreckte.
Während noch die Hausglocke läutete, öffnete sich im Hintergrund der Diele eine Tür, und ein schon ältliches bürgerlich gekleidetes Mädchen leuchtete mit einer Schirmlampe den Kommenden entgegen. »Bist du es, Onkel?« fragte sie.
»Freilich; nimm nur der Frau die Fische ab.«
Dann, nachdem die Alte gute Nacht gewünscht, gingen beide in das geräumige Hinterzimmer. Das Mädchen trug ihr Spinnrad in die Ecke und setzte die Lampe auf des Onkels Schreibtisch, während dieser seine Taschen von dem mitgenommenen Angelgeräte leerte. »Ist jemand dagewesen?« fragte er.
»Ja, Onkel, die arme Frau, der du das Kleid von selig Tante schenktest.«
»Sonst wer?«
»Die alte Kammerherrin hat geschickt, sie hat wieder ihren Zufall.«
Der Doktor setzte sich auf den harten lederbezogenen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »So?« sagte er. »Schicken die feinen Leute auch noch! Nun,« fügte er brummend hinzu, »der andere wird nicht um den Weg gewesen sein. – Wann war der Diener hier?«
»Du warst nur eben fort.«
»So – nun, da brauchen Ihro Gnaden mich schon nicht mehr.«
»Der Justizrat«, sagte das Mädchen, »ist auch da gewesen; du hättest doch nicht vergessen, daß es heute der Geburtstag seiner Frau sei.«
Der Doktor schwieg eine Weile. – »Es ist gut,« sagte er, »bring nur die Fische in die Küche!«
Das Mädchen ging; der Doktor blieb auf seinem Stuhle sitzen und streichelte mit der Hand den kleinen Hund, der ihm auf den Schoß gesprungen war. Seine Augen hafteten an der Messingklinke der nach dem Flur hinausgehenden Tür, als denke er, sie werde sich im nächsten Augenblick bewegen, und jemand, den er erwarte, in das dürftig ausgestattete Gemach hereintreten. Aber es kam niemand; er blieb allein. Endlich, nachdem er das Tier behutsam auf den Fußboden gesetzt hatte, stand er auf und nahm aus dem Repositorium des Schreibtisches einen der Quartbände, welche seine ärztliche Buchführung enthielten. Das Blatt, welches er aufschlug, trug eine Jahreszahl, die der ersten Zeit seiner Praxis angehörte. – »Handlungsdiener Friedeberg« stand darüber; darunter waren viele Visiten eingetragen, sie folgten sich fast Tag um Tag; zum Schluß aber war die Rechnung mit einer verhältnismäßig sehr geringen Summe abgeschlossen.
Der alte Friedeberg war längst begraben; aber der Doktor sah ihn noch vor sich, den kleinen Mann im leberfarbenen Rock, wie er an sonnigen Sonntagnachmittagen drüben am Markt vor der Tür des großen Giebelhauses stand und ihm, wenn er vorüberging, sein » Servus, Herr Doktor!« zurief. – Der alte Friedeberg war es jedoch nicht, um dessen willen die kleine runde Hand des Doktors nach diesem Folium zurückgeblättert hatte. Er war nur der Diener gewesen; das große Giebelhaus hatte derzeit dem zweiten Bürgermeister, seinem Prinzipal, gehört; der alte Friedeberg führte nur das kleine Ladengeschäft, das der reiche Kaufherr zugleich mit jenem treuen Mann nach seinen Eltern überkommen hatte. Auch der stattliche Bürgermeister wohnte seit lange nicht mehr in seinem sonnigen Hause; er lag nicht weit davon auf dem Klosterkirchhof in der Familiengruft, die er selbst hatte bauen lassen. – Es war aber auch nicht sein Gedächtnis, das die Hand des Doktors geleitet hatte; der Doktor war nicht einmal sein Hausarzt gewesen; denn der Bürgermeister hatte sich wie alle Honoratioren des Physikus bedient. Aber der Physikus war einmal über Land gewesen, und – der Herr Bürgermeister hatte eine Tochter gehabt.
Das war es. – –
Der Doktor hatte sich umgewandt. Seine Augen ruhten auf dem leeren Polsterstuhl, der ihm gegenüber zwischen dem Ofen und dem Tassenschränkchen stand. – Spät an einem Februarabend war es gewesen. Dort hatte seine Mutter, die alte Schneiderswitwe, gesessen, mit gefalteten Händen, das Spinnrad neben sich. Sie war schon ein wenig eingenickt gewesen, wie es ihr vor dem Schlafengehen zu geschehen pflegte; aber sie war wieder munter geworden und saß nun nach ihrer Gewohnheit aufrecht und ohne sich anzulehnen. »Und du willst ein Doktor sein,« sagte sie, »und weißt nicht, daß alte Leute nicht mehr jung sind!« – Der Doktor zog seine silberne Taschenuhr auf und hing sie an die Wand. »Es wird Schlafenszeit, Mutter!« sagte er lächelnd; denn er wußte alles, was noch folgen würde. Aber die Alte ließ nicht ab; sie schenkte ihm nichts, er mußte alles hören: ihr Alter und das seinige, dann alle Mühen des kleinen Haushalts und das gesamte Inventar an Leinen und Bettstücken, das droben in den beiden eichenen Schränken lagerte. »Denn«, sagte sie, »wir sind immer auskömmliche Leute gewesen, ich und dein seliger Vater; und das Notwendige wäre schon beisammen, wenn die junge Frau ins Haus käme.« – Der Doktor hatte schon fast ein wenig ungeduldig werden wollen; da plötzlich hatte die Hausglocke geschellt, und da nach einigen Augenblicken war sie hereingetreten. Sie hatte das blonde Haar zurückgeschüttelt und ein weißes Tüchlein vom Kopf genommen und sich dann einen Augenblick schweigend und ausatmend im Zimmer umgesehen. Die kleine behende Alte war fast erschrocken aus ihrem Lehnstuhl aufgesprungen; denn solch einen Gast hatte sie noch niemals in dem Zimmer ihres Doktors erscheinen sehen. Aber es war Notsache gewesen; der alte Friedeberg war plötzlich schwer erkrankt, eine tiefe Ohnmacht, ein Schlaganfall, diejenige Dame wußte es selber nicht. Der Lehrling war um den Kranken beschäftigt, die Mägde schon in den Betten gewesen; in ihrer Angst und ohne zu fragen war sie fortgelaufen. Beim Physikus hatte sie vergebens angeklopft; nun sollte der junge Doktor kommen; aber sogleich, es war kein Augenblick zu verlieren. – Der Doktor stand vor ihr in seinem abgetragenen Schlafrock, der die kleine pralle Gestalt nur kaum bedeckte, und fragte und ließ sich berichten. Die alte Frau ging während dessen im Zimmer umher und brachte hier eine Weste, dort ein Schnupftuch auf die Seite, die er wie gewöhnlich auf den Stühlen umhergestreut hatte; sie wischte mit ihrer Schürze über das Polster des alten Lehnstuhls und lud die junge Dame zum Sitzen ein. Aber die junge Dame wollte sich nicht setzen, und bald, nachdem der Doktor in die Kammer gegangen und in seinem blauen Kleidrock wieder zum Vorschein gekommen war, machten beide sich auf den Weg.
