Otto Stoessl
Nachtgeschichten
Otto Stoessl

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Die Erweckten in Königsberg

I.

Am dreißigsten November des Jahres 1770 wurde zu Memel einem Infanterie-Unteroffizier Namens Schönherr ein Sohn Johann Heinrich geboren, der sich nachmals für das Licht aus der Hütte und den neuerlich gesandten göttlichen Mittler hielt.

Die Eltern übersiedelten nach Angerburg, in die Heimat der Mutter, hier besuchte das Kind die Stadtschule. Die Verhältnisse des Hauses waren zwar dürftig, aber doch nicht so armselig, um den Sohn zu einem kümmerlichen Taglöhner zu bestimmen. Er sollte Kaufmann werden und man schickte ihn nach Königsberg zur Lehre in eine Handlung. Für den in engen provinzialen Zuständen aufgewachsenen Knaben mußte diese Hauptstadt von Ostpreußen wie die unendliche eröffnete Welt selbst wirken: altertümliche Straßen und Plätze, hochgieblige Häuser mit riesigen Speichern, die Kanäle des Pregel, wo die Schifferkähne aus dem Landinnern Waren zum Hafen führen, eine Bevölkerung von Fischern, Fuhrmännern, Handwerkern, Seeleuten, zusammengefaßt und beherrscht von reichen Kaufherren, deren Geschäfte Beziehungen zu ganz Deutschland und über das Meer hinaus nach England und Skandinavien, gegen Osten 16 nach Rußland mit sich bringen, diese ganze irdische Masse wiederum vergeistigt und erhöht durch eine alte und berühmte Universität, die den Stolz der Stadt, den Ruhm der ganzen Landschaft ausmacht. Eine notwendige geistige Richtung nach dem Helldunkel eines Weltgefühls und einer gläubigen Ahnung war dem jungen Schönherr von der Natur vorgeschrieben. In den Eindrücken der großen Stadt wußte er nur Elemente seiner Deutung wiederzufinden. Er besuchte die Predigten geschätzter Kanzelredner und ging den Leuchten der Universität nach, die er bald durch die achtungsvollen Hinweise der Königsberger von Angesicht kennen lernte, namentlich den großen Kant, dessen ständige Spaziergänge er zu kreuzen liebte, um den bereits weltberühmten Mann immer wieder zu beobachten. Vielleicht erglomm in seinem Herzen schon damals der bei seinem leidenschaftlichen Gemüt begreifliche Ehrgeiz, sich selbst zu einem solchen Beherrscher der Geister zu erheben und ihnen seine Art und Anschauung aufzuerlegen. Er las an den freien Abenden bis tief in die Nacht, was ihm von Büchern in die Hand kam, philosophische, theologische vor allem, er schwärmte mit jungen Studenten, deren Bekanntschaft er suchte. Nach zwei Jahren dieser unfruchtbaren Lehrzeit und dieses unbefriedigten Dienstes in der Handlung wanderte er nach Angerburg zurück, um seinen Eltern die Zustimmung abzuringen, studieren zu dürfen. Da sie nur eben ja sagen, aber den Sohn nicht mit Geld unterstützen konnten, blieb ihm nichts übrig, als den 17 schwerfälligen und unzulänglichen Bildungsweg des Mittellosen einzuschlagen. Er wurde ins städtische Pauperhaus von Königsberg als Zögling aufgenommen, das von der Stadt dem Unterrichte der Armen gewidmet worden war und seinen Schülern die Anfangsgründe des Wissens beibrachte, sowie freien Unterhalt und Quartier vergönnte. Das Schulwesen dieser Zeit stand nicht wie das unsrige in abgegrenzte Stufen und Lehrziele gegliedert, sondern in einer gewissen Freiheit und Willkür des Betriebes. Die höhere Bildung, über die Anfangskenntnisse hinaus, blieb, sei es in bestimmten Anstalten oder im Unterricht einzelner, besonders Geistlicher, dem Belieben, der Begabung und dem Pflichtgefühle des Lehrers wie des Schülers überantwortet. Jeder konnte lernen, was ihm gemäß war, und eindringen, soweit es ihm möglich war, wie denn auch sogar das Studium an der Universität eigentlich allen zugänglich war, die sie aufsuchen wollten und von deren Leistung es dann allein abhing, was sie mit dem empfangenen Stoff anfingen.

So betrieb Schönherr im Pauperhause eigentlich die gleichen regellosen und verworrenen Studien wie vorher, sein Geist war lebendig und erregbar, aber einer inneren Ordnung und Zucht nicht fähig. Theologische Bücher und Vorträge wirkten auf ihn, aber sie schreckten ihn zugleich ab. Er hatte sich in den langen Jahren der Unbekümmertheit sein Verhältnis zur heiligen Schrift und zu allen Glaubensfragen eigenwillig, mehr in phantastischen Erhebungen und Träumereien, als in verstandesmäßigen Untersuchungen 18 zurechtgelegt, der Betrieb der Theologie als Wissenschaft, wenn auch im Pauperhause ohne großen Aufwand geführt, konnte ihn nur ernüchtern und enttäuschen. Offenbarungen als Lehrgegenstand und auf Beweise gestellt, verloren die heilige Kraft, die sie für ihn besaßen, der sie nur hatte erleben können. Er verließ endlich ganz und gar unbefriedigt das Pauperhaus und besuchte die Universität.

Wie so viele arme Jünglinge damals mag er den und jenen Freitisch ausgenützt, die Barmherzigkeit der Reichen in Anspruch genommen, manche Tagesstunden untergeordneter Arbeit in einem Geschäfte oder am Hafen geopfert, von einem Stück Brot gelebt haben, wenn es nichts anderes gab. Er brachte sich eben durch.

An der Universität begann er mit philosophischen Studien, vermochte indes, ungeschult und ohne sichere Kenntnisse, ohne eigentlichen Untergrund des Verständnisses, den Vorträgen überhaupt nicht zu folgen, seine Gedanken schweiften ab, er stellte Fragen, die ihm nötig schienen, die aber mit dem eben behandelten Gegenstande nichts zu schaffen hatten, abseits lagen und Lehrer wie Schüler beirrten, aber seinen dunklen Eifer zeigten, etwas zu gewinnen, was auf versäumtem oder versagtem Wissen beruhte. Seine Fragen gingen, wie bei schlecht unterrichteten Menschen immer, auf allgemeines und dadurch auf wesenlose Begriffe: auf die Unsterblichkeit der Seele, auf die Freiheit des Willens, auf die ewige Natur der Dinge und dergleichen. Die Vorträge der Lehrer 19 wären zuletzt vielleicht auch dazu gelangt, aber über Vorstufen und schwierige eingehende Beweiswege, die er mit blindem Eifer durch Vorwegnahme des Zieles und der Endergebnisse störte. Den Gefragten blieb nichts übrig, als ihn wieder und wieder auf Bücher zu verweisen, aus denen er nachholen sollte. Damit erging es ihm aber nicht besser als mit den Vorträgen, die schriftlichen Lehren verwirrten und störten seine eigensinnigen, längstgewohnten Betrachtungen, was er las, führte ihn immer wieder nur zu sich selbst, anstatt zum Gegenstande. Die Schuld an seinem Fehlen und Ungenügen suchte er nicht bei sich selbst, er gab sie nur den Büchern, ihrer Pedanterie, ihrer anmaßenden Unklarheit, ihrer dünkelhaften Wissenschaftlichkeit. Nirgends wurden die Fragen so gestellt, wie seine Einfalt sie forderte, und den Eigensinn jedes Denkers, seinen Gegenstand auf seine besondere Art zu behandeln, wollte er am wenigsten anerkennen, der doch auch nicht anders verfuhr. Die Wissenschaft und dieser ihr armer Jünger konnten sich also auf keine Weise miteinander vertragen. Er fand nichts als Redensarten und willkürliche Kunstausdrücke, ausgetüftelte mechanische Spielereien anstatt des Lebens. Endlich verließ er Königsberg, um an anderen hohen Schulen zu finden, was ihm hier verschlossen geblieben war. So zog er, ein armer Handwerksgesell der Wissenschaft, über Land nach Greifswald, von da nach Rostock. Natürlich erging es ihm auch hier nicht anders. Schließlich war ihm das Wandern Selbstzweck. Ein Student auf dem Wege fand überall 20 Quartier und bescheidenen Unterhalt bei Landgeistlichen, aber auch bei Bauern. Er war in diesen Jahren trotz Mangel und schlechter Nahrung hoch und stattlich gewachsen, ein mächtiger blonder Bart fiel ihm bis über die Brust hinab, sein blaues Auge hatte einen nach innen gewandten Ausdruck ergebenen Suchens und bei aller Enttäuschung bewahrter treuer Hoffnung. Älter als die Scholaren sonst, benahm er sich würdig, bescheiden, aber selbstbewußt und nötigte den Menschen trotz seinem verwahrlosten Anzug und demütigen Gebaren unwillkürliche Ehrerbietung ab.

Von Rostock wandte er sich nach Hannover, von da nach Lemgo im Fürstentum Lippe-Detmold, wo er bei Verwandten eine Weile als Gast lebte, bis er mit ein paar Talern beschenkt, wiederum aufbrach und nach Rinteln an der Weser geriet.

Alle diese Wege machte er ohne Plan. Er, den die Welt der Menschen nicht hörte und der sie nicht begriff, fand das größere Reich auf den Landstraßen, in Regen und Sturm, am Saume von Forsten oder Feldern, in den Wolken des Himmels oder im blauen Glanz, er verstand ohne Beschwerde den Ruf der Kreatur, das Herbstgebrüll der Hirsche, das mahnende Pochen des Spechts, die jauchzende Zuversicht der Lerchen, die Versunkenheit der Frösche in ihren Tümpeln, das unablässige Sagen und Singen der umbuschten Bäche, er brauchte tagelang keinen Menschen zu treffen, Nächte verbrachte er auf duftenden Heuschobern unter dem Sternenschein, oder, wenn es sein konnte, auf einem Dachboden bei guten Bauersleuten, 21 Mahlzeit hielt er unter einem Baum, wenn's hoch kam, bei einem braven Pfarrherrn. In Dörfern ein wunderlicher Gast, spotteten über ihn die Burschen und schenkten ihm die Mägde halb bewundernd, halb mitleidig mit einer lächelnden Ehrerbietung einen Trunk Milch, oder steckten ihm ein Stück Brot oder Speck zu. Die Hunde liefen ihm aus den Gehöften zu, ohne zu bellen.

Wollte er des Menschen Bestimmung und das Wesen des Schöpfers ergründen, so mußte er das Gesetz erkennen, das Körper und Seele bildete. Und dieses Gesetz mußte für alles Geschaffene gleich bleiben, für den Baum, wie für das Tier und den Menschen, es war das, was hinter allem Leben über Zeit und Raum verblieb, war Gott selbst im Dornbusch und Gott in ihm. Dieses Gesetz erschuf die Dinge und erklärte sie, und wer es besaß, war Schöpfer selbst und Gottes Anteil.

Solche Gedanken gingen unaufhörlich mit ihm. Er saß einmal am Ufer eines Teiches und betrachtete die grünen Inseln von Seerosenblättern, in deren Haufen die weißen Blüten standen. Wie wachsen sie? Da mußte er lächeln: durch das Wasser. Eine innere Stimme schien ihm und jetzt voll Ernst zu wiederholen, daß der Ursprung im Wasser ruhe. Wuchs nicht jede Pflanze nur durch Regen, Tau, Feuchtigkeit? Trocknete ein Trieb aus, so starb er, je saftiger aber einer war, desto jünger, desto lebendiger war das Gewächs. Und Saft war, Feuchtigkeit in jeder Kreatur, Blut erfüllte, zeugendes Naß alle Zellen, die sich 22 bildeten. Also blieb Flüssigkeit, Wasser das erste Prinzip der Welt. Aber wie wird im Nassen das Feste, wie gliedern sich darin Körper, vereinigen sich Massen, wie beseelen sich diese Gebilde?

Er saß auf einem Steine inmitten einer ganz verlassenen, rotglühenden Heide unter der starken Hitze der Hochsommersonne und atmete den eigentümlichen glühenden Geruch ein, der aus dem Licht des Tages, den Schlieren der Luft und dem Hauch der entfachten Blumen allenthalben schwebte. Dieses abwesende Sinnen und Fühlen gab ihm, indem er sein Hemd öffnete, um die erhitzte Brust zu kühlen, mit dem Duft von überall her auch Antwort. Er warf sich taumelnd und von dieser Stunde ganz benommen rücklings in das Heidekraut und schloß die Augen vor der Sonne. Da hatte er eine eigentümliche uferlose Empfindung, als verlöre er mit der Schwere seiner Glieder und all ihrer besonderen Eigenschaft den Körper selbst, als sei das Gefühl zu stehen oder zu liegen, überhaupt irgend im Raume zu wurzeln, mit einem Male gänzlich von ihm genommen und er schwebe gleichsam aufgelöst in einem Unendlichen wie in einem unbeherrschbaren, aber auch unwillentlichen Fluge, wobei er mit einem inneren Blicke, der zeit-, ort- und wesenlos eine wahre Unendlichkeit umfaßte, nicht mehr Erscheinungen von Dingen, sondern deren eigentliche Einheit erkannte, und zwar erschien ihm dies, soweit Worte solchen Zustand überhaupt vergegenwärtigen können, wie eine unkörperliche umflutende Nebelwelt, deren leiser, ziehender, halb 23 beklemmender, halb lösender, seeliger Ton, ein Klang, der wiederum eine Fülle von Laut zusammennahm, durch einen Schimmer bestimmt, angezogen und entfernt wurde, der hinter und über dem Tageslicht, der Sonne, ruhte, so daß diese nur als ein Schatten eines höheren, tieferen, allgemeineren Lichtes wirkte.

In diesem Zustande entrückter Wahrnehmung und vollkommener erfaßter Auflösung seiner selbst, in solchem Meer der Bewußtheit verharrte er stundenlang, er genoß das unsagbare Glück dieser Entlastung, die ihn an ein geheimnisvolles Ganzes hingab, als würfe er seinen Körper wie ein Gewand, aber nicht mit willentlicher Gebärde, sondern gleichsam im Sinken oder Steigen von selbst ab, streife ihn wie im Hauch eines Windes von den Schultern. Allmählich kehrte er dann zu sich zurück, die Erinnerung und Beseeligung des eben verlassenen Zustandes wie eine unverlierbare leichte, durchwallende Glut in allen Gliedern, den Verstand mit einem Male wunderbar erhöht und deutungssicher, von dem gewissesten Funde alles Geheimnisses hinter allen Falten der sinnlichen Erscheinung überzeugt, welt- und lebenseinig für immer. Er versuchte nun die unsagbaren, soeben durchmessenen Ereignisse in eine, wie er gar wohl wußte, gleichnishafte, jedoch für ihn unbedingt schlüssige Beziehung zur Umwelt, zu den gegebenen Dingen, zur Geschichte der werdenden physischen und sittlichen Welt zu bringen, die ja selbst nichts anderes als ein Gleichnis sein konnte.

24 Aus einem Urnebel, aus einer Urfeuchtigkeit, dem Grunde und bestimmbaren Ganzen ringsum erwuchs das Leben, wurde aus dem Freien notwendig eingesogen und hineingenommen, wie Glieder, zu denen die Seele sich im Hauch einfindet.

Dies, dies machte lebendig: Wärme, Feuer! Licht schafft Wesen aus Wasser, bindet Feuchtes zu Festem! Licht macht Körper, Licht ist überall, in ihm, in diesem Busch, in dem Geruch, ringsum ist Licht. Und damit gleich auch Seele, Leben. Es fließt in die Dinge und dadurch bestehen sie auch. Göttlich ist er durch das Licht. Licht ist sein Sinn, sein Auge, macht ihn sprechen, läßt seine Glieder wachsen, ihn vernehmen, was um ihn, und sagen, was in ihm ist. Licht fließt, wohin jede Kreatur wandelt, als ihr eingeborener Geist und Gott; auch mit ihm geht dies unendliche Licht, das vom Anfang und überall ist. Auf dem Teiche flimmerten die kleinen Wasserwellchen in tausendfältigem Glänzen und kräuselten sich unablässig, als schafften sie eben in waltender Bewegung immer neue Gebilde. Eine Erhebung ohnegleichen beseeligte den Mann, der aufgerichtet, verzückt im unendlichen Umkreis die erhabene Einfalt der Weltursachen erblickte. Der Taumel der Erkenntnis ließ ihn das All umfassen, indem er Licht und Wasser in allem Seienden wiederfand, in allem Mannigfaltigen als Urgrund; Mann und Weib verkörperten ihn als Gleichnisse, das Weib als die gebärende, empfangende, ernährende, aber aus sich allein bestimmungslose Masse, der Mann als das zeugende, beseelende, 25 schaffende Element, als das waltende Licht. In diesen Urwesen: in der Wärme und im Wasser lag der Raum der Ewigkeit als im männlichen und weiblichen Element beschlossen, aus ihrer Umarmung ging die Seele, das Leben, alle Gestalt hervor.

Johann Heinrich Schönherr, der an diesem Tage das Wunder solcher Offenbarung so wahr, so eindeutig und unzweifelhaft annahm, wie das eigene Selbst, sah sich durch diese Gnade, was er längst geahnt, als Mittelpunkt des Alls auserwählt, Licht und Wasser, Gott, die höchste Einigung der Urprinzipien in ihm wiedergeboren. Und er besann sich der geheimnisvollen Worte Christi zu Nikodemus als eines Zeugnisses; da Nikodemus fragt: »Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?« Da antwortete Jesus: »Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir: es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.«

Solche seine Erkenntnis konnte nur den Anfang von Gott haben, der wie die Sonne über seinem Haupte einen Strom des Lichtes in seinen Geist hinab sandte. Er, Schönherr, war ausersehen, von Gott zu zeugen, der da kommen wollte, nachdem sein eingeborener Sohn, der für sie starb, den Menschen genommen worden war. »Und ich will den Vater bitten und er soll euch einen anderen Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewiglich.« Diese Worte des Johannesevangeliums fielen ihm ein und erschienen 26 ihm jetzt wie seine neuerliche Berufung. Er war der verheißene Mittler und Tröster, der Mann, der die Flut begrenzen, das Licht, das diese Welt neu beseeligen sollte, der Geist, der wiedererstand, der Paraklet der Menschheit.

Im Rausche dieses Selbstgefühles kehrte er bei den Pfarrern wie der Sohn Gottes ein, bescheiden, aber voll Hoheit und stellte sich in seiner unbefangenen Treuherzigkeit gar als Paraklet vor. Die einen nahmen ihn als Narren, andere als Betrüger, wieder andere ließen sich mit ihm in Erörterungen ein und konnten seine Offenbarung nicht widerlegen, bei der keine Beweise galten, sondern bloß Annehmen oder Verwerfen. Ein Grobian von Pastor, dem Schönherr nach langem Streit den nahen Tod weissagte, wenn er nicht an seine Erkenntnis glaube, warf ihn aus dem Hause. In Leipzig fand Schönherr sogar einen Schüler, oder glaubte einen zu finden, dem er solchen unbedingten Gehorsam auftrug. Als dieser eine Flasche Wein brachte, um dem Propheten einen Trunk zu bieten, ergriff Schönherr das Glas, hielt es dem Gastgeber hin wie beim Abendmahl und sprach: »Herr Deine Wege sind wunderbar.« Der erschrockene Jünger, der den Mann für verrückt hielt, brachte ihn unter dem Vorwand eines Spazierganges in ein Irrenhaus. Man begrüßte dort den priesterlich Auftretenden mit allen Ehren, und es war ein Augenblick, der selbst den Arzt ergriff, als Schönherr das Christusbild im Besuchszimmer lächelnd grüßte: »Wo bist Du, mein Bruder?«

27 Damit öffnete er die Tür, die ihn zu den Narren führte, und nahm mit würdigem Anstand durch ein sanftes Neigen des Hauptes von seinem Schüler Abschied. Bald erkannte er freilich, wohin man ihn gebracht hatte, setzte sich, als er nicht mehr fortgelassen wurde, nieder, weinte bitterlich und sprach: »Der Freund, den ich am meisten geliebt habe, hat mich verraten.« Dann redete er kein Wort mehr und bestand darauf zu fasten. Der Arzt vermochte ihn nur durch einen glücklichen Einfall zum Essen zu bringen, indem er ihm sagte, alle heiligen Männer hätten Honig gegessen, diese unschuldige Speise, die das Fasten nicht breche. Da blickte der Paraklet mit einem Zuge von wehmütigem Gehorsam zu dem Überredenden auf und nahm kopfschüttelnd vom Süßen.

Nachdem er einen Monat lang geduldig und still im Irrenhause gelebt hatte und seine Harmlosigkeit erkannt worden war, entließ man ihn mit einem ausreichenden Zehrpfennig, so daß er sich bis Königsberg, wohin er zurückzukehren gedachte, anständig fortbringen konnte. In einem härenen Mantel, der ihm bis an die Füße reichte, barhaupt, den Bart bis zum Gürtel, machte er allenthalben Aufsehen, und in den Städten, wo ein wunderlicher, aber mit Sicherheit auftretender Mensch immer auf eine gewisse Folge zählen kann, schlossen sich ihm einzelne treuere Leute an. Vorsicht und unwillkürlich angeeignete Gewandtheit ließen ihn jetzt auch seine höhere Bestimmung als Paraklet nicht an die Spitze seiner Erörterungen 28 stellen, vielmehr wandte er sein Augenmerk auf die Erläuterung des weltlichen und gemeinen Lebens und suchte in seinen Anhängern einen höheren Sinn, eine göttlichere Würdigung und Betrachtung des Daseins zu erwecken, indem er die altbekannten rührenden Geschichten der Evangelien gleichsam selbst mit ihnen wiedererlebte und sie wiederfinden ließ, da sie sich als rührende Gleichnisse alles irdischen Begegnens unwillkürlich einfinden, wo immer der Gegensatz zwischen der hartnäckigen Lebenssucht aller und der liebenden Freiheit des einzelnen wirksam wird.

In Königsberg versammelte sich bald ein Kreis von Anhängern aus verschiedenen Schichten um ihn. Die aus dem Volke gewann er, wofern er sie nicht schon von seinem früheren Aufenthalte kannte, durch seine freundliche Teilnahme, indem er sie über ihre Verhältnisse und Arbeiten befragte und das Gespräch unmerklich auf höhere Dinge brachte. Er suchte sie mit der Ungerechtigkeit des Geschickes, mit Armut, Krankheit, Geldmangel, Not, mit ihren schweren Zuständen durch den Hinweis auf die Macht des Gemütes zu versöhnen, das in einer gerechten inneren Freiheit überall das Glück gemäßen Daseins finden und sich am kleinsten so erfreuen könne, daß kein Mächtiger diesen wahrsten Besitz rauben oder zerstören dürfe. Er legte ihnen die Lehren der Bibel menschlich nahe, die sich ein und das andere Mal sogar zu praktischen Ratschlägen für ihre augenblickliche Lage verwerten ließen. So erwarb er das Vertrauen auch zu seinen eigentlichen Grundsätzen. Mit Studenten und den 29 Angehörigen der höheren Stände fand er gleichfalls Anknüpfung. Von solchen Wohlhabenderen mochte er auch die bescheidenen Mittel zu seinem Unterhalte bezogen haben, wenngleich niemand genauer wußte, woher er seine Wohnung, seine Kleidung und sonstigen, allerdings äußerst geringfügigen Bedürfnisse, hauptsächlich aber die Kosten von Versammlungen bestritt, die bei ihm stattfanden.

Am Sonntag sang die kleine Gemeinde ein Lied, dann betete Schönherr laut und erklärte das Evangelium des vorigen und des jetzigen Sonntags, aber nicht in Form einer Predigt, die keine Unterbrechung duldet, sondern als geistliche Erörterung, die Fragen zuläßt, Einwendungen aufnimmt und so die Überzeugung des einzelnen aufs eindringlichste allen vermittelt. Diese Erbauungen gingen in seiner Wohnung, in einem großen, geweißten Zimmer vor sich, wo nur ein sauberes Bett, Schönherrs Lager, sonst aber für die Gäste Stühle bereitstanden, während er, betend und lehrend an einen kleinen Tisch trat, auf dem vor einem Holzkreuze in einem Glase ein paar frische Blumen angeordnet waren, die gewöhnlich von einem der Frauenzimmer mitgebracht wurden, die sich dem Kreise angeschlossen hatten. Eine bescheidene Kollation von Brot und Milch erquickte die Teilnehmer. Wenn durch das Fenster dieses Raumes die helle Sonne auf Schönherrs verklärte Züge fiel, schien dies eine wunderbare Bestätigung der ewig wiederkehrenden Heiligung des Lichtes, wovon er sprach. Denn Gott sei das Licht und alle göttlichen 30 Eigenschaften würden durch das Licht und am Lichte verstanden. Die Schöpfungsgeschichte erläuterte er nach seiner Entdeckung, wie im Anfange die beiden Urwesen, Licht und Wasser in Eigestalt Himmel und Erde gebildet hätten. Solche Vermählung und Welterschaffung wiederhole sich ewig in allen Vorgängen des Daseins, am höchsten im vollkommensten Gebilde Gottes: im Menschen. Während die übrige Natur in Unschuld die unablässigen Entstehungen verwalte, sei dem bewußten Menschen eine Verkehrung und Verderbnis des reinen Wesens möglich, die ihm seine Sünde, sein Schicksal bedeute. Schönherrs Lehre wollte die heilige Einfalt der Urtatsachen auch für den Menschen wiederherstellen: vereinigtes Wirken zum Zwecke der Gottseligkeit. Der Weg dazu ist vorgeschrieben durch den Gebrauch und die Befriedigung aller Sinne in einem überirdischen, nicht eiteln, lauteren Gesamtgefühl.

