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II. Teil.
Winter

Mutters Tod

 

Aus der Vergangenheit hole ich die Blüten hervor, die eingeschlossen ruhen im durchsichtigen Sarge der Erinnerung, wie die Käfer im Bernstein.

 

22. Dezember.

Das Zerstörungswerk ist vollbracht. Nackte Gerippe starren die Bäume. In dieser Nacht raste der Sturm mit Millionen griffiger Hände und heulte aus irgend einem ungeheuren Weh, als wär' er die Seele Gottes, die über die Welten jagte.

Ist das derselbe Garten, der im Sommer so blühend geleuchtet? Schnee und Regen fallen über ihn und grau wölbt sich der Himmel. Natur, in dem ewigen Wechsel lehrst du den Menschen deine geheimste Weisheit, den Glauben an die Wiederkehr des Glücks und der Schönheit. – –

Wir hatten uns wochenlang nicht gesehen und eine grenzenlose Sehnsucht nach einer Begegnung erfüllte uns. Es war Januar, die Jagden waren vorüber und keine Möglichkeit gab es, uns auf einem Schloß zu treffen.

Ich ging täglich aus, es zog mich geheimnisvoll in die Waldungen, die nahe der Fabrik lagen und in der Ferne an die Wälder von Kollins Besitz grenzten. Immer war es mir, als müßte ich ihn dort finden und ich irrte, von wahnsinnigen Sehnsuchtsschmerzen gefoltert, zwischen den alten Eichen hin, deren Kronen von Mispeln behängt waren. – Hier schrieb ich aus der Qual meiner Liebe mein erstes Lied.

Die Dryade.

Ich bin der Eiche Dryade,
Viel tausend Jahr wohl alt,
Doch glüht noch warm die Lippe
Und jung ist die Gestalt.

O komm in meine Arme,
Du trauter Erdensohn,
Dich lieb' und dir gewähr' ich
Der Liebe seligsten Lohn.

Dein Haupt, das leg' ich leise
An meine weiße Brust,
Und küsse deine Lippen
Mit trunkener Liebeslust.

Und küsse, bis dein Auge
Zu heißer Glut entfacht,
Und bis in deinem Herzen
Die alte Lieb' erwacht.

Dann sollst du der Erde vergessen
Und ganz gehören mir an,
Dann will ich zu Tod dich küssen,
Du böser, du einziger Mann.

Und als ich eines Tages wieder durch den winterlichen Wald ging, hart an der Grenze – stand Alphonse vor mir. Auch ihn hatte die Sehnsucht zu mir getrieben. Wir sprangen uns entgegen, unsere Blicke, unsere Lippen tranken, unsere Arme umfingen sich, als sollte es keine Trennung mehr geben. So still war der Wald, so weiß in seinem winterlichen Schnee – nur die schwarzen Stämme der kahlen Bäume durchzogen ihn finster aufragend. Wir aber waren zwei lodernde Feuer, die zu Einem zusammenbrannten und wußten, es gab keine Trennung mehr für sie, wohin das eine sich wandte, folgte das andere. Das war eine Leidenschaft, der Tod und Leben gleich galt, die in sich Weltall und Ewigkeit umschloß. Wir verabredeten, uns wiederzufinden bei einer alten Eiche, in deren Höhlung wir Briefe für einander bergen wollten. Sie sollte die Vertraute unserer Liebe sein.

 

... Wie die Schneeflocken treiben! Sie wirbeln durcheinander, tändeln und haschen sich in den Lüften – sehen schneeweiß aus über der Erde und grau vor den hellen Wolken. Flockige Federn aus weicher Daunenbrust – und immer neue schweben vom Himmel, als wär' er unerschöpflich an Reichtum und Lust.

Weiß schimmern die Wiesen. In den Bäumen hängt es weiß.

Kein Vogel, kein Falter, kein Mensch irrt durch den Wirbel, alles schweigt. Nichts Lebendiges als der lustige Schnee über unermessenen Weiten. Ein Flocken von Ewigkeit zu Ewigkeit. – –

Eines Tages schickte Alphonse mir ein Buch. Zwischen den letzten Seiten lag ein heller leerer Briefbogen. Ich fuhr leicht mit einem heißen Plätteisen über ihn hin und es erschien eine bräunliche Schrift. Ein paar französische Worte, mit Milch oder Zitrone geschrieben, tauchten auf und baten mich, nachmittags um drei Uhr bei der alten Eiche zu sein.

Es war tiefer Winter. Hoch lag der Schnee und noch immer flockte es weiß vom Himmel. Was fragte ich danach. Lief ich doch täglich weit spazieren, um Dienerschaft und Beamte an mein winterliches Aussehen zu gewöhnen, damit kein Mißtrauen jenen einen Weg streife, den ich von Zeit zu Zeit – ach so selten, mit hochklopfendem Herzen lief.

Die breite Straße war verschneit; ein paar Bauernschlitten kamen mir entgegen, einzelne Fußgänger, vor denen der Atem herflog wie ein Rauchwölkchen. Ihre Gesichter brannten, was auf die hohe Kälte schließen ließ.

Der Wald lag wie vergittert von einem weißen Märchenzaun. Ich trat behutsam in seine schweigende lichte Tempelwelt.

Vor mir durch den hohen Schnee liefen die Spuren des Wildes, die Fährte des Hasen, stets drei zu eins – das Hüpfende des Eichhörnchens, das Laufen des Wiesels, dazwischen der Dreisporn des Fasans – wohl auch der Zweizehenschritt des Rehs – doch keines Menschen Schritt weit und breit.

Dei dunklen Stämme hoben sich über den lichten Halden, wuchsen schwarz aus dem weißen Urgrund, über ihre Rücken kroch an der Nordseite grünes Moos in schmalen Streifen empor oder schob sich wie eine breite Decke über sie.

Kein Vogel schwirrte, alles Leben schien ausgelöscht. Eine kleine Spitzmaus raschelte am Boden unter einem dürren Blatt.

Ich ging weiter, atemlos lauschend. Nun hatte ich die Allee erreicht, in der gefälltes und gespaltenes Holz aufgeschichtet lag.

Hier zeigten sich Männerspuren, der Jäger mochte heute den Weg hingeschritten sein, nach dem Holze sehend.

Ich wollte tiefer eindringen, dorthin, wo der Eichenbestand am reichsten war.

Da ertönte ein vertrautes Sssssst! Hinter dem aufgeschichteten Holz sprang Alphonse hervor, ein lautloses jubelndes Wiedersehen. Sein Schnurrbart war vereist, dem Bilde des Winters glich der hochgewachsene Mann mit überschneiter Mütze und überschneiten Kleidern. Er trug einen Anzug von weißem dichtem Filz, eines jener Gasselkleider, in denen die Männer auf kleinen Schlitten stehend über einem roten Sattelbock, nur von einem Pferd geführt, sausend über weite Schneeflächen glitten.

Er war allein vom Hause weggefahren, erzählte er mir hastig, hatte seinen verläßlichen Diener zu Fuß vorangeschickt, der habe ihm das Pferd abgenommen und führte es langsam die ferngelegene Straße hin, indeß der Herr seinen angeblichen Jagdausflug machte.

Wir standen im Schutz unserer Eiche und schauten uns glückselig in die Augen und warfen dann wieder spähende Blicke nach allen Seiten.

»Es ist keine Gefahr«, flüsterte Alphonse, »der Weg ist heute schon vom Jäger beschritten und ein zweites Mal kommt er bei solchem Wetter nicht her.«

Wir hielten uns an den Händen und sagten uns hundertmal, daß wir uns liebten.

In mir war eine frohe Sorglosigkeit, ich fühlte nur das Glück des Augenblicks, er aber sah bekümmert in die Zukunft.

»Wenn er etwas merkt – es ist mir furchtbar, dich seinen Rohheiten ausgesetzt zu wissen.« –

»Was liegt daran!« rief ich im vollen Jubel meiner Liebe. Ich wünschte es mir, für ihn zu leiden, geschlagen und getreten hätte ich werden mögen – um seinetwillen. Jede Marter um ihn schien mir ein unerhörter Genuß.

»Es ist unmöglich, sich so selten zu sehen. Und ich mag nicht zu Euch kommen, es widerstrebt mir. Ich kann es nicht.«

Ich schaute ihn verwundert an. Liebten wir uns nicht und entsühnte uns die Liebe nicht von aller Schuld? Gab es denn überhaupt eine Schuld, wo die Liebe so groß, so unfaßbar heilig und herrlich war? Die Tat lebte nicht auf der Welt, die zu tun ich gezögert hätte um meiner Liebe willen, wenn er sie gefordert haben würde.

»Ich will deinetwegen einen Ball geben – und du mußt zu ihm kommen.«

»Ja – wir werden kommen«, sagte ich schnell und erfreut.

Sein Blick umdüsterte sich. Daß ich »wir« gesagt, hatte ihn verdrossen. Ich merkte es sofort. »Ich komme – ich komme.« –

»Ja.– das wollt' ich wissen, – ob es dir recht wäre und ob du glaubst, Franz dazu bestimmen zu können –.«

»Ich ihn bestimmen – aber Alphonse –«, sagte ich kleinlaut. »Das treff ich doch nicht – das mußt du tun! Mir folgt er doch nicht – aber dir.«

Er biß sich auf die Lippen. »Gut, ich will es tun. Ich halte das Leben nicht aus ohne dich. O Gott, o Gott, wie soll ich es ertragen!« Er sah mich nicht an, er stützte sich an den Baum, groß und schlank wie dieser gewachsen.

Ich schmeichelte mich an seine Hände, zog ihnen die Handschuhe ab, riß die meinen herunter und unsere roten frosterstarrten Finger umfingen sich und wärmten sich an dem heißen Blut, das unseren Herzen entströmte.

»O wie reich ist unsere Liebe, da sie nun auch schon eine Vergangenheit hat!« jubelte ich. »Mir kommt ein wilder rasender Gedanke: der Schöpfer möge den Inhalt unserer Seelen ineinander gießen und dann die Gefäße zerbrechen, damit keine Lippe jemals wieder deinen oder meinen Mund berührt –.« Er liebte diese heißen Ausbrüche der Leidenschaft. »Weil ich dich habe, bin ich bis über das Leben hinaus mit Glück versorgt«, schmeichelte ich wieder. Er zog mich an sich und küßte mich.

Schon sank ein leiser Dämmerschimmer zum Walde nieder.

»Es wird dunkel«, rief er erschrocken, »du mußt fort.«

Ich aber wollte so gern noch bleiben.

»Es ist nur eine Schneewolke, die über den Himmel zieht – ich kann noch bleiben –.«

»Nein, nein – dein Weg ist zu weit, wie lange bist du gegangen?«

Ich wußte es nicht. »Komm, ich führ' dich bis an den Ausgang des Waldes. – Unsere Fußspuren – freilich, die sind gefährlich, aber hoffentlich schneit es in der Nacht oder der Wind verweht sie ...«

Wir schritten Hand in Hand hin, mitten durch den Wald, immer wieder stehen bleibend, argwöhnisch lauschend und dann die seligen Blicke ineinandertauchend. Oft auch preßten die heißen Linnen sich aufeinander.

Über uns flog mit heiserem Schrei der Häher, seine blaue Flügelzier schimmerte auf.

Hier war ein Hasenlager, dort sprang ein Reh ins Dickicht. Wir zuckten zusammen, das Jägerblut pulste höher. »Ein Bock«, sagte ich mit sicherem Kennerblick. Alphonse lachte. »Du bist immer amüsant. Andere Frauen werden langweilig, wenn sie lieben und gleichen einander – du bist immer anders und irgendwie neu ... Ja – du – du!« seufzte er.

»Ich will süßer sein als alle – für dich, für dich!« jauchzte ich.

Nun blieb er stehen und ich ging allein weiter – aber so oft ich mich umblickte, lief ich zu ihm zurück und küßte ihn, bis er mich lachend bat, fortzueilen. Zwischen den Stämmen sah ich seinen leuchtenden Blick, wie ein goldenes Band hielt er mich noch lange.

Ich beobachtete scharf die Straße vom Rande des Waldes und trat erst aus dem weißen Märchengitter, bis sie leer war. Schon lag die Dämmerung über den Feldern. Wie ein grüner langer Sarg lag die Fabrik vor mir, die ich haßte. Betrunkene begegneten mir und riefen mich an. Erschrocken sprang ich zur Seite, rannte ins Feld hinaus und über Gräben und Äcker heim.

Jungfer Netti erwartete mich angstvoll. Im Zimmer brannte schon die Lampe. »Der gnä' Herr hat schon zweimal nach der Gnädigen gefragt«, berichtete sie und zog mir die schweren Stiefel herab und wärmte meine kalten Füße.

In der Nacht fiel kein Schnee, auch nicht in den nächsten Tagen. Die Wildhüter im Walde gingen der rätselhaften Doppelspur nach, der großen wie der kleinen – und als der Heger über das Feld schritt, fand er noch einmal die kleine auf, die schien eilends über Gräben und Äcker geflüchtet und in den Fabrikshof gemündet zu sein. Er teilte seine Wahrnehmung den Beamten mit und eines Tages – warnte mich Netti vor einer Gefahr.

»Ach was!« lachte ich, »Fußspuren im Schnee – die sind längst verweht!«

 

24. Dezember.

Welcher wundervolle leise Schneefall! Jeder Zweig trägt seine weiße Last. Wo sie niedersinkt von den Ästen, hat sie eine Stimme; wo sie vom Himmel schwebt, schweigt sie wie alles Ewige.

Weihnacht! Nicht der Baum macht es, nicht die Kindheit, nicht die Liebe, – irgend ein Zauber wirkt mit und wenn der gestört ist, scheint der goldene Märchenbaum nur ein Bild – für andere.

Ich blicke auf eine lange Reihe von Christbäumen – eine strahlende Allee, durch die ich geschritten bin. Ganz fern, die kleinsten sahen mich als Kind, und immer größer wuchs ich und sie. Doch Nebel umfangen die glitzernden Weihnachtsbäume der Zukunft. – – –

Den Jubel, den Jubel vergeß ich nie, der mich erfaßte, als Franz seine Einwilligung gab, den Ball zu besuchen, zu dem Alphonse uns einlud. Ich fuhr damals zu meinen Eltern und hätte aus Freude durch das offene Fenster dem Himmel zufliegen mögen. Ich sprang wiederholt auf und hüpfte, weil ich es nicht aushielt, ruhig zu sitzen mit diesem Sturm des Glückes im Herzen.

Menschen, die mich an diesem Tage sahen, sagten: »Ist das eine glückliche Frau!« Und eine griesgrämige Förstersfrau fügte hinzu: »Es wird ihr schon noch kommen – –.«

An dem ersehnten Abend traten wir in den Ballsaal. Ich sah nichts vom Wandschmuck umher, ich suchte nur zwei Augen und als ich sie gefunden, vergaß ich die Welt. Ich sprach mit vielen, begrüßte Bekannte, lebte aber doch nur, wenn ich nicht sprach, ganz Empfindung und Hingebung war, Sehnsucht und hinschmelzende Leidenschaft.

Ich tanzte mit vielen, aber mir schien als tanzte ich nur mit Einem – denn nur in seinem Arm fühlte ich mich schweben, erdentrückt. In anderen Armen erfüllte ich nur eine lästige Aufgabe.

Graf Steinberg war ohne Frau gekommen, Mimerl erwartete wieder eine neunzackige Geburt. Steinberg fand eine Tarockpartie, die war ihm lieber als der Tanz. Mein Mann spielte natürlich auch mit, nachdem er aus Gesundheitsrücksichten die ganze Damenwelt durchgeschwenkt hatte. Er tanzte mit solchem Schwung, daß die Tänzerinnen in seinem Arm das Fliegen lernten und erschöpft wie atemlose Opfer ihnen entsanken.

Mitternacht war vorüber, alle Pflichttänze und Pflichtgespräche getan, immer mehr suchte sich Jeder vom Zwang zu befreien.

Ich tanzte mit Alphonse einen Walzer, ich ruhte an seiner Brust, die stürmisch pochte, sein Hauch streifte mein Haar, seine Lippen bebten lautlos ein zärtliches Wort und ich fühlte die Seele schwingen vor Seligkeit – da rissen mit einem Mal zwei heiße wilde Augen meine Blicke an sich. Franz stand in der Türe, jähzornig und drohend. Alphonse sah mein Erschrecken, er hatte die Geistesgegenwart ruhig weiter zu tanzen, aber er hielt jetzt eine fast Ohnmächtige in den Armen.

Als er mich zu meinem Platz führte, kam Franz mir entgegen.

»Dir ist nicht wohl«, sagte er hart, »wir fahren nach Hause.« »Vielleicht erholen Sie sich bald, gnädige Frau –«, warf Alphonse ein.

»Nein, nein – es ist am besten, wir fahren gleich. Sie verträgt das Tanzen nicht.« Er betonte den Artikel.

Er führte mich weg aus dem Saal mit heftiger Raschheit. Es erregte einiges Aufsehen, danach fragte er nicht.

Bis der Wagen eingespannt war, ließ er mich im Vorzimmer unter Pelzen und Mänteln warten. Niemand war bei uns als die Frau, die mit verschlafenem Gesicht die dunklen Umhüllungen bewachte.

Franz ging erregt auf und nieder.

Auf der Rückfahrt sprach er kein Wort. Mir war, als wäre etwas Gläsernes in meiner Brust beschmutzt und zerbrochen, von rauhen Händen angefaßt, die seine Schönheit nicht verstanden. Ich weinte nicht; ich war zu tief erregt, um zu weinen, und eine seltsame Neugier hielt mich aufrecht, was wird jetzt geschehen? fragte ich mich. Wird er mich schlagen, schmähen, zertreten – morden?

Keine Silbe sprach er und starrte nur in die Nacht. Die Pferde – die prächtigen Jucker – von Thomis geleitet, griffen weit aus und jagten dem Stalle zu. Der geschlossene Wagen fuhr hart über den Schnee.

Als wir vor unserem Hause ankamen, riß Franz die Tür auf, sprang als erster hinaus, schellte heftig, schlug dem erschrocken herbeistürzenden Jean Paul das Licht fast aus der Hand und ging mit schweren drohenden Schritten in sein Zimmer.

