Otto Stoessl
Negerkönigs Tochter
Otto Stoessl

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Negerkönigs Tochter

Eine Erzählung

von

Otto Stoessl

 

 

München und Leipzig
Verlegt bei Georg Müller 1910


Aus dem Sitzungssaale der ethnographischen Gesellschaft zu Wien trat ein kleiner, etwas untersetzter, aber recht beweglicher Herr, wischte mit allen Zeichen von Erschöpfung und Mißvergnügen den Schweiß von der Stirne und blickte ratlos und bekümmert um sich, bis er einen Diener bemerkte, der an einem Tische des dämmerigen Vorzimmers mit einem großen Einschreibebuche sich zu schaffen machte und im stillen den Fremden beobachtete, ohne eine Annäherung zu versuchen.

Endlich redete der Herr, der in seinem schwarzen Rock sich nicht eben wohl zu fühlen schien, den Diener an. Er hatte kaum den Mund aufgemacht, als das erfahrene Faktotum sofort den Tschechen erkannte, der selbst bei sorgfältigerer Sprachbildung sich in jedem deutschen Satze verrät.

Rasch war ein Gespräch im Gange. Der Fremde schüttete in einer Stunde dem freundlichen und behaglichen Manne sein Herz aus, so daß dieser bald alles Wünschenswerte wußte. Ist doch der Diener einer solchen gelehrten Gesellschaft oft genug in der glücklichen Lage, die umfänglichen Kenntnisse seiner Herren in einer verringerten, aber für den täglichen Gebrauch tauglicheren Form mit einer gewissen irdischen Gewandtheit und Lebensklugheit zu verbinden, welche die Ergebnisse der Forschung auszunützen weiß. Auch hat er Zeit, alles anzuhören und mitzubesprechen, Gänge zu machen, für sich und seine Dienstgeber zu sorgen, kurz die Würde der Weisheit mit dem gemeinen Leben zu versöhnen und das Ansehen der gelehrten Gesellschaft in der Welt zu heben.

Um eine ähnliche Aufgabe handelte es sich in diesem Falle. Der Herr Doktor Hesky hatte sich dem Präsidenten der hochangesehenen wissenschaftlichen Körperschaft vorgestellt, um dessen Unterstützung zu erbitten. Er wollte nämlich einen Vortrag über seine Reisen in Süd- und Zentralafrika halten, eine Ausstellung der mitgebrachten Objekte ins Werk setzen, kurz im österreichischen Vaterlande möglichst wirksam die Ergebnisse seiner mühevollen Wanderjahre bekannt machen und dadurch für seine engere Heimat Böhmen, als deren treuer Sohn er ausgezogen und rückgekehrt war, Ehre einlegen. Als diese Geschichte sich zutrug, war seine große Nation im österreichischen Reiche noch verhältnismäßig klein und für ihren regen Ehrgeiz noch lange nicht nach Gebühr anerkannt und gewürdigt. Jeder ihrer Söhne strebte damals auf einem anderen Gebiete, sich im großen Wettstreite aller Völker umzutun, als kleiner Einzelner nach seiner Weise sich bemerkbar zu machen, um seine Heimat zu Ansehen und Geltung zu bringen. Heute, wo die slawische Welt bewußt und wirksam durchgedrungen, im österreichischen Staate wahrlich laut genug vernommen wird, mag es einem Sohne der böhmischen Erde vielleicht unschwer gelingen, nicht bloß um seiner selbst, sondern gerade um seiner Volkszugehörigkeit willen, sich Stellung und Gehör zu verschaffen, zumindest wird es ihm nicht schwerer fallen, als irgend einem anderen. Damals aber, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mußte jeder Tscheche noch einen besonderen Widerstand überwinden. In seiner Bildung, in allen Wissensgebieten von deutscher Schule und Leistung abhängig und bestimmt, war jeder auch an die Macht der umwohnenden deutschen Gesellschaft gewiesen, wenn er sich behaupten und Anwert finden wollte. Und hier mußte er wieder sein von der Nationalität unabhängiges, der Allgemeinheit zugedachtes Wissen sozusagen gegen seine Stammesart durchsetzen, denn diese belastete ihn von vornherein mit einem gewissen Mißtrauen. Das war auch nicht unberechtigt, denn in dem Kampf um die Anerkennung der Nationalität stiegen zuweilen ganz merkwürdige, wunderliche und leichte Elemente an die Oberfläche und trübten das Wasser. Was gab sich nicht alles oft genug als bedeutend und empfehlenswert aus und wurde als Perle des slawischen Volkstums gepriesen, das besser im Dunkel vor die Säue geworfen worden wäre! Was trat nicht alles als Kunst, als Gelehrsamkeit, kurz als nationale Errungenschaft auf, das bei eingehender Betrachtung zerging wie eine Qualle im Sande! Kurz ein Tscheche hatte es allzuleicht und allzuschwer in der Welt. Herr Doktor Hesky bekam eben eine Probe davon zu spüren.

Er hatte dem hochansehnlichen Präsidenten der ethnographischen Gesellschaft, einem k. k. Hofrat und Professor der Erdkunde an der Wiener Universität, einem Reichsdeutschen und stolz national gesinnten Manne seine Pläne vorgetragen, nicht ohne die unleugbare, aber unwillkürliche Betonung seiner tschechischen Abkunft. Freilich bediente er sich der deutschen Sprache, aber mit beträchtlicher Schwierigkeit, so daß er, ohnehin kein Redner, verlegen, des Umganges mit gesellschaftlich hervorragenden Leuten entwöhnt, stotterte und kaum imstande war, auch nur sein Anliegen ordentlich vorzubringen, geschweige denn seine Vorzüge, seine merkwürdigen Erlebnisse, seine eigenartigen Erkenntnisse, die tausend Schwierigkeiten, die er als Forscher überwunden, die Errungenschaften, die er als Einzelner auf eigene Faust und Gefahr erwirkt, ins rechte Licht zu setzen.