Als Sinnbild dieser Lehre, die sich auf alle Gebiete bezog, auf alle in Beispielen und Folgerungen angewendet wurde, galt Schönherr die Taufe als Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes, aber die Taufe mit Wasser und Licht als Blut, weil dieses die Seele, das Feuer des Lebens ist. Darum gab Jesus beides, sein Blut, worin seine heilige Seele wirkte und seinen Leib, der von Wasser gebildet, organisiert war, für das Leben der Welt hin, damit sie heilige Säfte und heilige Wirkungsregeln dadurch empfinge.

Unter seinen Hörern war ein gewisser Bujack, dessen naturwissenschaftliche Kenntnisse die gläubige 31 Überzeugung zuweilen störten. Schönherr mochte freilich sagen, so oft er wollte, dieses Gefühl, diese erste durchdringende Anschauung stünde nicht zu Beweis, gestatte aber, einmal angenommen, jeden Schluß auf alles weitere Leben, der sonst zuverlässige Jünger fand doch den alten Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen, Offenbarung und Vernunft nicht geschlossen, wie Schönherr versicherte, dessen leidenschaftliche Beredsamkeit allerdings gegen Äußerungen des Zweifels eine solche Gewalt der Mitteilung erhielt, daß alle Hörer, auch Bujack wie von einer vollkommenen Gewißheit hinweggehoben wurden. Aber Schönherr mochte selbst irgendein übriges tun um seine Anhänger zu trösten, die nun einmal viele Jahrhunderte nach den Zeiten solcher Offenbarungen lebten und daher irdischer Bekräftigungen bedurften. Oder wollte er in seinem Selbstbewußtsein die Anerkennung eines Menschen erzwingen, den er selbst hochstellte? Es ist heute kaum mehr klarzubringen, was ihn eigentlich dazu veranlaßte, daß er eines Tages in seinem merkwürdigen Aufzuge, von Bujack begleitet, der nicht wußte, worauf sein Meister ausging, vor dem Hause halt machte, wo der große Kant wohnte.

Hier verabschiedete er den Schüler, der ihn mit einem fragenden Blicke ansah, mit einem halb verheißenden, halb spöttischen Lächeln und zog die Klingel. Eine alte Magd öffnete ihm und ließ ihn, als er den Herrn Professor zu sprechen verlangte, kopfschüttelnd in ein Besuchszimmer treten, wo er warten sollte. Peinlich sauber standen alle 32 grünbezogenen Stühle um den polierten Tisch, kein Stäubchen trübte den Eindruck der äußersten Ordnung, den dieser Raum machte, wie denn alle Gegenstände, die notwendigen, wie die schmückenden so zusammengestellt und gehalten waren, als seien sie seit undenklichen Zeiten unveränderlich in dieser Lage und in diesen Beziehungen zueinander und zu ihrem Herrn. Nicht nur das hohe Alter des Philosophen, auch die ungeheuere Bewegung seines Geistes mochten einen unverrückbaren Halt an äußeren Dingen der täglichen Umgebung verlangen. Ebenso sorgfältig, sauber gehalten, glatt rasiert, mit weißem Halstuche und gepudertem Zopfe, in schwarzem Rock und schwarzen Strümpfen, ein freundliches, wenn auch etwas fremdes Lächeln auf den Lippen, trat Kant, der damals im letzten Jahre seines stillen Lebens stand, ins Zimmer.

Schönherr verbeugte sich ungeschickt, aber bescheiden und demütig, Kant erwiderte höflich den Gruß und lud den Gast ein, Platz zu nehmen und zu sagen, was ihn hergeführt habe. Der Paraklet – er litt in dieser Stunde selbst ein wenig an seiner eigenen, sozusagen unangemessenen Erscheinung und seinem Stegreifauftreten gegenüber dem Professor – Schönherr also begann den Grund seines Besuches auseinanderzusetzen. Da Kant ihn reden ließ und vorerst überhaupt schwieg, mußte der Gast weiter ausholen und berichtete von den furchtbaren Zweifeln, die ihn in seiner Jugend und am Anfange seiner Studien gequält hatten, und wie er das tiefste Bedürfnis zu glauben mit jenem anderen, gleich dringenden der Vernunft, die nur 33 Beweisbares und Bewiesenes anerkennen wollte, nicht habe übereinbringen können. Die Offenbarung der Schrift anzuzweifeln oder höhnisch zu übergehen sei ihm ungeheuerlich erschienen, der inständig begehrten Übereinstimmung von Glauben und Wissenschaft sei er sicher gewesen, wenn er sie gleich überall vergeblich in Büchern oder Hörsälen zu lernen gesucht habe. Er habe diese Welt nicht lieben können, ehe er von der anderen, höheren, Gewißheit empfangen.

Da unterbrach ihn Kant: »Am ratsamsten freilich wäre es, zu warten, bis man in die andere Welt kommt.« Schönherr entgegnete, ohne Wissen von dieser äußeren und der wahren höheren, inneren oder jenseitigen Welt gebe es überhaupt keine Tugend. Darauf Kant: »Im natürlichen Zustande kann man gut sein ohne Tugend und vernünftig ohne Wissenschaft.«

Schönherr, dessen natürlicher Zustand eigentlich diesen Gedanken hätte anerkennen sollen, kam darauf nicht mehr zurück, sondern ging auf seine Lehre über und trug die Einfachheit des Grundsatzes, sowie die Erörterung aller daraus folgenden Tatsachen der sittlichen und religiösen, wie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, nicht ohne eine gewisse leidenschaftliche Bewegung vor, und wie die vielfältige irdische Welt lediglich aus den zwei Urwesen Wasser und Feuer entstanden, aus ihnen allein zu erklären sei und sich von ihnen ernähre und erhalte.

Endlich schloß er und sah erwartungsvoll auf Kant. Dieser sagte mehr zu sich als zu dem Fremden, den er mit Gedanken nicht beunruhigen mochte: »Man 34 könnte ohne Vermessenheit in gewissem Verstande freilich sagen: gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll. Kann man aber wohl von den geringsten Pflanzen oder einem Insekte sich solcher Vorteile rühmen? Ist man imstande zu sagen: gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne?«

Dabei unterbrach er sich aber sogleich und richtete, ganz ernst, ohne auch nur mit den Augen zu lächeln, den Blick auf Schönherr: »Wenn Ihnen an diesen sogenannten Urtatsachen soviel gelegen ist und Sie daraus alles Leben ableiten zu sollen glauben, so muß sich, verstehe ich Sie recht, auch alles Leben durch Wasser und Licht allein behaupten?« Schönherr bejahte. »Dann brauchten Sie also nur einen Versuch zu machen, nämlich von Licht und Wasser zu leben. Glückt er Ihnen, so bedürfen Sie doch weiter keines Beweises.«

Schönherr konnte darauf im Augenblicke nichts erwidern. Kant erhob sich und verabschiedete ihn.

 

II

Unter seinen Schülern und Anhängern war einer der treuesten ein gewisser Altrogge, der auch ein junges Mädchen mitbrachte, Marianne Schmeil, das er liebte und zum Weibe begehrte. Sie aber entzog sich seiner Werbung und lebte mühselig als Weißnäherin von ihrer Hände Arbeit, trotzdem ihr Altrogge 35 einen bescheidenen Wohlstand hätte bieten können. Hingegen hatte sie schon beim ersten Anblick eine schwärmerische Hinneigung zu Schönherr gefaßt, hing an seinen Lippen, nahm, was er sagte, auch nur bildlich gemeinte Ausdrücke, wörtlich und kannte nichts als seinen Wunsch und Willen. Sie war wohl beschränkten Geistes, auch nicht eigentlich schön, aber durch die Reinheit und hilflose Demut ihres Wesens anziehend. Ihre rührende Treue und ganz in sich versunkene Gläubigkeit bestärkte die übrigen weltlicheren Anhänger und übte auch auf Schönherr selbst ihre Wirkung, der bisher mit Frauen nichts zu tun gehabt hatte und nun zum erstenmal die Liebe eines weiblichen Wesens empfand. Der weltfremde und einfältige, seiner Natur bedenkenlos folgende Mann wärmte sich an diesem Feuer und fand daran Trost, Stärkung seines Selbstgefühls, Zuversicht auf seine Sendung. Aber er war so weit entfernt, das wahre Gefühl des Mädchens zu erkennen, geschweige zu teilen, daß er ihre leidenschaftliche Anhänglichkeit durchaus nur als geistliche, als opferwilliges Bekenntnis zu seiner Lehre deutete und nicht im mindesten irdisch nehmen oder auf sich als Mann beziehen mochte, wie er sich selbst ja auch nicht als Sterblichen und den irdischen Begierden Verfallenen, sondern als unberührbaren, höheren Geist ansah.

Altrogge, der die Hoffnung, das junge Mädchen doch noch zu gewinnen, bewahrte und dabei Schönherrn aufrichtig ergeben war, sah das eigentümliche Verhältnis mit Stolz und Beruhigung an, denn gerade diese 36 unbefangene, rein geistliche Zuneigung des Meisters schien neben der unirdischen Gemeinschaft der beiden doch für ihn wenigstens die Möglichkeit der ersehnten weltlichen Verbindung mit der Widerstrebenden offen zu lassen.

Nicht nur dieses Paar, sondern auch die Lebensverhältnisse anderer Personen seines Kreises und seine eigenen Denkwege brachten Schönherr dazu, über die Verbindung der Geschlechter und über das sinnliche Leben von Mann und Weib zu lehren, was er für wichtig hielt. Wenn er die Wiedergeburt eines wahrhaft vollseligen Menschentums für möglich erachtete und seinerseits zu erwirken hoffte, wie hätte er die Tatsachen der irdischen Menschwerdung verschweigen oder übersehen dürfen! Daß er sich selbst für den wiedergeborenen Mittler hielt, verkündete er jetzt nicht mehr, sei es aus Vorsicht, oder weil er selbst zur Zeit davon abgekommen war. Das aber durfte er sagen und soviel höhere Bedeutung vor seinen Anhängern für sich in Anspruch nehmen, daß er berufen sei, als erster jene Vollseligkeit zu erreichen, die die Geburt eines wahren Menschensohnes bedinge und verbürge. Der in der Offenbarung Johannis verheißene Wiederkommende könne nur durch Vermittelung eines Mannes von einem Weibe geboren werden, das völlig rein und unschuldig in Erkenntnis der Wahrheit lebe. Höchste Ausbildung in dieser Erkenntnis und Unschuld und Jungfräulichkeit seien die Bedingungen dieser Wiederkunft. Er ließ mehr ahnen, als er etwa unverhohlen aussprach, daß er sich als Mann, Marianne Schmeil als Weib für fähig halte, diese Ausbildung zu erwerben.

37 Unter Männern brauchte er die gröbsten Ausdrücke, um den bloßen Lustzweck des geschlechtlichen Verkehrs zu verdammen als das zusammengedrängte Gleichnis aller Hölle, Sündigkeit und hoffnungslosen Verderbens der Menschheit. Der wahre Zweck der ehelichen Gemeinschaft sei Kindererzeugung, aber im Geiste der Wahrheit, des Lichtes, der Vollseligkeit.

Diese Lehren, die einerseits hohe Forderungen an das sittliche Bestreben seiner Anhänger stellten, andererseits eine Befriedigung des Selbstgefühls gewährten, machten Schönherr angesehen, seinen Kreis auf eine gewisse Weise sogar vornehm. Die Leute hingen an seinen Worten und Winken wie Falter am Lichte. Und er rechtfertigte wiederum ihr Vertrauen, indem er bescheiden, innig versunken seiner Lehre lebte und keinen Wunsch zu kennen schien, als sie und mit ihr das Menschengeschlecht selbst zu fördern.

Wenn aber innerhalb dieser Gemeinschaft Friede und gegenseitiges Vertrauen herrschten, wurde durch die eigentümlichen Grundsätze doch das Leben derer beeinflußt, die ihrerseits zwar außerhalb standen, aber mit Mitgliedern Berührung hatten. Da waren Töchter, die ihren Vätern und Müttern, Söhne, die dem Elternbaus, Gattinnen, die den Männern entzogen, von dem neuen Geiste erfüllt wurden und im gemeinen Leben unwillkürlich dessen Sinn und Gehalt spüren ließen, zur Anwendung brachten, oder sich doch so äußerten und gebärdeten, wie sie gelehrt worden waren zu denken. Schönherrs Worte über die Ehe, als über eine ruchlose, sündlich weltliche Einrichtung mußten, 38 in grober Nacherzählung weiterverbreitet und entstellt, Verdacht, Zorn, Haß und Furcht erregen. Viele Klagen liefen bei den Kirchenbehörden gegen den gefährlichen Irrlehrer ein, dem man von Amts wegen das Handwerk legen solle. Ein ruhig denkender Oberer erkundigte sich über Schönherr und beantwortete die Beschwerden damit, daß man einen Menschen unbehelligt lassen wolle, der selbst glaube, was er sage, und durchaus harmlos sei. Als König Friedrich Wilhelm III. zu einem Besuche nach Königsberg kam, trachtete man sogar ihn gegen den bescheidenen Mann aufzubringen und erzählte allerhand Fürchterliches über Schönherr, was aber nur zur Folge hatte, daß der hohe Herr seinen theologischen Gewährsmann, den berühmten Schleiermacher, mit Erkundigungen beauftragte, die schließlich ein königliches Reskript erwirkten, des Inhalts, man möge dem armen Prediger Ruhe geben, dessen Absichten gut und dessen Lehren ungefährlich seien.

In dieser Zeit stand Schönherr auf seiner Höhe, lebte aber still und getrost in seiner unbekümmerten Dürftigkeit und suchte durch nichts anderes als durch Unterweisung, Beispiel und Liebe Macht zu gewinnen.

Sein Schicksal nahm, ohne daß er es aber auch nur ahnte, die traurige Wendung alles willkürlichen Prophetendaseins zu Vereinsamung und Enttäuschung, zu Verbitterung und stillem Absterben, als sich ein junger leidenschaftlicher Mensch ihm näherte, dessen weltliche Kraft, Ehrgeiz und innere Bewegung die 39 freundliche Zufriedenheit der übrigen unterbrachen: Johannes Wilhelm Ebel, ein Studiosus der Theologie, der aus einer alten Pastorenfamilie stammte. Sein Großvater war wegen ähnlicher Ideen über die Fleischwerdung des Paraklet aus dem Amte gejagt worden, wie sie der Enkel nachmals zu den seinigen machte. Der junge Ebel hatte unter dürftigen Verhältnissen seine Studien in Königsberg betrieben, sich aber gleichwohl ehrbar in den Sitten und im strengen Bibelglauben seines Hauses gehalten und noch als Jüngling ein gewisses Ansehen und hohe Gönner erlangt. Anders als Schönherr bestimmte ihn eine wohlausgebildete und bewahrte feinere Lebensart zu einem bescheidenen, aber sicheren weltlichen Auftreten. Er wußte sich auch in der besten Gesellschaft unaufdringlich mit Anmut zu bewegen und bei aller Bescheidenheit zur Geltung zu bringen; Frömmigkeit schien zwar sein ganzes Wesen zu durchdringen, aber sie machte ihn darum nicht ungeschickt oder fanatisch, er suchte den Verkehr, auch mit ganz anders Gesinnten, die er mehr durch allgemeine Liebenswürdigkeit für sich einzunehmen als durch Beweise umzustimmen trachtete. Was bei Schönherr ein rein geistiger Ehrgeiz war, durch eine ursprüngliche Anschauung sein Selbst zu erheben und herrschend zu machen, war bei dem jungen Ebel vorerst weltliches Streben nach Macht und Geltung unter den Mächtigen. Der Sohn einer alten aber armen Pastorenfamilie, deren Verbindungen mit den Pfarrkindern, mit Gutsherren des hohen reichbegüterten ostpreußischen Adels die 40 eigenen unzulänglichen Verhältnisse so recht ins Licht setzen, mag unwillkürlich den stärksten Wunsch nähren, nicht als untergeordneter Vermittler der Verbindungen dieser hohen Herrschaften mit Gott, sondern als anerkannter Verwalter der Gnade neben, ja über ihnen zu stehen und sie kraft geistiger Überlegenheit zu beherrschen. Dabei brauchte eine wahre innere Frömmigkeit, ein stetes Bedürfnis nach geistlichem Lichte nicht Schaden zu leiden. Beides, den Weg zu äußeren Ehren und zu geistlicher Vertiefung, wußte er sich zu sichern. Er kam als Hauslehrer zu den Söhnen des Grafen zu Dohna-Schlodien, der als Haupt einer mediatisierten deutschen Fürstenfamilie an der Spitze der Gesellschaft Königsbergs stand. Damit war Ebels weltlicher Erfolg angebahnt.

So trat er, schon eine Hoffnung seiner Kirche und ein Stolz seiner Gönner, Schönherr näher. Die in der Familie bewahrte scheue Anhänglichkeit für die überlieferten Lehren des Großvaters, die den Mann ums Amt gebracht hatten, war bei dem Enkel zu einem unwillkürlichen mystischen Drang gesteigert und näherte ihn den Schriften der ersten Kirchenväter, stellte ihm das herbe Leben der frühen Heiligen, die Spekulationen Taulers und Susos vor Augen. Diese Anlage ließ ihn, bevor er ihn auch nur gesehen hatte, von Schönherr die irdische Verwirklichung solchen inneren Lebens erwarten. Überhaupt wirkte in dem jungen Manne eine tiefe Ungeduld, die manchen Menschen zeitlebens vorwärts jagt, als müsse sich in jedem Augenblick das Endliche, Höchste, Äußerste erfüllen. Wer 41 von Natur gläubig und mystisch veranlagt ist, wird diese Erfüllung unwillkürlich aufs Geistliche übertragen und darin suchen, er wird sie vom Leben erzwingen wollen, auch wenn es am gemeinsten sich anläßt und gerade dann, er wird alle Lehren und sinnbildlichen Ereignisse der heiligen Schriften vor sich erwachsen lassen mit der ungeheueren Inständigkeit des Wunsches, daß sie jetzt und jetzt die Tore der Welt sprengen sollen. Und was der Buchstabe nicht vermag, wird er aus eigenem beibringen und sich selbst zur Axt der Verwirklichung machen, so daß Weissagung und Ausgang in der Glut seines Willens plötzlich in Eins verschmelzen und der innig Betrachtende sich in seinem Fieber zum Handelnden erhebt, ferne Offenbarungen schließlich auf sich bezieht, der sie allein erfüllen kann und zu vollstrecken meint.

Bei einem Besuche im Vaterhause erzählte ein Bekannter, in Königsberg – wisse denn der junge Studiosus nichts von ihm? – lebe ein Mann, dem es möglich geworden sei, die Aussprüche der Bibel und ihren ganzen Inhalt wörtlich mit Vernunftbeweisen in Einklang zu bringen und gegen jede logische Anfechtung zu verteidigen. – So sah Ebel Schönherr als sein Schicksal und seinen Meister an, da er bloß von ihm hörte.

Obgleich besser durchgebildet als Schönherr, fand der Begeisterte an der vernunftmäßigen Bedenklichkeit des Systems nichts zu zweifeln, er war als Wunsch- und Traumesmensch überhaupt dazu außerstande. Der Glaube lebt in einer hohen Luft der Überzeugung, 42 Gewißheit und Wörtlichkeit, so führte Ebel, wie sein Meister, wo die Schlüssigkeit aufhörte, die Bildlichkeit ein, während er alles Gleichnishafte vermöge der Inständigkeit seiner Anschauung wirklich sah.

Die Beziehungen zu Schönherr blieben bestehen, als Ebel dank dem Grafen Dohna eine Stelle als Pastor in Hernsdorf erhielt, wo er heiratete und ein glückliches Familienleben begann, sie wurden noch verstärkt, als er nach Königsberg als Prediger ans Collegium Fridericianum zurückgelangte.

War seine Einbildungskraft und sein mystisches Bedürfnis durch die Freundschaft mit Schönherr in diesen Jahren ausgefüllt, so wuchsen sein Ehrgeiz und Selbstgefühl durch das Ansehen, das er sich in so jungen Jahren mit seinen Predigten erwarb. Er war schlank, schwarzhaarig, schwärmerischen Blickes, und sein Auftreten, der Reiz seiner zugleich ursprünglichen und zarten, aber leidenschaftlichen, jünglingshaften Anmut ergänzte den Sinn seiner Worte durch eine überstrahlende Gemütsmacht und gab ihnen jenen leuchtenden Hintergrund, der insbesondere die frommen Mädchen und Frauen des Auditoriums unwiderstehlich ergriff. Dieser Erfolg steigerte wiederum seinen Eifer und bestärkte ihn nur noch in seiner mystischen Richtung, als die Untersuchung gegen Schönherr auch sein, Ebels, Verhalten in ihre Prüfung einbezog. Mit Mut und Treue erklärte er sich als Schönherrs Anhänger und triumphierte über die Widersacher, als das Verfahren eingestellt wurde.

43 Noch war die sogenannte Bewegung um diese Zeit friedlich und sich selbst überlassen. Der Sturm der Ereignisse fuhr damals mächtig über Deutschland hin, aber nichts davon ist bekannt, daß diese furchtbare Erregung auf Schönherr und Ebel oder auf ihre Leute sonderlich übergegriffen habe, deren Sinn kaum nach den Dingen des gemeinen Geschehens stand. Erscheinungen, die gar wohl wie Zeugnisse und verwandte Zeichen einer Weltoffenbarung und Apokalypse hätten gedeutet werden mögen, die Rückkehr einer zerbrochenen, zerlumpten, von Gottes Hand geschlagenen Armee aus dem russischen Winter, Napoleons Abstieg und Ende, die Erhöhung und Befreiung des Volkes in Deutschland, alles das zog über diese Gemeinde hin wie die wilde Jagd in den Wolken über das stille Gras, das weiterwuchs und einfältig grünte.

Als aber die Erhebung abgeschlossen, der Friede wieder hergestellt war, als nun die ungeheure Zerstörung und Neuordnung den Acker der deutschen Seelen um- und umgegraben hatte, war er für allerhand Samen geistlichen Sinnens bereitet, der denn auch überall reichlicher aufging. Wiederum wurde Ebel mehr durch die Ereignisse selbst bestimmt, als daß er sie planvoll betrieb. Nach der furchtbaren Erderschütterung war ein Geschlecht zurückgeblieben, das gewaltiger innerer Erregungen bedurfte, um sein Schicksal und seine höhere Eignung durch heilige Tatsachen zu bestätigen. Der deutsche Adel dieser Zeit sieht seine angestammte Gläubigkeit und fromme Überzeugung durch Gottes Weltgericht wunderbar 44 anerkannt. Und Gottes Wiederkunft, die in den Ereignissen Tatsache geworden ist, muß sich in der Lehre erneuern.

Ebel lernte im Jahre 1815 den Grafen Kanitz kennen, der, aus den Freiheitskriegen heimgekehrt, zu Königsberg als Tribunalrat ein Richteramt annahm und sich in einer Freundschaft an den jungen Prediger schloß, die durch nichts getrübt werden konnte und über alle dunklen Ereignisse der späteren Zeit hinaus bis zu seinem Tode dauerte. Der Graf war ein Mann von vollkommener religiöser Überzeugung, dabei eine romantische Natur, von den angestammten unmittelbaren Beziehungen der Gottheit zum Menschen, zu erlesenen Familien vor allem, durchdrungen, bestimmt zu Schwert und Glauben, nicht zu Wort und Vernunft; wem er sein Herz schenkte, dem gab er es bedingungslos und lieferte sich ganz aus. So nahm er Ebel, mit dem ihn eine Freundschaft auf den ersten Blick verbunden hatte, als Herrn seines Verstandes und Gemütes an, was dieser sagte und tat, war wohlgesagt und -getan, weil von einem Menschen, den der Graf ehrte; Prüfungen und Zweifel hätte er mit seiner Selbstachtung nicht vereinbaren können. Er hatte zuviel Leid und Blut und Untergang mit angesehen und Sieg, der mit dem Aufgeben alles Glückes erkauft war, als daß er auf das bloße äußere Leben sonderlich mehr hätte achten mögen. Er hatte einen Kriegskameraden bei Groß-Görschen neben sich selbst im Sturm vom Säbelhieb eines Franzosen niederfallen sehen, den Grafen Wilhelm von der Gröben, mit dem ihn eine alte Freundschaft 45 verbunden hatte, die er nun, herrenlos, auf Ebel übertrug.

