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In einem deutschen Landstädtchen hausten zwei alte Eheleute Severin und Schosinchen. Da sie weder eine Familie waren, noch eine hatten, besaßen sie keinen Familiennamen. »Schosinchen« war durch Abkürzung und Verlängerung von Georgine entstanden. Die Hexe nannte sich selber so, wie sie vor undenklichen Zeiten etwa als undenkliches Kind war gerufen worden, und die Leute riefen sie auch mit diesem Kosenamen, freilich ohne Grund zur Zärtlichkeit und Absicht. Das ekelhafte, schmutzige, in Lumpen starrende Weib betrieb in den Straßen oder auf freiem Felde, wo immer sie eine Gabe erwartete, ihren Bettel, indem sie, einen alten Sack auf dem Rücken, dahinstreunte und sobald sie eines Menschen ansichtig ward, je nach dessen Art klagend, drohend, verheißungsvoll, angstschlotternd, zärtlich, flehend oder fordernd »Schosinchen« zu singen anfing, um danach in eine Litanei überzugehen, deren Sinn und Wortlaut man nur erraten mußte, es sei denn, daß kleine Kinder die schrecklichen Geschichten genauer verstanden, mit denen sie ihnen ein Stück Brot, Wurst oder Süßes herauslockte. Vielleicht verstanden auch die Bäuerinnen die Litanei, die Schosinchen ihnen vorsang und beeilten sich, das endlose Geplapper und Geplärr 232 durch ein Stück Speck oder einen dargereichten Teller Suppe abzukürzen, weil sie irgendeine Behexung, eine kleine Brandlegung oder Stallbezauberung, eine gesprochene Hühnerseuche oder gedrohte Schweinepest fürchteten, wenn Schosinchens Rede unerhört zu Ende geredet worden wäre.
Besondere Künste oder Tätigkeiten brauchte Schosinchen nicht auszuüben, denn ihr bloßes Erscheinen und Plappern genügte, daß sie ihren Bettelsack mit dem Nötigsten anfüllen konnte, womit sie sich und auch ihren Gefährten auf dem Laufenden erhielt. Severin tat wirklich nichts als Landlaufen. Er trug einen mannigfaltig zusammengeflickten Rock, Fetzen um die Füße, knotzte auf Steinhaufen, Meilenzeigern, stand stumm an Ecken oder wankte auf den Wegen und begrüßte die Vorübergehenden durch ein mehr oder minder höfliches, nach Rang und Stand bemessenes Kappenlüften samt zugehörigem Tageszeitwunsch. Er bettelte nicht, sondern nahm nur, was ihm freiwillig gereicht wurde. Zum Betteln war er zu stolz oder zu vorsichtig, denn in diesem Falle hätte man vielleicht die Notwendigkeit seiner Armenunterstützung nachgeprüft und ihn am Ende gar zum Steinklopfen, Straßenkehren, Schneeschaufeln oder sonst einer gemeinnützigen Scheintätigkeit verhalten. Das wollte er unbedingt vermeiden. Noch im Kriege ging es dem Landstädtchen leidlich und auf die paar Armenpfennige mehr oder weniger kam es nicht an. Ein Quartier, wodurch er der Gemeinde und der wachsamen Armenkonkurrenz anderer Unnützer lästig 233 geworden wäre, beanspruchte Severin ja nicht, sondern fand mit seinem Schosinchen einen Gelegenheitsunterschlupf unter eine Brücke in einem verlassenen Heustadel, auf einem Dachboden, im Sommer in einem Laubhaufen im Walde, in einem Winkel der alten Stadtmauer, was weiß ich, wo sonst. Die Sache änderte sich erst bei Anbruch des Friedens, als die Steuern und die Not wie ein Hochwasser anstiegen und allen sicheren Bestand wegschwemmten. Man wollte nun die Gemeindelasten »abbauen«, um wenigstens manches Leidige über den reißenden Strom hinabzuschicken und so das Bessere womöglich über Wasser zu halten. Jeder, der zahlen mußte, hielt auf eigene und auf allgemeine Rechnung fürchterliche Musterung ab unter denen, die bisher nichts gezahlt, jeder Tätige unter den Untätigen, und sogar aus denen, die man mehr notgedrungen, als barmherzig fütterte, sollte irgendeine Gegenleistung herausgepreßt werden.