Ich folgte langsam, ermattet. Die Jungfer nahm mir den Pelz ab. Ein rascher Blick in mein Gesicht hatte ihr alles verraten. Sie hatte Mitleid mit mir. Wie froh war ich ausgefahren mit leuchtenden Augen – und wie kam ich zurück – eine Sterbende.

Sie öffnete mein Schreibzimmer, trat an die Schlafzimmertür und fuhr zurück.

»Der gnä' Herr hat sich abgesperrt.« Ich sagte nichts. Ich nickte nur. Ich pochte nicht an die Tür.

Ich warf mein Kleid ab und kauerte mich auf meinen kleinen Divan nieder.

»Aber so können doch nicht schlafen«, sagte Netti. »Wenn im Gastzimmer nicht so kalt wär' –.«

»Netti – sag's nur niemandem«, bat ich.

»Warten, ich bring' Euer Gnaden 'was Warmes zum Zudecken.« Kläglich traf der Klang heute mein Ohr. Meine »Gnaden« hatten ausgespielt. Netti brachte Decken aus dem Fremdenzimmer und deckte mich zu.

Zwei Tage sprach Franz nicht mit mir. Ich war allmählich zum Bewußtsein dessen gekommen, was er gesehen. Es waren ja nur ein paar Blicke gewesen. Das schien er sich inzwischen selbst gesagt zu haben. Ballblicke nach Mitternacht – die zählten nicht. Ich war entschlossen, ihm das zu sagen, wenn er mir Vorwürfe machen sollte. Er aber schwieg beharrlich. Aus Bequemlichkeit – aus Furcht vor Alphonse – aus Gleichgültigkeit gegen mich? Ich wußte es nicht. –

 

26. Dezember.
Kronstadt.

Im Winter muß man nach Kronstadt fahren, wenn die Dächer lichte Decken haben und der Schnee die alten Bauten und die alten Frauen verjüngt, wenn die Landweiber ihre ehrwürdigen grauen Tücher tragen, im dreieckigen Zipf, der hinten bis an die Knöchel herabhängt, und die Stadtfrauen ihre Pelze hervorholen, die immer noch um zehn Jahre älter zu sein scheinen als die Trägerin. Ein Sommerkleid kauft sich bald Eine, einen Winterpelz nur einmal im Leben.

An Wintertagen hat die Stadt etwas unendlich Inniges, fast Fröhliches, wenn die Straßen so recht überschneit sind, vor einzelnen Häusern der Schaufler mit der Eishacke den festgetretenen Schnee wegstemmt und ihn dann auf die Straße kehrt und seine Zuschauer in den Kaffeehausfenstern dabei hat, die dankbaren Zuschauer, die so froh sind, daß es überhaupt etwas zu schauen gibt ...

Ein Falbe trabte über den Oberring. Wie gut kannte ich ihn. Vor fünfundzwanzig Jahren hat er die Mütter der heutigen Schimmytänzerinnen zu Bällen geführt. Sie können sich kaum mehr rühren, indeß er noch immer trabt.

An einer Straßenecke schwebte die Frau Landesschuldirektor am Arme ihres Gatten an mir vorüber. Sie schwebte schnell, denn sie trug ihren ältesten Wettermantel um die Schultern geschlagen und entzog sich rasch näherer Betrachtung.

Im Kaffeehaus saß bei einer illustrierten Zeitung der einzige Künstler von Kronstadt, ein Maler. Er entdeckte mich, kam zu mir und zeigte mir eine Reihe seiner Bilder, die er stets in einer Mappe bei sich trägt. Sein markantes Gesicht verlor schon an Schärfe in dieser schlafenden Umgebung.

Über die Straße ging der Lebemann von Kronstadt, hellgrau karriert. Er blieb stehen und nahm Witterung wie ein Jagdhund mit erhobener Nase ... Vergeblich! Nichts Verführerisches nahte.

Wieder war unsere Nachbarschaft aus den Schlössern in der alten Kaiserstadt, um den Karneval zu genießen.

Die Männer, denen nichts Besseres einfiel, boten einander Festgelage bei Sacher oder im Hotel Imperial. Es gab den Unterschied, daß jetzt die Herren sich als Hausfrauen fühlten und die Speisenfolgen keine persönlichen Züge hatten wie auf den Schlössern. Man aß immer nur Kaviar, Austern, Trüffel mit allerlei Zutaten; die Tischkarte des Reichtums ist bald erschöpft. Die bürgerliche Küche weist weit mehr Mannigfaltigkeit auf.

Alphonse blieb den Festen fern. Ihm war das kostspielige Treiben sinnlos, überdies vermieden wir jedes Zusammentreffen in der Öffentlichkeit, um keinen neuen Verdacht in Franz zu erwecken. Wir fürchteten, daß die Gewalt der Leidenschaft uns für Sekunden die Selbstbeherrschung vergessen lassen könnte, wie während jenes kurzen Walzerglücks. Das Wiener Leben bot soviel Ablenkung und Zerstreuung. Wir besuchten Konzerte, Theater – und saßen natürlich immer nur in Logen. Es schien uns unmöglich, ein Fest anders als von der wertvollsten Stelle aus zu genießen. Das Parkettpublikum sahen wir flüchtig an; die Galerie gab es nicht für uns; wir blickten so wenig zu ihr auf, wie wir auf eine Versammlung von Bettlern niedergesehen hätten. Wir waren unbewußt hochmütig. Den Aristokraten steckte dieser Hochmut im Blut und wir Bürgerlichen hatten rasch gelernt, noch adeliger zu empfinden als der Adel. Wir hatten die gleichen Schneider und die gleichen Gesinnungen. Ich erinnere mich, daß Baron Brück einmal auf einem Bahnhof ausrief: »Niemand drin –«, als ein Zug mit leerer erster Klasse vorüberfuhr. Die Leute der zweiten Klasse bemerkten wir nicht und die Dritte bedeutete für uns viel weniger als ein Käfig, der Tiere geführt hätte.

Selbstverständlich besuchten wir vor allem Bälle und unter diesen fesselten uns am meisten die Redouten im Opernhaus.

Prächtig war der Rahmen der Feste, die sich im Halbkranz der Logen abspielten, zwischen zwei Musikkapellen und vor einem Riesenspringbrunnen. Die Fülle bezaubernder Frauen, der glanzvolle Kreis der Männer, der Duft von Jugend und Schönheit – das Flirren der Worte und des Lachens, dies alles hatte etwas Berauschendes.

Mimerl war nur einmal zu einem Maskenball gekommen und hatte den Arm ihres Mannes nicht freigegeben. Seither ließ er sie im Hotel. Meine Schwägerin Gina und die Gräfin Mira hatten die rechten Redoutengestalten und auch den sprudelnden Redoutegeist. Einmal erregten sie mit zierlichen Fregatten auf den Häuptern, wie wandelnde Riesinnen, großes Aufsehen.

Ich trug damals einen kleinen Luftballon in österreichischen Farben auf dem Kopfe, hatte eben einem zudringlichen Kapitän zugerufen, daß er mich nur dann begleiten dürfe, wenn er sich als Ballast behandeln ließe und schritt plaudernd neben Baron Brück hin, der mich erkannt hatte und darum einen erhöhten Reiz an unserer Duzwiesprache fand.

Mein Luftschiff war leicht zu finden, es schwebte immer über allen Häuptern. Mein Mann folgte dauernd. Nie konnte ich im Gewühl entschwinden. Ich nahm mir vor, ein nächstes Mal kein so hochstrebendes Symbol zu wählen.

Mit einem Mal erblickte ich Alphonse an seiner Seite. Franz hatte mich ihm offenbar verraten und nun sah ich seine Augen mit Verwunderung auf mir ruhen. Ein paar lustige Worte, die ich eben zu dem liebeschmachtenden Brück sagen wollte, erstarben mir auf den Lippen.

Alphonse blieb diesmal bei meinem Mann und beteiligte sich nach dem Ball an unserem gemeinsamen Mahl. Auch Brück hatte sich uns angeschlossen. Er saß neben mir; das war mir unbehaglich. Alphonse hatte den Platz mir gegenüber. Er spielte den Seichten, Witzigen und Lustigen. Ich ward irre an ihm. Denn wenn ich auch an diesem Abend die Leidenschaft aus meinem Wesen ausgeschaltet hatte, da brach doch wieder ihre Flut über mich herein, als ich Alphonse vor mir sah.

Die Grafen und mein Mann stritten über die Pferde, über ihre Frauen sprachen sie nie. Ihre Pferde liebten sie eben ...

Alphonse wechselte später seinen Platz mit dem des Grafen Steinberg und setzte sich an Ginas Seite und das entzückende Weib warf seine Netze über ihn. Ich litt Qualen der Eifersucht und Brück klagte über meine verlorene gute Laune.

Als wir gegen Morgen uns erhoben, trat Alphonse rasch zu mir und legte mir den Kragen um die Schultern ... »Sie sind wirklich eine sehr amüsante Frau«, sagte er mit verbindlichem Lächeln. »Ich bitte Sie um Verzeihung. Ich habe Ihnen seit langem Unrecht getan – ich nahm Sie ernst – kleine Frou-Frou.« –

Ein wenig verwirrt und betäubt kam ich nach Hause. –

Bei unserer nächsten Zusammenkunft schloß mich Alphonse glühender denn je in seine Arme.

»Ich bin toll vor Liebe zu dir –«, sagte er. »Ich kann mich nicht mehr erretten. Wahnsinnig gelitten hab' ich letzthin auf dem Opernball um dich. Mein Freund hat leicht reden: ›Man darf keinen Schmerz in die Liebe legen‹, sagte er mir noch heute. Kein Weib ist das wert –, Frou-Frou – bist du auch nicht den Schmerz wert, den ich um dich leide?«

Ich sah ein fremdes Funkeln in seinen Augen, eine seltsame Begierde. Er hatte die Ehrfurcht vor dem Weibe in mir verloren, er sah nur das kokette, mit Liebeleien tändelnde Weibchen, das in seliger Weinlaune, berauscht von billigen Erfolgen, die Sinne der Männer an sich gerissen hatte.

Er nahm mich nicht mehr ernst. Er zog mich in die Niederungen der Leidenschaft und ich, außer mir vor Schmerz, um ihm meinen Ernst zu beweisen – ward in jener Stunde seine Geliebte.

»Nun sind wir für ewig verbunden«, sagte ich leise. Er sah mich überrascht an, als hätte ich ein Wort ausgesprochen, an das er noch nie gedacht. Da er meinen Ernst bemerkte, erwiderte er schnell: »Auf ewig – gewiß, ja, ja, mein Kind – auf ewig –.«

In mir dämmerte eine furchtbare Erkenntnis. Erschrocken starrte ich ihn an und sein verbindlich zärtliches Lächeln. Also nicht auf ewig – er hatte daran nie gedacht – eine vorübergehende Laune vielleicht – eine Liebschaft – kein heiliger Bund! – Mein Opfer war umsonst gebracht!

»Auf ewig – ja, mein Lieb«, sagte er jetzt, ernst werdend, als er meine wachsende Blässe bemerkte. In mir aber war eine Saite zerrissen: der Glaube an die Ewigkeit der Liebe.

»Wie du eigen lächelst«, sagte er mit einem Mal, »so stolz, so abweisend kühl – so überlegen. – Was hast du nur? Du bist immer anders, als man dich erwartet –.«

Ich schob seine Hände leise zurück. Da schaute er staunend zu mir auf mit dem Blicke, der aus Niederungen kam. Ich aber wandte mich weg von ihm, und fühlte, daß er mir nachsah wie einer Entfremdeten.

 

2. Januar.

Staunend betrachte ich am Fenster die Eisblumen. Befiederte Stiele schieben sich ineinander, Blüten und Farren mit langgerispten Blättern. Formen der Urwelt in weißen Kristallen, – Zeichnungen des Kosmos. Und wieder andere, die im Schatten liegen, zeigen Flechten und Moose, wie in Feuchte wuchernd. Bald erscheint ein Urwald, geflochten von Zweigen und Ästen, erstarrt zu unlöslicher Verschlingung ... Dort hebt sichs wie vom Grund des Meeres in lichten Korallengebilden, eine unentwirrbare Krone tragend. Hier ist es wie ein plötzlich erstarrter Kampf, eine Flucht der Besiegten, verfolgt von den Siegern, – angstvolle Finger, die sich spreizen, harte Griffe, die ihnen folgen. Eine Orgie ausgebreiteter Arme, bereit jubelnd zu umfangen – und vereist vor dem Genuß.

Die weiße Welt der Urnebel ist niedergesunken; ihre Urkämpfe, ihre Ursiege offenbarend auf einem Fenster, wie die Sonne ihr Leuchten offenbart in glitzernden Tautropfen. –

Ich wurde mit der Zeit eine Geliebte von sprühender Laune und mit ganz feinen überraschenden Geistesblitzen – wie Alphonse lächelnd behauptete.

Die Freude an der Gegenwart, die Zuversicht in die goldene Zukunft und ein Himmel in der Vergangenheit bildeten eine Perlenkette von Glück.

Wenn wir in unserem kleinen Heim zusammengekommen waren in einer verlorenen Vorstadt von Wien, ich einen Blumenkranz mir aufs Haupt setzte, auf das goldene hochgeringelte Haar, und ihm den Champagnerkelch entgegenhob, Frohsinn, Glück und Liebe auf den Lippen und keine lästige Sehnsucht mehr im Herzen, rief er staunend: »Kind! Wie reizend bist du! – Wie entzückend dir die Blüten stehen! – Das kann nur das zarteste, jüngste Gesicht wagen.«

Ich aber war mir eines Wagnisses gar nicht bewußt. Die Blumen, die er gebracht, zum Kranz zu formen und mir aufs Haupt zu setzen, war eine natürliche Regung des glücklichen Weibes.

Wir sprachen nur französisch, er liebte die französische Sprache und wollte es vermeiden, daß wir vor anderen im Deutschen uns ein Du entschlüpfen ließen.

Der französische Geist perlte mit dem französischen Wein zugleich. Zog Alphonse mich aufs Knie und umklammerte mich, da war ich erschrocken und enttäuscht. Das fand er hinreißend – dies Erschrecken war ihm noch bei keinem Weibe begegnet, und er sprang auf und hob mich in seine Arme, meinen Hauch erstickend.

Wenn ich neben ihm lehnte und zu ihm aufsah und Worte der Zärtlichkeit fand, die meinem Herzen entblühten wie Blumen einem dunklen Erdreich, empfand ich sehnsüchtige Kräfte sich aus mir entwickeln, mit einer fremden Schönheit, die ich nie geahnt. Mein Leben wuchs in dieser Liebe, mir war als strahle ein Licht aus meinem Körper, und ich fühlte es tief in mir: Ja, ich war die Grande amoureuse – die große Liebende. Ich hatte endlich den Geist gefunden, der meine irdischen Grenzen zu himmlischer Unendlichkeit löste.

Allmählich verlöschte in mir die Empfindung meiner Schuld. Es kam mir ganz selbstverständlich vor, daß ich einen Freund hatte, einen Amant. Hatten wir nicht fast alle Diamanten? Mit einem Witz lehnte man die Schuld ab, schwang sich über sie hinweg.

Jeder Frau, die ich unglücklich sah, wünschte ich innerlich einen Geliebten, mit der Treuherzigkeit der Güte.

Vom eigenen Glück hätte ich ihr geben mögen. Die Arglosigkeit der Schuld erfüllte mich. Ich hätte lächelnd von Verbrechen zu Verbrechen eilen mögen.

»Je suis un ange tombé – mais excessivement bien tombé«, schrieb ich Alphonse.

Das ist die Eigentümlichkeit des Weibes, daß, wenn es fällt, es tiefer fällt als der Mann.

Alphonse empfand Qualen, wenn mein Mann ihm die Hand drückte, – ich ging mit einer Natürlichkeit, einer Selbstverständlichkeit täglich an der Seite meines Mannes schlafen.

Die Schuld hatte alle Schärfe für mich verloren.

Der wiederholte Betrug hatte mich unempfindlich gemacht für die Niedrigkeit, die ich beging. Mein Mann hatte die Liebe verworfen, die ich ihm entgegengebracht mit offenem hungernden Herzen. Er hatte sie verworfen und so gab ich sie einem Anderen und das königliche Geschenk meiner Leidenschaft dazu.

Dem Gatten aber nahm ich nichts, das ihm gebührte, er behielt, was ihm der Buchstabe des Gesetzes verschrieben.

Daß er eine hohle Form in den Armen hielt, deren Inhalt mit göttlichen Flügeln längst davongeflogen war, das wußte er nicht und nach den Flügeln fragte er auch nicht.

»Betrüge mich, wenn du willst – es ist mir gleichgültig«, sagte er mir, »aber hüte dich, daß die Welt es erfährt!«

Eines Nachmittags um 5 Uhr erwartete mich Kollins im Fiaker auf dem Neuen Markt. Er war eben mit dem Zuge angekommen. Der Winter hat diese Wohltat für heimlich Liebende, daß er die Dunkelheit früh niedersenkt, die ihre verborgenen Wege beschützt.

Alphonse wollte mich nur für einen Augenblick sehen und später den Abend mit mir zubringen.

Ich ließ ihn fast eine Stunde lang warten. Eine Kleiderprobe hatte mich so lange zurückgehalten. Als ich zu ihm in den Wagen sprang, sah ich, daß er verdrossen sei. Er reichte mir einen Veilchenstrauß.

»Verzeih –«, rief ich, »daß ich so spät komme – die Schneiderin hat mich nicht fortgelassen –.«

»Die Schneiderin? Ach so!« sagte er argwöhnisch. »Wie heißt sie denn?«

Ich nannte einen der ersten Namen in der Modenwelt.

»Natürlich!« er biß die Lippen.

»Und abends – verzeih – kann ich nicht kommen –.«

»Was du nicht sagst. – Weshalb denn?«

»Ich muß zu meiner Schwägerin Emma. Franz wünscht es absolut. – Ich konnte mich nicht freimachen. Ich habe dort schon so oft abgesagt.«

Jedes Wort war wahr. Alphonse aber glaubte nicht eines. Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf. Er sah mich mißtrauisch an, er stieß mich von sich, er wandte sich ab von mir und starrte auf die vorübergleitenden Häuserreihen, durch deren Straße der Wagen sauste.