Diese Verbindung näherte den Geistlichen noch enger dem höchsten Adel des Landes, und Kanitz war es, der Ebel der Familie des Landhofmeisters von Auerswald, des mächtigsten Mannes, empfahl, dessen älteste Tochter, Ida, die Witwe eben jenes verstorbenen jungen Helden Wilhelm von der Gröben, sich in der Einsamkeit ihres schlesischen Gutes trostlos von der Welt abschloß.

Ebel konfirmierte eine jüngere Tochter Auerswalds, und Kanitz bezeichnete ihn als den einzigen, der die Witwe von dem Trübsinn ihrer Verzweiflung durch seine Lehre und seinen Zuspruch retten und dem höheren Leben im Geiste wiedergewinnen könne.

Der Landhofmeister von Auerswald erwirkte die Bestellung Ebels zum Diakon der Altstädtischen Kirche, die in Königsberg als die ehrwürdigste Glaubensstätte angesehen war, weil sie das Grab eines Sohnes Martin Luthers beherbergte.

Auf Bitten Auerswalds sollte der Diakonus Ebel die Gräfin Ida von der Gröben in Schlesien aufsuchen und ihrer Verzweiflung entreißen. Bevor er sich zu diesem Gang entschloß, der ihm verantwortlich und gefährlich erschien, wollte er sich mit Schönherr beraten. Er traf ihn eben in einer geistlichen Erörterung im Kreise seiner Anhänger und zögerte, ihm diese, nach seinem Dafürhalten notwendig geheime Mitteilung zu machen. Ohne sich, wie sonst, an der Wechselrede der Anwesenden zu beteiligen, blieb er still in der Ecke des Zimmers, 46 bis ihn Schönherr, der solche Fremdheit des bedeutendsten seiner Jünger weder gewohnt war noch dulden mochte, in seiner heiter derben Art anrief, warum er so betrübt dastehe, ob ihm denn die Vögel das Brot weggefressen hätten. Als Ebel die Antwort bis zu besserer Gelegenheit vertagen zu wollen erklärte, wurde der Meister grob, er könne diese Geheimniskrämerei und dieses Zagtun nicht leiden, ob der Herr Diakon denn den Kindern Gottes mißtraue, die hier versammelt seien und voreinander, wie vor ihm selbst nie ein Arg gehabt hätten. Ihrer aller Seelen weideten unter einem Lichte.

Da mußte Ebel denn wohl oder übel den Antrag berichten, der ihm gemacht worden war und die Meinung des Meisters vor der ganzen Gesellschaft erbitten. Schönherr, durch das vorige Zögern gereizt, nahm die Angelegenheit zuerst nicht eben wohlwollend auf, warum sich denn der Schüler immer an die Reichen und Vornehmen halte, denen der Geist ja doch nur als eine Zerstreuung, nicht als innerer Gebieter gelte und der Geistliche stets als ein Gefäß, worein sie sich ihrer Sünden, Zweifel und Gemeinheiten entledigten, um es gleich erleichtert beiseite zu stellen, damit sie von neuem schwelgen könnten. Vollends hier erkenne man doch deutlich die Absicht, ihn zu einem weltlichen Geschäfte zu verwenden, Ebel solle sich vor diesen Grafen und Gräfinnen hüten, vor diesen überfeinen Weibern: »Du bist ein Levit, und alle Leviten sind den Weibern untertan. Hängst du dich an diese Weiberröcke, so werden sie dich in den Staub ziehen!«

47 Ebel entgegnete besonnen, er kenne Schönherrs Art in solchen Reden nicht wieder, er hätte nicht erwartet, Menschen geschmäht zu hören, die voll Vertrauen die Hilfe eines Priesters begehrten, der ja dazu allein bestimmt sei. Wem sollten sie sich denn eröffnen, und wer anders vermöchte sie zu trösten und zu befreien? Wenn sein Beistand nicht jedem zugänglich bleibe, der ihn erbitte, wie sollte er die Welt erlösen können? Es sei dem Lichte keine Wahl gegeben, sich zu versagen.

Aber er müsse sich einzelnen verschließen, um sich der größeren ärmeren Gemeinschaft zu erhalten.

Nein, es komme auf den Zustand an, der zu heilen sei, hier in der Heimat stehe er, Ebel, inmitten einer wohlbehüteten und einigen Glaubensschar, dort in der Fremde ringe ein einsames und verlassenes Weib mit ihren Zweifeln und Qualen. Hier wirke sein Ruf fort, auch wenn er selbst fern sei, dort gelte es, eine verirrte Seele vom sicheren Abgrund wegzureißen.

Schönherr zögerte. Er fürchtete für Ebel. Der lächelte, seiner könne er gewiß sein. »Wie aber, wenn du strauchelst, wenn du anstatt eine Verzweifelte eine Verhärtete findest und unterliegst?« – »So komm du selbst mit mir!« – »Nein, bleibe bei uns! Bleib, geh nicht!« schrie Marianne Schmeil entsetzt. Schönherr sah sie erstaunt an: »Marianne, sei getrost!« Ebel redete ihm zu, schon längst hätte Schönherr andere ernste Männer in Deutschland aufsuchen sollen, um seiner Lehre die Anerkennung der Besten zu verschaffen und sie weiter wirksam zu machen, das 48 Verharren in diesem engsten Winkel sei seines Wertes unwürdig, und wenn er nicht den Versuch mache, auch nur einen Fernstehenden durch die Kraft heranzuziehen, sondern mit dem Zustreben derer sich begnüge, die schwach und bedürftig jeden erreichbaren Seelentrost aufsuchten, bewiese er sich und der Welt niemals den wahren Gewinn. Jetzt sei die Stunde da, ihn, den Erweckten, zu wecken, und nicht er, Ebel allein, sondern der Meister sei berufen.

»Geh nicht«, weinte Marianne vor sich hin. Schönherr sagte: »Ihr habt allezeit Arme bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.« Als aber das Mädchen ihn unschlüssig stehen sah, faßte es nach seinem Mantel, um ihn zurückzuhalten, da entzog er sich ihr, jedoch mit Sanftheit und sprach ihr zu: »Warum bist du so furchtsam?« Zu Ebel aber nickte er flüsternd: »Ich komme!«

 

III

So brachen sie denn auf und reisten über das östliche Deutschland, dank Ebels angesehener Stellung und gewandtem Betragen überall wohl aufgenommen, in geistlichen Kreisen ohne Arg, wenngleich mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt, die durch Schönherrs wunderliches Gehaben veranlaßt sein mochte, der seine Ansichten schroff und streng äußerte, während Ebel die verbindlichste Überredung pflegte und dem Widerstande auch zu weichen vermochte, ja sich jeder logischen Beweisführung ohne weiteres schier unbefangen entzog. Aber die innige Begeisterung 49 und Zuversicht des Glaubens der beiden erweckte Achtung, und mancher schien sie so unbedingt zu teilen, dem es schwerlich darnach ums Herz war, um nicht für lau zu gelten, und überredete sich, da er solchen Aufschwungs entbehrte und etwa seinen eigenen geringeren Sinn im Stillen anklagte. Man wird am härtesten durch Pflichten gedrängt, die man sich einbildet und nicht wirklich erfüllen kann, dies schafft eine Heuchelei des Gehorsams, ärgerlicher, weil unfaßbarer, als die aufrichtige Nichtachtung.

Die Erfahrung, die mancher Reisende macht, daß ihm bei fremden Menschen, in neuen Orten und Umständen alles wunderbar leicht vonstatten geht, Erfolge verspricht, die er daheim nicht einmal zu träumen wagte und unverhoffte Früchte in den Schoß wirft, beglückte auch die beiden auf ihrer Wanderschaft. Und Schönherr genoß mit rührender Zufriedenheit und kindlichem Behagen das Wohlsein und die ehrbare Auskömmlichkeit dieser geistlichen Fahrt, indem er oft auf den Hunger, die Entbehrungen, Enttäuschungen und einsamen Kümmernisse hinwies, die er als armer Studiosus auf ähnlichen Wegen hatte ausstehen müssen.

Endlich kamen sie nach Schlesien auf das Schloß der Gräfin von der Gröben, das inmitten eines kleinen, aber anständigen Gutes und schönen Gartens in dem Hügellande lag, das zu den bedeutenderen Erhebungen des Riesengebirges sanft ansteigt.

Von den Dorfleuten gewiesen, betraten sie durch das offene Gittertor den Garten, der in der Üppigkeit 50 sommerlichen Wuchses durch seine verlassene Ungepflegtheit und Einsamkeit ihr Herz mit der Ahnung trostlosen Kummers erfüllte. Die unbeschnittenen Hecken und Baumlauben schatteten so dicht, daß selbst die starke Sonne nur gedämpft durchleuchtete, manche Zweige hingen verdorrt, volle Rosenbüsche mit allzuvielen entblätterten Blüten verrieten, daß niemand da war, der die Rosen rechtzeitig vom Stocke abnahm.

Sie kamen zum gelben ländlichen Schlosse selbst, ohne irgendeinem Bedienten zu begegnen, durch den sie sich hätten ankündigen lassen können, und traten endlich in den weißen Vorsaal ein, wo ihre Schritte auf den Fliesen hallten. Das gedämpfte Kläffen eines Hündleins aus den inneren Gemächern meldete die Ankunft Fremder und nach einer Weile schob sich aus der weißen Tür ein alter Diener in schwarzem Frack, aber eine blaue Schürze vorgebunden, einen Flederwisch unterm Arm, ein Tablett in der Hand, ein Käppchen auf dem grauen Schädel, unrasiert, sah sie fremd, aber nicht unfreundlich an und blieb vor ihnen in einiger Entfernung stehen, ohne etwas zu sagen.

Ebel fragte nach der Gräfin und bat den Besuch anzumelden, der vielleicht auch schon durch vorangegangene Briefe angekündigt sein möchte. Der Diener lächelte: »Briefe liest sie nicht.« – »So sagt ihr denn, guter Mann, Menschensöhne seien da.« – »Sie will niemand sehen.« – »Auch Fremde nicht?« – »Wenn sie für Arme sammeln wollen, habe ich 51 Auftrag, das Notwendige zu reichen.« – »Wir wollen geben, nicht nehmen.« Übrigens hätten sie auch einen Gruß von des hochseligen Herrn Grafen bestem Freunde Kanitz zu überbringen. Der Diener ging.

Nur kurze Zeit saßen sie wartend auf der weißen Bank des Vorhauses, als anstatt des alten Mannes die Gräfin selbst eintrat, eine kleine, zierlich gewachsene schwarzhaarige Dame in Trauerkleidern, deren große goldbraune Augen sich mit einem von Kummer und Einsamkeit verschleierten Blick auf die Ankömmlinge richteten, denen sie mit einiger Verlegenheit die Hand reichte. Ebel stellte Schönherr und sich mit wenigen Worten vor, erbat ihre Gastfreundschaft für einen kurzen Besuch und bestellte die Grüße ihrer Familie und des Grafen Kanitz, ihres gemeinsamen Freundes. Bei diesem Namen erblaßte die Dame, lächelte aber gleich mit unsäglich ergreifender Fassung. Schönherr, der für die eigentümliche Zurückhaltung keinen rechten Sinn hatte, begann sofort von dem Schicksal zu reden, das sie betroffen habe, Ebel unterbrach ihn und lenkte das Gespräch auf die der Gräfin notwendig entgangenen, aber gleichwohl am Herzen liegenden Zustände der Heimat, auf das Befinden ihrer Lieben, der Eltern, des Landhofmeisters, der jungen Schwestern, auf Ereignisse der Stadt Königsberg selbst und so fort. Ging die Gräfin anfangs nur aus gesellschaftlichem Zwang auf diese Erörterungen ein, so folgte sie ihnen bald mit der natürlichen Teilnahme einer jungen Frau, deren Einsamkeit und abgesperrter Schmerz jählings durch den Zutritt der ganzen, zugleich unveränderten 52 und doch entfremdeten äußeren Welt unterbrochen und widersinnig geworden scheint, unwillkürlich äußerte sie lebhaftes Interesse für diese oder jene Ereignisse der Heimat, sie erfuhr von der ansehnlichen Laufbahn ihres Schwagers, des Mannes ihrer nächstältesten Schwester, des Heinrich Theodor von Schön, und konnte die Frage nicht unterdrücken, wie sich ihr Vater, und ob sich gar Ebel mit diesem sogenannten Freigeiste vertragen möge. Mit einem stillen Lächeln bekannte dieser, seine und Herrn von Schöns Ansichten seien so verschieden, daß sie sich überhaupt kaum begegnen könnten, zu einem Streite fehle völlig der Boden, wo sich der eine in Lüften bewege, der andere sozusagen unter der Erde grabe.

Das Lächeln auf dem feinen Gesichte Idas von der Gröben, das erst der grenzenlosen Trauer abgezwungen war, stellte sich im Laufe des Gespräches allmählich häufiger, von selbst und aus innerer Erfrischung und erwachender Regsamkeit des erhellten Gemütes ein, durchleuchtete auch den Blick der offen auf Ebel und Schönherr gerichteten Augen, das unwillkürliche Erröten der Überraschung in der ersten Minute wurde jetzt zur natürlichen gesunden Farbe eines erwärmten, aufgeschlossenen Wesens.

Sie führte die Besucher durch das recht weitläufige Gebäude, zeigte die Einrichtung der Stuben, die mit Porträts der eigenen und der Familienangehörigen ihres weiland Gemahls, mit allerhand Kriegserinnerungen, Jagdgegenständen geschmückt, sonst aber recht einfach nach Art und Vermögen 53 bescheidener Landedelleute bestellt war. Bis auf ihres Gatten und ihr eigenes Zimmer stand alles offen, zwar geordnet, aber doch mit einer gewissen Nachlässigkeit, wie wenn nur aus guter Gewohnheit, aber ohne eigentliche Strenge das Nötige getan würde. Im Gespräch unterließ die Gräfin nicht, hier einen Gegenstand wegzutun, an eine andere Stelle zu bringen, dort ein vergessenes Büchlein geschwind in eine Lade zu schieben, sich ärgerlich für den Staub zu entschuldigen, der über einer Alabastervase lag. Die Standuhren tickten nicht.

Auf einer Terrasse, die einen schönen Ausblick auf den Garten, die Wiesen und das weitere buschige Gelände bot, verließ sie die Gäste, um, wie sie sagte, in aller Eile für eine anständige Mahlzeit zu sorgen, die ohne ihre Befehle sicherlich ganz versäumt würde.

»Siehst Du, Levite, ein Frauenzimmer, nichts weiter«, spottete Schönherr. »Du irrst, wir haben sie erweckt, sie weiß es nicht, aber sie ist gerettet.« Ebel lächelte glücklich, aus Anstand hatte er Schönherr seinen Anteil an dem Gelingen zugewiesen, das er sich ruhig allein beimessen durfte, denn der Ältere hatte überhaupt fast ganz geschwiegen, er aber erkannte, daß er die Einsamkeit der armen Frau wirklich unterbrochen und dadurch die entsetzliche Schwermut ohne besondere Aufwendung gelöst, in ein natürliches Lebensgefühl gemildert hatte. Die unbewußte Verwandlung, die sich in den Zügen, in den Bewegungen, in der wachsenden Teilnahme, in dem freieren Lächeln, in der volleren Stimme, in der 54 Aufmerksamkeit der Hausfrau auf die kleinen Nachlässigkeiten der sonst unberücksichtigten Wohnung ausgedrückt hatte, gereichte ihm zur herzlichen Genugtuung. Vor dem tiefen Kummer, der die junge Frau eingezwängt hatte, mochte man Ehrfurcht hegen, aber die liebenswürdige Befreiung eines so schönen Wesens zu seiner unwillkürlichen Natur, und wie es sich dem Leben, beschämt zwar, doch sehnsüchtig zuwandte, mußte einen Mann notwendig rühren. Es war wie das Wunder des Lichtes selber, das nicht nur das Feste im Flüssigen schafft, sondern wiederum das Starre zum Flüssigen, die widernatürliche Ruhe eines lebendigen Todes mit der schönen Bewegung und Wärme des Blutes löst.

Die wenigen Tage des Aufenthalts im Schlosse benützte Schönherr zu Besuchen bei den verschiedenen, entlegenen Hütten der schlesischen Ackerleute, Weber, Hirten, wobei er tief ins Gebirge hineingeriet und überall ein dem seinigen verwandtes geistliches Streben, Mühen und Betrachten mit hoher Befriedigung wahrnahm, das diese ärmsten Menschen aus Eigenem sich hatten erschaffen können. Zumindest verstanden sie sogleich, was er in langwieriger Lehre sowohl für sich selbst hatte erwerben, als nachher den beschränkten harthörigen Geistern seiner Anhänger beibringen müssen. Die stillversunkene Demut und gehorsame sinnende Ergebung der Schlesier war ihm eine liebe Offenbarung selbst, und er genoß, während er halbe Tage lang auch wieder allein herumstrich, sich auf Wiesen im Grase wälzte, den süßen Wohlgeschmack 55 eines Halmes kaute, an einem der schwatzenden Bäche saß, den langentbehrten Zauber der Einsamkeit, dem er vor Jahren die erste Offenbarung des Naturwesens und der Gottheit verdankt hatte, und der sich hier mächtig und bestätigend wiederholte.

Indessen wich Ebel nicht aus der Gesellschaft der Gräfin, und es war ihm vergönnt, was anfangs nur unbewußt und von der Überraschung erwirkt war, dem vollen Verstande, ja dem Gemüte der edlen Frau abzugewinnen: eine wahre Zuwendung zum Lichte der Welt. Freilich eine Zuwendung zu einem geistlichen, keinem irdischen Feuer; fromm erzogen und durch ihr Schicksal wie durch die ererbte Gewohnheit der alten Familienart leidenschaftlich gläubig, mußte die junge, schöne Frau die natürlichste, begreifliche, langunterdrückte Sehnsucht nach dem Leben in einer gläubigen Neubelehrung empfangen, die ihr nicht das vergebliche Nachtrauern und Sichvergraben im endlosen Schmerze gestattete, sondern den gelassenen Gehorsam gegen den Willen Gottes, die stille Freude am reinen Wandel im Lichte vorschrieb, eine Heiterkeit, die Leib und Seele der einstigen Vereinigung mit dem Geliebten durch Vergöttlichung und Klärung würdig machte. Mitgefühl, Anhänglichkeit an den hohen Gönner, ihren Vater, Bewunderung der Gefühlskraft der Gräfin, unwillkürliche Ehrerbietung vor ihrer Anmut, die Gewohnheit alles Irdische und Natürliche geistig anzusehen und so zu rechtfertigen, was ihm sonst als gemein gegolten hätte, gaben dem Diakon Beredsamkeit, seine feinen weltgewohnten 56 Bewegungen, seine schonungsvolle Art, das Entscheidende mit Sanftmut zu sagen, sein schwärmerisches Haupt mit dem milde glühenden Blick, der schmale Bart, das gescheitelte, wellige, zu den Schultern reichende, gepflegte Haar verliehen ihm eine merkbare, gewiß nicht unabsichtliche Ähnlichkeit mit den Bildern Christi, alles dies wirkte auf den Sinn der Gräfin, und sie fügte sich dem so natürlichen, so unbegreiflichen Wunder ihrer Wandlung, das ihre Strenge in eine holde Frömmigkeit, ihre ertötete in eine erwachte Lebensneigung und Zuversicht löste. Ja, sie überließ sich sogar der wiedererwachten Heiterkeit; gleich einem lauteren Wasser aus der Tiefe kam jezuweilen ein quellendes Lachen aus ihrer Kehle und erschrak nicht mehr sofort über seinen Laut, sondern hallte lieblich aus. Und zum ersten Male hörte Ebel dieses Lachen über seinen Begleiter. Während sich die Gräfin dem Ernst und der Ergebenheit des Diakons, seiner Weltgewandtheit und taktvollen Überredungsgabe ohne Arg anvertraut hatte, nötigte ihr, als der vornehmen Dame, die Art Schönherrs ein Entsetzen ab, das sie nicht anders als durch Spott und Witz loswerden konnte. So sehr sie sich durchaus dem Gemüt und dessen Eingebungen überließ, die urweltliche Einsiedlermanier des groben, ungeschickten Paraklets bekämpfte sie mit dem Verstande. Sie konnte mit der Hingabe an das geistige Leben, mit der Versunkenheit in die Offenbarungen die vollständige Achtlosigkeit auf weltliche Sitte, auf die Rücksichten, die jeder mit dem Nächsten haben muß, nicht 57 entschuldigen. Alle hohen Gewißheiten Schönherrs, die ihr bei Ebel angemessen und selbstverständlich erschienen, dünkten sie bei dem Naturmenschen verzerrt und spaßhaft, unziemlich, ja unwürdig. Sie nannte ihn geradeheraus einen Waldteufel, und wenn Ebel ihr zwar lächelnd, aber eindringlich die außerordentlichen Verdienste Schönherrs, seine erste Entdeckung, die Begründung seiner Lehre, die Überlieferung vorhielt, gab sie süßsauer alles zu, aber wozu brauche er diesen Genossen?

Der Eitelkeit des Jüngeren mußte diese höhere Wertschätzung, die sie ihm bewies, schmeicheln, seinem Ehrgeiz die Selbständigkeit nahelegen. Einstweilen genoß er solche Anerkennung ohne weitere Folgerungen, aber auch in ihm war eine natürliche Entwicklung lose geworden, ein Anstoß gegeben zu einer entscheidenden Wendung, und das Schicksal trieb diese Menschen wie rollende Räder über den steilen Abhang hinunter.

Die Gräfin von der Gröben entschloß sich zur Rückkehr in ihre Heimat.

 

IV

Unter den näheren Bekannten der Auerswaldschen Familie nahm eine junge Waise den ersten Platz ein, ein Fräulein Minna von Derschau, Tochter eines in den Befreiungskriegen gefallenen Majors, die schon darum, aber auch wegen der alten Freundschaft der Häuser als Schützling des Landhofmeisters besonders behütet wurde. Ähnlich wie bei der nunmehr dem 58 Leben wiedergewonnenen, entlastet, ja vergleichsweise heiter und gefaßt zurückgekehrten Gräfin von der Gröben hatte ihre Anlage selbst und das traurige Schicksal, den geliebtesten Vater so jäh und früh verlieren müssen, den Sinn des Mädchens verdüstert, ihr Dasein reuig gemacht, als wäre es an sich eine Schuld. Alles was jungen Geschöpfen in ihrem Alter zur harmlosen Freude gereicht: das Bewußtsein der eigenen Schönheit, unverfänglicher Schmuck, Geselligkeit, Vergnügen an Tanz, Spielen, Theater, Musik, an Gesang und Verkehr schien ihr ein Abscheu. Eine rührende duldsame Liebenswürdigkeit ebenso wie eine noble Zurückhaltung des Benehmens hielt sie davon ab, dieses ihr klösterliches Gefühl, das sie gegen die sinnlose Existenz ihrer Altersgenossinnen einnahm, zu zeigen, gar davon zu sprechen, bloß die ständige Schwermut, der sie sich ergab, verriet es und erschwerte jeden Versuch, sie aus ihrer Einsamkeit – sie hauste mit einer alten treuen Magd in einer kleinen, mit Erinnerungen an die Eltern eng ausgefüllten Wohnung – auch nur zu begrenzter Geselligkeit zu nötigen.

Auerswald, der Ebel für die Rettung seiner Lieblingstochter nicht genug danken konnte, hielt es für seine Pflicht, auch diesem umdüsterten Schützling seines Hauses die Möglichkeit einer zugleich gottwohlgefälligen und leiblich heilsamen Erlösung zum Leben zu verschaffen. Er legte ihm Minna von Derschaus Rettung nahe. Ebel, der in Schönherr nach wie vor seinen Meister erblickte und die Beziehungen zu 59 ihm trotz manchen aufgetauchten Gegensätzen unverbrüchlich hielt, hatte dem Kreise des Paraklet auch den Grafen Kanitz zugeführt und einen Amtsbruder, Heinrich Diestel, die beide dort hoch aufgenommen und mit halb ernst, halb gleichnishaft gemeintem Rang geschmückt worden waren, als Engel aus der Apokalypse. Kanitz, der ehemalige Krieger, konnte gar wohl als Schwertträger gelten und Diestel, ein grober, polternder, einfältiger Mensch, der, geistig beschränkt aber dabei pfiffig und schlau, ja spitzfindig, zum Gehorsam gegen höhere Naturen geboren, außerhalb dieser geduckten Unterordnung wieder einen Feldwebelübermut gegen die ihm Preisgegebenen ausarten ließ, wurde durch Schönherr zum Engel erhoben, der nach der Offenbarung das Siegel brechen durfte, also Heinrich Siegelbrecher genannt. In dem gemischten Kreise des Paraklet, den hauptsächlich Arme, Schiffer, Fuhrleute, Kleinkaufmänner, Lackierer, Schuster und deren Frauen bildeten, konnte Diestel seinem Hange zu ausfahrenden Reden, anzüglichen Schmähungen aller Andersdenkenden, ausfälligem Schimpf gegen Mächtige, die ihm zuwider waren, ohne Einschränkung nachgeben; daß er bei Meinungsverschiedenheiten nicht durch tiefere Gründe Widerlegungen finden, sondern nur eben zanken konnte, fiel hier, wo jeder sprechen durfte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, nicht weiter auf. Solche untergeordnete Art eines unterrichteten und geistlich beamteten Mannes trug sogar dazu bei, das Ansehen und die Überlegenheit des Meisters zu erhöhen, dessen 60 Urwüchsigkeit, ja gewollte Nichtbeachtung der feineren Formen immer etwas rührend Schlichtes, Herzenseinfältiges und darum Liebenswertes behielt und ihn ohne sein Zutun über die anderen stellte.