Die Alte hatte ihnen geleuchtet. »Fallen Sie nicht, Mamsell,« hatte sie gesagt, »der Ring an der Kellerluke steht vor!« Der Doktor entsann sich alles dessen noch genau; er meinte noch zu hören, wie sie hinter ihnen die Kette vor die Haustür legte.
Draußen standen schon alle Häuser dunkel; nur drüben unweit der Twiete in dem großen Giebelhause waren unten noch die Fenster hell. Eben schlug es von der Kirchenuhr an der andern Seite des Marktes. Unwillkürlich standen sie und sahen an dem alten Turm empor, der mit seiner dunkeln Spitze in den Sternenhimmel hinaufragte. Hoch überhin steuerte ein Zug von Wildgänsen durch die Luft; ihr gellender Schrei und der Klang ihrer Flügel fuhr weithin über die schlafende Stadt.
Der Doktor ließ sein Bambusrohr auf der Steinplatte klingen. »Kommen Sie, Mamsell Sophie,« sagte er, »es wird Frühling! Wir müssen dem alten Friedeberg helfen.«
Und nun gingen sie, das Mädchen immer einen Schritt voraus. Er aber in dem ungewissen Sternenschimmer sah zum ersten Mal auf sie und wie fest und jugendlich sie daherging.
Jene Nacht war längst dahin. Der Doktor war seitdem fast noch einmal so alt geworden; aber die Leute sagten, er habe dazumal nicht anders ausgesehen, nur sein Haar sei etwas grau und der blaue Frack ein paarmal neu und dann wiederum alt geworden. Auch im Hause in dem großen Hinterzimmer war es ebenso geblieben; derselbe alte Tisch mit den geschweiften Beinen und dem bunten Wachstuchbezug; dasselbe Tassenschränkchen und der weiße Sand auf dem Fußboden. Freilich in dem Polsterstuhl am Ofen saß jetzt nicht mehr wie sonst die alte strickende Frau, sondern ein kleiner schwarzer Hund, den der Doktor nach ihrem Tode sich herangezogen hatte.
Auch in diesem Augenblick behauptete der kleine Hausgenosse seinen ererbten Platz. Er hatte sich schlafen gelegt und schien noch von den Schmeißfliegen zu träumen, die draußen an der Wehle ihn umschwärmt hatten; denn er kläffte und schnappte ein paarmal um sich her in die leere Luft. Der Doktor ging auf ihn zu und streichelte ihn: »Laß doch, Pankraz, laß doch,« sagte er, »du träumst ja nur!« Der Hund sah mit trüben Augen zu ihm auf, leckte einen Augenblick die liebkosende Hand seines Herrn und schob dann die Schnauze wieder zum Schlaf unter seinen Schenkel.
Der Doktor trat wieder an seinen Schreibtisch, und nachdem er das vorhin ausgeschlagene Buch zugemacht und an seinen Platz getan hatte, holte er aus dem hintersten Fache einer Schublade das Bruchstück einer roten Hummerschere hervor, an welcher mit einem Bindfaden ein großer Schlüssel befestigt war. Dann nahm er die Lampe und ging zur Tür hinaus, durch den schmalen Gang auf den Hausflur, und stieg von dort die Treppe hinauf, die zwischen weiß getünchten Wänden in das obere Stockwerk führte.
Die Stufen knarrten, die einsame Hauskatze, die auf dem Treppenabsatz eingedämmert war, sprang vor ihm auf und stob die Bodentreppe hinan. Oben auf dem engen Flur zwischen zwei dunkeln ungeheuren Schränken stand der Doktor still und öffnete mit seinem Schlüssel die Tür eines nach der Straße hinausführenden geräumigen Zimmers, dessen Fußboden mit einem wollenen Teppich belegt war. Der Schein der Lampe fiel auf eine Tapete, wie man sie vor einem Vierteljahrhundert wohl zu sehen pflegte; eine Südseelandschaft mit den Figuren Pauls und Virginiens, die sich in bunten, jetzt freilich verblichenen Farben oberhalb des hohen Paneels wie ein Panorama an der Wand entlang zog. Das mit Mahagoni furnierte, jetzt tiefdunkle Gerät des Zimmers schien im Gegensatz zu der unteren Wohnung einst mit besonderer Sorgfalt ausgewählt. – Der Doktor setzte die Lampe auf den länglichen, mit einem bunten Teppich behangenen Sofatisch. Seine Augen ruhten eine Weile auf dem mit Buchsbaum eingelegten Jagdstückchen in der Lehne des Sofas; dann breitete er sein Schnupftuch auf das Sitzpolster, stieg hinauf und hob die bestaubte Glasglocke von einer Tafeluhr, die mitten in dem hartblauen Himmel der Südseeinsel auf einem kleinen Postamente stand. Er nahm den verrosteten Stahlschlüssel, und nachdem er langsam aufgezogen und den Perpendikel angestoßen hatte, horchte er auf das plötzlich laut werdende Ticken. Die Uhr ging wieder, sie ging ganz wie vor fünfundzwanzig Jahren; es war wieder etwas lebendig in dem Zimmer, worin es sonst so still war.
Er hatte die Glasglocke wieder aufgesetzt und ging jetzt wie vorsichtig über den weichen Teppich zu einem Sessel, der in einer der beiden tiefen Fensternischen stand. Es war schon dunkel draußen; aus den einzelnen Fenstern und von den hie und da stehenden Gassenlaternen fielen spärliche Lichter; nur drüben rechts hinab über den Markt in dem großen Giebelhause waren alle Fenster des oberen Stockwerks erleuchtet. Der Doktor stützte den Arm auf die Fensterbank und sah nach dem hellen Schein, der von dort in das Dunkel hinausbrach.
Damals, an einem Vormittag vor vielen Jahren, acht Tage mochte es gewesen sein nach jener Februarnacht, hatte das Haus drüben in vollem Sonnenlicht gestanden; auf die spiegelblanken Ladenfenster und an der andern Seite auf die Fenster des vorspringenden Ausbaues und zwischen ihnen auf die Fliesen des weitgeöffneten großen Hausflurs war der goldene Schein gefallen.
Der Doktor erinnerte sich dessen wohl.