An Schosinchens Lebens- und Bettelkunst scheiterte freilich jeder solche Versuch. Erstens weil man ihre Strafgesänge scheute, zweitens weil sie nach Bedarf auf beiden Ohren taub, an beiden Augen blind, am ganzen Leibe, außer am Munde, mit Schwächen geschlagen sein konnte und auch im Kopfe unrichtig, wenn sie etwas Mißliches verstehen sollte, drittens weil man im allgemeinen in diesem Landwinkel ohne größere Betriebe wenig auf weibliche Tätigkeiten hielt. Mochte sie denn weiterhin die freiwillig unwilligen Zuwendungen einstreichen und jeder Naturalbesteuerte aus eigenem ihr Deputat kürzen. Schosinchens Erhaltung 234 blieb also Privatsache. Aber auf Severin, als auf einen noch immer vergleichsweise Rüstigen, fiel das Auge der Obrigkeit ohne Zwinkern, war doch jeder männliche Einwohner, der keinen maßlosen Leibschaden aufwies, als eine organisierte Ansammlung von Knochen, Muskeln, Blut, Nerven und so weiter eine volkswirtschaftliche Tatsächlichkeit, die nicht ungenützt auf der menschlichen Arbeitserde existieren sollte. Das gemeine Wesen sah sich nämlich von anders gestimmten organisierten Ansammlungen von Knochen, Muskeln, Blut, Nerven usw. bedroht, die sich in Gestalt von ehemaligen Soldaten, Arbeitslosen, Freiwilligen, Begeisterten, Verzweifelten, zu Haufen zusammenschlossen, um ihre Kräfte mittels Handgranaten, Maschinengewehren, Flinten, zur Erreichung öffentlicher, aber auch dringendster privater entgegengesetzter Ideale auszunützen. Wer nun auf edlen Lebenszwecken, wie einem Haus und Garten und Gut, einer eingerichteten Wohnung, einem vollen Kleiderschrank, einem sicheren Einkommen, einem guten Nahrungsvorrat saß, spürte es darunter immer heißer werden und fürchtete, es endlich nicht mehr auszuhalten, zumindest gab es unendliche Störungen und Bedrohungen. Einerlei, ob der Putsch oder die Revolution, oder wie man die Gesinnungsmuskeltätigkeit nannte, von rechts nach links, oder umgekehrt zog, auf dem Wege lag immer sehr viel, was abhanden kommen konnte, wenn man es nicht behütete, insbesondere bei Nacht.
Nun hatte man beobachtet, daß vor Severin und Schosinchen alle Hunde, vom Straßenköter bis zum 235 edelsten Rassenschnauzer, zu heulen anfingen, sowie sie ihrer anrüchig wurden und den beiden noch nachbellten, wenn sie längst verschwunden waren. Das ganze Tal hallte von den Zorn- und Klagerufen wieder und der Lärm legte sich erst nach Stunden. Namentlich bei Nacht störte er den Schlaf der Welt. Aber in diesen tollen Zeiten war gerade diese Eigenschaft eines Hundeerweckers erwünscht, denn solange die Tiere wegen Severin heulten, waren sie gewiß auch für andere unerwünschte Gäste wach, die sich sonst sogar mit den sogenannten Treuen auf guten Fuß zu stellen wissen. Das wäre ein unbegabter Einbrecher, der Hunde sich nicht wohlgesinnt zu machen verstünde.