Ebel lud nun auch Fräulein von Derschau zum Besuche eines der von Schönherr veranstalteten geistlichen Abende ein, und sie glaubte dem Diakon, dessen Beredsamkeit und Güte sie als ständige Hörerin seiner Predigten gern vertraute, diese Bitte nicht abschlagen zu dürfen, wenn sie gleich noch nicht gewöhnt war, ihre geistliche Stimmung mit anderen zu teilen, geschweige zu erörtern.

So trat eines Abends, als Schönherr an seinem erhöhten Platze vor den Anhängern kniend ein gewaltiges Gebet und Bekenntnis sprach, dem Diestel mit schwitzender Begeisterung, Marianne Schmeil mit fiebernden unverwandten Blicken, die übrigens teils versunken und in Träumen, teils erregt, teils mehr oder minder gleichgültig, weil längst an solche Ereignisse gewöhnt, zuhörten, vom Grafen Kanitz geführt, eine schwarzverhüllte, hohe Gestalt in den übervollen Raum, dessen Luft, von Dunst verdorben, drückend lag. Frauen reichten ihren Säuglingen die Brust; da viele Handarbeiter und Kleinarbeiter nach Feierabend kamen, war es selbstverständlich, daß sie hier mit der ganzen Familie ihr Abendbrot verzehren durften.

Die Angekommene ging auf den Zehenspitzen, um nicht zu stören, und geschickt im Gedränge ausweichend in die entfernteste Zimmerecke, lehnte sich dort an 61 die Wand und betrachtete den betenden Meister, der von diesem Besuche nicht unterrichtet worden war, weil sich das Fräulein plötzlich und ohne Ebel zu verständigen, aufgemacht hatte. Schönherr sah unwillkürlich auf die Eintretende und folgte während des Gebetes ihrem Weg mit seinen Blicken, ebenso wandte sich Marianne Schmeil zurück und schaute auf Minna, die von der dunstigen Hitze bedrückt, das Spitzentuch abnahm. Oder sie ließ es vielmehr mit einer fast unwillkürlichen Bewegung auf die Schultern herabsinken und entblößte so ein durchscheinend blasses und wieder an den Wangen rosiges, schmales, dunkelblauäugiges Gesicht, von einem schweren, aschblonden Haarkranz umgeben, dessen Last den Kopf leicht niederbeugte. Vor der dunklen Hülle erglänzte die marmorne Farbe der Haut wie das Licht selbst. Welcher Ausdruck von Angst, Trauer, Ergebung, die nichts mehr erwartete, lag auf diesen Zügen!

Schönherr rief mit einer Stimme, die übermächtig erdröhnte: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Türe auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.«

Der unsäglich gewaltige Ausdruck dieser Worte, deren Verheißung zugleich die Bitte eines tief einsamen verlassenen Gemütes enthielt, denn jede Rede der Schrift, die von einem Lebenden übernommen wird, geht in dessen eigenstes Dasein ein und sagt 62 außer ihrem Sinn seine besondere Not aus, die Erscheinung des alternden durch-und-durchgewühlten, suchenden und gerade in seiner Gewißheit doppelt ratlosen, weltfremden, selbstgerechten und selbsterschütterten Mannes traf das Herz des jungen Mädchens gleich einer Offenbarung, ebenso wie ihre aus dem Dunkel leuchtende Erscheinung ihn.

Minna von Derschau empfand vor Schönherr in diesem ersten Augenblick ein Gefühl wie vor dem Höchsten des Lebens und dem Vater der Ewigkeit selbst, einen kindlichen Gehorsam, der nichts verweigern konnte, und der Paraklet wiederum liebte das Mädchen, aber er bekannte sich dieses Erdengefühl nicht ein, sondern deutete es als überirdische Erfüllung, die ihm vergönnt worden. Nichts Reineres und nichts Fragwürdigeres zugleich ließ sich ersinnen, als diese Begegnung einer jungen Dame des Adels und der ersten Gesellschaft Königsbergs mit einem alternden Schwärmer von niederer Herkunft, derben Sitten, dunkeln Lehren. Ein einziger Augenblick hatte sie verbunden und eine Zugehörigkeit begründet, die, einmal erschlossen, jedem Mann und jedem Weibe, welchen Alters oder Standes immer, alle Geheimnisse der Sinne, alle Not der Kreatur und alle Höhe der Himmel wie das bittere Salz göttlicher Tränen einflößt, die von den Wimpern des Ewigen stammen.

Solcher schier unheimliche Zwang, der das junge Mädchen sich dem alternden Manne zuneigen und ihn wieder, der wahren Art dieses Gefühles unbewußt, 63 seine Leidenschaft willentlich umdeuten, die schöne lichte Gestalt als seine eigenste Offenbarung betrachten ließ, als hätte er wie Gott selbst sich dieses Wunder zum Trost und zur Erhöhung erschaffen, machte das Paar innerhalb der Gemeinschaft für eine nur zu kurze Weile gleichsam in einen Abgrund der Gefühle versinken, den keines ermaß.

Schönherr, der nach rascher Beendigung seines Gebetes zu ihr trat, flüsterte ihr zu, sie sei die Braut des Lammes, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabgefahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und während sie, tief erglühend, von der Umgebung benommen, nicht wußte, wie sie diese Worte verstehen sollte, unfähig, solchem glühenden und weltfremden Anhauch auszubeugen und ihn nach der Sitte der Gesellschaft sei es zu belächeln oder unbeachtet zu lassen, aber wiederum auch nicht wagte, anzunehmen, was diese ehrwürdige und gewaltige Gestalt ihr mit einer ergreifenden Demut antrug, während beide also miteinander einen Augenblick lang gleichsam ringend verwuchsen, wie die Sonne mit der Wolke, zupfte Marianne Schmeil, tränenüberströmt, Schönherr von hinten am Ärmel seines Mantels und flüsterte: »ich bin die Braut.«

Der wandte sich mit jäher Bewegung um, sah das armselige Geschöpf und hinter ihm den jungen Altrogge, der ihn vorwurfsvoll anschaute, lächelte mit einer wilden ausbrechenden Leidenschaft, die allen fürchterlicher schien, als wenn er gelacht oder das Zornigste gesagt hätte. Da brach im gleichen 64 Augenblicke Minna von Derschau zusammen und, in die Knie stürzend, stammelte sie: »ich bin ja nicht rein.«

In Aufregung taumelten alle Anwesenden durcheinander, bemühten sich um die Ohnmächtige, fragten, schwatzten, gaben Ratschläge, während Schönherr Minnas Haupt mit beiden Händen sanft an seine Knie hielt. Die Leute hatten sich mit eigenen Kümmernissen beschäftigt, und, an manche Erregungen des Bekennens gewöhnt, das Paar vorher kaum beachtet, jetzt wußten sie darum nicht, was geschehen war, kannten die vornehme Dame auch gar nicht und redeten allerhand, wie sie über solche Fremde aus der besseren Gesellschaft eben zu denken pflegten, bis Altrogge die irrselig um sich blickende Marianne Schmeil mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer führte, Diestel als Ordnungsmann sich in seinem Elemente fand, alle übrigen grob belfernd hinauszutreiben, und nur mehr Graf Kanitz zurückblieb, der die endlich Erwachende besorgt aber ruhig ansprach.

Minna sah sich zu Schönherrs Füßen, sie blickte erstaunt, wie aus einem Traume um sich, schien den Raum und was ihr hier begegnet, nicht mehr zu erkennen, dem Paraklet, der sie mit tiefem Schmerz und völlig unsicher anschaute, lächelte sie unsäglich wehmütig, gleichsam aus einer weitesten Ferne zu.

Und wiederum mit den Blicken ineinander verwachsen, neigte sich der Wille des armen Mädchens dem des armen Mannes. Er beugte sich über ihre Stirne und berührte sie mit einem Kusse, den sie noch auf den Knien hinnahm.

65 Dann richtete sie sich rasch auf. Graf Kanitz bot ihr den Arm, hoch und schlank stand sie da, lächelte und ging.

Der Prophet suchte noch einmal ihren Blick, aber sie sah nicht mehr nach ihm zurück. –

 

V

Minna von Derschau verfiel nach diesem Besuche infolge der Erregung einem Nervenfieber, das sie für Wochen aufs Krankenlager warf. Die Gräfin von der Gröben und Ebel teilten sich in ihre Pflege und verbrachten Tage und Nächte bei der körperlich und seelisch ganz Erschütterten, die in ihren Phantasien von dem Zorn des Herrn sprach, der ihre Schuld erkannt, ihre Unreinheit verflucht habe. In lichten Augenblicken sah sie dankbar, mit einem Ausdrucke von himmlischer Güte und Liebe auf Ida, die sie durch freundliches Zureden, ja durch sanften Scherz von den üblen Vorstellungen und Selbstanklagen abzubringen suchte. Den meisten Einfluß auf die Kranke schien aber Ebel zu gewinnen, der sie zu beruhigen verstand, indem er ihrem ängstlich unsicheren Blicke unverwandt seinen zuversichtlichen entgegenhielt, oder mit seiner feinen schmalen, fast weiblichen weißen Hand über ihre Stirn strich. Wie er mit dem gescheitelten, schwarzen Haar, dem milden Ausdruck des sinnenden Gesichts, den nachdenklichen Worten, die er tröstend und zuversichtlich sagte, vor ihr erschien, trat wiederum die gewollte oder unabsichtliche Ähnlichkeit mit der Vorstellung jenes höheren 66 Menschensohnes hervor, die das arme Mädchen hegte, und die Gräfin von der Gröben wunderte sich nicht weiter, daß Minna manchmal den Diakon in Anfällen eines ergreifend ausbrechenden Jubels als den Herrn selbst begrüßte, der ihr erschienen sei. Dabei beugte sie sich, ein rührendes Bild sanftester Leidenschaft und anmutigster Verirrung, über Ebels Hand, ja sie schlang einmal, indem sie sich aus dem Bette mit Anstrengung emporhob, ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn mit einer zugleich keuschen und selbstvergessenen Hingabe, die allen Tränen in die Augen trieb.

Ida von der Gröben errötete tief und sah den Diakon mit einem großen Blicke an, die Kranke mit einem wehmütigen, indem sie flüsterte: »Wie haben Sie das Kind dem Waldteufel anvertrauen mögen?«

Als der Zustand der Kranken sich verschlimmerte und ihre Kräfte unerklärlich, aber ständig verfielen, berief man auf Anraten von Freunden einen jungen Arzt, den Doktor Sachs, der sich in Königsberg wegen seiner anscheinend unfehlbaren Diagnosen und merkwürdig glücklichen Kuren eines gewissen Ansehens erfreute, obgleich er in eben den Kreisen, die ihn zu Rat zogen, nur mit Mißtrauen und schlecht verhehlter Geringschätzung behandelt wurde, weil er Jude war. Durch rasche Auffassung, eindringliches Studium und natürliche Begabung hatte er sich trotz der widrigen Verhältnisse, die ihn hinderten, an der Universität herangebildet. Bekannt war, daß er eine Lehrstelle an der Fakultät anstrebte, auf die er nach 67 seinen Leistungen wohl, nach den Gepflogenheiten der Zeit aber keinen Anspruch erheben durfte.

Als er Minnas Krankheit beobachtend, mit seinem eigentümlich ernsthaft lächelnden Gesichtsausdrucke an dem Lager saß, fragte er Ebel und die Gräfin nach den Umständen des Anfalls und erfuhr so, was in der Stadt längst gerüchtweise verbreitet war: die Lehren Schönherrs, seine Versammlungen und den Auftritt, wie der Paraklet das junge Mädchen zu seiner Braut erklärt hatte.

Er verschrieb eine einfache, leichte Behandlung, niederschlagende Arzneien, kühle Bäder, Obst- und Milchnahrung und erzielte bald eine Besserung, die anhielt. Unterdessen ergab sich notwendig und natürlich ein näherer Umgang mit Ebel. Dieser fand sich durch den Verstandesmenschen, den scheinbar nüchternen Arzt, als durch sein urtümliches Widerspiel merkwürdig angezogen und zugleich abgestoßen. Aber diese heimliche Abneigung bekämpfte er, weil er gerade mit feindseligen Naturen sich zu messen angetrieben war und ihm in seiner priesterlichen Einbildung ebensolche ganz zu bezwingen als seine höchste eigentliche Aufgabe galt. Ebenso führte im jungen Arzte der Trieb, alles, auch das seiner Anlage Versagte, seinem Wissen anzueignen und seinem Wesen einzuverleiben, zu ähnlicher Wirkung, denn er mochte durchaus die Welt des Gefühls teilen, die ihm verschlossen war, und seine eingebildete Fähigkeit, alles Menschliche zu erfassen, gerade dort erproben, wo sein Verstand aufhörte und eben eine Empfindung allein gefordert war, die er zwar 68 bei andern erkennen, aber nicht aus Eigenem erzeugen konnte.

Nebenbei unterlief freilich, etwa unbewußt, der leidenschaftliche Ehrgeiz des nach seiner Meinung zu Unrecht Niedergehaltenen, sich gerade in der Welt der Feinde, in der ungeistigen oder hochmütigen herrschenden Gesellschaft durchzusetzen und den Widerstand aller, der durch die Gewalt der Begabung nicht gebrochen werden konnte, durch die List und Gewandtheit einer scheinbaren Unterwerfung zu umgehen.

So wurden die äußerst gegensätzlichen Naturen miteinander verbunden: Sachs schloß sich in einer schier leidenschaftlichen, bei seinem sonst kühlen und skeptischen Wesen doppelt überraschenden Anhänglichkeit an Ebel an, er gab seine zernichtende Dialektik für die aufrichtige Bemühung daran, jene Gefühlswelt aufzunehmen, die ihm der willig Lehrende eröffnete, er zwang sich selbst oder schien vielmehr aus freien Stücken eine Leidenschaft des Glaubens anzuerkennen, zeigte eine Bereitschaft, Offenbarungen anstatt des Wissens hinzunehmen, als sei ihm hier zum ersten Male eine goldene freiere Welt höheren Lebens gewiesen. Seine Fragen wurden aus nachdenklich spöttischen und zweifelnden immer mehr innerlich angeregte. Was seinen Erfolg vermehren, seine ehrgeizigen Bestrebungen fördern konnte, schien auch seinem eigentlichen Drang zu entsprechen, seiner Seele Halt, Grenzen, Frieden zu verschaffen, Saiten seines Gemüts zu berühren, die er bisher nie vernommen 69 hatte. Wer den in geistigen Naturen unheimlich glühenden Eifer alles Menschliche zu umfassen würdigt, wird den Seelenzustand dieses furchtbaren Schülers begreifen, der alles, aber auch alles Lebendige erleben wollte und sich vermaß es teilen, ja sich aneignen zu können.

So nahm er von Ebel die Taufe, auch seine Frau trat zum Protestantismus über und beide wurden Genossen des Kreises, der sich um den Diakon scharte.

Dessen enges Verhältnis au einem an Verstand und Auffassung überlegenen, geschulten Geiste wie Sachs mußte die dumpfe Ergebenheit für Schönherr noch mehr auflockern. Darin waren die Gräfin von der Gröben und Doktor Sachs einig, wie sie ja in ihrer leidenschaftlichen Energie manches Verwandte hatten, Ebel ernst und wahrhaftig zu nehmen, den armen Schönherr aber als hohlen Lügner und Affen seines Glaubens auszuspotten und zu verachten. Beide wirkten auf Ebel ein, er möge sich von dem lächerlichen Meister lossagen.

Ebels Eitelkeit nahm diese Ratschläge gierig auf, seine innere Abhängigkeit von Schönherr und ein gewisser Anstand ließen ihn freilich verhehlen, wie sehr er ihnen bereits geneigt war. Unterdessen bewirkte die innerlich schon vollzogene Entfremdung bei den Versammlungen, wo der in ärmlichen Umständen verharrende dürftige und derbe Schönherr mit seinem zu Ansehen und Geltung in der Welt gelangten Jünger häufig aneinandergeriet, ohne äußeren Anstoß wachsende Mißhelligkeit.

70 Der Paraklet lebte in all den Wochen der Krankheit des Fräuleins von Derschau in einer ständigen, ihm selbst unerklärlichen Aufregung, er vermißte sie und wagte doch nicht, sich dies einzugestehen oder gar andere nach ihr zu fragen, nur schien eine ungeheuere Anspannung seines Willens sie zu rufen.

An ihrer Statt traten an einem Sonnabend Ebel und Sachs bei ihm ein. Sie fanden ihn nachdenklich und allein auf seinem Bette sitzen. Anders als er sonst Gäste behandelte, nahm Schönherr den Doktor Sachs auf, mit unverhohlenem Mißtrauen, mit einer höflichen Kälte, die an dem sonst herzlichen Menschen doppelt abschreckend wirkte und eine Verachtung verriet, der er anderen gegenüber nicht fähig war.

Ebel, der in gewohnter Höflichkeit zu vermitteln strebte, sah sich, was noch nie geschehen war, mit Spott zurückgewiesen. –

»Ich kenne dich gar nicht, Schönherr, sonst bist du gütig und duldsam nach dem Bilde unseres Herrn und heute so stachelig.«

»Wer nicht für uns ist, der ist wider uns und den muß man hassen. Was soll eine Liebe, die uns verdirbt und alles Feindselige annimmt?«

Sachs warf ein: »mir scheint, Sie tun unrecht, von Haß und Liebe zu sprechen, sowie davon, daß für Ihr Verhalten zu den Menschen entscheiden müsse, ob einer für oder wider Sie sei.«

Schönherr lächelte »ich wüßte nicht, wie ich auf der Welt einen andern Maßstab fände, als mein Gefühl für 71 die, die meinen Willen teilen oder ihm entgegenwirken.«

Darauf antwortete Sachs: »Eine tiefe Bestimmung zur Vollkommenheit, zur göttlichen Einheit mit der Welt und dem Schöpfer, die das einzelne Geschöpf in der Gnade aufgehen und selbst zu Gott werden läßt, ist jedem Menschen eingeboren. Also stellt keiner Dunkel oder Licht an sich vor, wie es ja auch im Bereich der Farben nicht Helligkeit und Nacht, nicht schlechthin weiß und schwarz gibt, sondern nur mannigfache Abschattungen des Lichtes, also des Göttlichen selbst. In jedem Menschen ist, mehr oder minder wahrnehmbar und hoffnungsvoll das Göttliche, das Licht, die Erkenntnis und Vollkommenheit, also die Seligkeit durchaus als sein eigentliches Wesenhaftes enthalten, aber, ich gebe es zu, mannigfach verwirrt, getrübt, verdunkelt. Nicht Böse und Gute wären also zu scheiden, Schafe und Böcke, sondern Gute und minder Gute, und der Sinn jedes Lebens, die Aufgabe jedes Menschen bliebe sein eigentliches Selbst, das Göttliche, das Gute, das Wahre, sein Licht und Urprinzip aus sich herauszuarbeiten. Dies scheint mir das erhabenste Geheimnis der christlichen Lehre, und was sie von allen früheren Erkenntnissen um eine Welt, wahrlich um die ganze Welt scheidet, daß sie Gott in jedem Menschen annimmt und anerkennt, nicht im Bevorzugten, daß sie vielmehr allen das gleiche innewohnende Heil zuspricht, wofern sie es zu verdienen wissen. Aber freilich darauf kommt alles an, daß jeder den Gott aus sich herausarbeite, 72 und es kann nur den Unterschied zwischen bewußten hellen Menschen und unbewußten dunklen und in ihrem Trüben Verharrenden geben.«

Schönherr warf den Kopf zurück: »Ja, das paßte euch Gleichmachern und anmaßenden Weltknechten freilich, daß jeder die Gnade wie den Feldherrnstab im Tornister trüge. Nein, es gibt Gutes von Anbeginn und Gute, aber auch Sünde und Sünder, Erlösung für die einen, Verdammung für die anderen, und diese Welt reicht nicht aus, den Unterschied auszugleichen, der Seelen von Ungeheuern trennt.«

Leise sprach Ebel: »Wie willst du aber, Schönherr, den Guten und Bösen unterscheiden und erkennen, da die Sinne Irrtum und lichtstumpf sind?« Schönherr lächelte erst, fuhr aber ernster fort: »Es gibt Prüfungen und strenge Proben, denen müßt ihr euch unterwerfen. Ich erkenne die Begnadeten und die Verworfenen, kraft meines inneren Wissens, also, daß ich die Zeichen auf jeder Stirne sehe, wohin einer gehört, und ich habe die Böcke von den Schafen geschieden.«

»Wer solls Ihnen glauben, wessen maßen Sie sich an?« unterbrach ihn Sachs ungeduldig.

»Wer mir folgt, der glaubt mir, dem brauche ich nichts weiter zu beweisen. Es gibt keine Hilfe als den Glauben und keinen Beweis als die Gewißheit; wer aber fragt, der zweifelt und ist verworfen von Anbeginn. Und wenn in der Offenbarung gesagt ist: ›und mitten unter den sieben Leuchtern einer, der war eines Menschen Sohn gleich‹, oder ›ich bin der Erste und der Letzte‹, wenn und so wahr dies alles 73 gesagt ist, so kommt ein neuer Menschensohn zur Welt und schafft, was ihm verheißen und auferlegt ist. Und das will ich tun.«

Sachs ging, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, auf und nieder, ohne ein Wort mehr zu sagen, Ebel aber wurde heftig: »Das ist gegen die Schrift. Jesus soll wiederkommen, aber kein anderer ist gemeint, am wenigsten du, was fällt dir bei!«

Schönherr darauf: »Wenn Jesus gemeint wäre, so hätte ihn die Schrift ausdrücklich genannt. Sie weissagt einen andern.«

Ebel: »Dann können wir miteinander nichts mehr zu schaffen haben. Gut, kommts auf Glauben oder Verwerfen an, so sage ich hier und dazu: nein und bleibe dabei. Es ist mein Wille nach Gottseligkeit und Vollkommenheit, aber nach keinem, der sie sich allein anmaßt und verwaltet.«

Da ging in Schönherr eine Veränderung vor, die sich in seiner Betroffenheit und bekümmertem Ausdruck seines Gesichts zeigte, denn er liebte Ebel und wollte ihn nicht lassen. So lenkte er ein und schwächte seine Behauptungen ab, nicht auf die Person des Mittlers und wie man diese Wiederkunft deute, komme es an, sondern auf den Sinn der Worte und darauf, daß man die Zeit gegeben wisse, wo die Sicheln zu schneiden, die Hippen zu schlagen hätten und daß der Überwuchs des Übeln zerstört werden müsse, und hierin wollten sie einen Pakt schließen.

Kalt fragte Ebel, was er darunter verstehe. Geheimnisvoll und mit einem Ausdruck verschmitzter Freude, 74 der dem Arzte wahnsinnig erschien, begann Schönherr zu erklären, was seine Absicht sei.

In den »Ebräern« heiße es: »denn ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden über dem Kämpfen wider die Sünde. Und habt bereits vergessen des Trostes, der zu euch redet als zu den Kindern: mein Sohn, achte nicht gering die Züchtigung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er, und er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt.« So wollten sie paarweis, je ein Mann und ein Weib, unbekleidet bis aufs Hemde, ihren Leib an den Hüften mit Ruten streichen bis zum brennenden Schmerze und zum Blutvergießen, als ein Opfer, das da lebendig und heilig sei und ein wahrer Dienst Gottes. Daran sollten sich diejenigen erkennen, die zueinander gehörten und der Erlösung wert seien. Und damit würden sie sich versöhnen.