An einem Markttage war es gewesen; er hatte sich von seinem Hause an durch die Reihen der Bauernwagen und der Eier- und Gemüsekörbe durchgedrängt; er hatte hier und dort einer Marschbäuerin die Hand geschüttelt und sie bei Vor- und Zunamen begrüßt; ja sogar ein Rezept hatte er stehend und aus freier Hand auf seine Brieftafel schreiben müssen. Nun trat er in das große Giebelhaus, um nach dem alten Friedeberg zu sehen. Es hatte keine Gefahr mehr, er war schon in der Besserung. Auf dem Flur vor dem Laden drängten sich die Käufer. Der Lehrling konnte nicht allen Händen genügen, die ihre Körbe und Kannen vor ihm hinschoben. Aber er hatte eine Gehülfin bekommen; dort auf dem Ladentritt stand eine schlanke Mädchengestalt und hantierte in den obersten Schubladen des Repositoriums.
»Ei was, Mamsell Sophie!« rief der Doktor.
Sie wandte den Kopf zurück; ein Paar helle Augen sahen auf ihn herab. »Guten Morgen!« rief sie.
»Was treiben Sie denn da?«
»Sie wissen ja,« sagte sie und sprang mit einem leichten Satz zu Boden, »der alte Friedeberg ist invalid; da muß ich der alte Friedeberg sein!«
»Das seh ich,« sagte der Doktor, und seine kleinen Augen folgten ihr mit Verwunderung, wie sie mit den flinken Fingern die Ware in Papier schlug, wie sie den Bindfaden von der Rolle schnurrte, ihn um das Päckchen knüpfte und dann so resolut an dem großen Ladenmesser abschnitt.
Als sie die Ware aus der Hand legte, setzte schon wieder ein Arbeiter seine Branntweinflasche vor sie hin. Sie blickte einen Augenblick wie hülfesuchend nach dem Lehrling. Als sie ihn beschäftigt sah, kniete sie seitwärts vor das Ankerfaß und hielt das zinnerne Maß unter das Messinghähnchen. Aber während die Flüssigkeit hineinrann, bog sie den Kopf zurück und schüttelte sich unmerklich, als widre sie der Dunst des Alkohols.
Der Doktor stand noch immer und ließ kein Auge von ihr. Und schon plauderte sie mit einem Haufen Kinder, die ungeduldig mit ihren Sechslingen klopfend vor dem Ladentisch standen. Sie neigte sich herüber und nahm das pausbackige Gesicht eines Nachbarknabens zwischen ihre Hände. »Junge, was du für ein Kerl geworden bist!« sagte sie und sah ihm ernsthaft in die Augen. »Du hast wohl gar den Nachtwächter schon gesehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Der tutet bloß!« sagte er und sah sie trotzig an.
Sie lachte und steckte ihm sein Päckchen in die Tasche. »Halt, du vergißt ja was!« Dann nahm sie ein Glas mit Bonbons aus dem Schaufenster. »Nun greif einmal, aber herzhaft!« Und der Kleine ließ es daran nicht fehlen. Der Ladenbursche warf einen bedenklichen Blick auf seine junge Prinzipalin, als sie ihm das Glas zum Wegsetzen in die Hand gab; der Doktor aber lächelte still in sich hinein und blickte unvermerkt zurück, als er durch den Laden nach dem dahinter liegenden Zimmer des alten Friedeberg ging. –
Der kleine Greis saß aufrecht in den Kissen und zählte mit den Fingern an seinen Knöcheln, während er durch die Fenster nach dem dunkeln Packhofe sah, in dessen engem Raume er einen so großen Teil seines Lebens zugebracht hatte.
»Nun, Friedeberg,« sagte der Doktor, »laßt einmal die Rechenmaschine still stehen! Ihr habt ja Euern Stellvertreter draußen.«
Der Alte nickte, und ein sanftes Lächeln trat in das kleine faltenreiche Gesicht. »Freilich, Doktor!« sagte er, »aber es schickt sich nur nicht so recht, und der Herr Bürgermeister sehen es auch nicht gern.«
Der Doktor warf noch einen Blick durch das Türfensterchen in den Laden; dann aber nahm er den Puls seines Patienten und examinierte und schalt ihn freundlich, wie es seine Art war.
Indessen knarrte die Tür, und das junge Mädchen trat still herein, indem sie fragend zu dem Arzt hinübersah.
Dann setzte sie sich zu dem Alten auf die Bettkante und drohte ihm mit dem Finger. »Halt dich nur ruhig, Friedeberg,« sagte sie, »da les ich dir nachmittag wieder aus dem Theatrum mundi; die Belagerung Magdeburgs, oder was du sonst mir aufschlägst! – Nein, nein, sprich nur nicht! Ich weiß schon alles, was du fragen kannst. Deinen faulen Burschen halt ich auch in Respekt; es wird alles sauber eingetragen, es geht alles nach deiner Vorschrift. Und verkauft haben wir heute morgen! Ich bekomme noch die ganze Kinderkundschaft.«
»Traut ihr nicht, Friedeberg!« sagte der Doktor, »ein Viertel Zichorie und eine Tasche voll Bonbons als Draufgabe, das gibt eine schlechte Rechnung!«
Der Alte nahm ihre kleinen Finger und drückte sie zärtlich zwischen seine alten arbeitsmüden. »Lassen Sie sie, Doktor,« sagte er, »das ist eine gesegnete Hand.«
Das Mädchen lächelte. »Ja, alter Friedeberg,« sagte sie, indem sie eine kleine Münze auf dem neben dem Bette stehenden Tisch klingen ließ, »sogar einen falschen Schilling habe ich eingenommen! Du kannst ihn hernach auf deinen Ladentisch nageln; da hast du das Dutzend voll.«
»Die falschen Stücke,« erwiderte er langsam, »die sind schon alt; das war in meiner Jugend; da nahm ich auch alles unbesehen.«
Sie sah ihn mit klugen Augen an. »Es ist von meiner Kinderkundschaft,« sagte sie.
Der Doktor konnte noch nicht wegfinden. Er hatte sich unter dem Fenster auf den Drehstuhl des alten Friedeberg gesetzt und begann zu plaudern; er wagte es sogar, die junge Dame an den Contretanz zu erinnern, den sie letzthin im Kasino mit ihm getanzt hatte.
Sie hörte ihm ruhig zu. »Ja,« sagte sie, »und dann das Solo; vergessen Sie das Solo nicht!«
Der Doktor fand auch gar keine Veranlassung, das Solo zu vergessen. Er lachte; denn er sah sich selbst mit den Händen balancierend durch den Saal schreiten; aber trotz seiner kleinen kurzen Füße, er hatte doch das Gleichgewicht behalten, und das war nicht allemal so ganz geglückt. – Und dann klatschten sie ein wenig über die roten Schuhe der Frau Kammerrätin und über den mathematischen Diener seines Freundes, des Justizrats; und der Doktor lachte ebenso harmlos über die andern, wie er zuvor über sich selbst gelacht hatte. Ein paarmal, wenn die schönen Mädchenaugen so frisch gegen ihn herausschauten, versuchte er auch einen ernsten Ton anzustimmen; aber er plagte sich umsonst, es schlug ihm immer wieder alles in Spaß und Gelächter aus.