So bestellte man Severin zum Nachtwächter und besetzte einen Posten wieder, der längst abgeschafft worden war, weil man in den früheren aufgeklärten Zeiten das nächtliche ausrufende Umherziehen mit Spieß und Laterne für nutzlos altertümlich gehalten hatte. Jetzt kam die Sitte wieder zu Ehren. Severin konnte sich dem würdevollen Beruf nicht entziehen, den ihm der Gendarm namens der Obrigkeit übermittelte, als der Hundeschreck mit Schosinchen gerade in einem verlassenen Kellerloch vor einem rauchigen Feuer saß, woran das Weib ein brenzlig und fett riechendes Stück Fleisch briet, während der Mann bereits ein ganzes Trumm in der Hand hielt und davon abbiß. Rundherum heulten die Hunde.
Severin bekam alsbald den historischen Nachtwächterspieß, die Laterne, sogar einen ausgedienten Schafpelz und als Entlohnung ein ständiges Quartier 236 im verfallenen Stadtturm, der eine einzige Stube hatte, ungemörtelt, ungefugt und ungemalt. Durch die bröckeligen Steine pfiff die Luft, um das Fenster heulte der Sturm, der sich auch in der verfaulten, abgetretenen Holztreppe verfing, über die man in diese Behausung gelangte, aber es war doch immerhin eine Wohnung und für das Paar eine Standeserhöhung, deren sie sich erfreuten. Sie bereiteten sich aus Lumpen ihr Lager, sie machten sich einen Herd zurecht, sie kochten und brieten, wenn Schosinchen von ihren Wegen heimkam, auch Severin brachte unter seinem weiten Schafpelz manchmal etwas Erwünschtes zum Vorschein und sie genossen das Gegebene unter der langgewohnten Hundemusik rundherum.
Eines Tages aber geschah das Erwartete. Die »Räte« kamen. Ein Automobil fuhr unter lautem Clacon-Geheul auf dem Platz des Städtchens vor. Acht oder zehn bewaffnete Männer stiegen aus, deren Gehaben zu den schlimmsten Erwartungen berechtigte. Sie trugen Flinten über die Schulter, ein Maschinengewehr sollte sich wohl im Kraftwagen befinden, Kanonen nachkommen. In der Tat hörte man von Zeit zu Zeit eine viertelstundenlange Schießerei durch das Tal bellen, vom Wiederhall der Berge verstärkt, ärger als jedes Hundegeheul, das man unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr beachtete. Die Herrschaften ließen das Automobil auf dem Hauptplatze stehen und stiegen aus, um ihre Macht im Ort und in der Umgebung anzutreten. Sie trugen ähnlich zerlumpte Beinkleider wie Severin, die mit einem 237 Strick über die Schulter und dem Hemde festgehalten waren. Zu diesen Hosen und den fragwürdigen Hemden hatten sie weder Westen noch Röcke, sondern elegante, neue, helle Modeüberzieher von bester Fasson, vermutlich die ersten Beutestücke auf dem Weg ihrer Welteroberung. Die Kopfbedeckung schien nicht streng vorgeschrieben. Der eine hatte eine Soldatentellermütze, der andere eine Radfahrerkappe, ein dritter den Lederhut eines Chauffeurs, ein vierter eine zerbeulte Pickelhaube, ein fünfter einen schwarzen Demokratenhut a la 1848, ein sechster war barhaupt und schüttelte seine glatte Mähne im Winde, ein siebenter erfreute sich eines glänzenden Strohhutes mit schwarzem Seidenband.
Ihre Ankunft, wie durch Witterung vorausverkündet, jagte alle Einwohner in die Flucht oder wenigstens in den Schutz der Häuser und Gehöfte. Die Leute flohen rudelweise von den Feldern und die stärksten Knechte mit Sensen und Heugabeln als ihren natürlichen Waffen, dachten nicht entfernt an ihre eigene Wehrbarkeit, sondern nur an das allgemeine Entsetzen dieses offenbaren Weltgerichtes. Sie berichteten, die Eroberer würfen Handgranaten und überall knallte es, wo sie sich zeigten. Daß dieses Knallen von sogenannten Fröschen herkam, mit denen die »Räte« versehen waren und die sie furchtlos brauchten, wußte niemand. Auch nachher, als die sogenannte Bewegung bereits historisch im Sande verlaufen und die »Räte« verduftet waren, leugneten die einheimischen Helden standhaft: wären sie denn 238 vor Fröschen so gerannt? Obschon bisher niemand ein Haar gekrümmt worden war, hielt es jeder für sicherer, sich zu verbergen und nicht blicken zu lassen, ja, auch selbst womöglich nicht zu blicken.