Und dieser Mensch wollte in einer deutschen Stadt, in einer altberühmten deutschen Gesellschaft, vor einem deutschen Publikum von namhaftesten Gelehrten einen Vortrag halten! Das konnte nur entweder ein Schwindler sein, dem es mit seiner Sache nicht ernst war, oder ein Narr, den man mit äußerster Vorsicht behandeln mußte. Aus keinen Fall aber durfte man ihn ohneweiters zulassen und aufnehmen. Mochte er sehen, wie er auch hier allein sich zurechtfände, der Verein war nicht dazu da, sein Opfer zu werden und sich zum Gespött zu machen. Darum wies ihn der Präsident mit höflichen Worten an den Herrn Dieter, der ihn gewiß in der Durchführung der geplanten Ausstellung wirksam unterstützen würde, während für einen Vortrag augenblicklich kein Raum im durchaus besetzten Programme frei sei. So wandte sich denn der Doktor Hesky, wie eben ein hilfloser Mensch überall Hilfe sucht, wo sie sich bietet, gehorsam an den Herrn Dieter, wie ihm gesagt worden war und trug diesem seine Sache vor.

Und das war auch – wiederum wunderbar genug, wie sich nachmals erwies – das Beste und Klügste, was er tun konnte, denn mit dieses braven Dieners Hilfe wurde er als Österreichs großer Sohn, als der erste tschechische Afrikareisende und ruhmwürdigste Forscher anerkannt, für den er sich selber nicht einmal in seinen kühnsten Träumen zu halten gewagt hatte. Was wir gelten, prägt eine törichte oder weise Welt auf unser Dasein, nicht so sehr unser Wille und Wissen. Das Schicksal, das wir erleben, hat wahrlich ein anderes Antlitz, als das Auge der Welt bemerkt. Aber greifen wir nicht vor.

Der Doktor Hesky suchte, so gut er konnte, dem Herrn Dieter seine Absichten zu verdeutschen.

Zuerst berichtete er ganz allgemein von seinen Reisen in Afrika. Der Herr Dieter hörte ihn geduldig an und schränkte schließlich die Schilderung des eifrigen Mannes durch einige auf die unmittelbare praktische Absicht gerichtete Fragen ein. Was war ihm Afrika? Und wer war Doktor Hesky? Reisen konnte bald einer, Abenteuer hatte jeder bestanden, mit dem er in der ethnographischen Gesellschaft zu tun bekam, denn hier trat allmonatlich ein anderer Forscher auf und erzählte von seiner Nordpolexpedition oder vom Dalai Lama, von Marokko oder von der Südsee. Ihm mußte etwas Besonderes geboten werden, wenn er sich dafür interessieren sollte. Daß ein Urböhm nach Afrika gereist, konnte zwar immerhin als eine kleine bemerkenswerte Neuheit gelten, war aber noch nicht genug. Schließlich kam der Doktor Hesky auf die beabsichtigte Ausstellung zu sprechen. Darin witterte der weltkluge Vertrauensmann immerhin eine Möglichkeit ursprünglicher Wirkung.

»Also, was haben Sie denn, was möchten Sie denn ausstellen, lieber Herr Doktor?«

Er hatte über hundert Kisten nach Europa mitgebracht, sie sollten in den nächsten Tagen aus seiner Heimat hier eintreffen: Gefäße aus Kürbisschalen mit kunstvollen Einkerbungen, von den Eingeborenen zur Verwahrung von Honigbier, Wasser, Mehl, Tabak benützt, Waffen der Wilden, sogenannte Assagaien, die sie zu Wurf, Stoß und Stich gebrauchen, Tierbälge aller Art, Reptilien, Wasserbewohner vom Krokodil und Leguan, von den bärtigen Welsen bis zu kleinen Fischen und Echsen, Insekten, bunte Schmetterlinge, Käfer, die lebend einen stinkenden Saft gegen ihre Verfolger ausspritzen, jetzt aber unschädlich aufgespießt seien, die schönsten Konserven afrikanischer Naturwunder in Spiritus, Bälge von Schakalen, Giraffen, von großen Mäusearten, Blauböcken, Springhasen, Klippdachsen, die Häute von gefährlichen und von ungiftigen Schlangen, eine, die Schlange Ringhals, hatte er leibhaftig an den Eutern einer geduldigen Kuh saugen gesehen, ausgestopfte Vögel, die auf wirklichen Ästen wie lebendig saßen, ein schneeweißer Ibis schlummerte auf einem Bein wie zu Hause am Ufer der großen Salzpfanne, Fischreiher, Wildenten, Bläßhühner, Strandläufer, er hatte Heuschrecken aller Größen, wie man sie in Afrika als Mahlzeit zu braten liebte, sie schmeckten wie ranzige Sardellen, er hatte Tiger-, Leoparden- und Löwenfelle.

War das noch nicht genug?

Der Diener hörte ihn an und wartete auf mehr.

Ja, er hatte Hörner von afrikanischem Jagdwild.

Da schien Dieter betroffen und sein Blick verriet das lebhaftere Interesse. Das kam daher, daß er in seinen Jugendjahren selbst ein Jäger gewesen war und in seiner städtisch abenteuerlosen Gegenwart die sehnsüchtige Erinnerung an das einstige grüne Handwerk bewahrt hatte. In seiner Amtswohnung ragten von den geweißten Wänden überall Hirschgeweihe, Rehkrückel und Gemshörnchen als schöne Grüße einer schöneren Vergangenheit empor, und wo er nur konnte, kaufte er auf Auktionen derlei Trophäen glücklicher Schützen zusammen. Bei den Worten des Reisenden, er habe Hörner afrikanischen Jagdwildes, war der einstige leidenschaftliche Waidmann ein für allemal gewonnen und bezwungen.

Also wie sahen denn diese Hörner aus? Das wären kühn gewundene von Antilopen, von Bläßböcken, von Widdern, schwarz und glatt, oder bräunlich und geriefelt, wie von einer geschickten Hand gedrechselt und gekerbt, nach ein- und auswärts gebogen, zu Stoß und Fang, auch Nashörner, die dem ungefügen Tiere mitten aus der Stirne wuchsen und gelbliche Eberhauer und Elfenbeinzähne. Da lachte Dieter voll Vergnügen und sagte: »Ich habe nämlich auch viele Geweihe, die müssen Sie sich anschauen, Herr Doktor.«