»Die Schwägerin – die Schwägerin – ich bin ein Tor – ich hätte alles längst durchschauen müssen. – Brück ist ja auch seit gestern in Wien – nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht«, stammelte ich, erschrocken vor seinem wilden Schmerzensausdruck.

»Natürlich – du wirst es mir doch nicht sagen – so unbesonnen bist du nicht. – Ach, ich weiß genug – ich weiß genug. – – Adieu, meine Gnädige – unterhalten Sie sich gut – bei Ihrer Schwägerin –.«

Er öffnete die Tür, reichte dem Fiaker ein Silberstück und stürzte fort.

Ich blieb betroffen, gab dem Kutscher eine Adresse an, zu der er mich führte, dort nahm ich einen zweiten Wagen, um meine Spur zu verwischen.

Man erwartete mich schon bei meiner Schwägerin. Ich war zerstreut und befangen. Die brave dicke Frau, die den ganzen Tag im Schlafrock die Klinken putzte, beobachtete mich argwöhnisch mit ihren halberloschenen Augen und sagte dann zu Franz: Du – paß auf –.«

Am nächsten Morgen brachte mir ein Dienstmann einen Brief. Alphonse teilte der »gnädigen Frau« mit, daß er soeben ganz unerwartet von Wien abgerufen werde und darum die Vereinbarung für den heutigen Ball nicht einhalten könne.

Ich wußte genug. Er verließ mich. In einer Stunde ging sein Zug. Atemlos, meiner Sinne kaum mächtig, von einer furchtbaren Angst getrieben, kleidete ich mich rasch an und raste auf den Bahnhof.

Im Wartesaal erster Klasse fand ich ihn. Er zuckte zusammen, als ich eintrat. Wir waren allein. Die Bilder des Kaisers und der Kaiserin blickten auf uns nieder. Ich bat Alphonse, mit mir in das kleine Nebenzimmer zu treten. Hier erfaßte ich seine Hände, ich beschwor ihn zu bleiben, ich schwur ihm, daß er mir Unrecht tue, daß ich nur ihn liebe, nur ihn geliebt habe in diesen zwei holden Jahren.

Er schüttelte den Kopf. Ein rasender Schmerz durchzuckte sein Gesicht, die Augen waren wieder verfallen, die Haut gelb, von fahlem Leid durchrissen, – ich erkannte, daß abermals Herzkrämpfe ihr Zerstörungswerk an ihm begonnen, wie schon einst.

»Ich muß mich losreißen von dir«, murmelte er, »ich gehe zu Grunde an dir.«

Und er blieb starr, hart, unbeugsam. Einen Augenblick lang glaubte ich ihn besiegen zu können – da trat im Nebenzimmer der Türhüter ein und rief den Zug aus.

Alphonse stürzte von mir fort. Ich hatte ihn verloren. Aber noch gab ich die Hoffnung nicht auf.

Ich spähte ihm nach und als er eingestiegen war, folgte ich ihm rasch. Die Türhüter kannten mich, ich wurde durchgelassen und stieg in den gelben Wagen ein, in dem er saß.

In einem Halbabteil hielt ich mich verborgen.

Erst da der Zug Wien verlassen hatte, kam ich hervor und schlich den Gang hin, nach Alphonse spähend.

Ich sah ihn allein sitzen, das Haupt gegen die roten Kissen zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, einen unsagbaren Schmerzenszug um die Lippen.

Wollte er schlummern? – Träumte er?

Ganz leise suchte ich die Tür zu öffnen, doch das Geräusch weckte ihn, er fuhr auf. Ehe er noch eine Bewegung machen konnte, stand ich vor ihm – nein, ich stand nicht, ich lag vor ihm, weinend, flehend, schluchzend, mit erhobenen Armen. Er hörte mich nicht an – ich las in seinen Augen die wahnsinnige Angst vor meiner Macht – und er wollte sich nicht betören lassen – er hatte sein Manneswort vor sich selbst verpfändet.

Mit furchtbarer Entschlossenheit sprang er zum Fenster, riß es herab und öffnete von außen, sich tief hinausbeugend, den Drücker der Tür.

»Noch ein Wort mehr«, rief er, »und ich springe aus dem Zug.«

»Öffne – öffne!« schrie ich außer mir –, »so springen wir beide in den Tod!«

Aber dazu hatte er keine Lust. Er wandte sich um, da sah ich in seinem Blick einen Funken glimmen, den ich noch nie dort gesehen: den Funken der Abneigung. Er war nun die Liebe satt. Ein Spiel war sie ihm gewesen, nichts mehr. Ich hatte ihm vielleicht nur den willkommenen Anstoß gegeben zu einem längstvorgesehenen Bruch. Diesen schönen günstigen Anlaß wollte er sich nicht entgleiten lassen. – Jetzt erst erwachte mein Stolz und rang meine Liebe nieder.

Ich sah Alphonse mit einem großen erstaunten, verstehenden Blick an und sagte: »Ich hatte geglaubt, du wärest mein Leben, doch du warst nur eine Stufe, aber eine solche, die nach aufwärts führt ...!« Mit einem unergründlichen Lächeln grüßte ich ihn ein letztes Mal und ging für immer von ihm. – Was andere gestürzt hätte, hob mich empor und gab mir eine Weihe, die Weihe der Lebensreife.

An meiner unseligen Liebe ward ich zur Dichterin. Ein alter Philosoph, Bartholomäus von Nori, der mir aus unserer Wiener Glanzzeit befreundet war und in meinen Versen eine starke lyrische Begabung erkannte, übernahm meine Führung. Ich sandte ihm alle Strophen, die aus mir hervorquollen im mystischen Drang nach Erlösung aus qualvollen Nächten. Und der alte Mann, der selbst Dichter war, fand ein neues Glück darin der jungen Begabung die Reiche der Kunst zu weisen. Trotz seiner schweren Leiden, die man seinem edlen zerquälten Haupte ansah, lehrte er mich die wahre Schönheit suchen. So ward die Dichtkunst mir Retter und Erlöser. Herr von Nori ebnete mir die Wege zur Öffentlichkeit. Bald wurden Schriftsteller und Zeitschriften auf mich aufmerksam. Man sprach von mir, man verlangte meine Beiträge. Die ersten Schriftleiter der Wiener Blätter sagten: »Die Gedichte der Valerie Schellenberg nehmen wir blind ...« Als mein greiser Freund meinen ersten Gedichtband herausgab und bald darauf ein führendes literarisches Blatt einen großen Artikel über das kleine Buch brachte unter dem Titel »Eine neue Dichterin«, war der Erfolg des Werkchens besiegelt und seine Auflage in sechs Wochen vergriffen.

Ich aber neigte mich in demütiger unermeßlicher Freude über die Hände meines gütigen Freundes, der meinem Leben einen Stern entzündet, dessen Licht mir für immer leuchten sollte.

 

12. Januar 1911.

Wir sind ausgefahren. Ich liebe das Schellengeklingel über dem Schnee. Die silbernen Glocken, die noch meiner Mutter geläutet, streuen zarte Melodien in das weite Land und es ist, als kehrten sie wieder aus der Ferne zurück. Ein Silberglanz liegt in der Luft.

Die Glocken klingen anders im Feld als im Wald – dort flattern sie auseinander – hier haben sie etwas Gefangenes, Starkes. Die Bäume horchen auf – ist es ein neuer Vogelsang, der über sie hinzieht?

In der Ferne ragt das Schloß aus dem lichten Grund – ein Märchenpalast mit weißen Dächern und ein paar goldblitzenden Fenstern. Diamantensplitter über dem Schnee. Keine Frühlingslandschaft ist so zart wie ein Wintertag im Hain.

Ich gedachte eines verschneiten Waldes, den ich einst durcheilt mit dem leichten Schritt des bangenden Rehs, das Herz glühend, den Blick zur verheißenden Ferne gewandt, – und ich fühlte noch immer das Brennen der alten Narbe.

Noch hoffte ich heimlich auf einen Brief von Alphonse. Wenn ich mich härmte über sein Schweigen, dann brauchte ich nur sein Bild anzusehen und ein Zauber umfing mich, es war mir, als hielten seine Augen mich gebannt, als lägen Trostesworte auf seinen Lippen. Und las ich seine alten Briefe, dann senkte sich der Bann noch tiefer um mein Herz und ich fühlte, daß Leben und Tod für mich in diesem Mann sich verdichteten zu einem einzigen Sehnsuchtsschrei, der in meiner Seele verhallte.

Und ich liebte diese Qualen, dies leidensvolle Träumen in die Ferne, den Schmerz, der im Herzen brannte wie mit höllischem Feuer und nie gestillt wurde, wenn auch Tränen auf das Feuer niederfielen, als wollten sie es löschen, doch sie entflammten es noch mehr, wie brennendes Öl.

Das Warten wurde immer unerträglicher. Es hatte die ganze Not der Verzweiflung in sich. Eines ohnmächtigen Trotzes, der sich auflehnen möchte und doch sich duckt und lauscht und hinaushorcht in die Nacht, ob denn das Ersehnte noch immer nicht käme. Alles hatte ich erwartet – aber nicht das Eine – das Eine, so völlig vergessen zu werden. Sechzig tote leere Tage lebte ich hin in dem einzigen Gefühl des Wartens, des Harrens auf einen kleinen Brief, eine Karte – ein Wort. Die Unsicherheit hatte etwas Mordendes. O, daß ich den Schleier der Zukunft nicht durchreißen konnte, nicht einmal in den nächsten Tag zu sehen vermochte! Wie sollte ich die schwerste Enttäuschung, den bittersten Schlag meines Lebens verwinden?

Und wieder kamen Augenblicke der Zuversicht, des gläubigen Vertrauens, der Hoffnungsseligkeit. Hatte er mir nicht so viele Beweise seiner Liebe, seiner Bewunderung und Anbetung gegeben? Hatte ich ihn nicht völlig beherrscht – hatte er sich nicht meine Beute genannt, der so gern mein Herr geworden wäre? Konnte ein vielleicht verlorener Brief so schnell das ganze Gebäude meines Vertrauens erschüttern, zum Zerfall bringen? Wie kleinlich war ich – wie frauenhaft klein in meinem Kleinmut, meinem Bangen, meiner Furcht. Vielleicht wird morgen schon alle Sorge von mir genommen sein und ich werde lächeln mit jenem Lächeln, das er liebt!

So schwankten meine Gedanken zwischen Hoffen, Furcht und Verzweiflung.

Es war mir sehr willkommen, daß meine Schwägerin Gina mich um jene Zeit aufforderte mit ihr in die Schweiz zu reisen zu den bayrischen Königsschlössern. Meine Beschreibung dieser Fahrt, anfänglich nur für die Familie bestimmt, erschien im Druck und erregte Aufsehen durch ihre vollendete Form und die Schärfe ihrer Beobachtung. Wiener Literaten nannten sie die »Offenbarung eines neuen Talentes in Österreich«.

Ich wollte mich jetzt völlig der Kunst widmen.

Da griff eine Hand jäh in mein Schicksal und riß es aus seiner Bahn: Wir waren eines Morgens verarmt.

Jetzt weinte Franz und ich blickte ihn schweigend an. Ich konnte ja nicht fassen, was ich hörte. Nun stand ich der Erfüllung einer einstigen Sehnsucht nahe: hatte ich mir doch im Anfang meiner Ehe gewünscht arm zu werden, um Franz meine ganze Liebe beweisen zu können. Die Gelegenheit bot sich jetzt trefflich.

In der nächsten schlaflosen Nacht kam mir ein rettender Gedanke. Ich jubelte. Das Jubeln war mir immer so nahe.

»Wir haben ja noch mein Heiratsgut, Franz«, rief ich. »Damit können wir jetzt etwas Vernünftiges anfangen!«

Er gab darauf ruhig zur Antwort: »Das ist längst ausgegeben ...«

Ich schrie laut auf – Ausgegeben! Das Wort traf mich wie ein Beil.

»Ja – ausgegeben.« Der Spargroschen meiner Eltern, in Jahren mühsamen Fleißes unermeßlicher Arbeit erworben, war verschwendet in Jagden und Festlichkeiten, Fahrten und Bällen, Karten und Pferden, Hunden, Kleidern! Stück um Stück war das wertvolle Eiland, auf das wir hätten flüchten können in den Stunden der Gefahr, zerfallen und zerbrochen, ins Meer geglitten und wir trieben haltlos umher, armselige Schiffbrüchige.

Jetzt kam mir das große Unglück ins Bewußtsein, das der Tod meines Schwiegervaters, der vor vier Jahren gestorben war, für Franz bedeutete – mit ihm hatte er allen Halt im Geschäftsleben verloren.

Wir befanden uns in Wien, als Franz die Nachricht erhielt, daß seine Wechsel protestiert worden seien. Er hatte mir nichts von der drohenden Gefahr gesagt. So hilflos waren wir, daß wir den Speisenträger im Gasthof nach einem Advokaten fragten. Er nannte uns Dr. Bacher, einen Stammgast des Hotels. Dieser war zufällig ein ausgezeichneter Rechtsanwalt und ein ehrenvoller Charakter.

Ich kannte ihn schon lange vom Sehen. An jedem Nachmittag um drei Uhr nahm der sorgfältig gepflegte Junggeselle mit den damenhaft weißen Händen und dem schwarzgewellten Haar an einem kleinen Tische sein überreiches Mahl ein.

Dr. Bacher blickte mich forschend an, als wir in seinem von dunklen Plüschmöbeln überfüllten Zimmer saßen, vor dem großen geschnitzten Schreibtisch und den Bücherständern mit den langen Reihen juristischer Werke.

Ich sagte Dr. Bacher, daß wir reiche Freunde hätten, o so viele! daß ich mich an sie wenden wollte. Er lächelte eigen. »Sie können es immer versuchen«, meinte er. »In meiner Praxis weiß ich allerdings –«, aber er verschonte mich mit den Erfahrungen seiner Praxis.

Da Franz nur weinte und völlig versagte, fuhr ich mit Dr. Bacher zu unsern reichen Freunden, von denen viele damals in Wien waren, um den Karneval zu genießen. Als ich mit dem Anwalt im Wagen saß, sagte mir der ernste Mann, ohne mich anzusehen: »Merkwürdig – gnädige Frau – mit Ihnen allein in einem Fiaker zu fahren – wie sehnlichst hab' ich mir das oft gewünscht – denn ich kenne Sie schon lange – vom Sehen – und nun bin ich allein mit Ihnen – und es ist alles so ganz anders –.«

Er blieb im Wagen, während ich meine Besuche machte. Zuerst lief ich die Stiege empor zum Grafen Steinberg.

Der hatte eine prächtige Wohnung in einem Palaste mit allen den Kostbarkeiten, die ich so gut kannte.

Er hieß mich herzlich willkommen. Er war stärker geworden, seine Lippen waren noch wulstiger. Mimerl hatte nichts von ihrer Bedeutungslosigkeit verloren. Im blauen Kattunkleid sah sie wie ein schlechteres Stubenmädchen aus. Sie merkten meine Verstörung, fragten nach dem Grunde und rückten teilnehmend zu mir.

Ich saß auf dem Sofa, wie damals bei meinem ersten Besuch – aber ich trug kein kirschrotseidenes Kleid und keine Monatsrosen dufteten in chinesischen Schalen. Auf den Gesichtern meiner Freunde lag sorgendes Bangen, doch als ich das Wort dreißigtausend Gulden genannt – da rückte die Gräfin wie von einem elektrischen Strom getroffen von mir weg zur Seite und auch dem Grafen gab es einen Riß, wie wenn die Patrone zu scharf geladen gewesen wäre in dem Gewehr, das er an die Wange gehalten. –

Wie mit einem Schlag war ich die Freundin nicht mehr, sondern eine – Bittstellerin, eine lästige, fast unverschämte.

Die Gräfin stand auf, der Graf suchte Ausflüchte, er wollte mit seinem Rechtsfreunde sprechen ...

Langsam schritt ich zu dem meinen in den Wagen zurück.

»Nun?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich wußt' es ja«, sagte Dr. Bacher, »aber ich wollte Sie nicht enttäuschen.« Es wäre besser gewesen, er hätte mir die größere, herbere Enttäuschung des Selbsterlebens erspart.

Wir fuhren zu meinem zweiten Freund, dem Grafen Mira. Der war vermutlich schon vorbereitet und ließ sich verleugnen.

Ich dachte an Alphonse. Nur einen Rat wollte ich von ihm hören, auf welche Weise der Konkurs abzuwenden wäre! Merkwürdig übrigens – ich hatte das Wort nun schon so oft gehört. Anfänglich schien es mir wie ein Ungeheuer mit offenem dunklen Rachen – nun aber fand ich bereits, daß Musik in dem Laute läge und ich wiederholte ihn mir: Kon-kurs. –

Ich telegraphierte an Alphonse, er möge kommen, ich wünsche dringend mit ihm zu sprechen.

Die Antwort war schnell in meinen Händen: »Bedaure lebhaft, habe heftigen Schnupfen.« So wies er meine Bitte zurück.

Die Freunde hatten versagt. Es blieb mir nichts übrig als zu den Verwandten meines Mannes zu fahren. Zu den reichen, gutmütigen Verwandten, von denen wir so wenig gehalten hatten, als wir selbst im Reichtum steckten.

»Das hat mehr Aussicht auf Erfolg«, meinte Dr. Bacher. Franz lag weinend auf dem Sofa. Er hatte jeden Halt verloren. »Machts, was ihr wollt's«, klagte er und so reiste ich allein.

Es war kein leichter Weg. Die Verwandten, kleine Beamten und Gutspächter, die längst wußten, weshalb ich käme, hörten mit Genugtuung meine Klagen und Bitten, sie ließen mich lange klagen und noch länger bitten. Die Frauen in altmodischen Kleidern mit schlecht geformten Brüsten, luden mich zu Tisch ein, gaben mir Kaffee, ließen mich Kuchen essen und sprachen manches höhnende Wort. In meinem gequälten jungen Herzen häufte sich Verzweiflung und Bitterkeit.