Die »Räte« spazierten denn auf dem Marktplatz herum, stellten Wachen aus und schienen selbst die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Der Apotheker des Ortes, der einzige, der sich vermöge seines hilfreichen Berufes von vornherein, wenn auch bänglich neutral fühlte und seine Offizin pflichtgemäß offen hielt, wanderte – die Neugierde war stärker als die Furcht – von der rechten Pflasterseite auf die linke, bog in die erste Nebengasse ein und kehrte durch die zweite zurück, rekognoszierte das Städtchen, das sich ja recht bald in einzeln stehende Häuser, Villen mit Gärten, Bauerngehöfte auflöste und unter dem Schrecken stumm und platt auf dem Rücken lag wie die gewissen Käfer, die sich, gefangen, tot stellen und den Augenblick der Erlösung abwarten, um dann hoch aufzuspringen und davon.
Der Apotheker begegnete auf seinem Spaziergang einem Maler, der in der Nähe ein kleines Anwesen besaß, wo er unbezahlte und unbestellte Studien nach der Natur und nach seinen Launen anfertigte, im übrigen aber vom Ertrag seiner Wirtschaft bescheiden und vergnügt dahinlebte. Der Maler schlenderte, seine Pfeife im Munde, seine gestrickte Wollmütze auf dem Kopf, unbekümmert durch den Ort, wo er eine Kleinigkeit hatte einkaufen wollen. Aber alle Läden waren geschlossen und er mußte darauf 239 verzichten. Das machte ihn verdrießlich. Er schaute recht grimmig drein. Der Apotheker, klein und scheu, hielt sich zur Linken des hochgewachsenen Malers und redete besorgt in ihn hinein. Der andere hörte ihm mit halbem Ohr zu, denn er wollte sogleich die fürchterlichen Eroberer aus der Nähe besehen. Da hatte sich aber wiederum etwas Neues ereignet, und zwar just vor der Apotheke auf dem Hauptplatze. In der »Offizin« waren die »Räte«, vor ihr spazierten zwei als Patrouille, das Gewehr über dem hellen Überzieher geschultert, die Hosen mit dem Strick unter der Eleganz hochgehalten. Der Apotheker flüsterte entsetzt, ob es wohl bereits Tote oder Verwundete gebe, gewiß holten sie Verbandzeug! Der Maler grinste und warf einen grimmig verächtlichen Blick auf die Wachen, während der Apotheker die Gelegenheit benützte, um von dem gefährlichen tolldreisten Freunde abzurücken und in sein Geschäft zu stürzen. Die beiden »Räte« gaben des Malers Blick scheu zurück, wußten sie doch nicht, ob in ihrem Rücken, in der Großstadt, auch alles noch in Ordnung war. So eine neue Herrschaft bleibt lange bedenklich. Vielleicht hatte der Riesenkerl mit der Pfeife, den doppelsohligen Röhrenstiefeln, den breiten Schultern und den festen Blicken neuere Nachrichten als sie. Man konnte nie wissen! Vielleicht wurden ihre Rätekollegen daheim bereits füsiliert.
In der Apotheke saßen die »Räte« auf den sauberen Strohstühlen und tranken des Apothekers stadtbekannte gute Schnäpse, die sie vom Gehilfen gefordert 240 und erhalten hatten. Der Apotheker grüßte verlegen, seine schöne Sammlung dieser bunten Begleiter der Sorgen war dahin, immerhin schien wenigstens die blanke Zählkasse unversehrt, wie er durch einen Austausch von Blicken mit dem Gehilfen feststellte. Die »Räte« begrüßten ihn mit rauher Höflichkeit durch ein Scharren der Füße auf dem Mosaikfußboden, die Likörgläschen ließen sie nicht aus den Händen. So beschäftigt, blieb der Apotheker lieber in seinem Laden und ließ das Rekognoszieren. Der Maler, der sich diese Revolution nicht anders gedacht hatte, ging heim. Eine Weile danach traten die »Räte« gestärkt und erleuchtet ins Freie und berieten das weitere.