Ebel schwieg, Sachs fragte höhnisch: »Wen wollen Sie zur Genossin?« Schönherr errötete, sagte aber sogleich aufrichtig und ernst: »die Braut des Lammes«. – »Das wußt' ich,« erwiderte Sachs, »wir sehen jetzt wohl deutlich genug, wie lächerlich und töricht das alles ist und wie sinnlos.« Ebel senkte stumm den Kopf. Schönherr schwieg. Da Marianne Schmeil mit Altrogge und andern eintrat, wurde die peinliche Verlegenheit unterbrochen, Ebel nahm kurzen Abschied, Sachs empfahl sich mit einem hämischen, aber verbindlich vorgebrachten Scherz und bot Schönherr die Hand, was dieser aber nicht zu bemerken schien, sondern 75 durch den Arzt gleichsam hindurch, auf die entgegengesetzte Seite der Mauer sah, während er zu Ebel halb traurig, halb verächtlich flüsterte: »Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist, ach daß du kalt oder warm wärest.«

Ebel schüttelte den Kopf ohne zu erwidern, da setzte Schönherr mit ausbrechendem Zorn und lauter Stimme fort: »Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.«

Gleichwohl zögerte Ebel, sich von Schönherr endgültig loszusagen, noch einmal, ohne Sachs, versuchte er sich mit ihm zu einigen. Schönherr war gereizter als je, er nannte Ebel einen Lügner und lachte darüber, daß er sich erkühne im Geiste stehen zu wollen, er schrie ihn an und machte ihn wie einen Schüler herunter, er klagte ihn an, seine ihm von Gott bestimmte Braut gefangen zu halten und ihm entfremdet zu haben, er forderte sie von ihm, er bestand auf der Geißelung schon um der Buße willen, die Ebels Verirrungen notwendig gemacht hätten. Dieser konnte gegen den Heftigen nichts ausrichten und verließ ihn abermals ohne Erklärung. Endlich schrieb er ihm: sollte ihr beiderseitiges Verhältnis fortbestehen, so müßte Schönherr gewisse unerläßliche Bedingungen erfüllen, denen auch er, Ebel, seinerseits sich unterwerfe, als: keiner dürfe den andern überschreien, Lügner schelten, Zurechtweisungen ablehnen, Unrecht leugnen. Und wenn einer behaupte im richtigen Geiste zu stehen, so müsse man ihm das gelten lassen. Schönherr antwortete versöhnlich, er war sogar bereit die Geißelung 76 aufzugeben, da er sie nicht als das einzige Zeugnis der Aufnahme ins Reich Gottes betrachten wolle, sie sollten die Streitpunkte auf sich beruhen lassen und sich bei dem vereinigen, was ihnen längst gemein sei.

Da wurde aber Ebel wiederum bestimmt, auf eine endgültige Lösung zu dringen, er widerlegte die Forderung der gemeinsamen Buße als sinnlos, zumal Schönherr immer nur alle anderen, niemals sich selbst für besserungsbedürftig halte. Der Brief schloß so: »Es sind diese Worte, das wisse jedermann, Gottes Worte an unseren Freund Schönherr, der hat sie durchzudenken und zu beherzigen und solange er sie nicht versteht und freundlich aufnimmt und in seinen Segen verwandelt, ist er noch ferne vom Reich Gottes.«

Als Schönherr diesen Brief und besonders die letzten Zeilen las, lachte er grimmig auf: »Das sind Gottes Worte an mich, nicht übel, was mir recht ist, muß auch dir billig sein. Du missest wahrlich die Spannung der Himmel und der Erden.« Er verwahrte den Brief sorgfältig, zeigte ihn aber niemand, sprach hinfort nie mehr von seinem einstigen Schüler und Liebling und duldete auch nicht, daß jemand dessen Namen in seiner Gegenwart nannte.

Mit dem Ausscheiden Ebels, dem auch Diestel und Graf Kanitz folgten, waren aus dem Kreise Schönherrs alle die Teilhaber aus einer höheren Schichte der Gesellschaft verschwunden und die Konventikel nur mehr auf die bescheidenen Gespräche und den treuen Gehorsam unbedingter, aber armseliger Anhänger beschränkt.

77 Bevor wir der ausgreifenden Bewegung folgen, die um Ebel den bedeutenden Ring durch Weltstellung und Bildung ansehnlicher Mitglieder zusehends erweiterte, und bevor wir zeigen, wie auch dieser Ring seinem notwendigen Verhängnis entgegentrieb, mag noch in Kürze der Ausgang Schönherrs berichtet werden, der, seit dem Zwist eigentlich kaltgestellt, bloß ein unseliges, wenn auch der eigenen Verarmung kaum bewußtes Scheinleben in Unruhe und leidenschaftlichem Bedürfnis nach neuem Aufschwunge hinschleppte.

Seine Getreuen hingen ihm nach wie vor bedingungslos und gläubig an, denn er war ihnen der einzige höhere Geist, dem sie begegnet, der einzige, der eine schönere Welt verheißen und damit auch gewähren konnte, und mit dem gemeinsamen Urgrund der Sehnsucht so tief verwachsen, daß sie außer ihm, der davon bezeugte, nichts kannten, und daß nur er Verwirklichung schien und bieten konnte. Ihm folgten sie denn, hingen an seiner Gebärde, an jedem seiner Worte; sie versuchten zu enträtseln, was er verschwieg, zu teilen, was ihn bewegte, aber er war seit dem Bruche mit Ebel recht schweigsam geworden und machte es ihnen schwer.

Stundenlang wanderte er, jede Begleitung zurückweisend, allein durch die Straßen. Er hoffte Minna wiederzusehen, sie ansprechen, fragen zu können. Er strich in der Gegend ihres Hauses umher und spähte nach ihrem Fenster. Er forschte ihre Wege aus, und es gelang ihm wohl etliche Male ihr gegenüberzutreten, 78 aber sie war niemals allein, tief verschleiert eilte sie an ihm vorbei und war entschwunden, ehe er sie anreden konnte. Eine gewisse Angst und Reue hielt sie davon ab, noch einmal ein Wort an ihn zu richten oder eines von ihm anzuhören, hinwiederum war er zu scheu und ungeschickt, sie anzuhalten. Sie mußte, so glaubte er, aus freien Stücken ihn noch einmal aufsuchen und von neuem den goldenen Faden anknüpfen, der sie beide mit Gott verband.

Fragte ihn Altrogge teilnehmend, Marianne Schmeil ängstlich um die Ursache seines Kummers und was ihn den Freunden entfremde, so lächelte der nunmehr zum Greise gealterte Mann auf furchtbar schmerzliche Weise mit einem Zuge verachtender Verzweiflung auf den Lippen. Ein einziges Mal sagte er, mehr zu sich selbst, als zu den in ihn Dringenden: »Ich wäre doch auch gern einmal selbst von Herzen froh und nicht ganz allein gewesen und hätte mein armes Haus gern geschmückt und also im Schein des Glückes gesehen.«

Als Marianne darauf, seinen Ärmel schüchtern anfassend und zu ihm aufblickend sagte: »Du hast ja uns,« da erwiderte er nichts, wandte sich ab und ging schneller, so daß es ihnen schwer war, ihm zu folgen.

Während derart seine täglichen Wege in dunkleren, mühseligeren Zuständen ermatteten, schien sich sein Sinn neuen Aufregungen und Aufschwüngen zu eröffnen, als wolle er mit Gewalt ein Unerreichbares bezwingen. So verkündete er eines Tages einen Plan, den er, wie es schien, lang ausgedacht hatte, denn wenn er allein war, saß er vor großen Zeichenblättern 79 mit Stiften, Linealen, Zirkeln und fertigte bedeutende Entwürfe an, die er vor den Besuchern geheimnisvoll, aber mit einem verheißenden Lächeln zurückschob, bis er so weit war, ihnen das Ganze zu verraten.

Zu der Stunde da er es tat, kam er ihnen größer vor als sonst, leiblich über sein Maß gewachsen, das Haupt hoch erhoben, der Blick frei und kühn, wie seit langem nicht, zuversichtlich, ja freudig.

Diese höchste mitteilbare und sich mitteilende Erhebung, die nun anhielt und keine Abschwächung erlitt, solange das wunderliche Werk betrieben wurde, zwang auch alle seine Anhänger bedingungslos zu einem Gehorsam, der nachmals doppelt rätselhaft erscheint, weil er gegen alle Vernunft und gewöhnliche Einsicht geleistet wurde.

Wem es aber gelungen ist Seelen von Menschen zu bewegen, aus ihren strengen selbstischen Verbindungen loszumachen, so daß sie völlig neu gerichtet, Irdisches und Vernunftgründe für nichts, Geistiges und einen höheren Sinn ihrer selbst, der ganzen Welt für wirklich und alles halten, der wird sie, wie einst Machthaber Sklaven zum Bau der Pyramiden, auch zu einem Werke willig finden, das keinen andern Gedanken hat, als dieses Streben aller nach dem Überfliegen ihrer gemeinen Schranken zu vollstrecken. Nicht die Möglichkeit und Faßbarkeit, sondern die erhabene Unsinnigkeit selbst wird ein begreiflicher Inhalt unbegreiflichen Tuns. Ist derart ein völlig Vernunftwidriges begonnen worden, so mag man billig nicht über das Tun staunen, sondern nur über die rätselhafte Kraft eines einzelnen, 80 sich und seiner Stimme überhaupt Menschen zu unterwerfen. Was er befiehlt, ist dann schier gleich, und selbstverständlich, daß sie gehorchen.

Schönherr wollte auf dem Pregel ein Schiff bauen, nach Anweisungen, die er im Traume erhalten hatte. Es sollte der »Schwan« heißen, und er sah ein zugleich schlankes und kühnes Fahrzeug, das auf dem Wasser wie ein Vogel, schneller als alle Segelschiffe, ohne Ruder, ohne Dampf, bloß durch einen Mechanismus, den er ausgesonnen hatte, sich bewegen und gleichsam dem Himmel, der Ewigkeit zuschweben sollte. Man mag sich gerne denken, daß ihm das Bild einsam, edel und sicher auf dem Wasser ruhender, den hohen Hals emporbiegender weißer Schwäne oft genug als das erhabenste Gleichnis seiner eigenen Weltfahrt erschienen war, das er nun körperhaft zu erfüllen wünschte.

Bujack riet ihm doch vor dem Bau wenigstens Modelle des Mechanismus, des Schiffsrumpfes, der einzelnen Bestandteile des Fahrzeuges anzufertigen und Proben ihrer Leistung anzustellen. Schönherr aber wurde über solche kleingläubige Vorsichten ärgerlich und verwarf sie mit Hohn: »Nimm dir Winterkleider mit, damit du in der Ewigkeit nicht erfrierst.«

Sein »Schwan« sollte sie ins Weite tragen. Ohne sich darüber auszusprechen, aber auch ohne gefragt zu werden, ob dieses Fahrzeug als Erfindung der ganzen Menschheit zugedacht sei, oder bloß ihm und den Seinen dienen sollte, ordnete er das Werk an, begannen es alle.

81 Und Schönherr fällte zwei hohe Ulmen, die vor seinem Hause standen, um das erste Bauholz zu gewinnen, Zimmerleute unter seinen Anhängern lieferten anderes, hämmerten und schafften auf einer kleinen eigenen Reede, Bretter wurden gesägt und aneinander gefügt, alles in den freien Stunden der armen Leute. Kinder spielten selig unter den Spänen und Abfällen, Mütter saßen auf den Stapeln, säugten ihre Kinder, lächelten feierlich, wie über ein heiliges Wesen, das geboren werden sollte. Er leitete und befehligte alles, erneute Heiterkeit und Gewißheit leuchteten aus ihm, feuerten seine Helfer an, daß jeder Axtschlag wie ein Freudenruf tönte und das Tun, nicht erst das Ende, bereits ein volles Glück herbeigeführt zu haben schien.

Als das Fahrzeug so weit gediehen war, daß Schönherr allein, ohne seine Anhänger die erste Probe machen konnte, erwies es sich natürlich, ins Wasser geschoben, als unfähig zu jeder Bewegung. Bujack versuchte noch einmal zu einer Prüfung im Kleinen am Modell und zu Änderungen des Planes zu raten, aber Schönherr tobte wie ein Rasender gegen ihn und jagte ihn davon, da sein Unglaube am Mißlingen schuld sei.

Unvollendet ließ man den »Schwan« am Ufer verlassen und gestrandet liegen und verfallen, die Anhänger sprachen nicht mehr davon, aber sie mieden Schönherr fortan scheu und ernüchtert, der bald auf wenige Getreue beschränkt war. Mit diesem Werke war auch er verfallen und gescheitert. Er verstummte seither, oder er redete wirr, zu Predigten und Lehren 82 war er nicht mehr zu bewegen, das weiße Haar hing zausig um sein ganz durchfurchtes und vergrämtes Gesicht, der Bart wehte mißfarben und ungepflegt im Winde, er wanderte weit umher, kehrte wie einst als Fremdling, aber nur mit Angst oder Mitleid als Narr angesehen, in Hütten und Dörfern ein und schlief auf der Streu. Er brauchte nicht Not zu leiden, weil ihm seine einstigen Freunde genug zur Unterstützung zukommen ließen, insbesondere sandte ihm Ebel heimlich und unter fremdem Namen jeden Monat einen hinreichenden Betrag, aber er teilte das Geld gleich an Arme aus und schweifte in Sturm und Unwetter, oder saß allein in der Sonne, den Kopf niedergebeugt. Nur gelegentlich duldete er Begleitung oder Pflege der armen Marianne Schmeil, die ihm unverbrüchlich anhing. Sie war es auch, die ihn suchte und auffand, als er, von einer tödlichen Erkältung betroffen, zu Juditten, unweit von Königsberg in einem Pfarrhause untergebracht, auf einem reinlichen Bette, in einem weißen, sonnigen Zimmer fiebernd lag.

»Er stirbt uns«, hatte sie entsetzt gerufen, als sie eintrat und den Abgezehrten erblickte, der mit eingefallenen glühenden Wangen, spitzer Nase und geschlossenen Augen zu schlummern schien.

Sie setzte sich zu ihm ans Bett: »Sterben?« flüsterte er und legte lächelnd und mühsam sein Hand auf ihre Schulter. »Die wiedergeboren worden sind, können nicht sterben. Ich war schon tot, aber jetzt lebe ich ewig.« Da sie ihn pflegte, dankte ihr ein liebreicher Ausdruck, wie sie ihn vordem nur selten von ihm gekannt 83 hatte, für jede Handreichung, und in allem Schmerz fand sie sich beseligt wie noch nie. Als sie ihn so zu erleichtern suchte, schüttelte er einmal schwermütig den Kopf und bedeutete ihr die Bibel aufzuschlagen. Er ließ sie die Worte des Predigers vorlesen: »Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre, da du wirst sagen, sie gefallen mir nicht. Ehe denn die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen. Zur Zeit, wenn die Hüter im Hause zittern und sich krümmen die Starken, und müßig stehen die Müller, weil ihrer so wenig worden ist, und finster werden, die durch die Fenster sehen, und die Türen an der Gasse geschlossen, daß die Stimme der Mühle leise wird und man erwachet, wenn der Vogel singet und gedämpft sind alle Töchter des Gesanges. Wenn man sich auch vor Höhen fürchtet und sich scheuet auf dem Wege; wenn der Mandelbaum blühet und die Heuschrecke beladen wird, und alle Lust vergehet.«

In der Morgendämmerung, bei den ersten Hahnenschreien und als die Hunde anschlugen, verschied er im Schlafe.

 

VI

Der Ebelsche Kreis, dem in diesem Jahre Männer und Frauen aus den bedeutendsten Familien beitraten, bildete nun eine auch nach außen kenntliche Gemeinschaft, ohne daß irgendwelche bestimmte Formen sie hervorzuheben und zu binden brauchten. Schon durch 84 eine gewisse, zugleich anspruchsvolle und demütig-einfache Tracht fielen die Mitglieder auf, die Damen durch schmucklose einfarbige, dunkle, anschließende Kleider mit weißen Kragen, so daß sie ein wenig klösterlich erschienen, die Männer durch besonders lange predigerhafte Schlußröcke mit weißen, hohen Halsbinden.

Eine eigentümliche hochmütige Bescheidenheit verband sie untereinander, wirkte indessen den Außenstehenden gegenüber fremd, demütig und hoffärtig in Einem. Ihre zur Schau getragene Einfalt bei ihrer sonst feinen Bildung und Übung in aller Geselligkeit mußte fast lächerlich oder heuchlerisch anmuten, in ihrem geschlossenen, ungestörten Kreise aber stellte sich der Eindruck völlig gemäßen, würdigen und gleichgestimmten Beisammenseins sofort her.

Wie es bei der ritterlichen Erbsitte der Adeligen leicht zu verstehen ist, nahmen die schönen und geistig bedeutenden Damen dieser Gesellschaft den vordersten Rang ein, unter ihnen wieder Ida von der Gröben, ohne dies erst zu beanspruchen oder durch Winkelzüge des Ehrgeizes erwirken zu müssen. Männer und Frauen ordneten sich ihr unter, die sie mit ihrem Blick allein, mit der Sicherheit und unbedingten Festigkeit ihres Wesens, aber auch mit Witz, Verstand, Gefühl beherrschte. Sie selbst wiederum stand in einem Verhältnis zu Ebel, das sich bei überschwenglichen, zugleich religiösen und eigenwilligen Frauen natürlich ergibt, doch mit Worten und in einzelnen Handlungen nur schwer begreiflich oder glaublich machen läßt. Will 85 man es sich halbwegs vorstellen, so mag man an die schwärmerische Hingabe denken, die solche Frauen manchmal dem Arzte bezeugen, der sie aus schweren wirklichen oder eingebildeten Gefahren befreit hat. Ähnliche geistliche Rettungen, die hauptsächlich von seelischer Beeinflußbarkeit abhängen, gelingen überdies nur, wo die Gemüter einander von Anbeginn zuneigen. Wann und wie das natürliche Verhältnis der Unterordnung und Verehrung in gleichstimmende Liebe übergeht, wird von Außenstehenden kaum erfaßt werden können, da sich solche Ausgleichungen der Seelen sozusagen jenseits der Mitwelt, wie auf Berggipfeln unter Nebeln und Wolken und bloß von dem glühenden Schein einer einsamen Sonne beleuchtet und vergöttlicht ereignen.

Was will aber die Form und körperliche Ausdrucksweise solcher Beziehungen der Geschlechter besagen gegenüber der höchsten inneren Einheit, die sich ohne sinnliche Verwirklichung und auch weit über jede hinausgreifend, in allen Seelenkräften vollzogen hat und zwei Menschen bis in die letzte Fiber ihres Wesens so miteinander durchdringt, daß die Gebärde des einen aus Leib und Willen des anderen genommen, daß der Mann mit der Seele des Weibes zu blicken, dieses mit dem Geiste des Mannes zu antworten scheint.

Die Gräfin hing an Ebel mit einer Dankbarkeit, die in ihm nicht bloß einen Priester, sondern einen Spender und Bürgen der Gnade sah, der das Wort besitzt, das vom Tod erlöst und zu leben erlaubt, denn er hatte sie wirklich dem Dasein wiedergegeben. Den 86 Einwänden, eine solche Rückkehr sei in ihr selbst vorbereitet gewesen und wäre wohl auch durch die Begegnung mit irgendeinem anderen Menschen aus der Heimat möglicherweise ebenso veranlaßt worden, konnte sie bloß ihre Gewißheit entgegenhalten: sie war in ihrem schlesischen Gute wie in einem Sarge gelegen, und nur wer den Odem Gottes besaß, konnte ihr, die für tot dort hauste, diesen Hauch des Lebens wiedergeben. Aber gesetzt den Fall, ein anderer hätte sie zur völligen Wandlung bewegen können, wer anders als Ebel hätte ihr deren Ziel, den Sinn ihres Daseins bieten und darstellen, es also wertvoll und lebenswürdig machen können, wie sie es jetzt als innerste Einheit mit dem Herrn, als unmittelbaren Weg zu ihm ansah.

Hinwiederum vermochte sie aus der Kraft ihres Gemütes den Geist Ebels so dauernd über alles Gewöhnliche hinauszuheben und in solcher dünner, klarer, überschauender, fragloser Höhe auch festzuhalten, als hätte zugleich ihre Seele die seine aus den Niederungen gegriffen und wie der Adler des Zeus einen göttlichen Knaben unmittelbar gegen das übermächtige Licht gerissen. Denn erst durch sie, durch den Glauben, womit sie ihm glaubte, durch die Deutung, womit sie seinem Tun und Lassen, seinem Geringsten und Zufälligsten die zwingende Gewalt göttlichen Gebotes, überirdischer Wahrheit beilegte, erst durch ihre Anschauung, Empfindung und Haltung wurde er der, als der er sich nunmehr zu benehmen wagte und von andern Anerkennung verlangte. Erst indem sie ihn heilig sah, schaute er – und oft nicht ohne Entsetzen – 87 sich selbst so an. Die ungeheure Wörtlichkeit, die sie seinen Gedanken und Lehren beilegte und womit sie sie über und außer alles Maß der überkommenen religiösen Gemeinschaft rückte, wurde Ebel zur Offenbarung und zum Schicksal. Er mußte sich sputen und mühen, solchem Schwung nachzukommen, wozu sie ihn zwang, solche Kraft der Empfindung gleichmäßig aus sich zu erzeugen und zu erhalten, die sie selbstverständlich voraussetzte, sich im Leben ohne Spuren der Ermüdung, des Zweifels, gar des Spottes so zu benehmen, wie sie ihn sehen wollte. Und was sie in ihrer Leidenschaft bloß zu fühlen brauchte und sicher besaß, mußte er aus dem bewußten Verstande erschaffen. Es war, als ob ein Feuer das andere nähre, und eben in diesen verzehrenden wechselseitigen Zumutungen eine Belebung und Erneuerung ohnegleichen. Dazu die Spannung, die zwischen ihm und dieser Frau noch gesellschaftlich bestand und den Mann immerhin zu steter Haltung und Strenge nötigte. Wie hatte sie den armen Schönherr, der dem Urzustande der Offenbarung wahrlich näher gewesen war, mit ihrem Spott verfolgt, unmöglich gemacht und seiner Herrschaft über Ebel beraubt! Irdische Liebe eines Weibes hätte blind gemacht, solche himmlische war scharfäugig. Dieser Zustand beiderseitiger Steigerung bis zu einer furchtbaren Fallhöhe wäre unter Gatten unmöglich, deren Gemeinschaft eine irdische Beschränkung voraussetzt, wie sie ihr ja auch ziemt. Darum gedieh dieses Verhältnis ruhig und ungestört neben und über einer durchaus glücklichen Ehe Ebels, dessen Frau 88 für die Gräfin eine unbeirrbare Verehrung hegte und mit dem Stolz der Einfältigen über die Stellung entzückt war, die ihr Mann bei so außerordentlichen Menschen einnahm. Mit seiner Gattin durfte Ebel getrost in das sanfte Tal der irdischen Zustände niedersteigen und sich hier vom ungemessenen Anspruch der Höhen erholen; sie hatte häusliche Sorgen, Kinderglück und Herdfeuer zu verwalten, sie flickte die Wäsche und hielt die Kleider instand, worin ihr Mann sich nachher als Gewaltiger zeigte, und sie sah zu ihm auf, auch wenn er und seine Leute längst ihrem Verständnis entrückt waren.

So verkehrte Ebel im Schlosse, Ida von der Gröben im Hause des Archidiakons, beide wie Boten aus einer anderen Welt, und ihr wunderbares Einverständnis, eine Leidenschaft, die gleichsam von außen nach innen, nicht von innen nach außen brannte, konnte um so weniger Anstoß erregen, als sich auch Minna von Derschau, Fräulein Emilie von Schrötter und viele andere zu Ebel nicht anders stellten, wenn sich gleich jede nach ihrer Art benahm, Minna etwa scheu verehrend, Emilie von Schrötter mit einer gewissermaßen heiteren Leidenschaft und Überzeugtheit.

So wandelte Ebel inmitten von schönen, edeln, bedeutenden Frauen und dachte dem weiblichen Geschlechte eine bestimmende und beherrschende Stellung zu. Die Frauen konnten, mußten ihn lieben, aber wie ein zugleich verwandtes und höheres Wesen, nicht wie irgendeinen Mann, sondern man durfte sich ihm offenbaren wie einem Gewissensherrn und genoß die 89 brennende Scham des Bekenntnisses nicht mehr als Qual, sondern als Trost. Er stärkte gerade seine weiblichen Anhänger durch die Achtung, die er vor ihrer Wahrhaftigkeit zeigte. Und dies war der Kern seiner Lehre, daß jeder Mensch nach völliger Selbsterkenntnis streben, durch fortwährende überwachende Selbstbetrachtung nach echter Einheit mit Gott, mit dem Sinn und Ziel dieses Lebens trachten müsse.