Das Mädchen, deren Hände auf ihrem sauberen Morgenkleide ruhten, musterte während dessen die kleine untersetzte Gestalt des ihr gegenübersitzenden Mannes. Es entging ihr nichts; weder die Bänder des bescheidenen Vorhemdchens, die über den Rockkragen hervorsahen, noch der ungepflegte Zustand des Haupthaares, von dem unzählige Spitzen wie Flammen in die Höhe ragten. Zuletzt blieben ihre Augen an zwei kleinen Daunen haften, die, je nachdem der Doktor den Kopf bewegte, entweder wie aufstrebende Räupchen in der Luft gaukelten oder in das allgemeine Wirrsal wieder hinabtauchten. Mamsell Sophie strich sich unwillkürlich mit den Fingern über ihren seidenen Scheitel, und in ihrem Gesichtchen zuckte es wieder wie vorhin, da sie vor dem Branntweinfäßchen kniete.
Der Doktor bemerkte nichts dergleichen. Als er aber die blauen Augen so unablässig auf sich gerichtet sah, warf er den Kopf zurück und schaute über sich und fuhr sich ein paarmal mit der Hand durch die Haare; und da er hier nichts Ungewohntes zu entdecken vermochte, so verstummte er plötzlich und schaute fest und fragend in das Angesicht des Mädchens. Allein er bekam keine Antwort. Wie ein ertapptes Kind wandte sie den Kopf; und der Doktor sah nur noch, wie es ihr blutrot bis an die krausen Stirnhärchen ins Gesicht stieg. Er wußte nicht mehr, wie er das zu deuten habe; sein Scharfsinn begann seltsame Wege zu wandeln, und eine Reihe lieblicher erschreckender Gedanken tauchten in ihm auf. Er schlug seine kleinen tapferen Augen nicht zu Boden; er wollte abwarten, daß sich das blonde Köpfchen wieder zu ihm wende.
Der alte Friedeberg sah indes von seinem Kissen, was der Doktor nicht zu sehen vermochte. Aber auch er wußte nicht, weshalb die Augen seines Lieblings und mit solchem Ausdruck von Schelmerei auf die nackte Wand gerichtet waren und weshalb sie sich mit den Zähnen den lachenden Mund festhielt. Und bevor er noch zu fragen vermochte, stand sie schon an der Stubentür, die Klinke in der Hand. »Ich muß nach deiner Suppe sehen, Vater Friedeberg!« und mit einer leichten Verbeugung gegen den Doktor war sie zum Zimmer hinaus.
Der Doktor stand vor dem Bette seines Patienten, knöpfte seinen blauen Frack zu und ließ sich noch einmal die halbgeleerte Medizinflasche zeigen; dann nahm er Hut und Stock und empfahl sich. Kaum hörte er noch das » servus, servus!«, das ihm der kleine Greis mit einer verbindlichen Handbewegung nachrief.
Vor dem Rathause begegnete ihm der Herr Bürgermeister, der mit seinem Portefeuille unter dem Arm soeben aus der Ratssitzung kam. Es war eine stattliche Gestalt; er trug den starken Kopf aufrecht und trat so fest einher, daß ihm bei jedem Schritt die wohlgenährten Wangen schütterten. – Nachdem er den jungen Arzt nicht ohne eine gewisse Herablassung gegrüßt hatte, erkundigte er sich eingehend nach dem Befinden seines alten Handlungsdieners, und so schritten beide im Gespräche mit einander über den Markt. Der Doktor aber wußte nicht, weshalb es ihm heute unbehaglich war, sich diesen huldreich zu ihm redenden Herrn als den Vater jenes hübschen Mädchens zu denken; immer wieder, bis vor der Tür des großen Giebelhauses, zu der er ihn zurückbegleitete, stand es vor seiner Seele, wie unbequem es sein müsse, diesem gewichtigen Mann eine Bitte vorzutragen oder im geheimen Zwiegespräch gegenüberzustehen.
An diesem Tage war der Doktor nicht, wie er sonst zu tun pflegte, nach dem Abendessen wieder ausgegangen; er hatte sich ein Gläschen Grog im Hause präparieren lassen und saß nun, seine Pfeife rauchend, der Mutter gegenüber an dem kleinen Wachstuchtische. Die alte Frau hatte ihr wollenes Strickzeug mit den hölzernen Nadeln neben sich gelegt und las in ihrer Bibel, im ersten Buch Mose, von der Erschaffung des Weibes: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Mitunter seufzte sie und sah nach ihrem Sohn hinüber. – »Hast du den alten Friedeberg denn bald wieder auf dem Schick?« fragte sie unter dem Lesen.
»Den alten Friedeberg? – Freilich, Mutter; er hat ja gute Pflege.«
»War denn die junge Mamsell heut wieder da?«
Der Doktor setzte plötzlich das Glas, das er eben an seine Lippen führen wollte, wieder auf den Tisch. Denn er sah sie vor sich, die junge Mamsell, wie sie vor dem Branntweinfäßchen kniete, wie sie das Hähnchen drehte, wie sie schauderte.
Die Alte hatte während des ihr Leseglas auf die Bibel gelegt; ihre Gedanken waren schon wieder um einige Schritte vorwärts. »Die würde eine alte Frau auch nicht verkommen lassen!« sagte sie seufzend und stützte den Kopf in ihre Hand.
»Ich hoffe nicht, Mutter, daß sie sich so etwas würde zu Schulden kommen lassen,« erwiderte der Doktor.
Die Alte blickte auf, als wolle sie sich versichern, wie das gemeint sei.
Der Doktor hielt ihr anfangs sein ehrlichstes Gesicht entgegen; bald aber mühte er sich vergebens, ein leises Zucken um seinen Mund zu unterdrücken; es war nicht mehr zu halten, es stieg ihm über die Wangen, in die Augen; und als er endlich das Gesicht der alten Frau von derselben Unruhe ergriffen sah, da brach es hervor, sein volles herzliches Lachen, dem weder seine Mutter noch einer seiner Freunde widerstehen konnte.