Dann gaben sie endlich nach, die Guten, gesättigt von meiner Demütigung – und schossen zusammen, um die Summe zu erreichen, die den Konkurs abwenden konnte. Und merkwürdig! die am bedürftigsten waren, gaben das Meiste! Doch die meinem Herzen am nächsten gestanden, hatten mich am härtesten verwundet. Der Konkurs aber war fürs Erste vermieden. – –

Nun dachte ich über mich nach in den einsamen Stunden, die ich zu Hause in Ruppin zubrachte. Ich sagte mir, hätte ich Franz beobachtet, da würde es mir wohl aufgefallen sein, daß er bedrückt war! Aber ich sorgte nicht über mein eigenes Herzeleid hinweg. –

Monate vergingen. Mit mir war eine Änderung vorgegangen – und auch mit Franz.

Er saß jetzt stundenlang in meinem Zimmer, die Fußspitzen leicht auf und nieder wippend. Er schwieg und ich träumte – oder weinte ...

Alphonse besuchte seinen Freund, weil es sich so schickte. Sie sprachen von Geschäften. Hörte ich die Stimme des noch immer Geliebten, dann war es mir, als zerbräche mein Leben, als ströme der süßen Sünden Flut über mich herein. So hab' ich nie geliebt wie zu jener Zeit und niemand je wieder so geliebt wie den eisernen Mann, den ich einst in meinen schwachen Händen hatte zittern und beben sehen, den Höfling von vollendeter Haltung, in dem ich die wilde Bestie der Mannheit geweckt. –

 

30. Januar.

Ich habe alles Böse genossen, die Schurkerei, wie das Verbrechen. Ich habe meine Seele durch jeden Sumpf gepeitscht. Aber immer wieder fand ich reine Fluten, die allen Makel von mir nahmen, daß ich ihnen entsteigen konnte, lächelnd, mit flutendem Haar.

Eine Seele, die nicht durch alle Schrecken der Unterwelt geflohen ist und alle Ungeheuer der Tiefen kennt, vermag sich zu keiner stolzen Reinheit zu erheben. Nur der Wissende kann groß sein. Nur das Edelmetall, das starre, zerschmolzene Schlacken in sich trägt, kann Kraft erlangen. Das Gold allein ist weich und biegsam – der Bronzeguß trotzt den Zeiten.

Die kleinen Verwandten hatten geholfen. In großzügiger Weise legte die noch fehlende Summe meine Schwägerin Gina auf den Gabentisch, – galt es doch, ihren Lieblingsbruder zu retten, der in ihrem herrlichen Schloß den Glanz und Schliff des vollendeten Edelmannes erhalten hatte. Sie spendete unter Freudentränen; am nächsten Tage jedoch, wohl nach der Rücksprache mit ihrem General, bat sie mich unter Tränen der Angst um eine Bürgschaft meines Vaters ...

Das Leben hätte nun unter einfachen Verhältnissen sich weiter abspielen können, wenn nicht ein neuerlicher Schicksalsschlag hereingebrochen wäre. Als ich eines Tages von einer Ausfahrt heimkehrte, fand ich eine seltsame Verzierung auf allen meinen Spiegeln, Schränken, auf dem ganzen Wohngerät. Ich verstand sie nicht, die kleinen Wappen, die so treulich grüßten und erfuhr, daß der Steuerexekutor dagewesen sei und alles gepfändet habe. Franz hatte mir noch einige der Gläubiger verschwiegen gehabt. Ich schrieb verzweifelt an meinen Vater, der sofort das Geld erlegte, worauf die Siegel verschwanden. Doch die Sache ward bekannt und bei dem Ansehen, das wir in der Gegend genossen, auch genügend erörtert. Die neuen Aktionäre der Zuckerfabrik wurden aufmerksam, Geschäftsfreunde meldeten sich. Ratgeber in der Art, wie Graf Steinberg sie gehabt, ehe er auf das Zureden des letzten seine Güter verkauft und damit den eigenen Boden unter seinen Füßen mutwillig zerstört hatte.

Diesen Ratgebern dankte es Franz, daß er mit einem Male drei Teilhaber im Geschäft hatte. Oft genügt einer, um einen Mann zu Grunde zu richten, – hier teilten sich drei in das Werk.

Der gute schwache Franz und die drei Compagnons! Ein halber hätte genügt, ihn zum Sturz zu bringen ...

Ich sah es wohl, aber ich kannte nicht die Gefahr. Sie umgarnten ihn mit Vorschlägen, sie zwangen ihm ungünstige Verfügungen auf, verkauften ihm Patente, führten den schwachen, harmlosen, innerlich von jedem Geschäft angewiderten Mann auf das Glatteis listiger Verträge, ja in wichtigen Augenblicken wandten sie sich sogar schmeichlerisch an mich, baten mich, meinen Einfluß auf Franz geltend zu machen und zeichneten mir die krummen Wege vor, auf die ich ihn führen sollte.

Der erste Kompagnon, Hugo Lechner, Tuchfabrikant aus Iglau, katholisch, war lang und mager; er hatte einen dunkelblonden Schnurr- und Knebelbart; Typus Don Quixote.

Der zweite Kompagnon, Moritz Mucker, der Witzige, war Geschäftsmann in Brünn, zehnmal klüger als der Erste, klein und rund, trug einen braunen Kaiserbart und hatte sich kürzlich zum Protestantismus bekannt.

Der dritte, Karl Strecker, dreißigmal klüger als beide zusammen, war der Erfinder in der Gruppe. Er machte jede Woche eine Erfindung, patentierte sie, ließ seine Kompagnons an ihr teilnehmen, wenn sie schlecht war, und behielt ihre Vorteile allein, wenn sie sich günstig zeigte. An Franz hatte er sich mit liebevoller Freundschaft angeschlossen, wie sich die Mispel der stammkranken Eiche anschließt. In ihm sah er den rechten Nährboden für seine Erfindungen, in der von ihm geleiteten Zuckerfabrik die durch Schicksalsfügung für ihn vorherbestimmte Versuchskammer. Strecker war ein tüchtiger Mann, ein starker, strenger Geist. Er hatte nicht das Abenteuerliche von Nummer Eins, nicht das behaglich Schwabbernde von Nummer Zwei, nicht das kavaliermäßig Gleichgültige von Franz. Er war ganz starrer, starker Wille, ein Mann von Stahl; seine Gestalt war klein, aber ebenmäßig, seine Nase scharf und gerade, sein reiches braunes Haar gewellt. Seine Augen blickten stahlhart, seine Lippen waren immer fest geschlossen, schienen auch geschlossen, wenn er sprach. Er vergaß Schlaf und Essen, wenn er im Bann einer Erfindung lag. Er blieb einmal 36 Stunden lang bei einem neuen Apparat in der Fabrik und schickte die Speisen unberührt zurück. Er war von einer erschreckenden Kraftfülle – der ganze Mann eine elektrische Batterie.

Als einmal der Fabriksverwalter sich einer Erfindung Streckers unvorsichtig genähert hatte und das Messer der Maschine seinen Finger wegschnitt, packte Karl Strecker die verletzte Hand und schrie entzückt auf: »Ein prachtvoller Schnitt!«

 

2. Februar.

22 Grad Kälte! Wir waren auf diesen schweren Winter gefaßt, denn die Imker hatten ihn prophezeit. Die Bienen haben ihn in ihrer Sprache vorausgesagt. Wer ihn den Bienen verriet? Die Blumen, die Halme, die Gräser, oder winzige, dem bloßen Auge unsichtbare Larven, Käfer, Sonnenflügler?

Wir stehen vor einem der hunderttausenden, tiefen Geheimnisse der Natur.

Wir erkennen, daß wir nur wenig wissen von den Reichen, die uns umgeben, daß einzelne Organe der Tiere weit feiner, weit schärfer sind als unsere. Wo bleiben unsere Augen verglichen mit den siebentausend Augen der Biene, den dreizehntausend der Drohne, unser Geruchsinn neben den Geruchsempfindungen der Bienen? Unsere klägliche, dauernde Fortpflanzung neben dem einmaligen Hochzeitsflug der Bienenkönigin? – – –

Die drei Teilhaber suchten meine Gunst zu gewinnen. Hugo Lechner, der stets in großen, rotbraun karierten Anzügen reiste, schenkte mir zwei mottenzerfressene Teppiche, die er aus seiner Wohnung in Iglau fortbringen wollte; Moritz Mucker lobte meine Verse, was noch billiger war. »Sie lehnen sich an Heine an – ich wollte, ich wär' der Heine!« Er machte immer einen Witz. Der Witz war eine Begleiterscheinung seiner Geschäfte, rundlich und behäbig wie er.

Karl Strecker brachte mir Blumen und schwieg.

Immer häufiger kamen die Kompagnons und ließen sich die kleinen Festmahle schmecken, die meine berühmte Sacherköchin kochte.

»Bei Ihnen hält sich das Obst schlecht –«, sagte Herr Mucker und schälte sich eine hellgelbe Ananasreinette.

»Wieso?« fragte ich erschrocken.

»Der Herr Gemahl ißt es zu schnell auf –.«

Karl Strecker redete fast nichts.

Um diese Zeit bekam Franz den Größenwahn. Er träumte von ungeheuren Reichtümern, die ihm zufallen würden auf Grund des letzten Patentes, das Karl Strecker ihm und seinen beiden Teilhabern verkauft hatte. Ich sehe ihn noch heute mit siegendem Ausdruck in mein Zimmer treten. »Jetzt hab' ich einen Vertrag unterschrieben, der mich entweder riesig reich macht oder zum Bettler.« Ich fürchtete das Letztere.

»Aber wenn es gelingt, wenn es gelingt – und keiner von uns zweifelt daran, dann werde ich in zwei Jahren den Baron Obernthal fragen, was seine Herrschaft kostet – die hat prachtvolle Hirschjagden – weißt du?«

Ich nickte. Ich wußte es. Was ich aber nicht wußte war, daß nur mein Mann den Patentpreis bezahlt hatte mit seinem letzten Kredit, Lechner und Mucker aber ihre Einzahlung von dem Erfolg der Erfindung abhängig gemacht hatten. Das nötige Kapital zu den Versuchen stammte – von Franz und ich habe Ursache zu vermuten, daß schon von diesem Kapital verschwiegene Prozente an die nichtzahlenden Teilhaber erflossen ...

Einmal hatte ich einer geschäftlichen Unterredung vom Nebenzimmer zugehört.

»Der Direktor Schellenberg kann nicht zahlen!« krähte der magere Teilhaber Lechner verzweifelt.

»Wieso kann er nicht zahlen?« fragte mit fester Stimme Kompagnon Mucker. »Er hat einen reichen Schwiegervater. Der Koronski ist guuut!«

Dies »Guuut« hatte eine eigene Betonung und klang lange in mir nach.

Wieder schien es, als ob noch alles geregelt und geleimt werden könnte. Mein Vater unterschrieb Wechsel. In einer kleinen Wiener Stube war es: sie hatte kaum Raum für die vielen schmalen Blätter, ich legte sie auf Tisch, Stühle, Bett, damit der Name fein trockne und nicht mit dem Löschblatt verletzt werde. Neben mir stand der zweite Teilhaber Moritz Mucker vergnügt lächelnd und schob meinem Vater die grauen Blätter unter die Feder.

Mein Vater hätte keine baren fünftausend Gulden hergegeben in seiner Sparsamkeit, aber Blättchen unterschrieb er für das Zwanzigfache. So groß war das Vertrauen des alten Geschäftsmannes in die Besserung der Lage und die Worte der beiden Teilhaber und des Erfinders, die ihm ungeheure sichere Verdienste für die Zukunft vorgegaukelt hatten.

Die Wechsel meines Vaters waren guuut. Die Kompagnons meines Mannes steckten sie ein.

Vergeblich warnten die langjährigen treuen Beamten der Fabrik ihren Direktor, das gefährliche Spiel weiter zu treiben und den unbekannten Erfinder, von dessen Erfolgen noch niemand etwas wußte, und der noch vor fünf Jahren Platzmeister in einer kleinen Zuckerfabrik gewesen war, eine derartige Machtrolle einzuräumen in dem hochangesehenen Unternehmen von Ruppin. Allein Franz hörte auf keinen. Sein Glaube an Strecker war unerschütterlich. In Einem täuschte er sich nicht. Strecker hatte es später wirklich zu Weltruf und schwerwiegendem Reichtum gebracht und besaß einen Palast auf der Ringstraße in Wien.

Nach den ehernen Gesetzen der Natur mußte der Stärkste sich am stärksten entwickeln, die Schwachen aber dienten nur zur Betätigung seiner Kraft.

 

12. Februar.

Ich ging durch das Dorf. Auf den Dächern der Hütten ruht Schnee, auf den Zäunen lastet er und umflicht sie mit weißen Girlanden. Sonderbar sehen die schwarzen Männlein und Weiblein aus, die über die Straße wallen, so dunkel, so fremd, als gehörten sie gar nicht in die helle Winterwelt.

Stehen kleine Kinder vor dem Haus, dann ist es, als wären auch sie hieher verschneit, dunkle Flocken, die herabfielen aus rätselvollen Wolken und über die lichte Erde, bis die Sonne sie auftrinkt und zurückzieht in ihr himmlisches Reich. – – –

Die Aktionäre hatten sich in höflicher Weise für ihren Direktor bedankt. Wir kehrten zu meinen Eltern zurück und die goldene Jagdzeit in den gräflichen Revieren war zu Ende. Das vornehme Leben mit einem Schlage vorbei.

»Jetzt wirst du dir keine Kleider mehr um zweihundert Gulden machen lassen können«, hatte meine reiche Base Jetti gezischt und eine kleine Weiberfreude glühte in ihrem dämonischen Blick. Wie schade war es um solchen Blick – für solche Freude.

Die Hausnäherin meiner Mutter nähte nun meine Kleider und wendete die wertvollen Stoffe und schnitzelte sie zu neuen Gewändern zusammen.

Ich war ein wenig mager geworden und ein wenig blasser und da jeder fragte, ob ich nicht krank sei, begann ich mir die Wangen mit Johannisbeersaft rot zu schminken, um die lästigen Frager loszuwerden. Sofort rühmte jeder mein gutes Aussehen. So leicht sind die Leute zu täuschen. Franz saß jetzt stundenlang an meinem Schreibtisch und sah mir zu, wenn ich schrieb. Er störte mich dabei ein wenig durch seine große, gewaltige Gegenwart, aber ich trug die Störung gern. Ich hatte ihn lieb. Er war so hilflos. In jener Nacht, ehe ich von Wien zu den Verwandten gefahren war, hatte er sein eisernes Bett in mein Hotelzimmer getragen, wie ein Kind sein Spielzeug, und sich mir ganz nahe gebettet und mich seine Zärtlichkeit fühlen lassen, seine schmeichelnde Stimme, gerade als wäre ich seine Hündin und nicht seine Frau. Und als wir zu den Eltern fuhren, bot er mir seinen Platz an und fragte, ob ich das Rückwärtssitzen im Stehen auf den Bahnhöfen vertrage? Er war jetzt immer gut und herzlich zu mir und nicht aus Berechnung, sondern weil er fühlte, daß er niemand habe als mich allein.

Nun ging er als Volontär zu einem behäbigen, warmherzigen Gutsdirektor, einem Nachbar meiner Eltern, der Franz aus Gefälligkeit zu sich nahm. Der neue Wirtschaftseleve kaufte sich viele landwirtschaftliche Bücher und Notizbücher, um seine Erfahrungen einzuschreiben. Gelernt hat er nichts, doch viel gegessen hat er und viel Bier getrunken und dann und wann gejagt.

Mich ergriff ein jäher Schmerz, wenn ich mein Leben von einst mit dem Leben von jetzt verglich – meinen stolzen Mann als armseligen Schüler in der Verwalterwohnung eines kleinen Meierhofes auf ungestrichenen Dielen hausen sah. Aber ich schwieg.

»Bist du so leichtsinnig oder so stark, daß du nie klagst?« fragte mich meine Mutter. Ich war vielleicht beides.

»Mein Herzblut möchte ich für dich geben und du schweigst immer –.«

Ich saß an meinem Schreibtisch, dichtete, spannte Seidenhüllen um mich wie die Raupe und verdichtete mich im Vergessen.

An jedem Sonntag kam Franz zu Besuch. Ich holte ihn vom Bahnhof ab. Nichts hat mich je so erschüttert, als den großen Mann schwach und zaghaft aus einem schmalen Abteil der zweiten Klasse aussteigen zu sehen, mit scheuem Blick, schüchtern, verloren, in der Sorge, daß ein Bekannter ihn bemerken könnte. Er war nicht sorgfältig gekleidet wie einst und wenn er zu mir trat, mit angstvollen Augen spähend, ob er in den meinen Groll oder Güte läse, wenn er sich dann in den Wagen neben mich setzte war mir, als sei ich an einen Gefangenen gekettet.

Meine Mutter sagte mir: »An jedem Abend solltest du deine Seele erheben zu etwas Großem, Unermeßlichen, zum Weltenraum und den Sternen, zu dem Urewigen. Da kommt dir dann unser Gott vor, als wenn er der Mittler wäre zwischen Jenem und uns, jenes Höchsten heiliger Diener, dem wir unser Glück und unser Leid anvertrauen dürfen. So herrlich ist es jener Urkraft zu gedenken, die dich ins Leben schickte. An einem Lichtstrahl glittest du nieder und ins Licht schwebst du einmal empor ... Winde dir ein Seil aus den vielen, vielen Abendgedanken an ihn, ein Seil, geflochten aus Träumen und Ehrfurcht, an dem du dich einst festhalten kannst, wenn deine Seele in das große Schwanken kommt, in das Loslösen der Körperschale – daß du schmerzlos und getröstet hinaufziehen kannst in die Ewigkeit des Allerhöchsten.

Wenn du so deine Gedanken jeden Abend für ein paar Minuten zur Größe stimmst, wie klein wird dir dann manche Sorge scheinen, die dich am Tage bedrückte – ein Höhenlicht wird dir werden, vor dem vieles verschrumpft, was dir erschreckend erschienen ...«

Baisée rief mich nach Wien. Ich wollte nicht hinfahren, aber meine Mutter sagte: »Fahre – fahre – man darf nicht verschimmeln auf dem Lande. Wenn man einmal Schimmel angesetzt hat, ist es schon zu spät.«

Und ich fuhr. Franz wollte mich nicht begleiten, wollte sich ihr nicht so zeigen. Er schämte sich.