Nun ließ sich schon leichter mit Dieter sprechen, und er war zu allem bereit: einem Manne, der Hörner, Hauer und Geweihe besaß, mußte geholfen werden. »Also machen wir die Ausstellung!« Während nun der Diener immer eifriger und zuversichtlicher wurde, sank der Mut des Afrikareisenden beträchtlich. Indem er von seinen geliebten Schätzen erzählte, schienen sie ihm zusehends einzuschrumpfen. Aus der vollen, lebendigen Wirklichkeit, wo all seine Beute lebend gekrochen, geflogen, geeilt war, wo sie gebrüllt, gezischt, gefaucht, gesungen, gezirpt, gebrummt, gerauscht hatte, wo sie über Busch und Wasser geschwebt, über Sand gelaufen, rasch dahin geschwommen, zierlich gehüpft, gröblich getappt, munter getänzelt, war sie nun in seine Büchsen und Bretter, tot und stumm, steif und klein eingesunken. Ebenso dünkte es ihm, müßte, was er in den sieben vergangenen Jahren leidenschaftlich erbeutet und zusammengetragen, vor den fremden kalten Augen der europäischen friedliebenden Großstädter als wertlose, staubige Prahlerei, als ein hundertfältiges Nichts erscheinen, dem man nur eine naserümpfende Verachtung entgegen bringen könne. Denn was galten seine hundert Kisten gegen die unendliche Wirklichkeit, die er leidend und genußvoll erlebt hatte, was seine sorgfältig gepreßten stillen Pflanzen gegen das rote Blühen der Wiesenteppiche, gegen die breitästigen Sykomoren, gegen die hohen Wolfsmilchbäume, oder was bedeutete das kümmerliche Hausgerät der Buschmänner, das er mitgebracht, gegen das Dasein in den Rohrhütten, vor welchen an den Abenden der törichte, einfältige Gesang der Weiber emporstieg! Was war dies alles, was war er, der böhmische unwissende Doktor in dieser großen, ungeheueren Stadt, was war all das wilde Afrika gegen diese Welt der Eisenbahnen, der Telegraphen, der Türme und Paläste, der angesammelten Gelehrsamkeit, der beredten Geschichte! Wie sollte er sich da behaupten und für seine arme Habe Geltung erwerben!

Freilich konnte er diese Bedenken nicht eben ausdrücken, denn zum ersten war er der Sprache nicht mächtig genug, eine so tiefe Beklemmung und Selbstverachtung sich so recht vom Herzen zu reden, zum anderen aber ging das alles wie eben die leisesten Gefühle und Gedanken viel zu unbestimmt und undeutlich durch seinen Kopf.

Aber zum Glück schadete ihm dieser Kleinmut nicht mehr bei seinem Gönner, in welchem die Phantasie eines einfachen Menschen erweckt, von selbst zu arbeiten begann, so daß der Herr Dieter zusehends eifriger sich in die lebhafteste Spekulation einer tatendurstigen Hilfsbereitschaft versenkte und in kürzester Zeit einen ganzen Eroberungsplan ausgeheckt hatte, der in Bälde Wien vor die Füße des Afrikareisenden legen sollte als die letzte, großartigste Jagdbeute.

Die beiden waren für ein paar Augenblicke verstummt, der Doktor Hesky bekümmert und hoffnungslos, der Herr Dieter in angespanntem Nachdenken, dem schließlich das Ergebnis kühn, ungeheuerlich entsprang und dem überraschten Forscher den Speer an die Brust setzte:

»Waren Sie schon beim Kaiser?«

Ebenso gut hätte er ihn fragen können, ob er schon auf dem Monde seinen Besuch abgestattet.

Nein, er war in Afrika gewesen, in Chrudim, in Prag und leider auch bei Herrn Präsidenten der ethnographischen Gesellschaft und gegenwärtig bei Herrn Dieter, deren Diener, aber beim Kaiser noch nicht.

Gerade das schien aber das Wichtigste. Den Kaiser mußte man doch vor allem für die Reise und für den Reisenden interessieren, der Doktor Hesky war ja ein Österreicher, so hatte er zuvörderst den Landesvater aufzusuchen. Der sollte Geld, Hilfe, Orden hergeben, das war die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Der Doktor Hesky wußte nicht, wie ihm geschah, begriff auch nicht, was der Kaiser von Österreich mit seiner Ausstellung zu schaffen haben sollte, aber wenn der Herr Dieter es sagte, der sich offenbar in solchen Angelegenheiten auskannte, bestand ohne Zweifel ein gewisser Zusammenhang zwischen ihm und dem Monarchen.

»Aber wie ich da bin, ich kann ja nicht ordentlich reden, ich habe ja keinen Frack!«

Gütig sprach Dieter dem verlegenen Manne zu, wie weiland der Herr dem Moses, dessen Zunge ungelenk und dessen Mut gering war.

»Der Schneider Rothberger hat Fräcke genug, für alle Größen, auch für Sie, das sei Ihre geringste Sorge. Und auch einen Ausstellungssaal werden wir finden, jetzt kommen Sie nur auf ein Glas Bier ins Augustinergasthaus; ich renne von dort gleich hinüber in die Burg und melde Sie zur Audienz an. Übermorgen können Sie schon mit dem Kaiser reden.

Gesagt, getan, er faßte den kleinen Mann unter dem Arm und verließ mit ihm das Haus.