Den alten Zwiespalt, der von je gläubige Seelen erschüttert und im Bodenlosen vergeblich nach Halt greifen gemacht hat, daß der Mensch wie das Tier an Begierden gebunden leben, aber dabei nach Gott, nach höchstem Vollenden verlangen und sich ihrer in der vollsten Entäußerung begeben müsse, versuchte Ebel auf seine Weise zu lösen, indem er diesem irdischen Zwange sein Recht mit seiner Notwendigkeit vergönnte. Ja, der Mensch war an ein sinnliches Leben gefesselt, aber nur, wie er es empfand, machte ihn zum Tier oder Gott. Wer es um seiner selbst willen, um der Wollust, um des Triebes willen achtete, der war verworfen, wer es um der höheren Erhaltung der menschlichen und göttlichen Ewigkeit willen eben duldete, war gerettet. Es galt, die Sinne nicht zu töten, sondern zu reinigen, sie zu binden und der geistigen Notwendigkeit unterzuordnen. Er wollte ihren Träger, den Menschen, bewußt und zum Herrn der Instinkte machen. Was höchste Vernunft, allerdings unter Verlust des wahren Zaubers der menschlichen Freuden gelegentlich vermag, sollte hier der Glaube tun und eine Seligkeit außer, über der Lust des Geschlechts 90 erwirken, wie sie in der vollkommensten Vereinigung der Wesen untereinander und mit Gott bestand. Jeder sollte solchen Gipfel anstreben, schon zu ihm aufzusteigen war Glückes genug und leitete die innere Vereinigung ein, darum galt ständige Beobachtung und Bereitschaft alles. Weil aber solche Erkenntnis und Behandlung der Triebe, des gesamten inneren Lebens von keinem einzelnen bedingungslos und wirksam erreicht werden kann, weil es sich eben um ständige Wechselbeziehungen handelt und ein Verhältnis der Menschen zueinander geradezu fordert, ergab sich ein Zusammenschluß der verwandten Naturen, ja auch der Grundverschiedenen, eine Förderung der minder Tauglichen durch die Vorgeschrittenen, eine Schule der Gläubigkeit und Erkenntnis mit Lehrenden, die ihrerseits Zöglinge waren, mit Bevorzugten, die voranschritten, aber jezuweilen durch eigenes Verschulden oder durch bewußte Strenge Höherer wieder in neue Unterordnung rückversetzt wurden. Ein unverbrüchliches allseitiges Vertrauen, immer wieder auf Ebel und seine Nächsten gerichtet, bestimmte und gliederte diesen mannigfachen Kreis, der sich in einer Ordnung der Hoffnung, des Glaubens und der inneren Wandlung wie in einem vorbestimmten, frommen Tanze bewegte, von jenem Willen allein geleitet und abhängig, der alle um den Pfarrer sammelte und mit diesem Willen abbrach, sinnlos zum Taumel und Wahnwitz ausarten mußte, wenn er irre wurde.

Ebel selbst rechnete mit gewaltigen äußeren Tatsachen, denen die innere Vollendung seiner selbst und 91 seiner Leute entgegenkomme, er verkündigte nach der übernommenen Lehre anderer Vorgänger das wirkliche Herannahen der Apokalypse, den Eintritt der Offenbarung des Antichrists, der Weltpredigt des Evangeliums vor den Menschen und setzte dies alles ans Jahr 1836, glaubte aber in einer gewissen Ungeduld durch die Inständigkeit der eigenen und der Bemühungen seiner Nächsten die Erlösung der Welt etwas früher erwirken zu können. Das Gelingen göttlicher Ratschlüsse machte er von der menschlichen Freiheit abhängig.

Die unheimliche Großartigkeit der Erlösung, die hier gewonnen werden sollte, indem jeder das eigentliche Glück der Sinne dran gab und die sinnlichen Handlungen zu beherrschen strebte, um mit ihnen übersinnliche Vollendungen zu erreichen, machte aus allen diesen Hoffenden ebensoviele Verzichtende, und die Liebe und Ehrfurcht, die sie um Ebel drängte, ließ es sie auf sich nehmen, daß sie dann Paarungen und Beziehungen mit andern ertrugen, die sie nie aus freien Stücken gewählt hätten.

Wie Ebel seinen leidenschaftlichen und demütigen nächsten Bekennerinnen ihre Stellung anwies und wie er das Andrängen aller zugleich duldete, aber in Schranken setzte, war seine und Ida von der Gröbens ordnende und bestimmende Gabe. Am erschütterndsten wirkte diese auch gegen den Willen der einzelnen verfügte Gliederung bei der armen Minna von Derschau. Sie hatte zu Ebel jedenfalls eine tiefe Liebe gefaßt, die ihm freilich nicht als solche, sondern nur als 92 Anbetung eines göttlichen Menschen bewußt wurde. Eine gewisse Verwirrung ihres Gemütes mag Minna freilich solchen Erschütterungen durch einzelne Erlebnisse, durch machtvolle Menschen und Erscheinungen zugänglicher gemacht haben. Seit sie von Schönherr damals gleichsam wie vom blendenden Licht in ihrem unbewußten Dunkel getroffen worden war, übertrug sie ihre vordem allgemeine Frömmigkeit auf einen erhabenen Empfänger, und was sie in Schönherr mehr auf dessen inständigen Wunsch aus Bestimmbarkeit zu erblicken geglaubt, sah sie in Ebel aus eigenstem Gefühl und Willen, weil sie ihn liebte. Freilich hätte sie dieser Neigung sonst nie Raum gegeben, hier durfte und sollte sie es getrost, wo es auf die allgemeine Verherrlichung eines Allgeliebten ankam, und sie wandelte in ihrer Demut diese Leidenschaft in eine göttliche um und in eine Verkündigung.

Sie hatte mit Ida von der Gröben viele merkwürdige Gespräche über Ebel und ihre Gefühle. Einmal offenbarte sie ihr erschüttert, jetzt sei es ihr klar geworden und sie wisse, Ebel sei der Herr Jesus Christus selbst, der wiedergekommen sei, um die Offenbarung zu verwirklichen.

Ida von der Gröben flammte auf und indem sie mit beiden Händen Minna packte und krampfhaft festhielt, sah sie sie mit einem furchtbaren Blicke an: »Ja, ja, aber wenn du dies sagst, werden sie ihn kreuzigen.«

Sie wollten ihn dem Spott, dem Neid und Haß nicht aussetzen; er selbst wußte von dieser Offenbarung 93 nichts, keiner sollte sie erfahren, sie beide mußten sie allein tragen und ihn selbst davor beschützen. Er sollte sinnen und tun, was seiner Macht zukam, aber ohne sie der Welt vor der Zeit zu erklären. Doch wie hatte Minna diese Offenbarung erfassen können? Ida von der Gröben empfand im stillen einen leisen Neid und Eifersucht gegen diese Fähigkeit des Glaubens und der Erleuchtung. Das Mädchen bekannte ohne Arg, weil sie ihn liebe und ihr dieses Gefühl selbstverständlich und geheiligt erschien, liebten ihn doch alle und wer sollte Gott nicht lieben? Ida aber ergriff dieses Bekenntnis und preßte es mit stärkeren Fragen. Als Weib dem Weibe gegenüber, als leidenschaftliches Geschöpf, das ungeheurer Empfindung, ungeheurer Gedanken fähig, eine unermeßliche Folgerichtigkeit von Begierden und den tiefsten Ursprung alles Glaubens im Triebe witterte und fürchtete, drang sie in die hilflos demütige Freundin nach Enthüllung dieser Liebe, sie forschte nach allem, was sie wußte und selbst erlebt hatte, während Minna als Jungfrau davon nur fiebernde und entsetzte Ahnungen besaß. Aber zugleich störten diese Fragen alles Heimlichste auf, als hätte das Mädchen gehegt, gewünscht, gewußt, was es jetzt zum ersten Male erfuhr. Unter der Folter dieses liebevollen Verhörs, unter der erschauernden Aufrichtigkeit der Bekenntnisse, die Minna ablegte, wurde ihr erpreßt, was sie nie getan, nie gewollt, nie gedacht hätte, erniedrigte sie sich zugleich und wurde sich selbst zum Abscheu, weil sie den Gedanken an den Höchsten mit solchen Trieben verquickt sah. Daß 94 sie nur durch die Fragen zu diesem Höllenweg der Wünsche geführt, nunmehr erkannte und darum einer Leidenschaft verfallen war, deren sie vordem nie fähig gewesen, bemerkte weder sie noch die Gräfin. Vielmehr übte die eine ebenso selbstverständlich das Recht der Herrschaft der Stärkeren in ihrem Drängen, wie die andere die Pflicht des Gehorsams der Schwächeren in ihrem Nachgeben. Aber diese Beichte bedrückte Minna, anstatt sie zu befreien, die alte Vorstellung ihrer Unreinheit und tiefsten Unwürdigkeit trat wieder schreiend hervor und eine Verzweiflung erschütterte sie, von der Ida die schwersten Folgen für das arme Mädchen befürchtete. Da bot sich der Gräfin ein Gedanke, den sie längst erwogen hatte. Man mußte Minna verheiraten, und zwar sie als die bedeutendste und innigste Anhängerin mit dem obersten Freunde der Lehre, mit dem Grafen Kanitz. Ohnehin bestand die Notwendigkeit solcher voranleuchtender Paare, der alternde Mann bedurfte einer edlen Führerin, er war ihrer würdig. Wie weit hier die Eifersucht einer schweigsam verzehrten weiblichen Natur mitwirkte, um Minna von der nächsten Nähe Ebels abzudrängen und so ein echt weibliches Spiel veranlaßte, mag jeder selbst beurteilen. Kanitz würde sich fügen, da bei ihnen durchaus eine allgemeine höhere, keine besondere vereinzelte Liebe galt. Übrigens beherrschte Ida auch den Grafen völlig, genau so wie sie jedem Blick Ebels gehorchte. Sie wagte freilich nicht, Minna selbst zu dieser Ehe zu raten, ihr davon zu sprechen, aber sie zog Ebel ins Vertrauen und gewann ihn sogleich für diesen 95 Plan, der eine neue, engste Verbindung der Nächsten des Kreises verhieß. Ebel wußte denn eine Gelegenheit der Erörterung mit Minna herbeizuführen, wobei sie mit den Äußerungen ihres alten schweren Schuldbewußtseins, den Selbstanklagen ihrer schlechten Triebe und Gedanken nicht zurückhielt. Wem dies alles galt, verschwieg die Erglühte freilich. Ebel hörte sie geduldig an und zeigte, als sie mit Angst und Demut sein Urteil erwartend zu ihm emporsah, ein gütiges, heiteres Gesicht. Er beruhigte sie, alle diese Anfechtungen seien Zeichen und notwendige Bestimmung; was in dem Herzen lechze, sei nicht an sich schlecht, sondern werde es erst durch üblen Geist, ihr sei eine hohe Gnade zugeteilt, da sie als Jungfrau die Vollendung noch vor sich sehe. Sie und Graf Kanitz seien die Zeugen, von denen in der Offenbarung geschrieben stehe, sie würden eintausendzweihundertundsechzig Tage weissagen. Sie solle sich mit dem Grafen in ehelicher Liebe verbinden, sie sei zum Weibe, zur Mutter eines reinen, vollseligen Geschöpfes, zur Führerin der Menschen geschaffen.

Minna schaute ihn mit einem Blicke zweifelnder Fügsamkeit an und willigte ein, wenn der Graf sie wirklich zur Ehe begehre. Kanitz gehorchte gerne dem gleichen Zureden, war doch ein so schönes und edles Wesen wie Minna aller Gefühle eines so schwärmerischen und ritterlichen Mannes würdig, um wievielmehr, wenn solche Neigung als gottgewollt und von dem Freunde empfohlen wurde, der ihm als Vermittler aller Gnade galt.

96 So warb der Graf um Minna von Derschau und empfing ihr Jawort und wahrlich, als dieses fromme Paar einander den Brautkuß gab – Minna beugte sich und reichte ihm die Stirne, indessen ihr Gesicht mit geschlossenen Augen und Lippen, blaß wie Stein leuchtete – war vielleicht zum ersten Male Ebels Lehre der Heiligung, aber wie schmerzvoll, verwirklicht, daß alle irdische Vereinigung im Geiste der Seligkeit ohne Begierde und frei von sinnlichen Wünschen erfolgen müsse.

Zum zweiten Male hatte Ebel das Schicksal eines Weibes bestimmt, das sich gehorsam, erschüttert und gedemütigt unter das Joch der Gnade fügte. Wenn Ebel den Anblick dieses gebeugten Nackens als Mann, nicht als Priester, geschweige denn als unbeweglicher Gott hätte anschauen können und wollen, ihn hätte gegraut vor seiner Macht, die in dieser Stunde dieses Haupt nicht nur gebeugt, sondern gefällt und einen lebendigen Menschen in den Sarg gebracht, wie er damals einen daraus befreit hatte.

Er aber ahnte in seinem von allen bestärkten Gottübermut nichts von diesen Bedrängnissen, oder er achtete sie gering gegenüber den höheren Geboten, denn ein ungeheurer Schwall der Dinge mußte hereinbrechen und seine kleine Schar bereit finden.

Er sammelte sie und überließ sie wiederum einer Ordnung, die sich von selbst und mit Hilfe seiner Nächsten vollzog. Der Gedanke, daß jeder Mensch in seinen wesentlichen Lebensverhältnissen der Ergänzung durch andere bedürfe, wie er selbst auch 97 anderen Hilfe leiste, schien ihm durch die übernommene Schönherrsche Lehre von den Urwesen vor allem in der Beziehung von Mann und Weib begründet. Eine dunkle Ahnung, als sei in jedem Menschen eine urgegebene Einheit der Geschlechter vorhanden, aber zugunsten des leiblich Bestimmten unterdrückt, so daß jeder Ergänzung und neue Einheit in fremden Wesen außer sich selbst suchen müsse, mag durch seine eigenen Verhältnisse bestärkt, die Ordnungen seines Kreises bestimmt haben. So erklärte er die Gräfin für seine »Lichtnatur«, für das Weib seines Kopfes, Emilie von Schrötter für seine »Finsternisnatur«, für das Weib seines Herzens, seine eigene Gattin als Weib der Umfassung, womit er wohl den Zustand der täglichen, sinnlichen und dauernden Gemeinschaft benannte. Alle diese Ausdrücke konnten ebensowohl einem begeisterten Bedürfnis selbständiger Verkündigung, als eigentlichen persönlichen Verhältnissen entsprechen, in beiden Fällen verschieden ausgelegt werden und mußten bösen Argwohn und Verdächtigungen erregen, wenn sich das Mißtrauen einmal in diese, durch besondere Stellung geschützte Gesellschaft einfraß.

Ebensolche Ergänzungen fand aber Ebel selbst und jeder der übrigen auch an anderen, wie zum Beispiel Sachs als sogenannte »Hauptzentralnatur der Finsternis« galt, weil der Meister in ihm eine ständige, sowohl gefürchtete als unentbehrliche verstandesmäßige Gegenstimme seines eigenen Wesens vernahm und brauchte. In solchen merkwürdigen Bei- und 98 Überordnungen fanden sich alle vereinigt und auseinandergehalten, wobei das innere Gefühl der jeweiligen Abstände und des Trennenden von selbst Stufen baute, ohne daß sie durch schonungslose Gestzgebung erst ausdrücklich bestimmt zu werden brauchten.

Ebel verharrte inmitten und über allen, umringt von seinen Nächsten, den Frauen, dann von den beiden Zeugen Kanitz und Minna. Für ihn selbst gab es, wie für die Außenstehenden ein Geheimnis: seine eigene Person. Hielt und verkündigte er sich nur als Priester der kommenden Offenbarung, der die nahe Auferstehung Christi glaubte und lehrte, so wußten die Gräfin und Minna – niemand sonst – daß er selbst der wiedergeborene Herr sei und erscheinen und wirken müsse. Und wie das stärkste Licht durch die vorgelagerten Schichten mit immer geringerer Helligkeit schimmert, entfernte sich Bedeutung und Würdigung Ebels auch für die Weiterstehenden, aber allen blieb er der Bestimmende und Führende.

 

VII

Nur mit Sachs hatte er beständige Kämpfe auszutragen, der nun einmal zu bedingungslosem Glauben und Hinnehmen nicht geschaffen war und sowohl geistiger Erörterungen, als auch gewisser Erregungen aller Leidenschaften bedurfte, um seine immer wieder erwachende skeptische Natur durch die Gegenstimme eines Erhöhungsbedürfnisses und Glaubenstriebes besiegen zu lassen.

99 Wieweit dieses Verbalten unbedingt und natürlich, wieweit es durch weltliche Rücksichten bestimmt war, bleibt dunkel, soviel steht aber fest, daß sich der merkwürdige Geist der Verneinung, als welcher er im ganzen Kreise bekannt war und sein Wesen trieb, jedenfalls aufrichtig genug auch zu einer Zeit äußerte, da er den Gläubigen angehörte. Er pflegte bald bei diesen, bald bei jenen unter- oder übergeordneten Mitgliedern, vorzüglich bei Frauen – war er doch durch seinen Stand als Arzt, da ihm die Behandlung aller Zugehörigen anvertraut war, hinlänglich gerechtfertigt – die Empfindungen und Lehren gern ins Ungemessene zu übertreiben, wodurch sie in abschreckender Verzerrung erschienen, oder mit höhnischer Selbstverspottung herabzusetzen, wodurch er die solcher Dialektik Ungewohnten mit seinen spitzen Gründen zur Verzweiflung hetzte. Denn wenn man ihn hörte, war gleich das Höchste und alle innere Gewißheit in ein Nichts, noch schlimmer, in ein Gemeines und ins Fragwürdigste verwandelt. Dabei fand er an den ohnedies für die meisten unverständlichen und gefürchteten, absichtlich im Dunkel gelassenen oder dem eigenen Ermessen der einzelnen überantworteten Lehren der geschlechtlichen Reinigung und Läuterung ein besonderes teuflisches Vergnügen, indem er gerade die sinnlichen Zustände, Empfindungen und Gedanken der weiblichen Mitglieder dringlich erforschte, die Bekenntnisse hierüber durch halb ärztliche, halb gläubige Fragen nach Möglichkeit ausbreitete, andererseits gerade dieses Heikelste 100 mit jener ärztlichen Selbstverständlichkeit erörterte, die von den übrigen als Zynismus oder als grobsinnliches Behagen empfunden werden mußte. Die jungen Mädchen schonte er und erschreckte sie nur gelegentlich durch eine starke Frage oder eigentümlich dreiste Offenbarung, dann erröteten sie und antworteten etwas Unbeabsichtigtes, worauf er seine früheren Anspielungen völlig ins Harmlose, Geistige und Gläubige umdeutete, so daß sich die Unglücklichen erst recht als hintersinnig und verdächtigt, selbst des Mißverständnisses schämten, hingegen ließ er sich den Frauen gegenüber, bei denen er eine gewisse Vertrautheit voraussetzte, mit einiger Kühnheit gehen und erregte bei den stetigen, ernsten und gefaßten Naturen gelegentlich unverhohlenen Abscheu, den er dann durch gesteigerte Demut, Gläubigkeit und Gehorsam vergessen machen mußte, bei den Unsicheren aber, die in der Lehre erst Halt und Beruhigung suchten, ein unsicher prickelndes Gefühl berührter Instinkte, scheues Gelächter, innerste Schwankung, nachher Bestürzung. Und das eben war seine Absicht. In jedem einzelnen vermochte er die dichten, aber leichten Schleier mit einem einzigen Wort, mit einer beiläufigen Frage oder Gebärde wegzuziehen, die über der Hölle des Gemütes hängen. So konnte sein bloßes Erscheinen alles ins Bodenlose und Entsetzliche zurückdrängen, was ohne ihn als Klarheit, Ordnung, beherrschte Kraft erschien und sich fügte. Er machte die Erde unter den Füßen brennen, die Hirne in den Schädeln sieden, er schien mit allen 101 Sinnen verbündet, die Ebel fesseln wollte, so daß sie bloß durch seine Nähe Zuversicht bekamen und aufbegehrten.

Gleichwohl hing Ebel mit einer merkwürdigen Zähigkeit gerade an diesem gefährlichen Manne und beschwichtigte die empörten oder besorgten Klagen beleidigter Frauen des Kreises entweder mit gleichgültigen Worten oder mit lächelnden, sie hätten Sachs sicherlich mißverstanden, er habe es nicht so arg meinen können und dergleichen. Dem Arzt wiederum verwies er etwa sogar mit aufbrausendem Zorn solche selbständige und zerstörende Handlungen und Reden, aber er wurde durch dessen ruhig spöttisches Verhalten sogleich still gemacht und zog sich zurück, bis die Sache auf diese Weise wieder einschlief.

Ebel fürchtete den Arzt, aber nicht so, wie es der böse Ausgang gerechtfertigt hätte, als Zeugen lichtscheuer Handlungen, als Ankläger geheimer Verfehlungen, sondern als Geist, der ihn besiegen, seine Lehren verhöhnen und dadurch um ihre Kraft bringen konnte. Er glaubte gerade diesen Widerstrebenden um jeden Preis bändigen zu müssen, als hinge an dessen Glauben und Anerkennung seine eigene ganze Macht. Der Arzt war gewissermaßen die Verkörperung der Zweifel, die Ebel selbst gegen sich vorzubringen hatte, ein tieferer Sinn lag schon im Namen, den er dem Gefürchteten beilegte: »Hauptzentralnatur der Finsternis«; wie jede Weltordnung ihr Böses und ihren Widerspruch braucht, den sie unter ihren Füßen bändigt, so fand Ebel auch für die seinige diese Stimme des Dunkels und Hohnes an Sachs.

102 Die Frauen nahmen den Arzt anders und scherten sich nicht um seine geistige Bedeutung, er war ihnen bloß widerwärtig und gefährlich, sie wollten ihn unschädlich machen, wenn sie schon nicht wagten, ihn gegen den Willen des Meisters gar auszustoßen. Aber Sachs war nicht so einfach zu behandeln und übte, ließ man ihn überhaupt nur in die Nähe, wiederum eine eigentümliche Art bedrängenden Zaubers selbst auf feindliche Naturen aus, denn sein Betragen hatte sogar im Hohn eine gewisse Anmut, und wo er die Frauen eigentlich am tiefsten erniedrigte, eine entsetzliche Huldigung.

So war es dazu gekommen, daß er eine der Damen des Kreises, allerdings nicht eine der Vordersten, bei einer Unterredung, die dazu bestimmt war, ihn zu besiegen und zu beschämen, bei der Frage des Bekenntnisses der beiderseitigen Regungen und der Bekämpfung der niedrigen Triebe durch Gewöhnung an die Gefahr, recht in die Enge trieb. Er erklärte sich selbst mit allem Ernst als unverführbar und sogar dem Anblick hoher Reize einer so schönen Frau gegenüber vor Versuchung sicher. Die Törin, aus Begierde über ihn zu triumphieren und ihn des Gegenteils zu überweisen und aus jenem Triebe selbst, den sie unterdrücken wollte, der sich aber mit der Eitelkeit verbündete, entblößte nun ihre schönen Schultern mit einer, wie es schien, unabsichtlichen Bewegung, indem sie den Schal herabgleiten ließ. Sachs benützte den Augenblick, zeigte sich zwar, was die Sinne betraf, nicht als frei, aber dafür einer dankbaren Gelegenheit 103 gewachsen, stürzte sich mit anderen Küssen als den sonst erlaubten auf die anmutige Versucherin und war geschickt oder glücklich genug, an Stelle eines eigenen Sündenbekenntnisses eine angenehme gemeinsame Verfehlung zu erzielen.

Sei es, daß dieser Vorfall ruchbar geworden, sei es, daß ähnliche sich wiederholt hatten, oder daß nur die Art des Mannes die Bekenntnisse der Frauen hervorzulocken, zu deuten oder durch eigene zu reizen ihn verdächtig machte, oder daß er als Zeuge gefürchtet, als zweifelhafter Anhänger mißliebig war, Ida von der Gröben ließ ihn eines Tages berufen. Diese Ladung traf den Arzt in einer schweren Gemütserschütterung, da gerade zu dieser Zeit seine Frau verschieden war. Schmerz und Verzweiflung, Hoffnung einer höheren Gemeinschaft, die Vergebung der Sünden und Vereinigung in Aussicht stellte, Bewußtsein der Schuld, Reue, tiefster Zweifel an dem eigenen Wesen, Unsicherheit über alle Verhältnisse zu allen Menschen verwirrten den sonst überklaren Verstand und warfen ihn ganz in den Schwall von Gefühlen, unter denen er wie ein unkundiger Schwimmer mehr zu kämpfen hatte, als daß er sie teilte. Ida von der Gröben veranlaßte den Grafen Kanitz zu folgendem Briefe:

»Ich habe, seit wir uns nicht gesehen, doch Tag und Nacht heftige Pein um Sie gelitten und meine Seele zittert vor dem Verderben, davor Sie stehen. Ich habe seit der Zeit unablässig zu Gott geschrieen, und ich weiß, worum ich ihn bitte! Mich verlangt zu hören, was in Ihnen vorgeht, denn ich bedarf der 104 Botschaft hierüber; sagen Sie mir, ob Gott Sie treffen kann? Mit der Angst um den Untergang Ihrer Seele und um alles Verderben und Elend, das Sie über Ihre unglückliche Frau, über unzählige Menschen und die Welt bringen? Kann Gott Sie hier treffen, so wird das erwachte geängstigte Gewissen Sie die Hilfe ergreifen lehren; und darauf warte, danach frage ich mit unermüdlichem Eifer und fürchterlichem Ernst und Strenge. Kommen Sie heute um vier her und bringen Sie mit den Beginn Ihrer Rettung. Ich erwarte Sie, denn ich habe zunächst mit Ihnen zu sprechen und werde nicht ablassen, bis Gott in entschiedenem Segen oder Fluche hinausführt das Ende des, das er hier begonnen an Ihnen und durch Sie! Daß der Arm des allmächtigen Gottes Sie ergreife!«

Sachs erschien zu dem Verhör, den unbedingten Gehorsam gegen die Übergeordneten wagte er selbst am wenigsten außer Acht zu lassen, waren es doch Grafen und Gräfinnen, die ihn forderten, denen er die endlich erlangte Professur verdankte, die seine ärztliche, seine Stellung in der Welt beeinflußten, kurz, er gehorchte. Aber vielleicht hätte er es in dieser Stunde, in dieser Gemütsverfassung auch ohne solche äußeren, zwingenden Verhältnisse getan.