Baisée besuchte mich gleich nach meiner Ankunft im Hotel.

Ich sehe sie noch auf und niedergehen, wie von einer inneren Unruhe getrieben. Manchmal blieb sie stehen und sprach zu mir. Sie war größer geworden und schlanker. Über den zweiundvierzig Zentimetern Taillenweite hob sich der volle runde Busen. Auf dem kastanienbraunen Haar schillerte der rote Schimmer, den die Sonne beim glutenden Untergang über die Natur wirft. Baisées Augen flackerten, die Oberlider blieben unsichtbar, es war, als zuckten die unruhigen Blicke unmittelbar unter der Stirn hervor, die Nasenflügel der ein wenig zu starken Nase bebten – die vollen Lippen hatten einen verächtlichen Zug bekommen.

»Ich danke dir, daß du gekommen bist«, sagte Baisée. »Schade, daß Franz dich nicht begleitet hat – ich hätte ihn gern wiedergesehen. – Daß er verarmt ist, macht ja nichts – er wird sich wieder hochbringen, oder werden es deine Eltern tun. Schade um ihn – er war töricht, aber gut. Ein Kind. Das hast du gar nicht so gemerkt. Du hättest ihn leiten müssen, aber du liebtest ihn – und liebende Frauen sind immer schwach. – Und als du ihn nicht mehr liebtest, da hattest du kein Interesse mehr für ihn. – Er ist das Opfer einer anfangs allzu zärtlichen und später allzu gleichgültigen Frau. Man lebt so oft aneinander vorbei. Dein Franz war mir eine große Enttäuschung – ahntest du, wie es um uns stand?«

»Ich wußte, wie toll er in dich verliebt war«, sagte ich offen.

»Es war noch mehr dabei. Ich weiß nicht, warum ich es dir bekenne, es ist eine sonderbare Begierde in mir, dir alles zu sagen. Vielleicht habe ich dich nur darum nach Wien gerufen, um dir zu beichten. Ich habe Sehnsucht nach dem großen Reinemachen in allen Kammern des Herzens. Darum gestehe ich dir heute meine Liaison mit Franz. Sie hat nicht lange gedauert. Ich wechsle meine Liebhaber schnell, weißt du. Sie sind mir zu fad. Wenn ich eine Eroberung komplett habe, ödet sie mich an. Mit Franz hielt ich es acht Wochen aus, dann machte ich Schluß. Ich hatte mir etwas für meine Seele von ihm erhofft und fand, daß er für raffinierte Frauen, wie ich es bin, nichts zu geben hat, als seine Sinnlichkeit –.«

»Mir gab er nicht einmal die –.«

»Armes Kind. – Er hätte nicht eine so unschuldige Frau wählen sollen, wie dich. Ich habe dich beobachtet – erst mit Mitleid, später aber empfand ich Hochachtung vor deiner Natürlichkeit. Es ist ein Kern in dir, der sich durchsetzen wird. Du verzeihst mir, daß ich dich hintergangen habe?« Sie hielt mir die Hand hin. Ich nahm sie.

»Ich verzeihe dir.« Wie weit lag alle Eifersucht hinter mir.

»Ich danke dir. Nun mache ich auch mit Wien Schluß. Wir fahren in zwei Tagen nach Ägypten. Ich bin froh, weißt du, denn mich langweilt hier alles. – Ich hab' alle meine kleinen Affären abgewickelt.«

Sie nestelte an ihrer Taille und zog eine Menge zerknitterter Liebesbriefchen unter ihrem Busen hervor.

»Das wagst du so zu tragen?« rief ich erschrocken.

»Ach Gott, warum soll ich es nicht wagen. Zu Hause hatte ich sie zwischen Spitzen und Bändern liegen – meine Stubenmädchen lasen sie vielleicht – Fery ist nicht indiskret. Ich suche doch auch nicht in seinem Schreibtisch nach. – Interessiert mich so wenig, was er treibt, wie er sich für solche Zettel interessiert. Steht doch in allen dasselbe. – Sei so gut, verbrenne sie – mir ist auch das schon zu fad.«

Ich warf die Blätter in den Ofen. Sie verschränkte die Arme und sah zu, wie sie verglimmten.

»Asche – Asche – hie und da ein kleines zischendes Schlänglein – das ist alles. Meine Mutter hat mir gestanden, daß ich im Rausch gezeugt bin. Und Frauen, die im Rausch gezeugt sind, fassen das Leben wie einen Rausch auf. Du – ich habe die Liebe satt. – Wer weiß, vielleicht bin ich moralisch an deinem Franz zerbrochen!«

»Welche quälenden Gedanken! Du bist nicht ganz wohl!« meinte ich besorgt.

»Ach – ganz gesund bin ich.« Sie stellte sich vor den Spiegel, nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete sich die Augenbrauen nach. Ich sah ihr verwundert zu.

»Ja, meine Liebe, von nichts wird nichts«, sagte sie und ging wieder auf und ab. »Ich bin jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und habe alles genossen – alles – mir kann die Welt nichts mehr Neues bieten – weißt du, das ist ein trostloser Gedanke. – – Zwischen geschiedenen Eltern aufgewachsen, schon das war ein Unglück – und Fery hat das gleiche erlebt, darum haben wir uns das Wort gegeben, gleich als wir uns verlobten, daß wir uns nie – nie scheiden lassen werden, wenn wir auch noch so unglücklich würden, denn wir wollten unsern Kindern nicht antun, was wir selbst gelitten haben – – ja, ja! Meine Kinderzeit war schrecklich. – Mit zwölf Jahren führte mich Mama auf Hausbälle – mit dreizehn Jahren verliebte ich mich in Fery, mit vierzehn verlobte ich mich heimlich. – mit fünfzehn sagte ich es Mama – die war glücklich, daß sie mich bald los würde – die Arme – sie ist ja eine schöne Frau. – – Ja, ja, wie die Zeit fliegt – nicht wahr? – mit sechzehn hab' ich geheiratet und nun bin ich sieben Jahre verheiratet ... Was man da alles erlebt! Nun, du weißt es so gut wie ich, aber du hast mir nie etwas gesagt davon – du hast eine gewisse – sehr kluge Diskretion gegen dich. – – Ich hab' dir vieles gesagt, anfangs – aber nicht alles – denn das sagt man später nicht einmal sich selbst –.«

In ihrem schwarzen Samtkleid mit den kostbaren, schmutzigen Spitzen am Ausschnitt, der braunroten Matratze über der niedrigen Stirn, – Fery nannte so ihr reiches gekraustes Haar – den weißen Zähnen hinter den blutroten ungeschminkten Lippen und den immer nach Duft gierigen Nasenflügeln sah sie zauberhaft aus. Viel reizender, als da ich sie zum ersten Mal gesehen, sie reifte der Schönheit entgegen.

Sie lehnte die Arme zurück und sagte: »Aber nun bin ich müde – müde – müde all des Unsinns bis zum Sterben. Meine kleine Tochter sagte gestern: ›Die Mami lumpt den ganzen Tag –‹, das hat sie jedenfalls von der Schwiegermutter gehört. Aber Maman irrt sich – ich lumpe nicht – ich laufe nur herum – atemlos, unruhig, herrenlos – wie ein armer verlassener Pintsch. Und mich hat doch niemand verlassen – im Gegenteil – ich verlasse alle. Nur Fery nicht. Ich habe ihn jetzt zu der Reise bestimmt und er hat ganz gern eingewilligt – ihm ist ja dies Leben auch schon fad. – Es ist immer dasselbe – –.«

Sie saß jetzt da im tiefen Hotellehnstuhl aus billigem grünen Samt, die Augen weit aufgerissen, den Blick ins Fenster gerichtet, als suche sie über dem ergrauenden Himmel irgend einen Punkt, dem sie nachfliegen könnte.

Ihre schmalen Hände mit den langen hungernden Fingern hingen über den Lehnen. »Du siehst meine Hände an. – Die Ringe sind fort, die Ringe mit den blauen Saphiren – du weißt –. Gestern hab' ich sie weggeschenkt, einer armen Kusine gefielen sie – da gab ich sie ihr – –"

Ein Erbteil ihres Vaters, welche törichte Großmut im Verschenken!

»Was könnte ich denn dir schnell geben?« rief sie hastig. »Da – nimm – nimm –.« Sie nestelte eine Brosche mit einem großen Brillanten ab von ihrem Kleid. »Behalte sie – du machst mir eine Freude damit –.«

Ich nahm sie gerührt und dankte.

»Wozu hab' ich all das Zeug. Mich langweilt sogar der Schmuck – ein trauriges Zeichen für eine Frau – glaub' mir! – Aber jetzt erzähl' mir von dir – wie lebst du – was macht Franz –«, sie lächelte lustig, in Erinnerung verloren. »Damals auf der Fahrt – das Spiel mit meinem Zopf – weist du noch? – Ich dachte mir übrigens, daß du nicht schläfst und blieb vorsichtig. Hätte ich gewußt, daß du uns nicht beobachtest – hätte ich wirklich eine Tollheit begangen und den Franz wie rasend geküßt. – Ich hatte Lust dazu – aber – ich sah dich blinzeln. – Ach ja – es war eine hübsche Zeit – das liegt nun alles so weit hinter mir, als wäre es vor hundert Jahren gewesen. Damals vibrierte ich noch – jetzt vibriere ich längst nicht mehr. – Grüß mir den Franz –.«

Ich versprach es.

Daß ich von mir erzähle, darauf wartete sie nicht. Ich hätte auch wenig zu sagen gehabt. Sie wußte ja alles mit dem ersten Blick, mit dem sie mich ansah. Blässer war ich und mager und trug ein Kleid, das im Hause genäht war, einen Hut, viermal modernisiert, die gleichen Ringe wie einst, die gleichen Diamanten in den Ohren – aber alles verstaubt, von einer dicken Provinzschicht – und mein einst so sprühendes Wesen war ernst, meine Rede karg, kein Witz mehr, kein lustiger Einfall.

Nein – ich hatte weder Glück noch Stern, das sah sie sogleich, – weder Gatten noch Liebhaber – versimpelt, verbauert war ich. Ein Segen nur, wenn ich es selbst nicht spürte ... Sie ersparte es mir gern, von mir zu erzählen, fürchtete vielleicht, daß ich dadurch zum Bewußtsein mancher Tatsache käme, die mir noch verschleiert war. Das feine Hotelzimmer verbarg nicht das Eine, Schreckliche: »Verarmt!« Da sie aus Mitleid noch nicht fortgehen wollte, begann sie zu erzählen: »Ich war in diesem Sommer in Zakopane. Die ganze polnische Gesellschaft ist eigentlich eine Gesellschaft von Franzosen – j'ai fait la pluie et le beau temps. – Ich warf meine Handschuhe in die Luft und die Herren suchten sie mit den Lippen aufzufangen. Wenn ich rief: ›Wer am schnellsten eine Semmel aufißt, der darf mir die Wette kauten! Ich war der Neid aller Frauen und schließlich hat mich alles gelangweilt – sogar der Neid, der doch die amüsanteste Begleiterscheinung des Erfolges ist – – –. Ich hab' Verse geschrieben, aber mit den Füßen kenn' ich mich nicht recht aus. Das verstehst du besser. Ich hab' überhaupt einen Riesenrespekt vor deiner Gelehrsamkeit. – Du hast halt eine gute Gouvernante gehabt.« – Sie suchte mich durch die Vergangenheit über die trostlose Gegenwart zu trösten. – »Ich hab' eigentlich gar nichts gelernt, niemals gebüffelt, alles nur so spielend in mich aufgenommen, die paar Sprachen und ein paar G'schichteln. – – – – Meine Eltern haben keine Zeit für mich gehabt – weißt du übrigens, daß Papa eine Villa in Schwarzau gekauft hat?«

»Ich habe davon gehört –.«

»Ja, ja – das war auch das Klügste – was wollte er mit der Mimerl in Wien machen, in ein Konzert oder ein Theater war sie nicht heraus zu bekommen, sie hat schließlich nur noch Klinken geputzt. Ihre Kinder sollen sie miserabel behandeln. Jetzt wohnt der Papa in Schwarzau, das heißt, er ist den ganzen Tag in Wien, kennt eine Menge zweifelhafter Künstler, mit denen er die Abende und halben Nächte zubringt – du weißt, er hatte immer ein faible für die Halbkunst. Der Graf Mira hat sich zurückgezogen, er denkt da ein bischen vornehmer als Papa. Seine Frau ist schöner als je. – Du kanntest sie doch so gut?«

»Ja, wir waren eng befreundet –.«

»Eine Zeitlang hattet Ihr sogar denselben Liebhaber –«, lachte Baisée.

Ich stutzte. »Das weiß ich nicht –«, sagte ich verletzt.

»Meine Großmama – weißt du, die Mutter von Maman, ist endlich gestorben. Mein halbes Leben hat sie mir verdorben durch die ewigen Rücksichten, die man auf sie nehmen mußte ... Maman hoffte, kolossal zu erben, aber da hat sie sich gründlich verrechnet. Es blieb nur soviel, daß wir davon einmal im Monat in die Konditorei Demel gehen können. Papa unterstützt jetzt wieder Maman, was er ja nobel tut. Er besucht sie auch oft, wenn er in geschäftlichen Sachen einen Rat braucht – die Mimerl mit ihrem Hendlg'hirn kann ihm nicht helfen, wie er behauptet ... Was sagst du übrigens dazu, daß er Olschau verkauft hat?«

»Ja, ich war ganz außer mir, als ich es hörte –.«

»Es war so sonderbar. Kaum hatte dein Mann den Krach mit der Zuckerfabrik, ging auch in Olschau alles drunter und drüber. Die Wirtschaftsräte von Papa haben alles verdorben. Ich habe sie immer zum Besten gehalten. Der letzte, den du noch kanntest, der dicke schwammige Kerl, der so oft sagte: ›Es kommt alles anders als man denkt –‹, hat seinen Wahlspruch zur Wahrheit gemacht. Papa hoffte, er würde ihm die Güter retten, er aber hat im Gegenteil sie einem Großindustriellen verkauft. – Unter den alten Wappenschildern unseres Geschlechtes fahren jetzt ehemalige Knoppernhändler aus und ein ... Lieber sind sie mir als die Bastarde meines Vaters ...« Sie stand auf.

»Jetzt leb wohl, Kleine«, sagte sie herzlich und küßte mich. »Ich schreibe dir bald. Sei froh, daß du auf dem Lande lebst. Die Stadt ist zu fad. Ich geh' ihr durch. In vier Tagen sind wir auf dem Meere – Herrgott – das gibt vielleicht eine neue Sensation –.«

Sie schlüpfte behende in die schwarze Samtjacke, ich schmiegte ihr den Chinchillakragen um den Hals. Sie schob den Muff über die Hand. So vornehm sah sie aus, so hinreißend mit der brennenden Gier, die nun wieder um ihre Lippen schwebte.

»Eine neue Sensation!« seufzte sie. Wie ein junges, hungerndes Tier stand sie vor mir, die weißen kleinen Zähne blitzten auf, die Augen loderten.

»Adieu – Adieu – a rivederci. – Ich danke dir noch, daß du gekommen bist. Das war lieb und gut von dir, und die höchste Zeit, denn morgen reisen wir ab. Direkt nach Alexandrien. Heute abend gehe ich noch –« sie neigte sich zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr. Ich fuhr zurück. »Das kannst du nicht – es ist zu gefährlich –!«

»Ach, mir geschieht nichts – und anderes bleibt mir nicht übrig –.«

Ich habe Baisée nicht wiedergesehen. Eine neue furchtbare Sensation brachte ihr die Reise. Sie lernte Einen kennen, dem sie noch nicht begegnet war, vor dem es kein Widerstreben und kein Entrinnen gab. Er nahm die Bebende in seine Arme und schloß ihr ruheloses Leben.

Baisée starb am 7. März auf der Überfahrt nach Alexandrien an einem hitzigen Fieber, der Folge einer Fehlgeburt. Der verzweifelte Gatte senkte die sterbliche Hülle seiner jugendlichen Frau ins Meer. Und die jagende Unrast einer zitternden Seele stillte die wogende Tiefe.

 

20. Februar.

Sonnenuntergang ... Über den blauen Himmel wallen Wolken, Völker von Wolken, Kinder, Erwachsene und Greise mit flatternden grauen Bärten, – Wolken, die rot aufglühen und andere, die in Schatten zerfließen, solche, die einsam hinziehen und Gruppen mit fliegenden Gewändern, wie auf den Deckengemälden der alten Schule. Ach! der Himmel hat eine so alte Schule! Alle streben dem Lichte zu, grimmige Ungeheuer und Einsiedler und schwarze Mörder. Die Sonne aber beherrscht die Feinde mit königlicher Erhabenheit.

Da stürzt sich ein Hase über die Felder der Leuchtenden entgegen, als wollte er sie verschlingen. Und am Ende scheint sie in die Tiefe zu fliehen vor dem Hasen, der mutig ihr nachsinkt.

 

Ein Tagebuchblatt aus jener Zeit:

2. Oktober 1892.

Ich bin heute zu meinem eigenen Begräbnis gefahren, zum letzten Mal in meine Heimat nach Ruppin. Die Leute wissen alle, daß ich fortgehen muß und sehen mich mit triumphierenden und traurigen Augen an. – Die Frau Vorstand auf dem Bahnhof, die sonst immer, wenn sie mich sah, ganz außer sich vor Vergnügen geriet und grüßte und winkte, lag heute im Fenster, als ich vorbeiging und nickte vornehm mit dem Kopfe. Als ich mich in den Fabrikswagen setzte, der an Stelle meiner eigenen herrschaftlichen Kutsche mich abholte, kam ich mir vor wie eine Verurteilte, die zur Hinrichtung geführt wird. Wir begegneten dem Zug, der von Brünn kam. Wie stolz saß ich sonst in meinem Wagen und freute mich, daß die Vorüberfahrenden das schöne Zeugl sahen – heute hielt ich den Schirm vor mein Gesicht, damit keiner mich erkenne. Auf der Straße begegneten wir den Greisler auf einem Rad. Er ließ sich Zeit die Mütze zu ziehen und zog sie nicht so tief wie sonst.