So lachten sie beide eine ganze Weile mit einander, und die Alte schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Schürze die Tränen aus den Augen. »Kind, Kind! Doktor,« rief sie, »was lachst du denn so gefährlich?«
Ihr Sohn war aufgesprungen, er nahm den Kopf der Mutter zwischen beide Hände und drückte ihn gegen seine Brust. »Mutter,« sagte er, indem er ihr auf die Wangen klatschte, »du bist eine kluge Frau! So welche gibt es heutzutage doch nicht mehr!«
»Ei was,« rief sie und suchte ihn mit beiden Armen von sich abzuwehren, »ich laß mich nicht dumm machen! Ihr habt ja doch zusammen getanzt; warum redst du nicht? Wie dann, wenn dein Vater selig auch den Mund nicht aufgetan hätte? Was treibt ihr denn, wenn ihr beisammen seid?«
Der Doktor schmunzelte. – »Geh!« rief sie, »es ist mit dir kein Fertigwerden; das kommt davon, wenn simple Leute studierte Kinder haben wollen!« –
Er ließ noch einen Augenblick die zärtlichen Augen seiner Mutter in den seinen ruhen; dann trat er an sein Bücherbrett und stöberte zwischen den bestaubten Bänden. Er suchte nach einer alten Ausgabe von Bürgers Gedichten, des einzigen deutschen Dichters, der jemals in seinem Besitz gewesen war. Da er indes den Bürger nicht zu finden vermochte, so begnügte er sich mit einer kleinen Elzevirausgabe des Horaz, die ihm aus seinen Primanerjahren zurückgeblieben war. Nachdem er den Deckel an seinem Schlafrock abgestäubt hatte, setzte er sich wieder an seinen Platz. Er begann in dem Büchlein zu blättern, bis er endlich eine der Oden aufschlug und sich ganz darin vertiefte. » Lalagen amabo!« Er murmelte die Worte halblaut vor sich hin. »Ich liebe Lalagen! Wie lächelt sie und, o, wie plaudert sie so süß!« – Und während des Lesens langte seine Hand unwillkürlich nach dem vor ihm stehenden Glase, und er las und trank, und trank und las, bis die Ode zu Ende und das Glas geleert war.
Das Blechkästchen, worin der Doktor die Ersparnisse seiner Praxis aufgespeichert hatte, stand in dem untersten wohlverschlossenen Schubfache seines Schreibtisches. Am andern Vormittage, als er von seinen Berufsgängen heimgekehrt war und während die Mutter draußen in der Küche hantierte, wurde es behutsam hervorgenommen. Er löste die Bindfäden, mit denen die Wertpapiere zusammengebunden waren, schüttelte aus einem leinenen Beutel ein Häufchen Dukaten und andere Goldmünzen auf den Tisch und notierte die einzelnen Beträge auf ein Papierblättchen. Dann, nachdem er noch eine Weile gerechnet und hierauf alles wieder an seinen Ort verschlossen hatte, ging er durch den schmalen hinter dem Hause befindlichen Garten und von dort durch die noch unbelaubte Lindenallee nach dem alten Schlosse, welches derzeit dem Herrn Kammerherrn und Amtmann zur Wohnung und zum Geschäftslokale eingeräumt war.
Der Doktor wollte den Justizrat besuchen, einen jungen Juristen, der es bislang freilich nur noch zum Amtssekretär gebracht hatte, der aber in seiner goldenen Brille und in seinem wohltoupierten Haar die später erlangte Würde so deutlich vorgezeichnet trug, daß seine Freunde ihn schon jetzt damit belehnt hatten. – Als der Doktor in das hohe düstere Wohnzimmer trat, fand er den Justizrat, in seinen türkischen Schlafrock gewickelt, mit einem Aktenstück beschäftigt, in der Sofaecke sitzen. Von oben durch die Zimmerdecke, über welcher sich die Gesellschaftsräume des Kammerherrn befanden, drangen kaum vernehmbar die Töne eines Klaviers. Der Doktor stand still und horchte; er liebte Musik, er blies sogar selbst ein wenig auf der Flöte.
Der Amtssekretär, ohne aufzustehen, nahm seine goldene Brille herunter und polierte die Gläser mit einem gelben Glacéhandschuh, der neben ihm auf dem Sofa lag. »Das hättest du Sonntag bequemer haben können!« sagte er lächelnd, »die alte Exzellenz, unsere grand' mère, träufte nur so von Gnade und Leutseligkeit. Wo stecktest du denn? Du warst doch auch befohlen!«
»Ich, Justizrat?« und der Doktor rieb sich mit seiner runden Hand das unrasierte Kinn, »du weißt, die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht gern geniert.«
»So?« sagte der andere trocken und ließ einen scharfen Blick auf seinen Freund hinübergleiten. »Aber im Schifferhause war Pickenick; unser Schreiber erzählte mir davon. Er war ja auch wohl dort?«
Der Doktor schlug seine kleinen ehrlichen Augen gegen ihn auf. »Laß das Pulsfühlen, Eduard!« sagte er und reichte ihm die Hand über den Tisch hinüber.
Der Justizrat drückte sie flüchtig, indem er zugleich die Brille wieder aufsetzte und die goldenen Stäbchen an seinen Schläfen zurechtrückte. »Nun, Doktor! Aber meine Schwester und die kleine Bürgermeistertochter hatten auf deine Flöte gerechnet. – Du verstehst dich nicht auf derlei Dinge; aber« – und er richtete sich ein wenig in seiner Sofaecke auf – »du hättest sie sehen sollen, wie sie beim Singen ihr feines Näschen emporhob, und wie im Affekt die schlanken Finger so eigensinnig in der Luft spielten!« Und der Justizrat drückte hinter seinen Brillengläsern die Augen zusammen und blickte vor sich hin, als sähe er dort alles leibhaftig vor sich stehen.
Der Doktor legte die Hand, in der er seinen Rohrstock hielt, auf den Rücken und begann plötzlich im Zimmer auf und ab zu wandeln. »Justizrat,« sagte er endlich, »du hast Geschmack, du bist mit solchen Sachen aufgewachsen.«
Der Amtssekretär zog die Schöße seines Schlafrocks noch dichter um seine etwas hagere Gestalt. »Nur weiter, Doktor,« sagte er.
Der Doktor war wieder einigemal auf und ab gegangen. »Es ist nämlich, Justizrat; du kennst doch das alte Zimmer oben in meinem Hause?«
»Freilich, Doktor; wir haben ja neulich deinen Geburtstagskommers darin gefeiert!«
Der Doktor räusperte sich ein paarmal und blieb dann vor seinem Freunde stehen: »Du mußt mir helfen, das Geräte zu bestellen!« sagte er mit einem kleinen resoluten Schwingen seines Rohrstocks. »Die Mittel sind nun beisammen, daß ich es endlich kann in Stand setzen lassen.«
»Ernstlich, Christoph?« fragte der Justizrat, während er dem andern mit unverkennbarer Verwunderung ins Gesicht blickte.
Der Doktor nickte. »Ernstlich, Eduard!« Dann setzte er sich lächelnd in einen vor dem Tische stehenden Lehnstuhl und wartete geduldig, bis der Justizrat sich erhoben und mit gewohnter Sorgfalt seinen Anzug vollendet hatte.