Im Augustinergasthaus nahmen sie ein mäßiges Gabelfrühstück ein, und während der Doktor Hesky gegen den allzu großen Eifer seines Gönners stille Bedenken hegte, suchte dieser bereits in der Öffentlichkeit für seinen Schützling Stimmung zu machen, indem er ihn dem höflichen Wirt, dem Zahlkellner und Pikkolo als Österreichs berühmtesten Mann vorstellte; dabei flüsterte er dem Bescheidenen und Verlegenen zu: »Es kann nichts schaden, wenn man Sie überall in der Welt kennt, wer weiß, wen man noch einmal brauchen kann.« Auch ein paar Freunden des Herrn Dieter an den Nachbartischen wurde der illustre Gast gezeigt: »Haben Sie schon einen Doktor gesehen, der bei den Schwarzen gewesen ist?« Schließlich ließ Dieter die angehende Zelebrität eine Viertelstunde allein, um drüben in der Burg den Besuch des Doktor Hesky anzumelden. Als Diener der hochansehnlichen Gesellschaft hatte er auch in der Hofkanzlei seine Bekannten, so daß er dem Schützling dort die Audienz erwirken konnte, ohne daß dieser selbst sich erst vorstellen mußte. Nach kurzer Zeit kam Dieter zurück und verkündigte, alles sei in Ordnung und übermorgen werde ihn Seine Majestät empfangen, er solle sich nur genau überlegen, was er zu verlangen, zu wünschen und zu bitten habe, denn dazu nehme man doch Audienz, nun aber wollten sie sich nach einem passenden Ausstellungsraum umtun. Damit zerrte er sein Opfer aus dem behaglichen Gastzimmer fort auf den beschwerlichen Weg zur Berühmtheit. Sie besichtigten manchen leerstehenden Saal und kamen in die verschiedensten Gassen der Stadt, aber kein Lokal erschien passend. Der Doktor Hesky, des Gehens auf dem harten Pflaster, des Stiegensteigens, Straßenlärmes, der vielen Wege und Leute überdrüssig, ließ sich immer schwerer von dem starken, unermüdlichen neuen Freunde umherschleppen und verwünschte in seinem Inneren bereits die ganze schwierige europäische Lage, als sich Dieter plötzlich, mitten auf dem Bürgersteige stehen bleibend, vor die Stirne schlug: »Daß mir das nicht schon längst eingefallen ist, wir werden unsere Ausstellung im Prater abhalten.« Der Doktor Hesky erschrak, denn er wußte bloß, daß es im Prater allerhand Buden gab, wo Damen ohne Unterleib, Riesen, Zwerge, Wachsfiguren, Lachkabinette, Ringelspiele unter lebhaften Ausrufen einem vergnügten Sonntagspublikum dargeboten wurden. Hier schien ihm doch für seine afrikanischen Sammlungen nicht der richtige Platz. Aber Dieter befahl ihm, nur zu folgen, alles weitere werde sich schon finden. Also ließ er sich in die Pferdebahn schaffen. Dieter brachte ihn zu seinem Trost nicht in den Wurstelprater, wo die gefürchteten Sehenswürdigkeiten standen, sondern durch die vornehme Hauptallee bis zur Rotunde, dem leeren, mächtig gewölbten eisernen Bau, der vor ein paar Jahren noch die Weltausstellung beherbergt hatte und inmitten von schönen, nach allen Seiten ausstrahlenden Alleen bedeutend dalag. Dort stellte er den erstaunten Mann unter das großartige Kuppelgewölbe und fragte ihn: »Nun, was halten Sie davon?«

Doktor Hesky lächelte: »Nein mein Lieber, hier könnte ich vielleicht ganz Südafrika unterbringen, aber meine paar Habseligkeiten reichen nicht aus.«

»Nur Geduld!«

Damit klopfte Dieter an eine Türe, die zur Wohnung des Hausverwesers ging, rief diesen heraus, machte auch ihn mit dem größten Manne Österreichs bekannt und befahl ihm, sie in den Amateurpavillon zu führen. Kopfschüttelnd geleitete sie der Verwalter, der als guter Bekannter Dieters die Bitte nicht abschlagen mochte, zu diesem ein wenig abseits gelegenen, gleichfalls verlassenen Gebäude. Und siehe da, der einfache, mäßig große, helle Saal dieses seinerzeit ebenfalls zu Ausstellungszwecken verwendeten Hauses sagte dem Reisenden zu, nur mußte der Raum von Grund aus hergerichtet werden, denn die Dielen klafften weit auseinander und konnten nur vorsichtig, mit Sprüngen begangen werden, während unten der Keller gähnte. Überall waren Bretter einzufügen. Die seien doch wohl vorrätig. Der Hausverwalter bejahte dies, setzte aber hinzu, alles stehe unter der Aufsicht und im Eigentum des Hofes, ohne dessen Genehmigung kein Ding von seinem Platze gerückt werden dürfe.

»Ich weiß, mein Lieber, aber das soll uns nicht weiter stören, denn der Herr Doktor Hesky darf hier alles machen, Sie werden schon den Auftrag bekommen, die Hauptsache ist, daß wir den Saal hier brauchen können, bis übermorgen richten Sie die Bretter her, für die Arbeiter werden wir selbst sorgen. Hier wollen wir unsere Ausstellung veranstalten. Es ist ganz gut, daß dieser Kasten da endlich wieder einmal auf der Welt zu etwas nütze wird. Also abgemacht, stellen Sie nur alles bereit, es soll Ihr Schaden nicht sein, wenn Sie den Herrn Doktor Hesky zufrieden stellen. Auf Wiedersehn!«

Und schon waren sie draußen im großen grünen Gartenlande, Dieter lächelnd, voll Vergnügen über das Gelingen, der Forscher ein wenig betreten über die, wie ihm schien, verfrühte Zuversicht und Draufgängerei seines Begleiters, der über das Eigentum des Hofes wie über sein eigenes verfügte, Anordnungen traf und deren Billigung als selbstverständlich vorwegnahm.

In die Stadt zurückgekehrt, bestellte Dieter noch in aller Eile für den Herrn Doktor einen Frack und lud ihn dann zu sich, in seine Amtswohnung, auf ein bescheidenes Mittagessen. Der Gefangene folgte wehr- und willenlos seinem neuen Herrn und ließ sich ganz erschöpft nach diesem tatenreichen Vormittage, wieder in das Haus der ethnographischen Gesellschaft zurückschleppen, wo Dieter wohnte. Die ansehnliche Körperschaft genoß die Gastfreundschaft der alten Universität und war in deren oberstem Stockwerke untergebracht, während Dieters Dienstquartier unter dem Dache lag. Dort hatte sich der findige Mann behaglich eingerichtet. Die Fenster seines reinlich gehaltenen schrägwandigen geweißten Wohnzimmers gingen auf den alten geschlossenen Jesuitenplatz und blickten schräg hinüber auf die seine graue Barockfassade der Kirche. Besonders konnte man die Zeiger ihrer Uhr ganz deutlich verfolgen, deren Glockenspiel alle Stunden mit sanfter Würde schlug, Tauben flogen vor den Simsen oder spazierten auf ihnen kopfnickend umher, und durch eine Türe betrat man unmittelbar einen schmalen Gang neben dem Dache, der mit allerlei grünen Topfgewächsen bestellt, ein kleines Hausgärtchen bildete, von welchem man auf das stille Leben des Platzes hinabsehen konnte.

In dieser Wohnung lebte Dieter mit seiner Gattin und einem etwa elfjährigen Jungen. Die Frau hatte gerade das Mittagessen gekocht, der Bub war aus der Schule gekommen und kriegte jetzt ebenfalls den Doktor zu sehen, der bei den Schwarzen gewesen.

Die Vier setzten sich nun in der Küche an den einfach und reinlich gedeckten Tisch, und der Doktor Hesky ließ es sich bei den schlichten Leuten recht wohl sein, unter denen er sich gleich wie daheim fühlte, denn auch er stammte von armen Eltern ab. Er aß mit Freuden von irdenen Tellern das gute Sauerkraut mit Wurst und das Leibgericht des Hausherrn zum Nachtische: ein mächtiges Stück Schmalzbrot und dazu ein großes Glas »Brünnerstraßler«, das ist ein leichter säuerlicher niederösterreichischer Landwein.