Der Kutscher fuhr nicht durch die Hauptstraße, sondern schlug einen Nebenweg ein. Ich war ihm dankbar dafür. Als wir zu den Beamtenwohnungen kamen, blickte ich hinauf in die Fenster – Kinderspielzeug lag dort, wo sonst nie eines zu sehen gewesen – gewiß neue Beamte. Aus dem Fenster hinter Blumentöpfen blickte und grüßte die alte Hikisch hervor – gute Frau, du hast mich immer lieb gehabt und du willst mir entgegen lächeln – aber wie trüb ist heute dein Gruß, wie wehmütig dein Lächeln!

Hier ist der Garten mit den Rosen, die ich gepflanzt. Sie sind alle verblüht, – hier ist mein Haus, in dem schon andere schalten. Das ist mein Zimmer – ganz so wie ich es verlassen, noch scheint es unberührt, aber schon sagt mir das Mädchen, daß heute »Die Herren« durch alle Räume gingen und überall, sogar auf dem Boden, Umschau hielten. Sie sagten, dies hier wäre ein schönes Schlafzimmer.

Schritte im Vorhaus. Die neuen Besitzer! Wie haben sie sich schon in alles geteilt!

Ich sah aus dem Fenster. Drüben lief wie herrenlos auf der Straße der Lieblingshund von Franz. Es ist ein schreckliches Gefühl. Mein, alles Mein, und doch nicht mehr mein, an mich geknüpft mit tausend Fäden der Erinnerung und doch fremd schon, der Besitz eines Andern, mir entrissen durch eine dunkle Macht, durch ein unabänderliches Geschick. – So muß Einem zu Mute sein, wenn man Totenwacht hält bei einem über alles geliebten Wesen. –

Ich fuhr noch einige Mal nach Ruppin, um unsere Sachen zu ordnen. Nun saß ich als Gast am Tische der drei Teilhaber und doch waren es meine Teller, von denen sie aßen, meine Gläser, aus denen sie tranken. Und mein Wohngerät, auf dem sie saßen. Mein wunderschönes Wohngerät, das so viele entzückt, die Lehnstühle, in denen die Nachbarn behaglich geplaudert – die Tische, über denen der feinste Adel des Landes die Karten gemischt ... Nun war das Spiel mir aus der Hand geglitten. Die Karten lagen auf dem Boden – Herzdame im Staub und Herzkönig? Der war irgendwo unter den Tisch gefallen. Den sah man gar nicht.

Die Kompagnons waren vorzüglicher Laune. Don Quixote und der Witzbold überboten sich in fröhlichen Scherzen, so taktlos waren sie. Der Erfinder lächelte, wobei sein Mund noch kleiner und herber ward. Er lächelte, indem er die Lippen schloß, sie nicht breit zog wie die Andern.

Don Quixote schlug mit der Weinflasche gegen meine Wasserkaraffe und sie zerbrach. Alles Wasser entströmte ihr, wie das Blut aus meinem Herzen. Die Herren lachten und machten unzüchtige Bemerkungen – und ich hatte so viel verloren, daß eine armselige Flasche und wäre sie selbst aus dem schönsten Kristall, gar nicht in die Wagschale fiel.

Die Herren ordneten alles so ungünstig für Franz als möglich. Sie behielten noch ein Jahr lang unsere Einrichtung, schliefen in unseren Betten, aßen von unserm Tische, kochten in unseren Töpfen – dafür zahlten sie eine lächerlich geringe Miete und wir behielten das köstliche Bewußtsein, Ruppin noch nicht ganz verlassen zu haben.

In Franz lebte vielleicht die Hoffnung, man werde ihn zurückrufen – in ein paar Monaten, in einem Jahre – man werde sich ohne ihn nicht zu raten wissen. Treffkönig hob sich aus dem Staube mühselig vor und guckte mit umflorten Augen nach oben – hier aber saßen seine Richter und die fragten nicht nach einem Treffkönig aus Kartenpapier ...

Ich ließ meine Diener rufen, einen nach dem andern und nahm Abschied von ihnen.

Jungfer Netti mußte ich entlassen, ich konnte zu Hause bei den Eltern eine so kostspielige Kammerzofe nicht brauchen. Netti weinte zum Erbarmen, ein wenig aus Ehrlichkeit, viel mehr aus Heuchelei. Sie hielt es nun mit den drei Teilhabern, wie sie es ehedem mit dem Hausherrn gehalten. Sie war die Hagar der Bibel. Der Schmuck in ihrer Tischlade häufte sich, wie die Köchin erzählte.

»Meine gute Gnädige«, jammerte Netti, »wie werr' ich ohne ihr leben!« Dabei verbarg sie geschickt eine goldene Kette, die sie vom Witzbold erhalten.

Jean Paul schied mit Groll, denn er verlor seine gute Stellung.

Der Kutscher Thomis blieb in der Türe stehen, ich rief ihn herbei. Er hatte uns durch die ganzen sieben Jahre gedient, treu und ergeben.

Er konnte kaum seine Fassung bewahren.

»Mein guter gnädiger Herr – er war halt zu gut – zu gut. Solchen« – er verschluckte ein Wort – »war er nicht gewachsen ...«

»Thomis – leben Sie wohl –.« An meinem kleinen schwarzen Schreibtisch brach ich fast zusammen. – »Leben Sie wohl – lassen Sie sich's gut gehen –.«

»O, ich bleib nicht lang bei denen, nur bis ich a neue Stellung gefunden hab'. – Vielleicht nimmt mich später der gnä' Herr doch noch –.«

»Wenn es irgend möglich ist – Johann – gewiß –.«

Er trat vor, beugte sich auf meine Hand und schluchzte.

Ich wandte mich ab – Tränen stürzten aus meinen Augen. »Ich bitte Sie – sagen Sie niemandem, daß Sie mich so weinen gesehen ...«

Er schüttelte den Kopf und eilte fort.

Ich aber setzte mich nieder und schrieb.

Wohl dacht' ich oft, auf Erden
Ist arm zu sein kein Glück,
Doch sicherlich arm zu werden
Ist härteres Mißgeschick.

Hast du nicht sorgsam gehütet,
Was dir das Schicksal gab,
Wie rollt die goldene Kugel
Des Reichtums rasch bergab.

Bald wird dir alles genommen,
Was gern du glaubtest dein,
Bis dir von deiner Habe
Du selber bleibst allein.

Dann magst du mit alten Flicken
Besetzen dein einziges Kleid,
Ach könnt' man auch flicken und nähen
Des Lebens zerrissene Freud'!

Du bist so frei wie die Lerche,
So arm wie die Lerche bist du,
Nun such' dir dein Körnchen Futter,
Und sing' dir ein Liedchen dazu.

Und halte Reichtum und Schätze
Für eine Verirrung nur
Der sonst so viel gerühmten,
Großartigen Kultur.

*

Verschließ in dein Inn'res, was dich selig macht,
Sonst wirst du verspottet, sonst wirst du verlacht.
Den Gott faßt niemand in dir,
Keiner nimmt Teil an deinem Glück,
Nur heuchelnden Neid erweckt dein Geschick,
O senk' vor der Welt das Visier!

Und fühlst du im innersten Herzen dich krank,
Wenn all dein Hoffen zu Grabe sank,
Kein Wort darüber verlier',
Den Gleichmut bewahre zu jeder Zeit,
Stolz hüte dein Glück und noch stolzer dein Leid,
O senk' vor der Welt das Visier!

Und als ich die Gedichte niedergeschrieben hatte, wurde mir wohl, wie wenn mein ganzes Leid hinausgeströmt wäre aus meiner Seele.

 

24. Februar.

Ich war auf dem Eisplatz in Kronstadt. Hier hatte ich mit siebzehn Jahren Triumphe gefeiert, als die erste, die das Kunstlaufen übte, das ich aus einem Buche gelernt hatte. Wenn es hieß, die Valerie Koronski läuft Schlittschuh, dann ließen alle Regierungsbeamten ihre Kanzleien leer und liefen zum Eisplatz, um meine Bogen und Tänze zu sehen.

Heute traf ich erwachsene Mädchen, deren Väter ich als ledige Männer gekannt hatte. Ein eigentümliches graues Urweltgefühl überkam mich diesen Jungfrauen gegenüber. Mütter saßen umher, denen man es ansah, daß sie täglich ihre Lieblingsspeisen aßen.

Einer der jüngsten Regierungsbeamten von einst trat mir als Hofrat entgegen. Ein gewandter Weltmann. Einst hat er mir den Hof gemacht, seither zeigen wir uns noch immer die Zähne – lachende Zähne. Die sind das einzige, was an uns beiden tadellos jung geblieben ist. – Doch mir schien es, als hätte er mir heute nur die Oberzähne gezeigt – sollte es unten nicht mehr recht geheuer sein?

Ein anderer Hofrat, pensioniert. Auch ein Höfling, er erzählte mir sogleich, wie engelsgut sein Erzherzog sei, der jedes Jahr seine Neujahrs-, Weihnachts-, Geburtstags- und Namenstagswünsche erwidere. – »Denken Sie sich – zu Neujahr krieg' ich schon immer die Karte, noch bevor ich meine abgeschickt!« –

Das weiß der arme Erzherzog, daß es da kein Entrinnen gibt, vor den andern Festtagen hofft er noch. –

»Haben noch immer gute Augen?« fragte der Hofrat, als ich sein Glas dankend ablehnte.

Auf den Eislaufplatz nach Kronstadt komme ich nicht mehr. Hier kennen mich die Leute schon zu lange. Sie glauben mir nicht das Lächeln meiner Jugend. – – –

Wenn die Not kommt, erlischt auch eine sündige Liebe. Ich dachte nicht mehr an Alphonse.

Unsere Freunde waren erschüttert durch unsern Fall, glücklich, nicht mitgerissen worden zu sein.

Ich war wie an eine ferne Küste verschlagen. In mir trug ich die Erinnerung an eine seltene herrliche Zeit, Glück und Lachen, Glanz und Prunk, heitere Sorglosigkeit, die Selbstverständlichkeit des Reichtums. – Ach alles – alles war dahingeschwunden für mich!

Alles glänzte weiter, aber glänzte nicht mehr für mich. Wie aus tiefer Nacht sah ich Sterne funkeln – Welten verlorenen Glücks.

Diese Welten lebten – ich aber war ausgestoßen aus ihrer Schönheit, ihrer lichten Harmonie.

Ich saß jetzt mit der Verwalterstochter am Klavier und spielte vierhändig und der Rubin auf meinem Finger verwirrte sie nicht, sie zählte ruhig weiter: »Eins, zwei, drei – eins – zwei – drei –.«

Ich las die Noten und übte einen guten Fingersatz und dachte dabei: »Wenn mir nur ein kleines Häuschen bliebe, ein kleines Häuschen, daß ich nicht betteln gehen müßte durch die kalte rauhe Welt –.« Denn Franz hatte gesagt, auch aus dem Schloß werden wir einmal fortziehen müssen; es sei zu tief verschuldet.

»Nicht zu halten«, erklärte er. Aber daß der arme Vater sich verschuldet hatte um seinetwillen, verschwieg Franz ... Er suchte eine Stellung für sich – doch die war nicht zu finden. Wir wandten uns an die Freunde von einst und baten um ihre Fürsprache, und sie sprachen für, doch nichts half. »Wenn ein Hund einen schlechten Namen hat, ist es am besten, man erschießt ihn«, schrieb mir Graf Mira und fügte erläuternd hinzu: »Ihr Mann hat leider einen so schlechten Namen, er könnte der Bravste und Tüchtigste sein – niemand glaubt es.«

Die junge Gräfin Ada »lief sich die Füße ab«, um dem schönen Franz eine Direktorstelle bei einer alten Fürstin zu verschaffen. Vergeblich. Jeder Brief brachte herzliche Beteuerungen der Liebe und ein klagendes Nein.

Mit der Zeit wurden die Briefe kürzer – wir waren den Bekannten lästig geworden. Sie waren froh, wenn sie nichts von uns hörten.

Eines Nachmittags entsinne ich mich genau. Wir hatten wieder einmal Hoffnung mit vollen Händen geschöpft. Unser lockender Optimismus hielt eine glänzende Stellung, für die Franz die besten Empfehlungen gewonnen, für gesichert. Wir machten schon Pläne. Er wollte sofort übersiedeln und die Arbeit in voller Kraft aufnehmen. Es war natürlich eine leitende Stellung – zu einer geringen fehlte es ja Franz an – Sachkenntnissen. Er konnte nur regieren, so wie ich Hausfrau spielen konnte, – die Ausführungen im Kleinen vermochte weder er noch ich zu leisten, dazu mußten wir »unsere Leute« haben.

Aber die regierenden Posten sind viel seltener zu finden als jene für das kleine, tüchtige, arbeitskundige Volk. Der Diener findet schneller eine Stellung als sein Herr.

Die nächste Post sollte die Entscheidung bringen.

Der alte hinkende Postbote brachte den wichtigen Brief. Franz faßte begierig nach ihm – riß den Umschlag auf – und ließ das Blatt sinken. Ich wußte genug und griff nach dem Geschäftsbogen mit der vornehmen Aufschrift, indes Franz zum Ofen ging, die Hände aufstützte und mit einem Male aufschluchzte. Es stand ein kaltes, schonungsloses Nein in dem Brief, keine Vertröstung, kein Hinweis auf die Möglichkeiten der Zukunft, ein kurz abgeschnittenes, scharfes, stahlhartes Nein blitzte da auf.

O, wie ich diese vier Buchstaben grausam empfand, wie ich mir in bangender verzweifelter Seele sagte: »Wüßtet Ihr, wie tief solch ein Nein schmerzt, daß es wie ein zweischneidiges Schwert ins Herz fährt – ihr würdet es vielleicht umschrieben haben mit einer mitleidigen Lüge – Danken wollt' ich für sie, die die Grausamkeit mildert –«

Ich trat zu Franz und tröstete ihn. In jenen kummervollen Zeiten waren wir fast glücklich in unserer Ehe. Franz zog mich leidenschaftlich in die Arme. »Das ist doch das Einzige, was man hat«, sagte er und küßte mich.

Dann und wann auf Bahnhöfen traf ich Bekannte aus der goldenen Zeit. Die Herren waren sehr artig, sehr verbindlich, man fragte nach Franz und ich erzählte, daß es ihm vorzüglich gehe, daß er ein leidenschaftlicher Landwirt geworden sei, fast so leidenschaftlich, wie er ehedem als Jäger gewesen. Ich war munter und lachte und fühlte doch ein Unbehagen und eine Scheu vor ihnen, die mich einmal auf den »Höhen des Lebens« gesehen. Und sie, sie nahmen den geringsten Anlaß wahr, um sich zu verabschieden. Und ließen meinen Mann herzlich grüßen. Das verpflichtete zu nichts und war von artiger Höflichkeit.

Ich fuhr nun auch in der zweiten Klasse, in der die Menschen nicht zählten für jene, die in der ersten fuhren.

Oft überkam mich eine grenzenlose Sehnsucht nach dem feinen glatten Schliff der Kreise, die ich hatte verlassen müssen. Ich fühlte aristokratisch. Ich stieß mir die Flügel wund an dem harten Wesen und den rauhen Worten der bürgerlichen Welt.

So unschön schien mir ihr Treiben, so unhöflich, so wenig ausgeglichen. Ich sehnte mich nach der Glätte des Adels, nach dem tadellosen Lächeln, nach der tadellosen Verbeugung, nach dem Zauber lachender Gespräche, nach den Uniformen, die das unscheinbare goldene Schnürchen trugen, das dem wissenden Auge den Kammerherrn verriet.

Ich hatte nur einen Aristokraten um mich, Franz, und er verkehrte nur mit einer Aristokratin: mit seiner Frau. Wir beide aber nahmen uns nicht voll, nicht für echt – der Einschlag von außen fehlte.

Wir saßen zwischen den lieben, braven Gästen meiner Eltern, den Freunden, die sie durch das Leben begleitet hatten, Verwaltern und Pastoren, Kaufleuten, Gutsbesitzern, Beamten – und hörten vom Dünger reden und Ochseneinkauf, von der Rübe und den Sozialdemokraten, Bahnunfällen und Säuferwahnsinn – von lauter Dingen, an die unsere früheren Gespräche nicht getastet hätten. Nun kroch die Rede über die Scholle hin und haftete auf ihr, stieg aus ihr hervor – wie sie ehedem hoch über ihr geflattert war mit schillernden Schmetterlingsflügeln. Wie plump, wie stillos das alles war! Wie jede Anmut fehlte, jede Schönheit. Den gesunden Erdgeruch, der solchen Worten entströmte, merkten wir nicht. Unsere Sinne verlangten den berauschenden Hauch des künstlichen Duftes.

Einen »Schandfraß« hatte Franz einmal ein Festessen bei meinen Eltern genannt, und nun waren ihm die Gerichte Leckerbissen im Vergleich zu jenen, die er an des Verwalters Tisch zu kosten bekam. Keine Hummer gabs mehr, weder Kaviar noch Mayonnaise – aber Selchkraut mit Knödel, Apfelstrudel und Kalbfleisch an Festtagen. Frau Rosa Winter sacherte bei anderen »Reichen«.

Franz verzehrte schweigend die Mahlzeiten und würzte sie mit sauren Salaten. Das war jetzt die einzige Pikanterie in seinem Leben.

Zu jener Zeit trat ein völlig unerwartetes Ereignis in mein Leben. Ich fühlte mich Mutter. Ein lang gehegter Wunsch nahte seiner Erfüllung. Nie vergißt eine Frau den heiligen Augenblick, da sie zum erstenmal das Pochen des jungen Lebens gefühlt und die beseligende Lust, wenn das Pochen sich wiederholt und immer kräftiger und bestimmter wird. In der Stunde der Geburt aber hatte ich nur einen Gedanken: kein Mädchen will ich, daß es nie diese Qualen erlebe, denn alles Glück des Lebens wiegt sie nicht auf! Und doch war es ein Mädchen und ich hatte alle Schmerzen vergessen, als es in den Armen der Pflegerin lag. So hatte mir der Himmel in meine Einsamkeit das Kind geschenkt.