Nach einiger Zeit traten beide in die Werkstatt eines ihnen bekannten Tischlermeisters. – Ein Sofagestelle, für lose Polster und Lehnkissen bestimmt, war eben in Arbeit und wurde sofort erhandelt. Der Meister legte ihnen mehrere Einsatzstücke von Buchsbaum vor, aus denen der Justizrat zwei schwebende Gestalten, diese mit einer Blumen-, jene mit einer Obstgirlande, für die vorderen Flächen der Seitenlehnen auswählte; überdies ein Täfelchen mit einer Hirschjagd für die Mitte der Rücklehne. Die Furnierung des Ganzen sollte von Mahagoni sein. – Aus der Werkstatt gingen sie in das dahinterliegende Magazin, wo sie die meisten zur Ausstattung eines Zimmers erforderlichen Stücke bereits fertig und in entsprechender Arbeit vorfanden. Ein Postament mit eingelegten Stäbchen für eine Tafeluhr wurde noch bestellt; außerdem zwei Lehnsessel, von denen je einer in den tiefen Fensternischen des Zimmers seinen Platz finden sollte.
Während in einiger Entfernung von ihm der Justizrat mit dem Meister über einen großen Wandspiegel unterhandelte, war der Doktor vor einem zierlichen Nähtischchen stehen geblieben. Er hatte die Platte aufgeklappt, er bückte sich und tastete an den Rollen und Sternchen umher, die in den schmalen Seitenfächern angebracht waren, und betrachtete dann wieder mit augenscheinlichem Wohlbehagen das unter dem Tischkasten hängende grünseidene Arbeitssäckchen. Als er jedoch plötzlich das lächelnde Gesicht des Justizrats vor sich sah und daneben den Meister, der ihm den Preis des Stückes nannte und die Vorzüge der Arbeit auseinanderzusetzen begann, klappte er hastig die Platte wieder zu und erkundigte sich angelegentlich nach dem Preise eines in der Nähe stehenden Pfeifenhalters. Der Justizrat klopfte ihm auf die Schulter. »Ich seh es schon,« sagte er, »die Pfeife tut's nicht mehr allein.«
In der Tapetenhandlung, welche sie hierauf besuchten, bestand der Doktor auf einer Landschaftstapete, zu der Bernardins einst so beliebte Erzählung die Staffage geliefert hatte. Das Buch selbst kannte er nicht; aber als Knabe, da er für seinen Vater noch die fertigen Kleidungsstücke auszubringen pflegte, hatte er in dem Wohnzimmer eines reichen Kaufherrn oft eine Reihe kolorierter Kupferstiche angestaunt, in welchen die Hauptszenen dieser rührenden Geschichte dargestellt waren. Die Gestalten des etwas schmächtigen jungen Liebespaares, des alten Negers, wie er in Begleitung des großen Hundes den im Walde Verirrten mit vorgestreckten Armen entgegeneilt, waren ihm seitdem von der Vorstellung eines behaglich eingerichteten Wohngemachs unzertrennlich geblieben. Er äußerte freilich hiervon nichts; aber er ließ sich auch durch keine Einwendungen seines Freundes von der einmal getroffenen Wahl zurückbringen.
Auf ihrem Heimwege lag die Wohnung eines bei den jungen Herren der Stadt beliebten Schneidermeisters. Der Justizrat blieb stehen. »Was meinst du, Doktor,« sagte er, indem er mit seinem Fischbeinstöckchen über dessen abgetragene und übelgehaltene Kleidung hinstrich, »wir sind einmal beim Tapezieren!«
Der Doktor, wie er in bedenklichen Fällen zu tun pflegte, faßte mit der Hand in seine Lastinghalsbinde und stieß ein kurzes Husten aus. Bald aber begann er, nicht ohne eine kleine Begehrlichkeit, eine kaffeebraune Sammetweste zu betrachten, die nebst andern fertigen Arbeiten vor dem Fenster hing, und erkundigte sich bei seinem Freunde nach dem Preise und der Dauerhaftigkeit eines solchen Kleidungsstückes.
Der Justizrat, nachdem er die verlangte Auskunft erteilt hatte, glaubte eine solche anscheinend günstige Stimmung benutzen zu müssen. »Und wenn du«, setzte er wie beiläufig hinzu, »meinem Friseur noch eine Kleinigkeit zuwenden möchtest – der Laden ist hier nebenan.«
Aber er war schon zu weit gegangen; der Doktor hatte sich schon besonnen, er sah plötzlich den ganzen überlegten Plan des andern vor sich. »Wir wollen's nur dabei bewenden lassen, Justizrat!« sagte er und sah seinen Freund mit einem Ausdruck der überlegensten Heiterkeit aus seinen kleinen Augen an.
Nun wurden für eine Zeitlang Tischler und Maler in dem obern Stockwerk des schmalen Hauses geschäftig, und der Doktor stieg oft die dunkle Treppe hinauf und betrachtete den Fortgang der Arbeiten. – Wieder einige Wochen später, nachdem an Fenstern und Paneelen der rötlich graue Anstrich getrocknet, nachdem die Tapeten aufgezogen und endlich noch der Fußboden mit einem einfachen Teppich belegt war, langten nach einander auch die von dem Tischler gefertigten Geräte an. Die Mutter des Doktors stand, während sie ins Haus getragen wurden, neben ihrem Sohn im Zuge der offenen Haustür, strich sich dann und wann die grauen Härchen unter ihre Haube und betrachtete kopfschüttelnd die zierlichen Dinge. Schon ein paarmal, wenn wieder ein neues Stück angelangt war, hatte sie den Mund zum Reden geöffnet; aber ebenso oft die schon halbbegonnenen Worte wieder hinabgeschluckt. Endlich, als auch der große, aus einem Stück bestehende Wandspiegel gebracht wurde, schien sie es länger nicht verschweigen zu können. »Kind, Doktor,« sagte sie, »was machst du dir für Unkosten; so was gehört ja alles doch zur Aussteuer!« Aber der Sohn wollte ihr heute nicht standhalten; er stieg schon, als hätte er nichts gehört, hinter den Trägern die Treppe hinauf und stellte sich zu ihnen, um das Aufhängen des Spiegels zu beaufsichtigen. – In den folgenden Tagen, nachdem alle Dinge an ihren Ort gestellt waren, saß in der neben dem Hinterzimmer befindlichen Schlafkammer der Mutter eine Näherin, um die neuen Vorhänge anzufertigen; und die alte Frau, da es denn doch einmal sein sollte, ließ es sich nicht nehmen, sie selbst an die dazu bestimmten Brettchen anzustecken.
So war nun in dem Zimmer oben alles fertig, und die Mittagssonne, die jetzt schon warm durch die Fenster schien, beleuchtete an den Wänden eine fremde, aber liebliche Welt. Die Kokospalmen ragten so still in den blauen Himmel, die Papageien und Kakadus schwebten lautlos in der Luft, und in der Lianenlaube mit den scharlachroten Blüten, zu den Füßen Pauls und Virginiens, lag schlafend der große Hund. Das Sofa mit seinem Überzug von feingeblümtem Zitz stimmte wohl zu den lebhaften Farben der Tapete, und die eingelegten Figuren der Flora und Pomona in den flachen Säulen der Seitenlehne, das Jagdstückchen über dem Rücksitze hoben sich zart von dem lichtbraunen Mahagoni ab. Darüber an der Wand von dem zierlichen Postamente herab pickte die neue Tafeluhr, auf der von mattem Porzellan die spinnende Gestalt einer Parze saß; »eine rechte Doktoruhr,« wie der Justizrat sagte, der auch dieses Stück im Auftrag seines Freundes besorgt hatte. Draußen aber, an den Lindenzweigen, deren Spitzen bis an die Fenster reichten, waren schon die grünen Blätter aufgebrochen.