Er fand sich vor dem Grafen Kanitz und der Gräfin von der Gröben und hatte es schwer, den beiden gegenüber eine halbwegs richtige Haltung und die nötige Sicherheit zu behaupten, denn die gesellschaftliche Gewandtheit, die er sich nur mit Mühe hatte aneignen können und jedesmal mit tausend 105 Zweifeln auf die Probe gestellt sah, war den beiden Vornehmen selbstverständlich, dazu eine Überlegenheit des fraglosen Gemütswesens über seine, beständig von den Einwendungen der Vernunft gequälten und verstörten Gefühle. Der ganze Mann, sonst selbstbewußt und auch nach dem Äußern ansehnlich, erschien unsicher und mit einem peinvollen Lächeln, das ihn anderwärts dem Mitleid empfohlen hätte. Aber in Fragen ihres eigensten Bekennens und der Zugehörigkeit kannten diese zwei Wesen kein Erbarmen.

Kanitz sah ihn streng an und hielt ihm den eigentümlichen Spott vor, der seit einiger Zeit in allen seinen Reden gegen die Freunde bemerkbar werde, und womit er eben schmähe und herabsetze, was er bekannt habe und noch bekenne. Es sei ein gewisser Trieb in ihm, gestand Sachs mit einiger Verlegenheit, gleich mächtig und gefährlich wie irgendein sinnlicher, wie eine verzehrende Begierde, alles, was sein Gemüt, sein innerstes Wesen betreffe und ihn aufs stärkste ergriffen habe, durch eine merkwürdige Gegenstimme wiederum abzuschütteln und sich gewissermaßen davon zu befreien. Sein Verstand bedürfe immer der Hervorbringung der Gegensätze, des Vergleichs, einer Messung aller gegeneinanderwirkenden Kräfte. Diesem Triebe habe er bei derartigen beanstandeten Bemerkungen nachgegeben.

Kanitz fragte, ob nicht jedes Wort des Zweifels an sich schon Lästerung sei. Sachs schüttelte halb ratlos, halb ärgerlich den Kopf. Die Gräfin setzte 106 das Verhör fort, er habe aber nicht bloß den Glauben, die gemeinsame Überzeugung, sondern auch einzelne, vor allem den Pfarrer Ebel selbst verdächtigt und mit lästernden Bemerkungen getroffen. Das möge so sein, aber der Herr Graf und die Frau Gräfin sollten nur einmal ihr eigenes Herz prüfen, ob sie nicht alles, was ein Mensch überhaupt denken könne, gedacht hätten, eben weil es denkbar sei, eine Reinigung des Denkens scheine ihm noch viel hoffnungsloser als eine der Sinne.

Kanitz drängte weiter, was man etwa bloß als Gedanken denke, wie man sich eben etwas Vorstellbares gelegentlich vorstelle, sei bei einem von Natur fragwürdigen Gemüte wie dem seinigen zunächst nicht anzuklagen, wohl aber jenes gefährliche Verneinen, das dann in seiner ganzen Haltung, in jeder Äußerung peinlich hervorbreche. Er solle sagen, ob er noch zu ihnen gehöre, oder nicht, es stünde ihm ja zu gehen frei, wohin es ihm gefiele, aber einen spöttelnden Anhänger, einen gegnerischen, einen Wolf im Schafspelz wollten sie nicht dulden.

Sachs beteuerte, er denke heute wie immer, soweit sein freier Wille in Betracht komme; den Einspruch seiner triebhaften Verneinung, seines angeborenen Zweifels könne er nicht verhindern. Er müsse ihm entgegenwirken, wie jeder anderen gemeinen Versuchung.

Ida von der Gröben sah den Doktor Sachs bei diesen Worten mit so strenger Leidenschaft an, daß die eigentlich kleine Frau gleichsam von innen her 107 wuchs und mit einer Schönheit, die durch die Empfindung erhöht war, den Spott unterdrückte, den der Arzt etwa während des ganzen Verhörs im Stillen als Gegenstimme gehegt haben mochte. Die Kraft ihres Blickes machte ihn gefügig, so daß er vielleicht sogar vergaß, daß er einem Weibe, nicht einer Überzeugung folgte.

Sie wollten aber nun auch seine Zweifel und seine verwerflichen Meinungen und Handlungen kennen, und er müsse sie alle einzeln aufzählen und erklären, Besserung und Bekämpfung geloben, bevor sie ihn entließen. Sachs bekannte nun, daß er vor allem an Ebel und seiner Sendung, an dessen unbeweisbaren Behauptungen und Offenbarungen gezweifelt und sich darüber auch geäußert, daß er die Lehre von der Bekämpfung der sinnlichen Triebe durch den freien Willen bis zu ihrer völligen Unwirksamkeit für widernatürlich und zwecklos gehalten, daß er immer wieder versucht sei, ihr entgegen zu handeln, wie er auch ähnliche Versuchungen bei anderen beobachtet und allerdings durch Worte und Handlungen bestärkt zu haben bekenne. Ebels und vieler anderer Menschen Lebensführung im heiligen Sinne sei ihm oft als Heuchelei oder als grober Selbstbetrug erschienen, eben weil er die Möglichkeit solcher verleugnenden Ausmerzung aller menschlichen Lust nicht glauben wolle.

Seine Sündenlitanei ging lange so weiter und hob mit jedem Eingeständnis eigentlich die ganze Gemeinschaft auf, machte aber wieder durch, wie es 108 schien, aufrichtige Reue alles Vergangene ungeschehen. Es war ein so wüstes Durcheinander von Bekennen und Zweifeln, Begehren nach Glauben und Bedrängnis durch Spott, von innerster Lebensangst und Hoffnung, die nach Halt verlangte und ihn bei dieser Gemeinschaft suchte, die ihm als edel und auserwählt erschien, während er sie andererseits verhöhnte, ein solches widersinniges Gegeneinanderzeugen aller Stimmen in diesem Bekenntnis, daß Ida und der Graf Kanitz zugleich entsetzt und verzweifelt diese schwelende Hölle eines menschlichen Gemütes sahen und darüber in ihrer eigenen Sicherheit mehr Mitleid als Zorn empfanden, während der Angeklagte wiederum sich der Demut nicht schämte, womit er um Gnade bat, als hinge sein Leben davon ab, daß ihn der Kreis dulde, den er doch wieder in jedem Augenblick verriet.

So sollte er einen Bericht aller seiner Sünden, der Handlungen wie der Gedanken schriftlich abfassen und Ebel vorlegen. Mit ihm sollte er sich aussprechen, dann werde er wieder ins Klare kommen und der Gemeinschaft von neuem würdig sein.

Sachs zeigte sich über diese Begnadigung so unverkennbar und ehrlich beglückt, so befreit und versöhnt, daß auch die beiden Richter eine gewisse Genugtuung empfanden, als wäre ihnen eine wahrhafte Seelenrettung geglückt. Indessen hatten sie freilich nur den Druck fremder, entgegengesetzter Naturen über eine andere bestimmbare, schwankende und unzufriedene ausgeübt. Aber Sachs war so beschämt, 109 so besserungseifrig, so gedemütigt, so beflissen, sich wieder mit seinem ganzen Kreise zurechtzustellen und in Gnaden aufgenommen zu werden, daß er das schriftliche Bekenntnis in der Tat eiligst und doch aufs genaueste niederlegte und der Gräfin von der Gröben einhändigte. Ein Bedürfnis zu zeigen, daß er diesen Vornehmeren an Sinnesart gleich sei, ließ ihn jede Vorsicht hintansetzen und mit diesem Berichte, der durch arge Tatsachen gegen ihn zeugte, seinen Kopf gleichsam den Mächtigen ausliefern. Diese Reuehandlung versöhnte ihn wieder mit Ebel, aber sie veränderte doch den Mann selbst und sein fragwürdiges Verhältnis zu den andern nicht, so daß er bald als Sünder und Abtrünniger, oder doch als ganz Unzuverlässiger galt, der von allen zurechtzuweisen war, bald wiederum als Mittler zwischen den unnahbaren Oberen und den ferner stehenden Gliedern, indem er Ebels und der Frauen Aufträge ausrichtete, Gewissen erforschte und dergleichen, da er als Arzt sich besonders für vertrauliche Sendungen und Prüfungen eignete, je nachdem eben die Wage seiner wechselnden Anschauungen nach der Verstandes- oder nach der Gefühlsseite neigte. Den merkwürdigen Zustand, daß man einen so unzuverlässigen, schwankenden, gelegentlich höhnischen, selbst feindseligen Mann so lange als engsten Vertrauten litt, trotzdem man seine zweifelhafte Gesinnung erkannt und in engen Auseinandersetzungen zu spüren bekommen hatte, mag man nur in der eigentümlichen Natur solcher geistigen Beziehungen erklärt finden, am Widerspruche und gerade 110 in entgegengesetzten Trieben sich zu bewähren. So ist ja auch Sachsens Bedürfnis nach Duldung in Ebels Gemeine zu verstehen. Diese inneren und äußeren Verhältnisse brachten in den sonst einigen Kreis manche Aufregungen und Trübungen, die Ebel wieder, der in ihrer Mitte eigentümlich zurückgezogen und unnahbar wie in seinem Allerheiligsten waltete, zu wunderlichen Deutungen veranlaßten, indem er aus diesen Vorgängen in nächster Nähe gewaltige Zustände und Ereignisse der äußeren Welt, der Natur wie der Geschichte ableitete. So stand eine Überschwemmung in Rußland mit der Untreue des Doktor Sachs in Zusammenhang, aus Krisen unter seinen näheren Anhängern folgerte er politische Schwankungen und Gefahren, wie zum Beispiel türkische Kriegsdrohungen und dergleichen.

Aber bald sollten bedeutendere Umstände in Königsberg selbst ihn und die Seinen näher bedrängen. Sein Gönner Auerswald, Ida von der Gröbens Vater, war gestorben und die Landhofmeisterschaft auf seinen Schwiegersohn Theodor von Schön übergegangen, der zwar die Vorzüge der gesellschaftlichen Stellung seiner Familie benützte, aber, völlig anderer Richtung, die erlangte Macht in einem Sinne auszuüben begann, welcher der Amtsführung des alten Auerswald entgegengesetzt war. Schön gehörte zu den liberalen Nationalisten, die damals in Preußen eine demokratische Verwandlung der Dinge, eine Belebung und Erneuerung des gemeinen Wesens durch die sogenannte Aufklärung wünschten und anstrebten. 111 Begreiflich genug erzürnte die Schwärmerei und dunkle gesellige Vereinigung den Nüchternen, durch Logik und Klarheit innerhalb der faßlichen täglichen Dinge zugleich erhellten und beschränkten Kopf aufs äußerste – sind doch alle Verstandesmenschen die ärgsten Buchstabengläubigen des Unglaubens. Als Verwaltungsmann mit Wissen und Willen derb zupackend und in der Wahl seiner Mittel nicht sehr ängstlich, beschloß er, dem Spuk in Königsberg geradezu auf den Leib zu rücken und müßte er dabei seine Standesgenossen, seine Schwägerin selbst, die Gräfin von der Gröben, und all die andern ins Herz treffen.

In der Mitte des schleichenden, dämmernden und zehrenden Übels schien ihm Ebel und dessen Gemeinschaft zu stehen. Er hatte manches gehört, das sie ihm verdächtig machte; da er ihre leidenschaftliche und geradezu ansteckende Frömmigkeit, den Einfluß kannte, den sie auf so viele ausübten, und da er diese ihre Wirkung verabscheute, war er nur allzusehr geneigt, sie noch anderen, geheimen, bösen ja verbrecherischen Grundsätzen und Handlungen zuzuschreiben. So glaubte er manchen, insgeheim verbreiteten Gerüchten, die den Männern und Frauen der Ebelschen Gemeinde allerhand geschlechtliche Ungeheuerlichkeiten nachsagten, die unter dem Schein und Vorwand der Lehre begangen werden sollten.

Bevor er genaue Schuldbeweise in der Hand hatte, konnte er freilich nicht geradeheraus vorgehen. So führte er zuerst bloß einen Schlag, der den Bau des Fuchses vernichten sollte, indem er die Schließung 112 der Altstädtischen Kirche anbefahl, die vorgeblich baufällig war. Dadurch zwang er den Archidiakon Ebel, seine Predigten in einer weit ungünstiger, fern vom Herzen der Stadt gelegenen Kirche zu halten und hoffte ihn dadurch der vornehmsten Hörerschaft zu berauben, wenigstens den Zuzug neuer Elemente der besten Gesellschaft fern zu halten und den gefährlichen Mann mit seiner Schar engster Anhänger gleichsam zu vereinzeln und ihn dann leichter zu vernichten.

Diese, vorerst freilich nur versteckten Handlungen der Feindseligkeit und der allerdings gleich in der ersten Zeit der Schönschen Amtsführung merkliche Geist der Neuerung und unbarmherzigen Vernunftherrschaft mußten in Ebel und den Seinen das Gegengefühl des bedrängten Glaubens und das Bedürfnis stärken, die Macht ihres besseren Wesens und die Herrlichkeit Gottes, von der sie wußten, deutlicher zu erweisen und den Leugnern zu Gemüte zu führen. Jetzt oder nie schien die Zeit gekommen, wo die Offenbarung zu beginnen, die Wiederkunft zu erfolgen, die Predigt der Worte Gottes gewaltig anzuheben hätte. Eine tiefe, innere Erregung gärte in allen leidenschaftlichen Seelen. Die zwei ewigen Feinde innerhalb der menschlichen Gesellschaft, die ins Irdische eingewachsenen Verstandesmenschen und die schwärmerisch ausgreifenden Gefühlsbeherrschten spürten sich aufgerufen, ohne daß irgend eine auffällige Kundgebung geschehen wäre. Es gibt Zeiten, wo diese eingeborene geistige Feindschaft alle anderen 113 Gegensätze oder Zugehörigkeiten vergessen macht. Sie erregten in Ebel und den Seinen schier unbewußt ein nicht mehr zu bändigendes Begehren nach wunderbarer Erweisung ihrer Wahrheit.

Vielleicht hätte Ebel noch gezögert, der überhaupt seit seiner Trennung von Schönherr und der erlangten Alleinherrschaft ein gewisses Ruhe- und Friedensbedürfnis empfand, zumal er seine Macht inmitten einer bedeutenden Schar so angesehener Gläubigen ohne Widerspruch genießen konnte, aber die Frauen, vor allem die Gräfin von der Gröben und die seit ihrer Ehe zugleich verstörte und schwärmerisch erregte Minna Kanitz trieben ihn durch ihre Bitte und ihren überzeugten Eifer zu einer entschiedeneren Wahrsagung der kommenden Entscheidung. Nicht erst das Jahr 1836 sollte die Schlachten des Tausendjährigen Reichs erwecken, die Frömmigkeit und der Wille der Gläubigen wollten sie – nicht zum Heile – beschleunigen.

Minna Kanitz und die Gräfin von der Gröben wußten, Ebel sei der wiedererstandene Heiland. Wenn sie ihn dazu drängten, den Tag der Offenbarung für eine baldige, vorzubereitende allgemeine Zukunft anzusetzen, so brannte in ihnen wohl der Eifer, diese höchste glückselige Einheit sinnfällig zu erleben und andern zu zeigen, während Ebel, der sich selbst nur als Prediger und Vermittler der Wahrheit ansah, die leibhaftige Wiederkunft Christi erhoffte. Weil er sie glaubte, mußte er sie auch beschleunigen können.

114 Zur selben Stunde, da der Herr weiland auf dem Ölberge verklärt worden, in der Osterwoche, werde er wieder erscheinen. So war es den Frauen recht, die an diesem Tage das größere Wunder von Ebels Einheit mit Christus erwarteten. Nun hatte die erwachte Leidenschaft der übrigen ihren Sinn und Gegenstand. Sie hielten Versammlungen und Gebete ab und bereiteten sich vor, denn Christus sollte seinen neuen Gläubigen in verklärter Gestalt, gekleidet in himmlisches Licht erscheinen, gerade wie damals den Aposteln auf dem Berge. Man sollte den Herrn als Gemeinde vereinigt und in heiterer Erwartung begrüßen, der wie ein Gast in eine fröhliche Gesellschaft, wie dereinst zur Hochzeit von Kana, auch hier nach so vielen Jahrhunderten abermals zu einer Hochzeit treten würde. Ein armes junges Mädchen sollte einen braven Jüngling heiraten, Aussteuer, Mahlzeit, bekränzte Kirche, alles sollte den hohen Tag würdig vorbereiten und ausfüllen. So sehr die Gräfinnen von der Gröben und Kanitz in Ebel drängten, dieses Fest der Wiederkunft anzusetzen, so sehr widerrieten andere die gefährliche Probe, insbesondere Graf Finkenstein, ein besonnener, frommer, doch weltgewandter Herr, der mit seiner Gattin dem Ebelschen Kreise angehörte, aber eine gewisse Unabhängigkeit beanspruchte, die ihn oft genug mit den Unbedingten in Widerspruch setzte. Ebel, der die Frage zu entscheiden hatte und von seinen Frauen bedrängt wurde, sich für den Termin auszusprechen, verhielt sich, wie immer bei solchen an den Leib rückenden Fragen zögernd und 115 schwankend. Dem Grafen Finkenstein verwies er seine Kleingläubigkeit und Furchtsamkeit. Wo immer der Herr erwartet werde, dort sei er sichtbar oder unsichtbar Gast, und wenn die Herzen ihn riefen, wolle er sich nicht entziehen, aber freilich dürfe kein Zweifel ihn abhalten. Hingegen äußerte er sich den Frauen gegenüber hinhaltend und unbestimmt. Er verbot ihnen weder die Anberaumung des Festes, noch die Hinausgabe des Losungswortes von der Wiederkunft des Herrn, aber er mengte sich nicht in die Vorbereitungen, tat nichts zu besonderer Verherrlichung und hielt sich, so weit er konnte, von persönlichen Äußerungen und jeder unmittelbaren Einmischung zurück.

Nur der Pfarrer Diestel, als unbedingter Gefolgsmann, wie ein derber Korporal, der die Sache des Leutnants unbedingt zu der seinen macht, betrieb die Angelegenheit mit allem leidenschaftlichen und beschränkten Eifer, mit Grobheit und übertriebener Verzückung, mit phantastischen Ausmalungen, in deren derben Zügen sich seine rohe, armselige Natur mit ihrer ganzen Einfalt darstellte. Er rannte herum und klagte bei allen Freunden unter einem Schwall von Worten und Tränen über seine Sünden, die ihn des großen Tages und der Heiligung unwert machten, wobei die komische Weise des heulenden Poltrons abstoßen und Ekel erregen mußte, den er wiederum wie eine gerechte Strafe hinnahm, als hätte er ihn mit Absicht hervorgerufen. War er mitten im Jammern und Zähneklappern, so konnte er plötzlich den Tabaksbeutel hervorziehen, seine Meerschaumpfeife stopfen, 116 in Brand setzen und zu paffen beginnen, was als eine gröbste Ausschreitung der Begierden verpönt war, die man zu allererst bekämpfen sollte. Da er freilich mit seinem Geheul lästig fiel, sah man ihn, der an sich auf keine Weise wichtig erscheinen konnte, nicht einmal als Raucher besonders an, er aber verfehlte nicht, auch diese neuerliche Sünde in seine allgemeine Verfehltheit mit lautem Hallo einzubeziehen, also demütige er sich vor dem Herrn und erhalte sich im Gefühle seiner Verdammtheit bis zur Erlösung. Indes also die vornehmen Frauen mit sanftem Eifer und in der Stille das große Ereignis vorbereiteten, lief Diestel wie ein ungeschlachter Fleischerhund allen zwischen die Beine und bellte es aus. Er schämte sich nicht einmal davon zu reden, daß seine Frau wieder einmal in der Hoffnung sei, denn auch das lieferte einen neuen Beweis seiner Sünde, sollte doch vor der völligen Wiedergeburt kein wahrhaft Frommer Kinder zeugen. Oh, er sei abscheulich schwach, aber wenn er wieder einen armen sündigen Wurm in die Welt gesetzt habe, werde die gottselige Überzeugung gleichzeitig in ihm lebendig und fange wie draußen das Neugeborene also in ihm zu winseln und zu klagen an, daß er seiner Schwachheit so recht inne werde und immer ganz von Neuem beginnen müsse, die Sünde von sich abzutun. So werde er als ein Unwürdiger, aber herrlich Ergebener den Tag erleben und feiern.

Nicht anders als die armen Anhänger des verlassenen Schönherr den »Schwan«, der sie in die Weite und 117 Freiheit einer göttlichen Welt tragen sollte, betrieben die Freundinnen Ebels diesen wunderbaren Hochzeitstag, der Erfüllung und weltliches Glück im Himmlischen, ganze irdische und geistige Seligkeit bringen sollte. Freilich war von den Frauen bei der Ankündigung und Vorbereitung des Festes eine gewisse Vorsicht beobachtet worden, indem sie die untersten, entferntesten Glieder der Gemeinde nicht von der großen Wiedergeburt in Kenntnis setzten, sondern bloß die Hochzeit selbst als besonders erhebende Feierlichkeit zurüsteten, wie ja die Außenstehenden immer mit voller Absicht von der letzten Wahrheit fern gehalten wurden, deren Sinn und Wort ihnen allzu fremd oder erschreckend gewesen wäre; nur die Näheren wußten Näheres und dadurch bekam alles eine eigentümliche Bedeutung, denn die geheimnisvolle Stimmung und Wichtigkeit der Eingeweihten übertrug sich unwillkürlich auf die anderen und ließ auch diese den Ostertag als höchst ungewöhnlich und ahnungsvoll empfinden. Jeder glaubte, daß sich mehr zutragen würde als eine Vermählung, wie sie andere schon gefeiert hätten, jeder erwartete Besonderes, ohne zu wissen, was der Nächste meine oder erhoffe. Und die zwei Führerinnen allein wußten das letzte, äußerste, daß Ebel seine Einheit mit Jesus Christus erweisen würde.

Unter gehobener, durch das herrliche Geheimnis wunderbar gedämpfter, von schönem Chorgesang durchrauschter, von kunstvollem Orgelspiel abwechselnd belebter, von leisem Gebet wieder beschwichtigter 118 inniger Stimmung verlief in dem Saal der Brüder-Gemeine, der den Ebelschen Leuten von den sinnverwandten achtungsvoll geneigten mährischen Brüdern zur Begehung des Festes zur Verfügung gestellt worden war, der Tag. Kränze aus frischem Tannengrün wanden sich über die Decke, Licht strömte durch die hohen Fenster der alten Kapelle in der Langgasse. Die Verlobten wurden von Diestel zusammengegeben, der eine kräftige, gar nicht üble Ansprache hielt. Ebel fehlte. Wieder wurde gesungen, wieder gebetet und Orgel gespielt, dann gab es Pausen der Erwartung, wo niemand ein Wort zu sagen wagte, als müsse das Entscheidende eben jetzt und sogleich sich ereignen. Nach einer Weile, als nichts Besonderes eintrat, begann irgendwo eine Stimme etwas zu flüstern und bald stellte sich das natürliche Menschengesumme eines vollen Bethauses wieder her, ward wiederum unterbrochen durch neues mächtiges Orgelspiel, durch zusammenhaltenden Gesang, verstummte zu neuer Pause. In einer solchen trat Ebel ein, ernst, bleich, schwarz gekleidet und mit einem schmerzlichen Lächeln. Ida von der Gröben und Minna Kanitz gingen ihm entgegen, sie knieten vor ihm nieder, Emilie von Schrötter und die brustkranke Maria Consentius warfen sich ihm gleichfalls zu Füßen, Graf Kanitz stand, aber mit tiefgebeugtem Haupt, Diestel, der auf der Kanzel war, erhob betend die Arme. Ebel beugte sich zu den Frauen nieder und zog sie zu sich empor, er küßte sie auf die Stirnen, dann trat er auf die Kanzel und betete laut.

119 Endlich zog er sich wieder zurück und saß unter den Frauen in der ersten Bank. Wiederum begann Gesang und Orgelspiel, und als es endigte, brachen die Fernstehenden, Nichteingeweihten einigermaßen enttäuscht auf, es erhob sich Ungeduld und Lärm einer lange zurückgehaltenen Menge, immer mehr Leute schlossen sich an, endlich schickte sich auch Graf Finkenstein mit seiner Frau zum Gehen, nicht ohne mit einem gewissen Lächeln seiner Schwester, die zu den nächsten des Ebelschen Kreises zählte, einen Blick zuzuwerfen, der die Vergeblichkeit des Tages feststellte. Gerade diese Schwester war es, die Finkenstein sowohl zu Ebel hinzog, als ihm den Prediger unlieb machte, denn der Graf hing mit übergroßer Liebe an ihr und empfand ihre äußerste Hingebung an Ebel mit Schmerz und Eifersucht. Er nahm daher an den Bestrebungen der Gemeinde Anteil, um der Schwester nahe zu bleiben, aber er nährte dabei sein Mißtrauen, seine Angst um das Mädchen, dessen inbrünstige und schwärmerische Gemütsverfassung, leiblich und seelisch gleich gefährlich, ihm die Schwester entfremdete. Der Blick, womit sie ihm antwortete, mußte ihn erschrecken, so viel Zorn und Vorwurf lag darin und so viel Abweisung in dem Zurückwerfen des kleinen, runden von glatten schwarzen Haaren umgebenen, nicht schönen, aber eigenwillig bedeutenden Kopfes.