Was sie abmachten, läßt sich heute nicht genau angeben. Nur eins steht fest: sie trafen Severin, der, den Spieß in der Hand, im Schafspelz, mit der Laterne, die Füße in Fetzen wie immer, herbeitorkelte, auf dem Platze den neuen Herren gegenüberstand und nach seiner vollendet höflichen Art mit weitem Kappenschwung grüßte, indem er guten Tag wünschte.
Daraus ergab sich ein zwangloses Gespräch, die »Räte« zogen ihn in ihren Kreis, sie verstanden sich gut mit ihm und marschierten alsbald, das Automobil unter sicherer Bedeckung zweier Posten zurücklassend, unter seiner Führung, ins Amtshaus. Sie fanden es leer. Severin setzte sich mit ihnen an den langen Beratungstisch. In diesen Stunden war er ohne Zweifel auf der Höhe seines Erdenlebens. Man ließ aus dem Gemeindewirtshaus im Wege des Staatskredits Speise und Trank, viel Trank, holen und berichtete beim Essen 241 und feuchtete die Redegurgeln an. Erst spät am Nachmittag zog sich Severin in seinen Turm zurück. Die Hunde heulten.
Die »Räte« waren wieder auf dem Marktplatz vor dem angekurbelten Automobil, berieten wieder, schossen wieder einmal zehn bis zwölf Schüsse ab. In die Luft. Das konnte nicht schaden. Die Straßen blieben unbeleuchtet. Die alte Obrigkeit hatte das Elektrizitätswerk außer Betrieb gesetzt.
Einige »Räte« hatten einen Rekognoszierungszug gemacht und waren, da sie alle Häuser und Gehöfte geschlossen fanden, wenigstens über Gitter und Zäune geklettert zur näheren Besichtigung. Die Hunde hatten ordentlich gemeldet, aber die Bewohner waren, aufs Schlimmste gefaßt, stumm in den dunklen Stuben sitzen geblieben. Die »Räte« fanden vorerst nichts Neues zu unternehmen. Nur einer glaubte, etwas wenigstens ausführen zu sollen. Er kettete die Hunde los, wo er einen in einer Hundehütte fand. Er machte sich alle durch Fütterung mit den reichlichen Fleischresten der Mahlzeit geneigt. Er hatte ein Herz für die Hunde und schien seinen Plan, sie zu befreien, schon längst gefaßt zu haben, denn er hatte diese Brocken sorgfältig gesammelt und in einen großen Sack gesteckt. So begrüßten ihn die Hunde und keiner tat ihm etwas Übles.
Die Haus- und Hofhunde, seit Hundegedenken des Abends in ihren Hundehütten gefesselt, waren nun frei und bekamen statt ihrer Treue zum ersten Mal ein anderes Gefühl und eine Ahnung ihrer Rechte, 242 verbunden mit einer gewissen Vergeßlichkeit gegen ihre Pflichten, Dorfköter, Pintscher, Rattler, deutsche Schnauzer, weißhaarige, boshafte Spitze, stämmige Doggen, russische Windspiele, ja sogar die besonnenen Dackel lärmten und schwärmten durcheinander, liefen den »Räten« durch die Füße, jagten einander, es ging heiß, rasch und hurtig durch die Straßen ins Freie. Sie verloren sich in die Felder, sie hinterließen an den Ecksteinen ihre Nachrichten für die befreite Hundeheit, sie gaben sich mit Freudengeheul Meldung vom Anbruch der neuen Zeit und meinten, wenigstens für die nächsten Stunden nicht zu ihren angestammten Herren zurückzukehren, die ja auch augenblicklich kaum an ihre Hunde dachten.