Fast täglich in der Mittagsstunde, wenn er von seinen Berufsgängen nach Hause gekehrt war und bis ihn seine alte Mutter zum Essen hinunterrief, pflegte der Doktor sich hier aufzuhalten. Ein sanftes Feiertagsgefühl überkam ihn, wenn beim Eintritt in das Zimmer seine Schritte auf dem weichen Teppich plötzlich unhörbar wurden. Er setzte sich dann wohl in einer der Fensternischen in den Lehnsessel und sah über den Markt hinüber nach dem großen Giebelhause und folgte mit den Augen den Käufern, die dort aus und ein gingen, oder den Kindern, die vor dem Ladenfenster spielten.
Mitunter wurde auch eine Mädchengestalt in einem hellen Sommerkleide auf wenige Augenblicke sichtbar; und wenn sie wieder verschwunden war, wandte der Doktor seine Augen in das Zimmer zurück nach der Laube Pauls und Virginiens und horchte auf das Schreien des Heimchens, das von unten aus der Küche zu ihm heraufdrang. – Oder er war aufgestanden und blickte auf das frische Grün seiner Linde oder in den blauen Frühlingshimmel nach den Schwalben, die droben im Sonnenschein um den goldenen Knopf des Turmes flogen.
Der alte Friedeberg war während dessen wieder gesund geworden, und die Besuche in dem großen Giebelhause hatten aufgehört. Aber diese glückliche Kur schien dem Arzte keine Freude gebracht zu haben; denn er ging still umher, und die Mutter klagte, ihr Doktor habe das Lachen ganz verlernt.
Die junge Dame von drüben hatte er in der letzten Zeit nur einmal wieder gesprochen. Es war eines Nachmittags im elterlichen Garten des Justizrats, die weißen Rosen waren eben aufgeblüht. Die Freunde saßen, ihre Zigarren rauchend, in der Lindenlaube, während unten auf dem Rasen die Tochter des Hauses eine Gesellschaft junger Mädchen um sich versammelt hatte. Durch die Büsche des Bosketts hörten sie das Lachen der Mädchen und den lauten Ruf der jugendlichen Stimmen.
Da, während der Doktor schweigend die blauen Tabakswolken vor sich hinblies, stand sie plötzlich vor ihnen.
»Wir sind beim Pfänderspiel,« rief sie und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. »Sie sollen Zweitritt mit mir tanzen!«
Er blickte auf. Ihr Antlitz war gerötet vom Spiel und von der Sommerlust, ihre Augen glänzten; der weiße Florschal hatte sich verschoben und hing über die Schulter hinab. – Der Doktor schwieg noch eine Weile. »Sie dürfen es mir nicht übel deuten, Mamsell Sophie,« sagte er dann, ohne die dargebotene kleine Hand zu nehmen, »ich tanzte lieber nicht.«
»Also ein Korb, Herr Doktor?«
Der Justizrat legte beide Hände auf die Schultern seines Freundes. »Doktor,« sagte er, indem er langsam den Kopf schüttelte, »ich glaube fast, die Luft in deinem Prunksaal hat dich krank gemacht!«
Der Doktor fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und er neigte den Kopf, um es zu verbergen.
»Krank?« erwiderte er, nicht ohne daß ein Ausdruck von Gereiztheit in seiner Stimme bemerkbar gewesen wäre; »du weißt es wohl, Justizrat, die Gesundheit habe ich vor euch feinen Leuten voraus.«
Die andern antworteten nicht darauf. Als er wieder aufblickte, waren die Augen des Mädchens mit einem Ausdruck von Güte auf ihn gerichtet. »Ich habe noch vergessen,« sagte sie, »der alte Friedeberg läßt Sie grüßen; er dankt Ihnen noch so sehr!«
Dann ging sie, aber im Fortgehen wandte sie noch einmal den Kopf zurück. »Ich habe warten gelernt,« rief sie, »wir tanzen doch noch mit einander!« – –
Die beiden Freunde blieben noch lange im geheimen Zwiegespräch in der Laube sitzen. Einige Tage später aber ging auch der Justizrat in auffallender Nachdenklichkeit umher; sein indisches Schnupftuch hing ihm ungewöhnlich lang aus der Tasche, und mehr als sonst schob er die goldene Brille auf die Stirn und rieb sich kopfschüttelnd mit der Hand die Augen.
Die Zeit verging; die Linde unter dem Fenster der neuen Stube stand schon in dunkeln Blättern. Dann war es eines Sonntags, früh noch am Vormittag; durch das offene Fenster kam der Klang des Orgelspiels aus der nahen Kirche. Auf einem Stuhle in der Mitte des Zimmers saß der Doktor und hörte auf einen Bericht seines Freundes, des Justizrats, der mit untergeschlagenen Armen vor ihm stand. Es mußte aber nichts Frohes gewesen sein, das er erfahren hatte; denn er blieb, als der Justizrat seine Mitteilung beendete, stumm und mit zitternden Lippen sitzen; nur zuweilen hob er die Hand und trocknete mit seinem Schnupftuch sich den Schweiß von den Wangen. Und es war doch kühl genug im Zimmer; die Sonne streifte eben erst die Fensterstäbe. – »Und weiter,« fragte er endlich, »weiter sagte sie nichts, Justizrat? Weiter nichts, als nur: Ich kann es nicht?«
»Nein, Doktor, sie hatte auf alle meine Reden nur diese eine Antwort; aber mißverstehen konnte ich sie nicht; denn sie hat es oft genug gesprochen.«
»Und weshalb,« fuhr der Doktor zaghaft fort, »weshalb – das hat sie nicht gesagt?«
Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Es war in unserm Garten, hinten an dem Steintischchen,« sagte er; »was die kleine Hand in der weißen Manschette dort auf die Marmorplatte mag geschrieben haben, das hab ich freilich nicht entziffern können; aber gesprochen hat sie nichts hierüber.«
Der Doktor war aufgestanden. Ihm gegenüber in dem großen Spiegel stand noch einmal dieselbe unscheinbare, vernachlässigte Gestalt; das wirre Haar, das runde ausdruckslose Gesicht, aus dem die kleinen Augen jetzt trübselig auf den draußen stehenden Doppelgänger hinausstarrten. Der Freund sah gespannt zu ihm hinüber. Jetzt, jetzt mußte er selbst die Antwort auf seine Frage finden. – – Aber er fand sie nicht; er wandte sich und begann zu sprechen. »Eduard,« sagte er leise, und es war, als blieben ihm die Worte in der Kehle hängen, »ich denke wohl kaum, daß es wegen meiner alten Mutter ist.«
Der Justizrat richtete sich fast wie erschrocken in die Höhe; über seine regelmäßigen und sonst wohl kalten Züge zuckte es wie etwas, das er nicht bekämpfen könne. Mit raschen Schritten, ohne zu antworten, ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor dem Doktor stehen. »Christoph,« rief er, »frage so nicht mehr! – Komm, hier! Wir beide, wir bleiben die Alten!« Und er drängte seine schlanke Hand in die kleine festgeschlossene Faust seines Freundes. – – –
Als der Justizrat fortgegangen war, stand der Doktor noch lange unbeweglich und ließ seinen Blick über die bunten Tapeten und über das zierliche Geräte des Zimmers gleiten. Dann setzte er sich an das Fenster in den Sessel und blickte mit trüben Augen auf die Straße hinaus. Der Sommerwind rauschte in den Blättern seiner Linde; drüben jenseit des Marktes in dem großen Giebelhause flatterte eine Gardine aus dem offenen Fenster und wehte in der Luft; vor der Tür im Sonnenscheine stand wieder wie sonst der alte Friedeberg in seinem leberfarbenen Rock.