Als sie nun sattsam gegessen und getrunken hatten, holte Dieter seine Pfeife von der Wand und bot dem Gast eine »kurze« Zigarre an, indem er die Billigkeit des Krautes mit dessen Wohlgeschmack entschuldigte, es würde nämlich für bevorzugte Leute in besserer Qualität hergestellt, als für die Armen, welche sonst die als »Schusterkuba« berüchtigte Sorte nicht eben zu rühmen haben. Dann streckte er sich behaglich in seinem Stuhle aus und ließ den Doktor noch einmal von Anfang an erzählen. Die stille Frau, deren sanfte, hektisch gerötete Züge ein zehrendes Brustleiden verrieten, räumte unterdes das Geschirr ab und wusch es in einem Schaff, ohne weiter die Anwesenden zu stören, indem sie ihre Arbeit so ruhig und gleichmäßig verrichtete, daß das leichte Plätschern des Wassers, das sachte Klirren der Teller, Gläser und Schüsseln wie eine melodische Begleitung des Berichtes klang; der Knabe aber sah unverwandt mit großen Augen auf den Fremdling und prägte dessen Worte tief dem keuschen Gedächtnis seiner jungen Jahre ein, so daß ihm auch das Unverstandene nicht entging und erst in weiter Zukunft recht deutlich wurde.

Wie wird einer Afrikareisender? Wie wird überhaupt ein Mensch, was er ist? Bleibt nicht jedes Schicksal, das sich im Dunkel der Kindheit vorbereitet, ein volles Rätsel? In jedem lebendigen Wesen, im unwissenden Tier, in der wachsenden Pflanze, wie im schauenden Menschen sind zwei Urmächte in einander wunderbar verwirkt: Bewegung und Gebundenheit. Die erste streckt sich zum Licht und erobert den Raum, die Pflanzen senden ihren Samen mit wehenden Flügeln weit über Land, doch zugleich harrt in ihm die zweite Kraft der Gebundenheit und läßt ihn irgendwo wurzeln, um in seiner Vernichtung wieder seine Art fortzuerben. Beim Menschen heißt die Freiheit: Wille, die Gebundenheit: Schicksal. Einem ist es gesagt, wer weiß von wem, wer weiß warum: Auf mit dir und fort! Das Kind greift nach dem Monde, der Mann ist weiser und greift nach den Sternen. Nun wandert einer, und irgendwo ist ihm schließlich ein Boden bereit, zu wurzeln und zu ruhen, und seien es vier letzte enge Wände, nach deren Decke man sich streckt. Das ist des Menschen Freiheit und des Menschen Schicksal! Mit gebundenen Gliedern fliegen ohne Fittich und mit geflügelter Seele ruhen ohne Wahl: wunderliches Dasein der Menschen!

Der Doktor Hesky stammte aus einem kleinen böhmischen Dorfe mitten im fruchtbaren Land draußen, wo die Weiber in brennend roten Kitteln, gelben Kopftüchern und blauen Jankern gehen. Vater und Mutter waren Kleinbauern, die nicht lesen und schreiben, nur beten und arbeiten konnten. Beten war ihnen eine Lust, arbeiten weniger. Darum hatten sie, wie viele ihresgleichen den einzigen Wunsch, ihr Kind möchte dereinst im Leben nur beten, nicht arbeiten müssen wie sie. Der Pfarrer war freilich der größte Mann ihrer Welt, der mit Gebet den Himmel und irdisches Wohlsein erwarb. Es gab nur ein Glück für einen Burschen, und das war, wenn er geistlich wurde. Die Pfarrer da draußen haben acht auf den Menschenwuchs, denn von dem Bestehen der Pfarrer hängt wieder ihre Welt ab, die von Rechts wegen und nach dem Willen Gottes aus Kirchen und Bauernhäusern besteht, wenn man von den großen Herren absieht, die außerhalb der gemeinen Ordnung als etwas Besonderes gelten, das nicht in Betracht zu ziehen ist. Gibt's irgendwo einen Buben, dem ein helleres Licht aus den Augen blitzt, so ziehen sie ihn an sich und lassen ihn dem Herrn dienen. Zunächst freilich ihnen selbst, als des Herrn Stellvertretern. Der Knabe darf ministrieren, das Räucherfäßchen schwingen, die Glocke läuten, chorsingen, Schuhe putzen, Stühle wischen, der Köchin helfen, kurz allerhand gottgefällige Werke verrichten. Und wenn es auch vorderhand mehr zu arbeiten, als zu beten gibt, mag er doch hoffen, einmal als Student in die Lateinschule zu kommen, zu dem herrlichen Mütterchen Prag. Die hunderttürmige Stadt steht vor den Augen des Knaben. Dort sind die Häuser von Gold.

So wurde auch dieser Kleine ausersehen, zu studieren, damit seine Mutter ihm einst als einem Geistlichen die Hand küssen dürfe und vor den übrigen Weibern des Dorfes Ehren genieße. Darum studiert doch ihr Sohn! Sein Vater starb, noch bevor der Knabe die erste Stufe der gelehrten Laufbahn erreicht hatte. Die Mutter arbeitete als Kleinhäuslerin weiter, während der Pfarrer dem Jungen ein Stipendium erwirkte, so daß er in der Tat das Gymnasium in Prag beziehen konnte. Dort erwies er sich als fleißig und begabt, wuchs aber, schier ohne es zu wollen und zu wissen, über die engen Grenzen der heimatlichen Gläubigkeit hinaus, gab nach Beendigung der Lateinschule den Plan, Geistlicher zu werden auf und gedachte, Medizin zu studieren. Da versiegten nun freilich die göttlichen Hilfsquellen. Er war auf sich allein gestellt und mußte trachten, ohne den Segen und die führende Hand der Kirche, weiterzukommen. Aber in der großen Stadt bewährte sich zu seinem Glück die weitere menschliche Gemeinschaft, die jedes Glied einer Klasse eng in ihre Kette fügt und es beschützt, weil sein Gedeihen ihren eigenen Bestand ausmacht. Das Bürgertum bildet, wie die anderen wirtschaftlichen Mächte einen geschlossenen Kreis und erhält sich durch die Kräfte aller seiner Angehörigen, deren jeder eine Zeitlang auf Kosten der übrigen leben darf, bis er selbst wieder fähig ist, für sich und seine Brüder aufzukommen. Ja mancher Untaugliche oder Faule mag getrost rechnen, sogar von den übrigen mitgeschleppt zu werden, wie etwa die Sträflinge, die nach Sibirien an einer langen Kette wandern müssen, oft meilenweit einen toten Gefährten mitzerren. Der junge Hesky blieb nun einmal in die bürgerliche Gemeinschaft einbezogen, und sie nahm ihn willig mit, mochte er nur sehen, wie er ihr später entkam. Diese Gemeinschaft war gerade zu seiner Jugendzeit doppelt eng und stark aneinandergeschlossen durch ein der Frömmigkeit verwandtes Seelenband: durch das erwachte und heftig angeschürte tschechische Nationalgefühl. Dieses litt ebensowenig wie der Glaubenseifer des Pfarrers, daß ein Landeskind, fähig seinem Stamme Ehre zu machen und dessen Geltung zu mehren, verloren gehe. Ein begabter tschechischer Student durfte nicht Hunger leiden, nicht der heimatlichen Wissenschaft entrissen werden und nicht zurücksinken in die gemeine Not. Die junge tschechische Wissenschaft konnte keinen Sohn entbehren und aufopfern. Jeder galt als köstlicher Besitz, als größere Hoffnung, sollte doch jeder einmal mit Zinseszinsen vergelten, was er empfangen hatte.