In den Wäldern liefen Hunde, balgten sich auf den Stoppeln der Felder, feierten Begegnungen auf den leeren Straßen, große turnten mit kleinen und es gab einen gewissen Platz im Freien, wo sich viele, so verschiedene durcheinanderhetzten, bellten, sprachen, antworteten, beherzt und niederträchtig waren, daß es wahrlich einer Revolutionsversammlung gleich sah.
Severin ruhte indessen in seinem Turmzimmer von den Anstrengungen des Tages aus und wartete auf die Zeit, wo er seinen nächtlichen Berufsweg antreten mußte.
Gerade an diesem Abend brachte Schosinchen, die sich um Politik nicht kümmerte, vielmehr wie die meisten Frauen von ihr nichts wissen wollte, weil sie das Geschäft stört, in ihrem Bettelsacke nur einen, allerdings sehr fetten Schoßhund mit, den sie mittels 243 einer Drahtschlinge als einzige Tagesbeute gefangen hatte, denn alle Häuser und Höfe waren verschlossen und nirgends konnte ihre Schosinchen-Litanei angebracht werden. Auch dieses dumme Tier hatte sich irgendwie befreit und an der allgemeinen Erhebung teilnehmen wollen. Es war ortsunkundig und schwerfällig aus dem Bereich der Häuser ins freie Feld geraten. Von den beweglichen und begeisterten Hunden verachtet, nach kurzen zweifelhaften Berichten als Kapitalistenbestie festgestellt und nicht ins Vertrauen gezogen, zu näheren Beziehungen durchaus ungeeignet, lief es hoffnungslos hinter den anderen her, solange es konnte und vernahm immer das jauchzende Geheul, das sich aber hinter den Bäumen, in den Bergen verlor, wo die Hasen aus Angst vor den vielen Hunden rannten und Purzelbäume schlugen. Immer langsamer und müder bewegte sich das schwerfällige Tier weiter. Gewissenhaft untersuchte es jeden Eckstein und schnüffelte an jeder Spur. Was nützten ihm alle die Nachrichten an den Mauern! Endlich blieb es schnaufend und sterbensmüde auf dem Wege liegen in seiner Verfettung. Alles war ihm gleichgültig: Freiheit, Futter, Hunde und Herren, Stadt und Ort und Zeit. Es bewegte sich nicht einmal mehr zur Flucht, als es Schosinchen, die gefürchtete, gehaßte Feindin des Hundegeschlechtes, einherkommen roch.
Schosinchen hatte gar keine Mühe, das dicke Tier zu fassen, würgte es mit der Drahtschlinge rasch ab und steckte es in den Bettelsack, der ganz leer war, gab es doch heute keinen Bissen Brot, kein Stückchen 244 Speck oder Gemüsereste, kein Töpfchen Buttermilch oder Suppe oder Hundefutter, das sie sonst auch gelegentlich mitnahm. Schlimme Zeit! Schlimme Zeit! Ärgerlich, ihre Schosinchen-Litaneien für sich allein murmelnd, war die Alte den ganzen Tag mit knurrendem Magen und Herzen gewandert. Ein wahres Glück, daß sie zu guter Letzt diesen guten Bissen gefunden!
Darum machte sie sich mit Severins Hilfe ungeduldig an die Zubereitung. Auch er bekam wieder Appetit, daran fehlte es ihm nie und das Mittagessen war längst verdaut. Rasch wurde das Tier abgehäutet, zerlegt, die Hälfte für morgen aufgehoben, die andere Hälfte über dem Feuer gebraten. Holz hatte sie immer aus den Vorräten des Waldes. Das Fett troff nur so von dem gerösteten weiland Schoßhund und er schmorte darin unter Bruzzeln und Bratengeruch. Wachholder duftete darin. Schosinchen verstand sich auf die Hundefleischküche.