Der Doktor verschloß das Fenster und verließ dann sein neues Zimmer. Als er draußen vor der Tür stand, horchte er noch einmal, wie drinnen die Uhr pickte; dann schloß er ab und nahm den Schlüssel mit herunter. – –
Kurz darauf konnte man ihn, wie auch wohl an anderen Tagen, auf dem Deichwege in die Marsch hinauswandern sehen. Aber er hatte diesmal keine Augen, weder für die grüne heimatliche Ebene zu seinen Füßen, auf der das Gras im Sonnenscheine blitzte, noch für die ans Meer fliegenden schlanken Seeschwalben, denen er sonst stillstehend bis in die weiteste Ferne nachzusehen pflegte. Als er das Häuschen oberhalb der Wehle erreicht hatte, an der er sonst wohl zu fischen pflegte, stieg er an der Binnenseite des Deiches hinab und streckte sich neben dem Wasser in das hohe Gras.
Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte bewegungslos auf das Schilf, das leis im Winde rauschte. Neben ihm um einen blühenden Distelbusch flogen zwei Schmetterlinge; Brennesselfalter, die in den Marschen häufig sind. Erst gaukelten sie lange um einander in der Luft; dann aber setzte sich der eine auf die Distelblüte, und während er zitternd die Flügel auf und nieder schlug, schwebte der andere über ihm und suchte sich ihm zu nähern. Es schien ein Paar zu sein, ein Liebesspiel, das diese kleinen stummen Sommergäste vor den Augen des neben ihnen ruhenden Menschen aufführten.
Der Doktor hatte sich aufgerichtet; seine Blicke folgten unwillkürlich jeder Bewegung der beiden Kreaturen. › Papilio urticae!‹ murmelte er. »Was das für ein glücklicher Kerl ist! – Und doch,« setzte er nach einer Weile hinzu, »ein Mannsbild höherer Gattung, so ein gewöhnlicher Engel etwa, würde hinwieder vielleicht für die kleine Sophie nichts mehr empfinden als ich für diesen Sommervogel; – – er würde sie vielleicht nur mit einer besondern naturwissenschaftlichen Neugierde betrachten und nicht ohne ein gewisses Grauen vor dem fremdartigen Wesen den ambrosischen Finger an ihre kleine Schulter legen.« – – Und nachdem er solchergestalt das Gleichgewicht seines Herzens wiederhergestellt zu haben glaubte, warf er sich auf den Rücken und starrte gedankenlos in die weißen Wolken, die über ihn hinwegzogen.
Aber der Doktor war kein Engel; die kleinen Schultern, über denen der Sommerwind mit dem leichten Flortuch spielte, das heitere, gütige Mädchenantlitz standen vor ihm und ließen nicht ab, ihn zu quälen. –
Jetzt waren viele Jahre seitdem vergangen.
Der feine Metallschlag der Uhr klang durch das Zimmer.
Der Doktor blickte auf. Er zählte; es schlug zwölf. Aber so weit in der Nacht konnte es noch nicht sein. Und jetzt besann er sich, er hatte ja vorhin den Weiser nicht gestellt; draußen vom Turm schlug es jetzt eben auch, es war erst neun Uhr. Er stand auf und blickte auf die Gasse hinaus. Der alte Kirchturm hob sich nur dunkel aus der Finsternis hervor; aber drüben aus dem großen Giebelhause drang noch der helle Lichterschein in das Dunkel hinaus. Dort wohnte sie noch jetzt, wie sie es einst getan; sie wohnte dort mit dem Justizrat, den sie im Lauf der Jahre geheiratet hatte, noch jetzt im Alter heiter und geliebt, wie sie es einst in ihrer Jugend gewesen war. Oft hatte seitdem in Tagen der Krankheit der Doktor an ihrem und ihrer Kinder Bette gesessen; er hatte auch einigemal auf Bitten seines mittlerweile zum wirklichen Justizrat avancierten Freundes an ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen; nur in den letzten Jahren war er dazu nicht mehr zu bewegen gewesen. – –
Es wurde leise an die Tür geklopft. – »Sie haben wieder geschickt, Onkel!« sagte das vorsichtig eintretende Mädchen.
Der Doktor wandte den Kopf. »Von drüben?« fragte er.
Das Mädchen bejahte es.
Er hatte sich wieder nach dem Fenster gewandt und blickte, ohne etwas zu erwidern, in die Dunkelheit hinaus. – Eine Strecke unterhalb der hellen Fenster in der gegenüberliegenden Häuserreihe, welche von einer einsamen Straßenlaterne beleuchtet wurde, zeigte sich der finstere Raum der nach dem Hafen hinabführenden Twiete. Dann und wann trat eine Gestalt in den Dämmerschein der Laterne und verschwand zwischen den Häusern.
»Ich habe nicht gesagt, daß du schon heim bist!« begann das Mädchen wieder.
Der Doktor richtete sich auf. »Nun, Christine,« sagte er, indem er seinen blauen Frack zuknöpfte, »so sag auch jetzt nichts davon. Geh! Sie sollen mich in Ruhe lassen!«
Kurze Zeit darauf trat er in Begleitung seines kleinen schwarzen Hundes in die mit Gästen angefüllte Schenkstube des Schifferhauses. »Nun, Doktor, wo bleibst du?« fragte eine etwas rauhe Stimme, und eine derbe Hand streckte sich ihm entgegen. »Setz dich auf deinen Platz!« Und dann, zu dem Wirte gewandt: »Jan Ohm, ein Glas Grog! Aber ein blasses, für den Doktor!«