Diese teils bewußte und schon deutlich gegliederte, teils unbewußte, aber desto inständigere Gemeinschaft nahm sich auch des armen Hesky an und zwar in der Weise, wie eben unter den Menschen zumeist Göttliches und Gemeines, Mitleid und Selbstsucht verschwistert wirken. Er fand nämlich in einer ärmlichen Studentenbude, bei einem Schneidermeister, Kost und Quartier, dessen Tochter, ein paar Jahre älter als der Mietbursche, damals noch frisch und wenn auch nicht besonders schön, so doch durch ihre Jugend immerhin erfreulich, für das unwissende Herz eines weltungewohnten Jünglings nicht ohne Reiz und begehrenswert genug war. Eine rasch angesponnene, begünstigte Neigung führte zu einem förmlichen Verlöbnis, und da ein mittelloser Student nicht heiraten konnte, mußte man ihn eben so lange über Wasser halten, bis er als fertiger Doktor genug verdienen mochte, um eine Familie zu gründen und zu erhalten.

Der Vater Schneider quartierte und beköstigte daher um Gottes und seiner Tochter Berta willen den Mietburschen weiter und beschaffte, so gut es ging, auch die sonstigen Mittel zu seinem Studium, so daß sich Hesky der Medizin ergeben konnte.

Dabei vergingen nun fünf lange Jahre, und die sind in eines jungen Menschen Leben ein hübscher Zeitraum, wo man manches lernt und verlernt, Neues sieht und Altes mit anderen Augen betrachtet. Fünf Jahre machen auch ein Mädchen nicht eben jünger, und war eine vor dieser Zeit nicht schön, so muß sie es nachher nicht durchaus geworden sein. Lebt man fünf Jahre unter einem Dache, so kennt man die Braut bis in die letzte Falte ihres Gemütes, hat den Morgentau der leichten ersten Neigung abgestreift und die etwaige Enttäuschung der Ehe eigentlich längst vorweggenommen. Auch ist man unter Leute geraten, hat andere Fräulein gesehen, Vergleiche angestellt und manch eine schöner, liebenswerter gefunden. Andere sind frei, anmutig, sogar vielleicht wohlhabend und vor allem versagt. Zu Hause aber sitzt eine Braut, verwelkt, ältlich, streitsüchtig, verdrossen, arm, geplagt, kümmerlich. Einem jungen Menschen steht die Welt offen, nur ihm sollte sie durch eine Schneiderwerkstatt verschlossen sein! Kurz, man denke über den angehenden Mann der Wissenschaft, wie man will, er hatte im Herzen mit seiner Verlobten längst gebrochen, wenn er auch nicht den Mut fand, es vor der Welt offen zu tun. Aber sich heiraten zu lassen, verweigerte er im stillen mit aller Entschlossenheit. Ein Erfahrenerer und Rücksichtsloserer als er hätte nun freilich geschickter aus dieser drückenden Enge herausgefunden, Hesky aber sah sich rings von der nächsten Gefahr bedroht und plante die abenteuerlichsten Auswege. So wurde er Afrikareisender. Anders, als indem er zwischen sich und die Braut ein Meer und einen ganzen Weltteil brachte, glaubte er seinem Verhängnis nicht entgehen zu können.

Er erwog, wie seine medizinischen Kenntnisse am besten zu verwerten wären, ohne daß er sie gerade seiner bedrohlichen Ehe dienstbar machen müßte. Wenn er sich irgendwo in der Heimat niederließ, konnte er seinem Verlöbnis nicht entrinnen, im weiteren österreichischen Gebiet eine ärztliche Praxis aufzutun, verbot ihm seine tschechische Ausbildung, da er die deutsche Sprache nur kümmerlich redete. Eben dieser Umstand ließ ihm aber auch eine gewöhnliche Heiltätigkeit außerhalb seines Vaterlandes, irgendwo in der weiten Welt, wo deutsch, englisch, französisch, italienisch, spanisch verkehrt wird, aussichtslos erscheinen. Und so tauchte in seinem Kopf erst als trauriger Witz, dann immer ernsthafter und schließlich unentrinnbar wie das Verhängnis der Gedanke auf: So versuchst du es bei den Wilden! Denen gilt es gleich, ob sie englisch, deutsch, französisch oder böhmisch nicht verstehen. Damit aber war auch eine Wanderlust mit dem ursprünglichen Trieb, sich aus den unleidlichen Verhältnissen zu befreien, erwacht und erregte nun alle Kräfte des Ehrgeizes, der Begeisterung, die in einem jungen Herzen ohnehin nur auf die erste Gelegenheit des Abfluges warten. Warum sollte in ihm seine so lang unterdrückte, abhängige, rings von der deutschen eingeschränkte Nation nicht einmal auch einen kühnen Forscher hervorgebracht haben, der auf eigene Faust die Grenzen der bekannten Welt bedeutend erweiterte, im Namen seines Vaterlandes fremde Erdteile betrat und die Fahne des tschechischen Volkes auf neue Höhen pflanzte!