Franz war überglücklich; beseligter noch fühlten sich meine Eltern. Alle kamen auf Fußspitzen das Neugeborene betrachten. Mein Mann behauptete schon nach acht Tagen, daß die kleine Lilli – Elisabeth sollte sie getauft werden – ihn erkenne. Meine Mutter hatte eine Amme besorgt, ein kräftiges, schön gewachsenes Mädchen, und um Amme und Kind drehte sich das ganze Haus. Ich sah voll Staunen auf das kleine Geschöpf nieder, das in dem weißen Korbe lag wie eine schlafende Blüte. Aber viel zu wenig dachte ich nach über das Wunder der Menschwerdung. Wir gebären Kinder und sind uns der Bedeutung dieser Tat gar nicht bewußt, dieser Wandlung unseres inneren Menschen, der Verantwortung, die wir auf uns nehmen. Aber vielleicht ist es gut, daß wir nicht zu viel denken und mehr fühlen. Im Unbewußten erreichen wir vielleicht Besseres als im Ergrübelten. – – –

Eines Tages beriefen die Teilhaber Franz nach Wien. Er bestand darauf, daß ich mitfahre. Uns gehörte noch ein kleiner Anteil an der Fabrik.

In einem Hotel trafen wir zu einer Besprechung zusammen. Franz hoffte, daß sie es eingesehen haben würden, die Arbeit ohne ihn nicht leisten zu können. Ich zweifelte sehr an dieser Einsicht.

Die Begrüßung der Gruppe war herzlich. Don Quixote trug in Wien stets seinen rotkarierten Anzug, um besser aufzufallen, der Witzbold schien kleiner und dicker geworden und der Erfinder zeigte die Million, die er inzwischen verdient hatte, sichtbar im kühlen Blick.

Man sprach erst gleichgültige Sachen, als fände man sich zu einer Tarockpartie, dann begann der Erfinder.

»Lieber Doktor Schellenberg, – wir haben Sie hergebeten – wir wollen Ihnen Ihren Anteil abkaufen –.«

»Ja – was verlangen Sie für ihn?« fragte Don Quixote.

»Was Sie verlangen, werden wir Ihnen ja nicht geben«, sagte der Witzbold, »aber vielleicht läßt sich darüber reden.«

Vier Stunden redeten wir darüber und kamen noch am nächsten Tage zusammen. Franz hatte den Kaufpreis fast schon preisgegeben, da entriß ich noch in einer Fensternische dem Erfinder 10.000 Gulden. Ich war überglücklich und stolz – und er war zufrieden, denn er hatte die Absicht gehabt, noch um das Doppelte mehr nachzugeben. Aber wir waren ja mit weit weniger zufrieden.

Die Kompagnons rieben sich die Hände. Dieser Dr. Franz Schellenberg war ein patenter Kerl, so entgegenkommend in seinem Vertrauensdusel. Und die Frau verdarb nichts.

Ein gemeinsames Mahl mit Sekt vereinte uns. An diesem Abend aß Franz wieder einmal seit langer Zeit den geliebten Hummer und Kaviar.

Am nächsten Morgen gingen wir zum Advokaten. Doktor Hager war Franzens Onkel, ein würdiger Mann, rosig und überernährt, mit lang herabwallendem weißen Bart, von ehrfurchtgebietender Würde. Er sah aus wie ein Apostel und sammelte pornographische Schriften. Immer hatte er eine kleine Auslese in seinem Schreibtisch zur Erheiterung für einzelne Klienten oder Klientinnen. Heute schickte er mich ins nächste Zimmer und zeigte dem Neffen die jüngsten Sammlungen.

Als ich eintrat, trugen beide noch ein widerliches Lachen, Franz war ein wenig verschämt – der Onkel dagegen war unverschämt.

Wir begannen vom Geschäft zu sprechen und der Onkel wurde salbungsvoll.

»Du willst das Geld deiner Frau geben?« fragte er. »Das ist ja sehr anständig gedacht – aber bedenke, es ist dein Ein und Alles – und sollten einmal Zerwürfnisse zwischen euch eintreten –.«

»Nein, nein«, sagte Franz, »es bleibt dabei. Das Geld gehört ihr.«

Ich war tief gerührt. »Zerwürfnisse zwischen uns? Ganz ausgeschlossen!« rief ich begeistert.

»Na – na – es sind schon Hausherren gestorben!« meinte der Onkel und lachte mit fetten Wangen.

»Das Geld gehört ihr«, wiederholte Franz. Er war in diesem Augenblick auch sehr stolz auf sich. Da fiel mir ein, daß er einmal sein Gewehr auf dem Schnepfenanstand einem Freunde geliehen hatte. Als ich ihn später darum bewunderte, sagte er: »Geborgt hab' ich's ihm – aber wenn eine Schnepfe gebalzt hätt' – dem hätt' ich's aus der Hand gerissen –.«

Und ich befürchtete, nur so lange beschenkt dazustehen, als keine Schnepfe balzte – – – – –.

Der Onkel lud mich unter dem Vorwand einer Unterschrift für den nächsten Tag zu sich ein. Er hatte einen Teilhaber, dem er die gröberen Kunden überließ und auch die Arbeit. Er hielt sich mehr an den Genuß des Lebens. Gütig lächelte er mir zu mit patriarchalischer Würde, dann sprach er von ausgezeichneten Büchern, die er besitze, einige habe er sogar in der Kanzlei. Er zog Laden auf, da lagen Werke in schlichten, schwarzen Einbänden, wie die Bibeln. Sie paßten zu seinem langen Bart. Eine solche Bibel zog er hervor. Sie behandelte Themen aus dem XVIII. Jahrhundert, sagte er, hochinteressante Klostergeschichten und sei reich illustriert. Er schlug sie auf und ich sah mit Staunen überaus weltliche Szenen zwischen hochfrisierten Damen und Männern der Kutte. Die Bilder mehrten sich, die Phantasie des Onkels entzündete sich. Zugleich entrüstete er sich über mich. »Du bist eine merkwürdig kühle Natur«, sagte er, »das hätte ich gar nicht gedacht –.« Mir wurde immer kälter zu Sinn bei dem Psalmisten, je glühender die Bilder waren, die er nun aus andern Bibeln hervorholte. Ich starrte auf sie nieder, – so etwas hatte ich nie gesehen. – Mein Staunen hielt der Onkel wohl für eine erwachende Glutwelle, er streichelte mir einmal meine Hände, seine Blicke suchten verklärt die meinen, er umfaßte mich, wollte mich auf seinen Schoß ziehen. Aber mit lächelnder Geschwindigkeit entrann ich seinen ungeschulten Verführungskünsten.

»Was hast du denn?« fragte er enttäuscht. »So spröde, kleines Frauchen?« Ich hätte ihm ins Gesicht schlagen mögen. Er war sehr ärgerlich. Ich sagte gar nichts und half ihm nur, die Bücher wieder in ihre Fächer zurückzulegen.

»Ich habe dich nicht für so kindisch gehalten«, grollte er betroffen. »Es sind prachtvolle, sehr kostbare Stücke.«

Das glaubte ich gern. Er suchte sie auch nutzbringend anzuwenden.

Meine Unterschrift hatte er vergessen, doch vergaß er nicht, nach Durchführung des Verkaufes für seine rechtsanwaltliche Tätigkeit eine Rechnung vorzulegen, die nichts von patriarchalischer Würde besaß. Ich hatte nicht tief genug in seine Bücher geschaut.

 

1. März.

Man sah heute in Kronstadt festlich gekleidete Damen nach halb zwölf auf der Straße in neuen Jacken, mit Hüten, die Blumen oder Federn trugen, und in frisch geputzten weißen Handschuhen. Gewöhnlich gingen Mutter und Tochter miteinander.

»Die Gräfin empfängt ...«

Der Portier der Landesregierung nickte vornehm und freundlich. Von der Stiege kamen die ersten Empfangenen herab, der Hofrat mit rosigen Wangen und ein paar Damen. Im Korridor empfingen die Diener. Die Mütter mit ihren Töchtern glitten lautlos über die weißen Teppichläufer. Stimmengewirr – Spiegel, die letzte Blicke auffingen – der große Salon. – Die Gräfin erhob sich und ihre Runde von Herren und Damen gleichfalls. Die Gräfin bot die Hand und nannte Namen – viele Namen, die vorbeischwirrten, unverstanden ... Zwei Damen in Trauer, zwei in Falten ohne Trauer aber mit traurigen Gesichtern, ein verstorbener Major – Gestalt der Giraffe – eine sogenannte blühende junge Frau – eine ausrangierte Baronin mit ihrem alten Mann ... Der Gräfin wurde es bei soviel Alter und Würde ganz bange. Sie saß geknickt unter der ehrenvollen Moralität der Stadt. Alle sprachen – und zwar sprachen stets die Nachbarn miteinander. Von Zeit zu Zeit kam ein neuer Gast, der sprach und starb auch.

Seine Ankunft benützten dann ein paar Gäste, um sich zu verabschieden; waren es die Alten, dann lächelte die Gräfin um einen Strich fröhlicher. Sie hatte tiefe Trauer in ihren Kleidern und wurde von jedem Ankommenden mit Kondolenzworten verehrungsvoll angesprochen, sie sagte gar keinen Dank mehr darauf, sie war schon ganz abgedankt – Wochen so hin. Ihr war schon zum Kondolieren zu kondolieren. Sie liebte die Jugend und nun mußte sie neben den Trümmern von Karthago sitzen oder zwischen Nornen, die am liebsten Lebensfäden abschnitten.

Neben ihr war eine liebe kleine Frau in Trauer, sie hatte einen erblindeten Mann und sagte allen, daß er jetzt erst sehend geworden, seitdem er blind sei. Mit diesem Schlager ging sie in Gesellschaften, oft auch mit dem geistig hochstehenden Gatten. Sie hatte ihn sehr lieb und beglückte und betrog ihn abwechselnd. »Einen blinden Mann – und so jung sind Sie!« sagte ich ihr erschrocken und gefällig.

»Ach ja!« rief sie, »ich habe sehr jung geheiratet – aber ich habe schon eine achtzehnjährige Tochter.« Die sehende Tochter war ihr ein größerer Schmerz als der blinde Gatte. Ganz Weibchen war sie, innig und süß. Und solch ein inniges süßes Weibchen ist auch die Gräfin. Darum lieben beide einander und loben sich vor allen.

Jetzt kamen ein paar junge Herren – aber so voll Verehrung waren sie, daß wir wieder nichts von ihnen hatten als Verbeugungen. Der Major Giraffe erhob sich und langte fast bis an die Decke mit dem Kopf, den er leise schwenkte. Und mit ihm zugleich erhoben sich ein paar Frauen, die er gar nichts anging. Und schon traten neue ein.

»Die Gräfin empfängt ...«

Über den Korridor glitten die Scheidenden und rühmten laut vor den schweigenden Dienern die Vorzüge der Gräfin ...

Über die Straße aber zogen noch immer Frauen in Théâtreparé-Kostümen mit neuen Jacken und frisch geputzten Handschuhen, Federn oder Blumen auf den Hüten, begleitet von Herren im Salonrock, die mit Gesichtern hinschritten, als würden sie zum Zahnarzt geschleift ... »Die Gräfin empfängt ...«

 

Lilli war ein empfindsames Kind und weinte über alles, was ihr nicht beim ersten Griff glückte. Etwas Feenhaftes lag in ihrem Wesen, dabei ein Ernst, der jede heitere Kindlichkeit ausschloß. »Mais elle est comme une apparition du ciel!« (sie ist wie eine Erscheinung des Himmels), sagte meine alte polnische Freundin, Frau von Oronska, als sie einmal im lichtrosa Kleid mit dem über die Schulter fließenden Goldhaar Lilli erblickte.

Meine Mutter liebte die kleine, zarte Enkelin zärtlich, oft legte sie die Hand auf das blonde Haupt, als ob sie es segne. Wenn Lilli erkrankte, geriet Franz außer sich, wurde jähzornig nach Art der Schwachen und gab uns allen die Schuld. Die Genesung aber pries er wie sein persönliches Verdienst.

Im Frühling des nächsten Jahres kam in der Nachbarschaft ein kleines Gut zum Verpachten. Mein Vater pachtete es für Franz und das Geld, das wir von den drei Teilhabern erhalten hatten, wurde zum Betrieb verwendet. Die Schnepfe hatte gebalzt und das Gewehr ward mir entrissen. Nun war durch die Güte meines Vaters Franz wieder auf eine Stufe gehoben, die ihm Ansehen brachte. Mein Vater gestattete ihm, Pferde und Wagen zu halten, damit er seine Pachtung täglich besuchen könne. Eine Übersiedlung wurde nicht vorgesehen, weil weder Franz noch ich fähig waren, die Arbeit eines Pächterpaares zu leisten. So bot die Liebe meiner Eltern uns weiter in dem großen Schloß den Rahmen für unser Leben.

Doch in unsern Frieden sollte ein schweres Leid hereinbrechen. Es war zwei Tage vor dem Ausbruch ihrer furchtbaren Krankheit. Meine Mutter fühlte sich noch ganz gesund und klagte nur über ein schmerzvolles Stechen im rechten Schenkel. Ein ehemaliges Stubenmädchen war zu Besuch gekommen. Meine Mutter hatte sich im Bügelzimmer auf den Tisch gesetzt und sprach mit der klapperdürren Marie, die den Verlust ihres Mannes mit ein paar Krokodilstränen beklagte.

»Wie lange ist er denn schon tot?« fragte meine Mutter.

»Sieben Jahre.« –

»Und wieviel Kinder hast du mit ihm gehabt?«

»Sieben!« schluchzte das faltige Gesichtchen.

»Auch in sieben Jahren! Sei froh, daß er fortging – jetzt hättest du vierzehn Kinder und du weißt dir schon mit deinen sieben nicht zu helfen!« lachte meine Mutter und Marie lachte mit und war getröstet und gönnte ihrem Mann die Ruhe.

Am Morgen darauf rief mich Tante Sophie, die die Wirtschaft betreute, zur Mutter. Sie lag im Bett und klagte über furchtbares Herzklopfen, das sie des Nachts befallen hatte. Ich griff nach ihrem Puls und erschrak – der flog in kleinen dünnen Schlägen, kaum zu zählen – ein Zittern war es mehr als ein Pulsen. Aber meine Mutter klagte nicht. Sie beruhigte mich und den Vater, der Anfall mußte ja vorübergehen, davon waren wir alle überzeugt, wenn nicht heute, dann morgen, spätestens übermorgen. Der Arzt wurde gerufen, er fand nichts Besonderes, verordnete Schonung und Ruhe.

 

4. März.

Ich fuhr durch den dämmernden Nebelabend. Bang und schwer wallten die Lüfte. Die Bäume an der Straße bargen sich in grauen Schwaden.

Durch die Äcker zogen mühsam Pferdegespanne die Pflüge. Langsam zogen sie hin, wie dunkle Schatten.

Dörfer hatte der Nebel verschlungen und Gehöfte, den Meierhof zur Rechten, und die Kirche zur Linken, die Felder selbst schienen sich in seinen Rachen hinüber zu wälzen.

Da polterte ein Wagen herbei, hoch geladen mit gelbem Stroh. Obenauf, wo die Garben zu beiden Seiten auseinanderfielen, lag ein Mann flach auf dem Rücken, das Antlitz der grauen Tiefe zugewandt. Einen kurzen verächtlichen Blick warf er auf mich und wieder wandten seine Augen sich der Höhe zu, der einförmigen Ewigkeit. So schwankte der gelbe Wagen wie ein goldener Thron, aus dem Nebel kommend, in den Nebel wallend, von Nacht zu Nacht. –

Meine Mutter siechte hin. Mit großen erschrockenen Augen sah sie mich manchmal an. Mir war es niemals in den Sinn gekommen, daß sie sterben könnte und mit Grauen entsinne ich mich heute noch, nach Jahren, der furchtbaren Erkenntnis, die mich jäh überwältigte, als der Arzt mir sagte, sie sei unrettbar verloren. Meinen wahnsinnigen Schmerz vergesse ich nie. Mir war, wie wenn die Erde zu meinen Füßen erbebte. Das größte Entsetzen meines Lebens kroch über mich hin und zerpflügte mich in ein Bündel herzbeklemmender Angst.

Ich wagte meine Mutter nicht anzusehen. Sie würde ja in meinen Blicken ihren Tod gelesen haben. Sie war das Ewige in meinen Leben, das allzeit Frohe, Starke, Leuchtende, immer Verzeihende, sie war die grenzenlose Liebe, die Gottesliebe, die über mich wachte – und ich sollte sie verlieren?

In ihrem tiefen, starken, unerschütterlichen Glauben gab sie einem schwankenden Leben den Halt. Wenn sie, aus dem Fenster blickend, den Stern zeigte, von dem die Seele ihres toten Sohnes herniederleuchtete, wenn sie von ihrer Mutter erzählte, die so jung gestorben war, an die kein Erinnern in ihrem Herzen lebte, und dann mit voller Überzeugung sagte:

»Und darum schon glaub' ich an ein ewiges Leben – denn es kann mir doch nicht genommen werden, meine Mutter zu sehen!« – so wehte wohl ein Hauch ihrer Kraft zu mir herüber, die ich so haltlos und so glaublos war und ich fühlte mich geschützt und beschirmt von ihrem Gott.

Sie hatte ihr Leben lang gearbeitet, ich hatte mich mein Leben lang vergnügt – was war natürlicher, als daß ihrer die Kraft war – meiner die Schwäche! Ihrer das Vertrauen, meiner das Verzagen.

Sie war eine innerlich große, gefestigte Natur, die Mutter der Armen, der Segen aller Hilfsbedürftigen.

Ich war ein innerlich schwaches, verlorenes Geschöpf, nur für die Freude erzogen, der verwöhnte Liebling der Reichen, ein Vergnügen für die vom Glück Erwählten.