Draußen heulten die freigelassenen Hunde mit den freien Winden um die Wette, die kalte Luft pfiff durch die bröckeligen Mauern, aber Schosinchen und Severin hörten und sahen nichts im Vorgeschmack der guten Mahlzeit. Dann aßen sie und murmelten einander die Tagesnachrichten zu. Schosinchen war auf die neuen Dinge nicht gut zu sprechen und wahrsagte ihnen keinen Bestand. Hingegen erwartete Severin wenigstens für die Nacht noch einen richtigen Trunk von Bier, Wein und Schnaps im Gemeindegasthaus, denn das gehörte zur kürzesten Freiheitserrungenschaft. Was hatten übrigens er und Schosinchen zu fürchten? 245 Hatte sie wer gesehen oder wie man so sagt, betreten, hatten sie gestohlen, Bomben geworfen oder auch nur Frösche? Hatten sie Eigentum bedroht? Das Eigentum war doch in den Häusern eingesperrt geblieben und saß gerade jetzt angstvoll im Dunkeln. Die kümmerliche Nachtwächterlaterne war vielleicht das einzige Licht in der ganzen Gegend und etwa noch die Lampe im Gemeindewirtshaus über dem Tische der »Räte«. An die konnte man sich halten, wenigstens für heute. Severin erhob sich, band seine Fetzen zurecht, nahm den Spieß und die Laterne, schloß seinen Schafpelz und trat seinen rufenden Abendweg an, auf dem er im Gemeindewirtshaus zwischen den Stunden zu rasten gedachte. Er war ja mit den »Räten« in bestem Einvernehmen, er rechnete auf einiges getrostes Mittrinken. Auf Reden kam es ihm weiter nicht an. Die Unterhaltung mit Schosinchen hatte sich in der kurzen Sprechweise der alten Landstreicher abgespielt mit Andeutungen, Winken, praktischen Nachrichten über allerhand mögliche Enteignungsaussichten halb politischer, halb privater Art. Schließlich schürzte auch Schosinchen ihre Lumpen, löschte der das Feuer, barg die Reste der Mahlzeit in einer hohlen Mauer, und die beiden stiegen über die knarrende Holzstiege vorsichtig zum alten Stadtgraben hinab.
Schosinchen sang nach ihrer Gewohnheit bereits auf dem Wege ihren Namen als Zauberweise, wunderlich gezogen und weinerlich, wie vor ewigem Selbstmitleide.
Kaum aber waren sie im Freien auf dem feuchten 246 Boden, so begann das Hundegebell rundum. Eine Stimme in der Nähe fing an und meldete sie, die beiden Hundsmörder, eine zweite, weitere empfing die Nachricht des Frevels und gab sie heulend, klagend fort. Dritte, vierte, zehnte, hunderte Stimmen fragten, antworteten, zürnten, stöhnten, rasselten, röchelten in allen Lauten der dumpfen, fremden Hundesprache.
Ein verachteter gemästeter Schoßhund war umgebracht worden, wie vor ihm schon mancher verlassene Köter, den Severin oder Schosinchen mit der Drahtschlinge kaltgemacht und daheim gebraten hatten, denn sie liebten das Fleisch gerade von Hunden. Aber es waren doch immer Hunde gewesen, Brüder, Schwestern, Anverwandte der Tiere in der ganzen Gegend. Immer hatten die Beleidigten nach jeder solchen Untat und Mahlzeit geschrieen, witterten sie doch den Mord, rochen das Fleisch ihrer Nächsten im Fleisch der satten Hundefresser, dieser beiden Elenden. Von Severin und Schosinchen nahmen die Hunde keinen Bissen, vor denen gaben sie keine Ruhe, von ihnen ließen sie sich nicht besänftigen und darum bellten sie unaufhörlich, wenn Severin nachts an ihren Hütten vorüber kam. Sie zerrten wütend an ihren Ketten, als müßten sie sie endlich zerreißen.