Den Anlaß zu solchen Ideen gab seine Bekanntschaft mit einem Kreise lebhaft national interessierter Leute. Ohne selbst besonders politisch veranlagt zu sein, nahm er deren Anregungen doch eifrig auf und bildete sie auf seine Weise weiter; ist es doch immer erhebend, wenn man selbst noch nichts rechtes getan und erreicht, eine gewisse Würde bloß dadurch zu genießen, daß man natürliche Eigenschaften, an denen man weder Schuld noch Verdienst trägt, plötzlich als besondere Vorzüge gepriesen hört und getrost hochschätzen darf. Derart sonnt sich jede Nationalität an dem Gefühl ihrer unwiederbringlichen Sonderart, die der liebe Herrgott vor allen anderen schön und trefflich gemacht hat.

Die Gesellschaft kam auf dem Altstädter Ringe in einem kleinen, behaglichen Gasthofe zusammen, der einem hervorragenden Manne der aufstrebenden nationalen Politik gehörte, dem Herren Chaloupka, was zu deutsch Hüttchen heißt, so daß der Name schon eine heimatliche Liebkosung seines Besitzes darstellte. Doch führte er noch einen zweiten schönen Ehrentitel: »Vater der Reisenden«, den er sich zuerst durch gutes Quartier, anständige Küche und zuvorkommendes Betragen verdient hatte. Später aber ging sein Ehrgeiz weiter, indem er alle Bestrebungen förderte, die dahin zielten, Söhne seiner engeren Heimat in die Ferne zu schicken, um sich dort auszubilden und die eigenen Tugenden, sowie die allgemeinen Vorzüge der Nation zur Geltung zu bringen. Diesen Schützlingen hatte der gutmütige Chaloupka manche Geldsumme selbst geliehen oder beschaffen geholfen und von den glücklichen Heimkehrenden, wie von denen, welche im Lande blieben und sich redlich nährten, Dank und Anerkennung empfangen, so daß er weithin bekannt und als eine Stütze seines Volkes angesehen war. Er hatte nur eine Leidenschaft, die er als findiger Wirt auch für seine Herberge auszunützen verstand: nämlich allerhand große und kleine Sehenswürdigkeiten zu sammeln. Man ließ ihm schon aus Dankbarkeit manche Dinge dieser Art reichlich zukommen, die Stammgäste und gar die Weitgereisten, als deren Gönner er sich erwiesen, spendeten ihm derlei, wie sie es auftrieben: der einen Schädel, welcher angeblich einem berühmten Landsmanne vor undenklichen Zeiten auf den Schultern gesessen war, jener alte Morgensterne und Streitäxte aus Hussens Zeiten, ein Händler mit orientalischen Einfuhrartikeln verehrte ihm indische Räucherpfannen, eine damaszierte Säbelklinge, einen sitzenden Buddha, ein dritter brachte ihm japanisches Kinderspielzeug und ein vierter allerhand bunte Trachtenstücke verschiedener slawischer Völkerschaften. Er besaß einen echten russischen Samowar, ein paar Silbergeräte aus Tula, etliche Dendriten aus der mährischen Schweiz, Fossilien von verbürgtem tschechischem Ursprung, ein paar versteinerte Pfähle von einem Dorfe, welches in prähistorischer Zeit bereits von Urböhmen besiedelt gewesen und dergleichen Schätze mehr.

Anfangs, als sein Vorrat noch gering war, hatte er ihn streng verschlossen und bloß Bevorzugten gezeigt, später aber bei weit gediehenem Wohlstand, als auch immer mehr Gäste ihn aufsuchten und sich um seine Gunst bewarben, hatte er ein behagliches Zimmer, das an den allgemeinen Schankraum anstieß, mit diesen Trophäen überaus lebendig ausstaffiert; da hingen alte Kirchenfahnen und Waffen über Schildern mit den Landesfarben, in breiten Glasschränken lagen die kleinen Zierlichkeiten aus, während manches heimische Hausgerät aus bäurischem Urbesitz die Einrichtung vermehrte und bunte Bilder, stockfleckige Stiche in prunkvollen goldenen Rahmen an den Wänden prangten. Dieses Zimmer nannte er erst scherzhaft, und als es immer reichlicher und schließlich so voll bestellt war, daß man sich nur vorsichtig darin rühren konnte, mit Überzeugung: »das Museum Chaloupka«. Hier zechten, die seinem Herzen am nächsten standen, und dieses Museum gedachte er in seinem Testamente der Stadt Prag als Grundstock einer großen nationalen Sammlung zu vererben.

Der junge Hesky, der im Schankraum mit seinen Gesellen zuweilen ein bescheidenes Mahl zu verzehren pflegte, trat diesem Vater der Reisenden umso näher, je mehr er seine Vaterschaft auch für sich in Anspruch zu nehmen gedachte, bis erschließlich in das Allerheiligste eingelassen wurde, das er nicht ohne frommen Schauer betrat, denn hier grüßte ihn der Geist der Wanderschaft und Ferne, der Urzeit und der Forschung, wenn auch der herzlich Unerfahrene all die versammelten Zeugnisse nicht weiter auf ihren wahren Wert und Gehalt zu prüfen verstand. Und es war in der Tat für ihn ein feierlicher Augenblick, als er dem gutmütigen und hilfsbereiten Gastherrn in diesem Zimmer sein Vorhaben entdeckte, im Namen der tschechischen Nation nach Afrika reisen und dessen unentdeckte Gebiete, die Quellen des Zambesi und was sonst dort noch dunkel war, erforschen zu wollen. Die zweite, stille Absicht, zunächst einmal Prags heißen Boden und damit seine Braut zu verlassen, verschwieg er ihm freilich. Und dies nicht einmal geflissentlich, sondern in aller Selbstverständlichkeit, denn in der Weihe dieser Stunde hatte er deren treibende Ursachen völlig vergessen und nur seine hohe Mission vor Augen.

Chaloupka, der Vater der Reisenden, war über diese Eröffnung freudig erstaunt. Welche Pläne, welche Aussichten! Vor seinem Geiste stand schon die Gestalt des heimatlichen Weltreisenden mit den angenehmen harmlosen Zügen seines bescheidenen Freundes in Bronze gegossen just auf dem Platze vor seinem Hause, da er, der Gastwirt ihn gefördert. Wer sollte den Tschechen noch ihre Armut an schöpferischen Männern vorwerfen dürfen, wenn sie einen Entdecker Afrikas der Welt gegeben! Und weiter bedachte er auch, daß, wenn der Jüngling einst mit seinen Trophäen heimkehrte, dieser eine Raum hier nicht mehr für das Museum ausreichen werde. Dann müßte er eine Türe durchbrechen lassen und ein Zimmer seiner Wohnung eröffnen, auf daß es, mit afrikanischen Dingen ausgefüllt, den Ruhm der Sammlung und seines Namens vermehre. Er sah eine Zukunft vor sich, es war eine Lust, in solchen Zeiten zu leben!