Sie hatte sich an meinen gesellschaftlichen Erfolgen gefreut, wenn sie auch über ihre Wertlosigkeit gelächelt haben mochte, – und nun sah sie Tochter und Schwiegersohn im innersten Lebensnerv getroffen, zwei arme Vögel, hinausgeworfen aus ihrem behaglichen Nest, flatternd mit dünnen Flügelschlägen. Auf dem elterlichen Eiland waren wir gelandet, in der festen Burg, im grauen Gemäuer. Sogar eine bürgerliche Stellung hatte sie mit dem Gatten dem Schwiegersohn geschaffen.

Die starke, nun gebeugte Frau erkannte wohl, daß uns die Heimat fehle und mit ihren todeskranken Augen sah sie mir tief ins Herz: »Bist du glücklich?« fragten diese Augen und mein Blick wich aus.

 

Einmal fühlte sie sich wohler und wir machten eines Abends Besuch in der Nachbarschaft. Mitten vom Mahl wurden wir weggeholt. O, diese entsetzliche angstvolle Fahrt durch die blasse Schneenacht, da die Sterne kalt vom Himmel funkelten und tausend Sorgen im Herzen aufblitzten und loderten ...

Wir fanden die Mutter im Lehnstuhl, keuchend, verfallen. Der schlimmste Anfall war vorüber, aber die Schmerzen blieben noch immer groß.

»Ich hab' nicht mehr gehofft, euch noch einmal zu sehen, Ihr Lieben«, sagte sie mit todestraurigen und doch so beglücktem Blick.

Wir saßen um sie und sie erholte sich.

Die Digitalispulver wurden immer verstärkter gegeben. Das Gift verlängerte ihre Lebensqual.

Meine alte polnische Freundin, Frau von Oronska, die auch in Ruppin mein Gast gewesen, besuchte mich, brachte meiner Mutter Wasser aus Lourdes, saß an ihrem Bett und suchte sie zu trösten. Doch die Kranke winkte ab.

»Ich bin so sehr glücklich gewesen in meinem Leben«, sagte sie, »daß es nur gerecht ist, wenn das Ende mir Schmerzen bringt ...«

Je näher sie ihm kam, um so weisheitsvoller wurden ihre Worte. O über jenen letzten Stunden im sterbenden Sonnenlicht, da sie Abschied nahm von uns, von jedem einzelnen, und erhobenen Hauptes hinausblickte aus dem Fenster mit lichtumflorten Augen und wie eine Seherin der Zukunft goldene Worte sprach, die in unseren Herzen immer leben werden. Sie übersah ihr Leben und sah, daß alles gut gewesen und sprach mit ihrer starken Gotteskraft, während die Strahlen der Sonne ihr Antlitz verklärten, daß ihr Blick heilig aufleuchtete und segnend über uns ruhte. Wir lagen gebrochen um ihr Bett, sie aber war die Aufrechte, die Starke unter uns. Sie umriß die Linien unseres Lebens, legte Tante Sophie die Pflege meines Vaters ans Herz, sagte zu Franz: »Du bist ein guter, edler Mensch!« und segnete mich. Als sie aber mit dem Vater sprechen wollte, schickte sie uns andere für ein Weilchen aus dem Zimmer ... Dann ordnete sie noch alles im Hause für ihr Begräbnis an, bestimmte auch, was für das Mahl gekocht werden sollte, nahm mit langen Blicken Abschied von jedem Gegenstand im Zimmer, den sie geliebt hatte durch so viele Jahre – und ließ sich in die Kissen sinken.

»Und nun geht essen –«, gebot sie. »Ihr werdet in den nächsten Tagen ohnehin keine Lust zum Essen haben –.«

In dieser Stunde herrschte ihr heldenhafter Geist über den Körper und sie achtete für nichts den Tod, der nach ihr griff, mit gebieterischer Gebärde bannte sie ihn vor die Tür. Dort mochte er warten – bis sie den Eintritt gestattete.

Doch als alle fortgegangen waren und nur ich bei ihr blieb, kam für einen Augenblick die Angst über sie. Stunden der mutigen Kraft hatte sie dem erlöschenden Leben abgerungen und an ein paar Sekunden des Verzagens gab sie sich an meinem Herzen hin, – ehe ihre große Seele veratmete. –

Es war furchtbar, grauenhaft, sie wie eine steife Puppe auf ihrem Bett liegen zu sehen – mit aufgestellten Fußspitzen, ganz Form geworden, ganz Hülle. Ein schwarzes Seidenkleid zog man ihr an, dann wurde sie in den Sarg gehoben und fremdes, widerlich fremdes Volk machte sich im Hause zu schaffen, schlug die roten Wände der Kapelle schwarz aus – und stampfte polternd über die Stiege.

Meine Mutter schlummerte noch zwei Nächte in ihrem Zimmer, unter ihren Bildern. Von hohen Armleuchtern umstanden war der Sarg, auf dem sie lag – wie auf einem festlichen Ruhebett – die Kerzen flammten und Rosen blühten, gelbliche Maréchal-Niel-Rosen, deren Blüten aufflammten wie weihevolle Kerzen und den Weihrauch des Duftes über das weiße Antlitz senkten.

Das Zimmer war zur Kirche geworden, in der wir beteten, in Tränen laut schluchzend. Ihre Gebetbücher und alle Dinge, die sie so gern berührt, standen um sie her, so wie ihre Hand sie zum letzten Mal gestreift – und sie alle schienen in ihrer reglosen Stille mit uns zu trauern.

Wir alle weinten und sie nur, auf ihrem köstlichen Ruhebett, lächelte ein erdentflohenes, überirdisches Himmelslächeln, das vielleicht auf ihren Zügen gelegen, da sie ein kleines Kind gewesen und noch nichts vom Leben gewußt. Es gibt ein Paradies im Lächeln der Kinder und der Toten.

Als sie in der Schloßkapelle aufgebahrt lag, drängte sich das Volk herbei, um sie zu sehen. Die Leute saßen in den Bänken und beteten. Ich saß auch da in einem Winkel, fast ungesehen, und betete.

Die alte Mutter des Fleischers setzte sich neben mich und erkannte mich. Ein Leben lang hatte sie mit meiner Mutter im Dorfe gelebt und sie achteten sich gegenseitig, – wenn sie auch selten miteinander sprachen. Jetzt sah mich die Frau mit dem welken Gesicht an und sagte: »Werden Sie so wie jene dort – das ist alles, was ich Ihnen wünschen kann –

 

Das Haus war gefüllt mit schwarzen Gästen. Prediger sprachen, der protestantische Pastor, seit vierzig Jahren Freund meiner Eltern, und der katholische Geistliche. – Alle Priester hatten meine Mutter geachtet und es war darum nur recht, daß sie ihr Ehrfurcht bezeugten. Alle Verwandten waren gekommen und die Freunde und Bekannten aus der ganzen Umgebung. Sechs Wagen faßten nicht die Fülle der Kränze. Wie eine Königin wurde meine Mutter unter dem Weinen des Volkes hinausgetragen aus ihrem Schloß, in dem sie so viel Gutes gewirkt hatte. Die Beerdigung fand auf dem protestantischen Friedhof bei Neslo statt.

Wir fuhren im Wagen und weinten ein bischen und schauten hinaus. Der Vater sah die Saaten an, ich dachte, ob wohl mein Kind gut gekleidet sei? Zu dieser Stunde wußten wir wenig von Schmerz, zu viele weltliche Aufregungen hielten ihn gebannt.

Abends gab es ein Festessen und mancher, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, trank sich einen Rausch an.

Auch eine Verlobung wurde unter unsern Verwandten an diesem Abend geschlossen und unter Jubel gefeiert, – und meine Mutter lag mit gefalteten Händen zum ersten Mal in kalter Nacht unter einer Erdendecke und hielt in den Fingern ein weißes Kreuz, ein Porzellankätzlein und ein Hündchen, mit dem die sterbenden Finger ihres Sohnes einst gespielt, harmlose Spielereien, die sie so oft liebkost und heilig gehalten hatte. Gaben wir sie ihr mit aus Liebe oder weil die Dingelchen gar so schlicht – und billig waren? Soviel ich mich entsinne, ließen wir ihr keinen Schmuck im Grabe – aus Angst vor Leichenraub. – Ach, die Hinterbliebenen sind immer voll Fürsorge und denken an alles. Im wildesten Schmerz hat noch keiner vergessen, einem Toten den Ring vom Finger abzuziehen. Elende Bande der Leidtragenden, die alles wertvolle forttragen von ihren Toten und selbst Leichenraub treiben!

Eine Schuld – sie scheint mir eine der schwersten – werde ich mir nie verzeihen. Ich ging eines Morgens mit Franz durch den Wald. Da sahen wir von weitem meine Mutter vor uns hinwandeln durch den Frühlingsmorgen, mit langsamen Schritten, vielleicht im Gebet – für uns. Ich wollte sie einholen und mit ihr gehen, ich wußte, sie werde uns erfreut entgegenlächeln – aber Franz winkte mir ab und blieb stehen, damit sie unsere Schritte nicht höre und sich nicht umwende und uns gewahre und wir dann verpflichtet wären, sie zu begleiten.

Diese scheue, versteckte Art von ihm begriff ich nicht, aber ich war töricht genug, ihm zu gehorchen. Wir blieben zurück und sahen die Mutter den Bach entlang gehen, mit gefalteten Händen, wohl in Gedanken an uns. – Jenes Zurückweichen war eine erbärmliche Feigheit und mein Gehorsam war Niedertracht. Nie kann ich seither den Weg gehen, ohne die Mutter vor mir zu sehen mit der stillen Einsamkeit ihres Herzens, das so heiß in jeder Minute nach dem Kinde begehrte.

An jedem neuen Tage, der mich von ihr trennte, wuchs mein Leid um die Tote. Es riß an mir, es zerwühlte mich, es zermarterte mich – ich wand mich in Tränen und Schmerzen. Ich faßte keinen Gedanken, der nicht sie gewesen wäre – ich sah immer ihren unsagbaren klagenden Blick, den Blick des todeswunden, stummleidenden Tieres, ich hörte ihre letzten schauerlichen Worte:

»Ich fürchte mich – – – –.«

Sie war eine wunderbare Frau. In ihrer Jugend hat sie vor allem arbeiten gelernt und nicht nur gelernt. Darum ist ihr die Arbeit zeitlebens ein Bedürfnis geblieben, ihr verdankte sie das erhebende Glücksgefühl, das nach getaner Pflicht uns durchglüht.

Je größer ihr Leid war, um so stärker wuchs ihr die Kraft, es zu tragen. Nie hat sie mit ihrer Umgebung geweint, aufzurichten, zu stärken und zu trösten verstand sie wie keine. Der Grundzug ihres Charakters aber war die Wohltätigkeit. Und ihre Wohltaten lasteten nicht wie ein Druck auf gequälten Schultern – wie Rosenblätter fielen sie auf sie nieder. Jenen, die bei ihr im Dienste standen, war sie eine wahre Mutter und als etwas Heiliges faßte sie ihre Pflichten gegen ihre Untergebenen auf. Eine Kündigung gab es bei ihr nicht. Sich ineinander zu finden, war ihr Grundsatz. Oft nahm sie Waisen oder Kinder verkommener Eltern zu sich ins Haus und erzog sich so manche fleißige Dienerin, der sie dann, wenn ein Bräutigam sich fand, ein prächtiges Hochzeitsfest bereitete.

Meine Mutter liebte keine allzu große Geselligkeit. »Nur Gänse wollen in Scharen leben«, sagte sie oft. Sie nötigte gern zum Essen, darüber ärgerte sich mein Vater: »Wenn du uns abreden möchtest, wären wir dir dankbarer!« rief er. –

»Auf Dankbarkeit habe ich nie gerechnet«, entgegnete sie heiter. »Eßt nur! Was ihr gegessen habt, das allein gehört euch unbestritten.«

Sie wußte so kluge Worte zu finden.

»Wenn ein Gescheiter sich blamiert, lachen die Dummen am meisten«, sagte sie, »denn es ist das erste Mal, daß sie ihn verstehen.«

»Leicht ist es, einen Menschen unglücklich zu machen, aber schwer ist es, ein Lebensglück zu begründen.«

Sie verstand die seltene Kunst, mit Weisheit alt zu werden, obwohl sie oft davon sprach, daß es schwer sei, sich alt zu denken. »Man war so lange gewöhnt, jung zu sein und muß nun gegen diese Gewohnheit kämpfen. Doch ist unser Alter der Vorzug, den wir vor der Jugend voraushaben. Wir erreichten es, sie aber weiß nicht, ob sie es erreichen wird ...«

Um ihre Jugend klagte sie nicht. »Es ist ein Glück, daß die Jahre vergehen. Es kommt schon die Zeit, wo sie nicht mehr vergehen.«

Sich alle Mühsal – uns alle Freuden, sich alle Leiden – uns alles Glück – ihr Herzblut hätte sie für uns gegeben.

Gern und bedächtig las sie Epiktet und Marc Aurel. Doch glückliche, fröhliche Menschen um sich zu sehen, blieb ihre höchste Freude. Darum war ihr Lieblingsspruch:

»Allzeit fröhlich sein
Und andre machen fröhlich,
Wer dieses Ziel erreicht,
Ist schon auf Erden selig.«

Ihre wunderbare Macht wurzelte in ihrem starken Gottvertrauen. Sie war keine Frömmlerin, aber sie war fromm vom tiefsten Urgrund ihres Wesens an. Sie fühlte sich an der Hand Gottes durch das Leben schreiten, so wie sie ihr Kind an der Hand gehalten. Sie war protestantisch. Ihre Frömmigkeit war die echte, die seltene, die über allen Religionen steht und mit mütterlichem Verstehen auf sie niederblickt, oft auch mit leichtem Lächeln – wie auf streitende Kinder. Sie ist nicht gerne zur Kirche gefahren; die Kirche lenkte ihr Gebet ab. Sie sprach zu ihrem Gott am liebsten am Morgen und am Abend und in der Stille der Nacht – da verstanden sie sich am besten, ihr Gott und sie. Oft, wenn ich des Morgens in ihr Zimmer getreten war oder des Abends, sah ich sie in einem polnischen Gebetbuch lesen und sie bewegte dabei leise die Lippen. Uralt war das Buch, mit Messingbeschlägen, in Leder gebunden, die ersten Seiten fehlten und die andern zeigten einen Druck, der etwa 200 Jahre zählen mochte. Die Mutter fand darin Gebete für alle Lebenslagen und sie liebte das Buch, weil es sie durch sein Alter näher zu Gott zu führen schien als jedes andere. Es war das Buch, aus dem ihr Vater und Großvater sich Trost und Glauben aufgelesen hatten. Auf die letzte Seite des Einbandes hatte sie die Chronik ihrer Familie niedergeschrieben.

Wenn ich ihre Andacht störte, bekreuzigte sie sich erst in ihrer ruhigen Weise, schloß das Buch mit einem frommen Ausdruck, hob dann erst lächelnd den Blick und kehrte von ihrem Gott in die Welt zurück. So muß man beten, wie meine Mutter gebetet hat, mit diesem felsenstarken Gottvertrauen, mit dieser heiligen Würde.

Wenn sie des Abends durch den Garten schritt und die Kirchenglocken zu läuten begannen, dann faltete meine Mutter die Hände und hob ihre Seele zu Gott, dankend für den friedlichen, arbeitsfrohen Tag. Und wann immer die Kirchenglocken riefen, waren sie ihr ein Mahnruf zu einem frommen, heiligen Gedanken. – Und als sie schon im Sterben lag und nach dem Ausspruch dreier Ärzte vom Leben nichts mehr wußte, nichts von den Leiden, die den zermarterten Körper zu zerreißen drohten – als durch die geöffneten Fenster das Mittagläuten vom Dorfe herüberklang, sah ich mit schauervollem Entsetzen ihre Lippen sich zum Gebete formen und sah aus ihren gebrochenen Augen zwei Tränen über die welken Wangen niedergleiten.

Ich werde keinem Worte der Ärzte mehr glauben, wenn sie von der Bewußtlosigkeit in der Agonie sprechen – wer weiß, um wieviel hellsehender der Kranke in seinem letzten Augenblicke ist, als jene es in ihrem ganzen Leben gewesen.

Meine Mutter lag im Sterben und sie betete und weinte, als die Lüfte den Sang der Kirchenglocken zu ihr herübertrugen, und heute, siebzehn Jahre nach diesem fürchterlichsten Tage meines Lebens kann ich nicht ohne heiße Tränen an jene grauenvolle Schmerzensstunde zurückdenken.

»Jahrzehntelang hat deine Mutter dich geliebt«, sagte mir Tante Sophie, als ich zwei Jahre nach dem Tode der Geliebten von meinem Schmerz um sie sprach. »Und du willst schon nach zwei Jahren ohne Weh an sie denken?«

Der Schmerz um sie wird lebendig bleiben in mir, so lange ich atme und immer wieder wird er um sie weinen!

Die Lieder an meine Mutter quollen wie Tränen aus meinem Herzen.

Ich ging zu meiner Mutter Grab ...

Ich ging zu meiner Mutter Grab,
Die Blätter hingen voll Regen,
Vom Himmel troff es still herab
Wie Segen.
Rot glühten viel Blüten aus grünem Grund,
Als sandte mir Küsse ein zärtlicher Mund,
Und über die Gräser zog es leicht,
Wie Seufzen von bebenden Lippen streicht. –
O Mutter, du warst Heimat mir,
Noch da ich kaum dich kannte,
Dem Himmel gleichend für und für
Dein Mühn sich über mich spannte.
Du warst der Gott, der mich leben gelehrt,
Du hast meine jungen Gebete erhört;
Wie auch mein Sinn dich oft verdroß,
Deiner Gaben Fülle mich segnend umsproß.
O Mutter, warum bliebst du nicht,
Bis du dein Werk vollendet,
Sieh, wie es schnell in Trümmer bricht,
Da du dich abgewendet.
Was frag' ich nach Himmel und Erde nun,
Nach gütiger Götter gütigem Tun, –
Sie alle wiegen so schal und leer,
Nur der Menschen Haß, der lastet schwer ...
So klagt' ich, Mutter, an deinem Grab,
Die Blätter hingen voll Regen,
Vom Himmel troff es still herab
Wie Segen.
Rot glühten viel Blüten aus grünem Grund,
Als sandte mir Küsse ein zärtlicher Mund,
Und über die Gräser zog es leicht,
Wie Seufzen von bebenden Lippen streicht.


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