Heute waren sie frei, heute hatte sie ein Edler losgebunden, heute hatten sie ihren Tag, ihre Nacht! Sie waren in den Feldern umhergerannt, in den Wäldern hatten sie sich getummelt und ihr Fest gefeiert, sie hatten einander besprungen mit Biß und Liebe, sie hatten einander berochen, beschnuppert, 247 gebissen, angebellt, gejauchzt und geschwatzt, sie waren weggelaufen und wiedergekommen, unbekümmert um das Futter. Wer dachte da an Futter! An diesem Tag und Abend waren sie wieder wild wie in den Urzeiten ihres Geschlechtes, das von den Wölfen abstammt und nahe von den Schakalen oder Hyänen. Heute hatten sie den Menschen verlernt und den Menschengeruch, dem sie treu waren, wußten sie, warum? Und gerade an diesem Tag und Abend mußten sich zwei Menschen gerade an ihnen so versündigen!
Ein Tier sprang aus dem Gebüsch hervor, ein Wolfshund aus einer Villa reicher Leute, nur durch eine schmale Stufe vom Urwolf geschieden, auch an der Kette immer ein gefährlicher Kerl, der jeden andern, als den Hausgenossen anfiel, wenn er ihn fassen konnte. Einer, vor dem die Tafel mit Recht warnte: Achtung! Scharfer Hund! Einer, für dessen Angriffe die Eigentümer schon manche Entschädigung wegen zerrissener Kleider und dergleichen hatten zahlen müssen. Einer, der nicht einmal auf den Ruf der Herrschaften abließ, wenn er eine Wade gefaßt hatte. Der hatte heute Freiheit wie Blut getrunken, der war zuerst zur Stelle und sprang Schosinchen und Severin an. Beide flüchteten, fest waren sie ja nicht auf den Beinen und dazu noch angegessen von der Mahlzeit. Der Wolfshund warf sich auf Schosinchen und warf sie um, er biß sie ins Bein, dann ließ er sie und eilte Severin nach, den er zugleich mit einem zweiten, dem Hunde des Schlächters, dem riesigen Hektor, 248 erreichte. Beide bissen sich in Severins Schafpelz fest, rissen ihn ihm vom Leibe, andere Hunde stürzten herbei: blutgierige Spitze, wütend bellende stichelhaarige Schnauzer mit den verwilderten ganz und gar unfrisierten, dummen, rohen Köpfen. Sie zerrten an Schosinchen, an Severin, der sich mit seinem Spieß nicht wehren konnte, sondern über ihn stolperte und hinfiel, wobei die Laterne auf dem Boden zerklirrte und erlosch. Die Angstrufe der beiden verhallten neben dem Lärm. Die Hunde bellten, klagten an, schrieen, heulten, sprangen um ihre Beute, keine Menschenstimme konnte dieses Gericht durchdringen. Zweimal, dreimal versuchten Severin und Schosinchen sich aufzurichten, gleich waren sie wieder niedergeworfen, auf der Schulter, auf dem Rücken stand ein Hund. Mit ihren Fetzen spielten Hunde, sprangen darin umher, traten sie, jauchzten, noch war was zu holen, ein Lappen vom Fuß, ein Fleck vom Rock, ein weißes Stück Hemd. Die Schnauzer, die Spitze, die Doggen, die Bulls bissen in Menschenfleisch, der Wolfshund schlug seine Zähne in Severins Bauch. Zwei Dackel, von Natur besonnen, standen dabei, beobachteten ruhig und begnügten sich, still zu warnen. Sie wurden nicht berücksichtigt.
Am Morgen fand man Severin und Schosinchen nackt aus unzähligen Bißwunden blutend, aus Schrecken, aus Schwäche gestorben an der Stadtmauer.
Die »Räte« hatten sich noch in der Nacht, noch bevor dies geschah, auf ihrem Automobil entfernt, 249 und die alte Ordnung mußte als erste Amtshandlung nach ihrem Wiederantritt den Wächter und Schosinchen begraben. Kein Mensch weinte ihnen etwas nach, geschweige denn, daß einer ihren Tod gerächt hätte, wie die Hunde den Mord des Mopses. Vielmehr fühlten sich Obrigkeit und Allgemeinheit durch den sozusagen natürlichen »Abbau«, der hier stattgefunden hatte, einigermaßen erleichtert. 251