Daher zögerte er nicht, dem Bittenden seine väterliche Billigung und Hilfe angedeihen zu lassen und versprach, sowohl selbst nach Kräften zu der beabsichtigten Entdeckungsreise beizusteuern, als auch von anderen einflußreichen und geldkräftigen Landsleuten Beiträge zu erwirken. So kam nach kurzer Zeit eine Reisesumme zuwege, die freilich nicht überwältigend zu nennen war, aber Heskys kühnste Hoffnungen übertraf. Er konnte mit dem Gelde die Überfahrt bis Kapstadt bestreiten und ein ansehnliches für die weiteren Unternehmungen erübrigen. So war ihm mit dem goldenen Schlüssel das Tor der Welt aufgetan.

Sein Abschied von der Braut vollzog sich überaus rührend, er hatte ihr nämlich – die Wahrheit zu gestehen – keineswegs seine ernsten Absichten, sie zu verlassen, enthüllt, sondern sie an diejenige Absicht weiter glauben lassen, welche einem Frauenzimmer stets als die einzig ernste gilt: sie nach wie vor heiraten zu wollen. Und wie die Weiber einmal sind, schmeichelte es ihr, keinen gewöhnlichen kleinen Arzt, sondern einen Afrikareisenden zum Manne zu erhalten. Er setzte ihr seinen Plan auseinander, sich in Kapstadt nur einmal noch gerade umzusehen, wie es in Afrika stehe, dann solle sie nachkommen, oder er werde seine Entdeckungen in aller Geschwindigkeit machen und wieder heimkehren. Kurz, sie war jedenfalls gefaßt, da sie schon so lange auf ihn gewartet, noch eine weitere kurze Zeit der Trennung zu überdauern, bis er ihr endgültig und für immer angehören müsse.

Er reiste denn guter Dinge fort und fand übers Meer nach Kapstadt. Da sah es nun freilich anders aus, als er es sich vorgestellt hatte. Jeder Tag zehrte an seinem Beutel, Kleider, Wohnung, Essen und Trinken verschlangen sein Bargeld wie die Pfanne das Fett, und er mußte sehr bald von dieser Stadt, welche bereits mehrere Ärzte besaß, wegziehen und in den Diamantengruben seine Praxis beginnen. Denn nur von seinem Einkommen als Arzt durfte er die Mittel zur ersehnten Reise ins Innere zu erwerben hoffen, waren doch seine Hilfsquellen bereits gänzlich versiegt. Arg enttäuscht siedelte er sich in den Diamantengruben bei Kimberley an. Welch eine trübe, schmutzige, hilflose, verderbte Gegend! Es gab keine ordentlichen Häuser, nur eine Art von Zelten aus Eisenstäben mit Blechdächern, für die eine Miete begehrt wurde, als seien es völlige Paläste. Wie in einem Jahrmarkt standen diese Buden auf einem lehmigen und steinigen, weglosen Boden da, von jedem Sturm und Regen bedroht, so daß gar oft das Dach über seinem Haupte weggerissen wurde und die kalten Wettergüsse auf ihn niederprasselten. Er hatte einen Schlafraum und eine ärztliche Werkstätte. Unter welchem Gesindel übte er seine Tätigkeit aus! Schmutz und Ausschweifung waren die Nährväter der Krankheiten, selbst reines Trinkwasser fehlte, alle Elemente menschlicher Gesittung schienen hier zerrüttet und von Grund aus verdorben. Es gab keine Familie, keine geordneten gesellschaftlichen Zustände, nur Abenteurer, die überall auf der Welt sich als zu schlecht erwiesen hatten, glaubten sich hier gut genug, reich zu werden. Das alles grub nach den Diamanten. Lumpen aus aller Herren Gebiet, Holländer, Engländer, Deutsche, die vom Glück begünstigt, in den Feierstunden die wüstesten, lärmendsten Gelage abhielten, wozu bei allem sonstigen Mangel doch sogar hier sich Gelegenheit bot. Wenn keine andere Errungenschaft des Zusammenlebens von Menschen gedeihen will, die niedrigste Vergeudung von Kraft und Geld gelingt überall. Branntwein und Champagner, internationale Tingeltangel, Operettenmusik und Negertänze, verkommene Dirnen, Zuhälter, Hasardspiele finden sich ohneweiters zusammen. Dazwischen betrunkene Korannas oder Hottentotten, die eine Woche lang als mißhandelte Sklaven in die Gruben gejagt, am Sonnabend ihre Herren an Wüstheit übertrafen, auf dem Platz ein unaufhörliches Schreien, Feilschen, Tiere brüllend und in offenen Hürden stampfend, Pferde, Rinder, dazwischen Buden mit Jahrmarktwundern und Akrobaten, dann eine Straußenherde durchgejagt, hier wieder Farmer und Zeltwagen auf Besuch, den Wirtschaftsbedarf einzuholen, Flintengeknall, Peitschengeklatsch, über allem aber ein trostloser Himmel, öde Landschaft ohne Hügel, ohne Wald, ein Wüstenboden ohne Einsamkeit, in der Ferne das Gebell der Schakale, über dem Haupte Geierflüge, die irgendwo in dem Treiben ein Aas wittern.

Hier begann er seine ärztliche Praxis und erfreute sich großen Zuspruches, denn kein anderer hatte es hier noch ausgehalten.

Wie oft schlief er, zum Schutz vor der afrikanischen Nachtkälte in seine Kotzen eingewickelt, und wurde morgens durch ein Zischen zu seinen Füßen aufgeweckt und sprang in wahnsinnigem Schreck auf, denn eine Kobraschlange hatte in seinen Decken Schutz gesucht und fauchte jetzt empor.

Wie hatte er von der Einsamkeit des fremden Landes geträumt und wie trostlos war diese Einsamkeit ohne Ruhe, dieses wüste Kauderwelsch von bösen oder verlorenen Menschen ringsum, diese Abgeschiedenheit eines geistigen Mannes von jedem würdigen Verkehr, von jeder Anmut des Umganges!


   weiter >>