Ebel blieb mit seinen Frauen allein in der verlassenen Kirche. Nur die Anwesenheit des Doktor Sachs, der in einer Ecke stand, von niemand in den 120 eigentlichen Sinn des Tages eingeweiht worden war, aber alles zu wissen schien, verhinderte eine Erörterung des Geschehenen und Ungeschehenen.

Endlich trieb Diestel, wiederum wie ein Schäferhund zum Aufbruch und schwatzte von seinem Hunger und daß ihm der Magen krache, um ihn so recht an seine Unvollkommenheit zu mahnen.

Verstimmt, wortlos verließen nun die letzten die Kapelle. –

 

VIII

Seit diesen zwiespältigen Offenbarungstagen wuchsen die übeln, drohenden Ereignisse und verfinsterten den Himmel über den dicht zusammengedrängten Schäflein dieser Hürde. Graf Finkenstein trat mit geflissentlichem Aufsehen aus der Gemeinschaft. Seine Schwester konnte ihm den Zweifel an dem Wiedererscheinen des Herrn an jenem Ostertage nicht verzeihen, denn sie und alle andern schrieben dieser Mattherzigkeit das Fehlschlagen der Hoffnung zu. Das Mädchen behandelte ihn so fremd, so eisig, sie veranlaßte alle übrigen zu gleicher Abweisung, daß der sonst weltwillkommene Mann sich inmitten einer Gesellschaft seiner nächsten Standesgenossen gar von Frauen verachtet und moralisch gezüchtigt sah. Weder sein Stolz, noch sein Verstand ertrugen diese Behandlung. Seine Gattin, weltlicher gesinnt, ehrgeizig und lebensfroh, bestärkte ihn in seinem Zorn; sie hatte sich dieser Gemeinschaft bei aller sonstigen mehr gesellschaftlich geübten, als innerlich strengen 121 Frömmigkeit nur widerwillig gefügt; sie glaubte den Gemahl und sich selbst aus einem Kerkerloch befreit, als sie dem Kreise den Rücken kehrten. Auch waren ihr Andeutungen, eigentümlich vorsichtig versteckte und zugleich merkwürdige Ratschläge Ebels, ihr eheliches Leben betreffend, längst wunderlich und zudringlich erschienen. Jetzt deuteten sie und ihr Mann diese Reden vielleicht anders, als sie gemeint waren, die sogenannten geschlechtlichen Reinigungen, von denen sie früher als von einer Eigentümlichkeit der Lehre ohne besondere Gedanken reden gehört, vielleicht selbst gesprochen hatten, schienen beiden nun höchst widerwärtig und heuchlerisch als Vorwände übler Geheimtuereien in einem schlimmen Lichte. Finkenstein sah seine Schwester ohne Rettung diesem Übel preisgegeben, er konnte nur auf sie verzichten, die nichts von ihm wissen wollte. Nach seiner Absage erkrankte Minna Kanitz auf den Tod. Sie war von je äußerst zart und körperlichen wie seelischen Leiden mehr noch als andere Frauen ausgesetzt; eine Schwangerschaft, die ihre geringen Kräfte aufgezehrt hatte, und dazu die beständige seelische Erregung warfen sie vollends nieder.

Sachs, der ihr in der schweren Stunde geholfen hatte, gab weder für die Mutter, noch für das äußerst schwächliche Kind Hoffnung. Minna zeigte in ihrer Mattigkeit nicht einmal für dieses kleine Wesen besondere Teilnahme, freilich hatte sie es nach der Geburt mit einem wehmütigen Lächeln neben sich ins Bett genommen und das kleine, verrunzelte, greisenhafte, 122 rote Lärvchen nachdenklich betrachtet, aber sich nicht gewehrt, als man ihr das Kind bald wieder wegtrug. Sie war zu schwach, es zu nähren, es starb bald und sie fragte seither nicht einmal nach ihm. Ihr Mann, der bei allen diesen Ereignissen ratlos, bald demütig ergeben, bald zornig und ungeduldig herumstand, von der Hebamme, den Besuchern, den Frauen, am meisten von Sachs hin und her geschoben, mit Besorgungen und Handreichungen beauftragt, die er höchst unvollkommen erledigte, in seiner Verzweiflung vereinsamt, da niemand ihm Antwort oder Trost geben konnte, näherte sich der Frau, die bleich und aufgelöst dalag, wie einer Fremden. Auch in der Ehe war sein Verhältnis zu ihr ganz fern und unklar geblieben. Es gab kein böses Wort, aber doch lag eine ganze Welt zwischen ihnen. Sie teilten ja vieles, den Glauben, alle Überzeugung im einzelnen und die göttliche Verehrung Ebels, aber dies alles war zu wenig für eine Ehe, die so Hohes verlangende Menschen vereinigen sollte, und was sie trennte, war zu viel, als daß es durch allgemeine Güte des Wesens, durch gegenseitige Teilnahme hätte ausgeglichen werden können. Kanitz behandelte Minna mit achtungsvoller Scheu und vorsichtiger Zartheit, sie ihn mit einer wehmütigen Freundlichkeit, die tief verletzen mußte, wo Liebe erfordert war. Daß in einem Kreis, der sich für auserwählt hielt, der in einer Sphäre hoher Gefühle daheim war und keine irdische Rücksicht kannte, eben aus diesem leidenschaftlichen Empfinden eine Ehe geistlicher Konvenienz möglich, ja 123 notwendig werden konnte, gehört zu jenen erschütternden tragischen Schicksalseinfällen, die den Handelnden, gerade wo sie die höchste Freiheit in der höchsten Absicht behaupten wollen, mit der unerbittlichen Übermacht der Natur alle eigene Bestimmung entwinden. Solche Menschen werden in den Abgrund versenkt, den sie selbst zwischen sich und das ganze irdische Geschlecht gelegt haben.

Nun verharrte Minna bleich und fiebernd stundenlang in einem Halbschlafe. Wenn sie wach war, blickte sie eigentümlich klar und fremd und schien doch niemand von den Anwesenden zu bemerken, obgleich sie die nötigen Handreichungen erbat, dafür dankte, auf Fragen antwortete. Namentlich mit ihrem Gatten blieb das Gespräch gleichsam leblos und gegenstandslos. Eine gewisse Ungeduld warf sie umher, ohne daß sie ihre Wünsche ausdrückte, denn sie äußerte nur unwesentliche, deren Erfüllung sie nicht beruhigte. Die Teilnahme der vertrautesten Besucher war ihr lästig, bloß die angeborene, immer geübte und selbst in diesem Zustande noch gewahrte Höflichkeit und Zucht des Betragens, oder ihre äußerste Schwäche hinderten sie, den Überdruß durch Worte laut werden zu lassen. Als Ida von der Gröben kam, sonst ihre nächste, ihre Herzensfreundin, zeigte Minnas Gesicht eine Veränderung, die alle erschreckte, als fürchte sie sich, sie machte eine abwehrende Handbewegung, aber zu schwach, sich aufzurichten, etwas zu sagen, sich zu verteidigen, drehte sie sich zur Wand.

124 Ida setzte sich gleichwohl an das Lager, ergriff ihre Hand, flüsterte mit liebevoller Stimme Freundliches und Tröstendes, über die sichere Wirkung der Arzneien, über die baldige Kräftigung und dergleichen. Minna schien dies alles zu hören, sie antwortete sogar, als ob sie daran glaubte, aber ihr Blick war ungehalten.

Endlich unterbrach Sachs dieses Zusammensein, indem er Ida mit den Augen winkte, sie möge gehen. Erschüttert und ihre Bewegung verbergend, wollte die Gräfin von der Gröben Abschied nehmen, aber Sachs schüttelte zornig den Kopf und machte bloß eine Gebärde: still fort! Da schlich sie auf den Zehenspitzen weg, den Blick unverwandt nach der Ruhenden gerichtet, ob diese ihr nichts sagen oder bedeuten wolle. Aber Minna sah streng vor sich hin und beachtete Idas Weggang nicht im mindesten.

Bald danach schien sie ein Geräusch zu hören und wurde unruhig, bis Ebel eintrat, worauf ihr Antlitz einen seltsamen peinlichen lächelnden Ausdruck annahm und Runzeln über ihre Stirne zuckten. Mit klarer Stimme, ohne den Diakon anzusehen, der bei der Tür stehen blieb, aber auch ohne Sachs oder ihren Gemahl anzusprechen, sondern immer gleichsam durch die Zimmerwand schauend, fragte sie plötzlich: »Muß ich sterben?«

Als ihr niemand antwortete, wiederholte sie mit ruhiger Stimme: »Muß ich sterben?« Sachs wollte sich ihr nähern, da lächelte sie ein wenig und machte eine kleine Handbewegung, als meinte sie: es ist gut, ich weiß genug.

125 Jetzt trat Ebel an ihr Bett und faßte ihre Rechte und sprach von der wahren letzten Vollendung, die ihr bevorstehe, von den höchsten Wonnen, denen sie entgegengehe, da sie den Herrn selbst wiedersehen werde. Sie unterbrach ihn mit der Bitte, er solle ihr das Abendmahl reichen. Ebel fuhr fort, indem er beschrieb, wie sie ihr junges edles Leben geübt und geschärft hatte für dieses endliche Ziel, da nahm ihr Gesicht, das bisher geduldig lauschend erschienen war, von neuem den finsteren Ausdruck an, und sie wiederholte dringlicher ihre Bitte.

Wiederum fuhr Ebel, der, durch diesen nahen Tod in seiner nächsten Umgebung gewaltsam erschüttert, Gottes Nähe und Entscheidung über ihn selbst spürte, mit den Worten der Hoffnung und Zuversicht fort, die nur er hier benötigte, und bat die Sterbende, sie möchte seine und ihrer aller Botin an den Heiland sein, dem sie berichten sollte, wie er, Ebel, Lehre und Beispiel verwaltet und verstanden habe, und sie möchte aus ihrer neuen Welt ein Zeichen der Wahrheit senden, und daß diese mit der Erfüllung übereinstimme. So würde sie erst über ihr Leben hinaus Trost, Gewißheit, Gnade spenden.

»Schweig«, flüsterte Minna erregt und entzog ihm die Hand, die er noch immer hielt, »gib mir das Abendmahl.«

Endlich reichte ihr Ebel mit schier unwilliger Gebärde den Kelch. Unter den üblichen Gebeten nahm sie den Trank, dann lehnte sie sich mit verklärter Stirn befreit zurück, sprach kein Wort mehr und ließ 126 keinen mehr zu sich sprechen, sondern schien mit gefalteten Händen, aber mit geschlossenen Augen zu beten oder zu schlummern, bis ihre Arme plötzlich schlaff herabsanken.

Auf dem Heimwege sagte Ebel erschüttert zu Sachs: »Daß sie so schwer gestorben ist. Sie hat doch die Wahrheit gehabt.«

»Welche Wahrheit?« antwortete Sachs mit einer Stimme, die Hohn, Zorn und Erschütterung nicht mehr verbarg: »Deine Wahrheit, nicht aber ihre. Du hast sie mit deiner fürchterlichen Gottseligkeit unterjochen können, solange sie unter deiner Macht stand, aber wenn es zum Sterben kommt, schlägt der eigentliche Mensch aus. Du solltest das gespürt haben.«

»Ja der Leib, alles Sterbliche, das Tier empört sich noch einmal.«

»Du hast es mit allen deinen Reinigungen nicht ausgetrieben. Hast du dieses Tier nicht aus ihren Augen schauen gesehen, Ebel? Hast du den Blick vertragen? Dich ist er angegangen. Das Tier hat den Henker angeschaut.«

»Sie hat ihr Leben aus freier Wahl und mit freiem Willen gelebt.«

»Damit hat sich noch jeder geistliche Verführer entschuldigt. Aber siehst du denn nicht: dieses Frauenzimmer hat dich geliebt, alle diese Jahre der Qual und der Züchtigung lang, deshalb hat sie alles gelobt, alles geglaubt, alles getan, was du verlangt hast. Das war ihre Wollust, nicht ihr Glaube. Hast du das nicht gewußt?«

127 »Warum sollte die Liebe nicht ein gerechter Grund des Glaubens sein?«

»Du hast sie zu ihrer Ehe gezwungen und hast weiter gepredigt und weiter beseligt, bis zu diesem Sterben!«

»Ich bin kein Herr über Leiber, aber die Seelen hab' ich bestimmt und will's verantworten.«

»Ihr Blick war so aus Leib und Seele zusammengeboren, daß du ihn nicht verantworten könntest. Das Leid der anderen magst du leicht auf dich nehmen.«

»Was kann ich dafür, daß unser Leben hier voll Qual ist. Gott macht sich für uns nicht leicht. Wir sind nicht Menschen, um es gut zu haben.«

»Du brauchst, glaube ich, nicht zu klagen. Du forderst ja immer nur von den andern. Dir lässest du nichts abgehen.«

»Ich kann keinem mehr bieten, als mich selbst. Und keinem habe ich mich geweigert. Ich war offen wie ein Tisch. Wer meinen Frieden, meine Verteidigung, mein Glück nehmen konnte, hat es genommen.«

»Du hast versprochen und nichts gegeben als höchstens Worte. Dieses Weib aber hat Durst gehabt. Und du hast sie gepeinigt. Du hast sie von ihrer Quelle zurückgehalten, da sie trinken wollte, bis sie verschmachtet ist.«

»Sie hat es so gewollt.«

»Weil du es so verlangt hast.«

»Ja. Und ich habe sie dadurch erhöht, denn jeder hat seine Bestimmung zur Erkenntnis, jeder hat 128 seine Seele von Gott und Gott in seiner Seele und ist ihr verpflichtet. Das habe ich in ihr erweckt.«

»Und das willst du nicht sehen, daß wir einen Leib haben, der auch von Gott ist und Gott in ihm, daß wir auf einer Erde leben, wo Pflanzen wuchern und Insekten im Taumel einer Stunde Gott näher sind, als jeder Wille. Wo Tiere sich in gewaltiger Lust begatten und daran ihre Schönheit und ihr Schicksal haben, um das Tier auf der Erde zu erneuern, und wo Menschen einander suchen und begehren, da ist Gott. Und ich sage dir, daß die Lust eines Menschenpaares, da es sich umschlingt und voneinander Glück begehrt, um ein Kind zu zeugen, Gott selbst gebietet. Und wer diesen Augenblick durch den Willen versteint, durch das Bewußtsein erstarren macht, zwischen diese Einheit das Schwert des Gedankens legt, der hat Gott gemordet. Nur wer das Herz zu dem Stück Tier faßt, das er ist, der hat die Seele zu dem Stück Gott, das ihm vergönnt ist.«

»Wenn du immer so glauben, so denken könntest, wärest du herzhaft böse, und in deiner Weise hättest du freilich recht, denn auch der Ruchlose bezeugt Gott. Aber das vermagst du nicht, deshalb kommst du zu mir, deshalb hast du mich angehört, deshalb folgtest du mir. Und so geht es allen. Sie ahnen, sie wissen etwas anderes in sich und vom Menschen. Sie wünschen es mit aller Kraft, es gibt einen Durst, den dieses Wasser nicht stillt, das aus den Brunnen auf der Erde fließt, eine Liebe wissen wir alle außer 129 unseren Paarungen, eine Erfüllung, die nicht in den menschlichen Jahreszeiten reif wird. Es gibt ein Licht in uns allen, das wir zwar verschütten können, aber das in Stunden dennoch tief in uns glüht und wir kennen ein Glück, das über und außer uns besteht und das wir finden müssen. Wir haben alle unsere Sinne, nicht damit wir sie ziellos brauchen, sondern damit wir aus uns und mit ihnen den wahren, den eigentlichen Menschen erschaffen, aus diesen Sinnen können wir unser Antlitz, unsere Gestalt, unsere Bestimmung formen. Gott hat uns nach seinem Ebenbild gemacht, nicht sich nach unserm und wir müssen uns nach seinem Ebenbild bilden, nicht nach unserm. Das bleibt unsere Bestimmung, so daß wir, wenn wir allen unseren Willen auf dieses Höchste gerichtet haben, in Wahrheit Gott auch ähnlich werden. Hast du nicht schon an Werken von Malern und Bildhauern gesehen, wie sie in irgend einem Zug auf irgend eine geheimnisvolle Weise ihrem Urheber gleichen? So können wir uns Gott ähnlich machen. Wer freilich das Tier, den Lehm, aus dem wir geformt sind, als solchen liebt und ausbildet, der wird aus sich einen Götzen machen, der hinfällt, wenn der Hauch bläst. Aber wer seine Sinne als ein Schöpfer braucht, der entäußert sich ihrer um des Werkes willen, das ihm auferlegt ist, und wenn seine Stunde kommt, hat er ein Bild vollendet, das Gott gleicht, nein, Gott selbst ist. Dann wird die Form zerschlagen, aber das Bild ist Wahrheit und Ewigkeit.«

130 Sachs blieb stehen und sagte: »Oh, ich will dir die Quelle aller deiner Erkenntnisse zeigen. Denn wenn ich dir nachgegangen bin, so war's aus dem gleichen Grund, nur hab' ich mir's nicht klar gemacht, bis heute vor diesem Anblick des Todes. Angst und Eitelkeit schauen aus dir und aus deiner Lehre! Du bist ein Feigling, du fürchtest dich vor dem Tod. Du zitterst vor dem Gedanken, dein wertes Ich, dein wohlgefälliges Antlitz, dein schöner Anstand könnte eines Tages zu Staub werden und in irgend einem Grab, ohne Spur und bis auf die letzte Erinnerung getilgt, zu einem Haufen Dreck vermodern. Ich bin ja selber so feig, ich weiß es. Da erfindest du, was alle Menschen seit Anbeginn sich eingebildet haben: ihre Ewigkeit und Unsterblichkeit und ihre Erneuerung in Gott. Aber in dieser Furcht zerstörst du das einzige, was du besitzest und zerstörst es allen Andern: das Leben selbst. Du vergiftest den Brunnen aus lauter Durst. Hast du Minna sterben gesehen und kannst noch glauben, daß sie lebt und mehr erlangen soll, als sie verlieren mußte?«

»Ja, das glaube ich.«

»Nun, ich habe nur eine furchtbare Kraft in einer furchtbaren Enttäuschung für immer zerbrechen gesehen.«

»Nein, die Enttäuschung endet, die Kraft kann nicht aufhören.«

»Wer die Kraft zu seinem Gott hat, der muß die Kraft zu seinem Tier haben.«

131 »Nein, über sein Tier! In jedem Sinn ist ein Tier lebendig, der Adler des Blickes, der Hund des Geruchs, der Schakal des Mundes, der Löwe der Arme, sie alle jagen mit ihm und dienen dem Menschen, der starken Seele, die sie ausschickt und zurückruft und unter deren Gebot sie sich fromm einschmiegen müssen, weil sie einem Geist angehören, nicht sich selbst allein.«

»Wohl dir, Ebel, wenn du in deiner eiteln Gottseligkeit leben und mit deiner Kälte das Übel ansehen kannst, das rings um dich wächst. Denn, magst du alles für wahr halten, was du sagst, alles glauben, was du lehrst, eines mußt du wissen, daß du unendliches Leid und allen Schmerz der Kreatur verschärfst, wenn du sie zu deinem Gott zwingen willst. Laß den Staub beim Staube! Warum gehst du nicht in die Wüste? Setze dich nieder und beschaue deinen Nabel und erfreue dich deines Gottes in dir, aber laß die Menschen Menschen sein mit ihren Sinnen und ihren Begierden, mit ihren Erfüllungen und ihren Verzichten. Kannst du einen einzigen für den Verlust einer guten Stunde, für einen Schmerz entschädigen, den dein Hochmut ihm angetan? Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich die Scham und das Elend des Blickes auf dem Gewissen hätte, womit dich Minna angeschaut hat. Auch aus ihr hat Gott zu dir gerufen. Aber du willst nur deine Stimme hören. Du bist hochmütig, Ebel! Du kennst nur dich und deine Anmaßung. Das Elend, das du angerichtet hast, kann dich nicht bewegen, 132 du bist schwer wie ein Berg von Stein, kalt und hart wie Stein. Es wallen Ströme von Liebe um dich, du rufst von überall her Liebe, Wärme, Empfindung über dich, weil du daran leer bist, es fließt dir zu, wie in ein offenes Becken, das bloß empfangen kann, aber du gibst nichts her, als das leere Rauschen der Worte und keines, das Liebe, Mitleid, Menschlichkeit, Leben bedeutet. Deine Gottseligkeit ist Eiseskälte. Unter deiner Rede grünt nichts. Oh, du hast nur die Pfaffengewandtheit, alles nach deinem passenden Gebrauch für dich umzudeuten. Du sammelst Weiber um dich und reinigst sie. Das ist Augenlust und Fleischeslust wie bei den andern, die du Tiere schimpfst. Aus deinen ohnmächtigen Begierden machst du gottselige Götzen und dienst ihnen mit Weihe. Du wärst nicht so schlau, wie du bist, wenn du dir aus deiner Niedertracht nicht noch ein gutes Gewissen gemacht hättest. Und die Narren, die du betrügst, sehen deine Schamlosigkeit und sagen, es ist Keuschheit, spüren deine Härte und beben vor Gott. Sie, die aller Liebe würdig sind, opfern sie dir und legen sie dir zu Füßen. Und du gehst über diesen Teppich. Du lässest getrost alle Menschen sich kreuzigen, damit du dich erhöhen kannst. Du begehst alle die Sünden, die du ausrotten möchtest, nur wendest du sie verschmitzt von außen nach innen, denn deine geschlechtliche Reinigung ist erst recht Unzucht und stammt aus einer verstellten, darum schamloseren Begierde, deine Keuschheit ist erst recht nichts anderes als Geilheit und erfüllt sie auf heiligem Weg und mit 133 heiligen Mitteln wider die Natur. Deine Entäußerungen sind verkappte, stechende Wollüste und was dir Erfüllung bietet, tut denen, die dir folgen, Leid. Du kreuzigst die andern und wäschst hochmütig deine Hände in Unschuld. Oh, welches schmutzige Wasser! Das Tier ist reiner.« Er schwieg, außer Atem.

Ebel, der neben ihm gegangen war, trat einen Schritt von ihm weg und sagte leise: »Ja, du bist böse von Natur, darum willst und kannst du nichts anderes sehen, als das Übel. Wer so schaut, muß in allem sein Ebenbild finden. Du gehörst freilich zu mir, so wie das Schlechte zu uns gehört. Deshalb bist auch du mir auferlegt. Ich habe alle Geißeln gespürt, angespien bin ich jetzt, sei getrost, auch mein Kreuz wird nicht fehlen.« Damit ließ er ihn stehen und eilte fort.

Diese längst fällige Auseinandersetzung hatte für Sachs die feindselige Trennung vom ganzen Kreise zur Folge. Graf Kanitz schickte ihm in seinem und Ida von Gröbens Namen mit einem Briefe voll Drohung und Verachtung das Entgelt für ärztliche Behandlung. Ebel litt unter dem Verrat, wie Sachs' Abfall genannt wurde, sehr, er ahnte, damit beginne sein eigener Absturz. Wie immer seine Lebensführung und Anschauung und der Wille gewesen sein mag, der ihn bestimmte und Macht über Menschen gewann, es war die unheimliche, rätselhafte und gefährliche Kraft eines einzelnen, die ihm zum Verhängnis werden muß, sobald sich einer der Unterjochten 134 empört und der beherrschten Masse das Recht auf sich selbst wiedergibt. Im kleinsten Umfang wiederholte sich hier das ewige Schauspiel der bewegenden und der bewegten Menschen, das nur zweierlei Schicksale kennt: Entweder kreuzigt der eine die Menschheit, oder die Menschheit kreuzigt den einen.

Hingegen hatte Sachs zwar einen Alpdruck überwunden, aber er stand doch noch unter der peinigenden Erinnerung seiner Unterjochung unter Ebels befehlendem Blicke und der vornehmen Frauen Strenge, unter der hohen Erwartung, dem übermenschlichen Anspruch, und er mußte seine Befreiung mit einem Haß, einer tiefgehenden beschämten Erniedrigung bezahlen, die er weder sich selbst, noch Ebel jemals verzeihen konnte. Daß man seinen Abfall mit Verachtung bestrafte, ohne seine inneren Gründe, seine eigentliche Notwendigkeit anzuerkennen, erfüllte ihn mit einem Bedürfnis nach Rache, das nur seine Stunde abwartet, um dann furchtbar aufzuzischen. Was vor einiger Zeit noch eine Gefahr gewesen wäre, den einflußreichen Geistlichen zu beleidigen, gereichte dem Arzt jetzt beinahe zum Vorteil. Er, der durch den Einfluß Ebels und der Seinen die Professur erlangt hatte, brauchte diesen Einfluß nicht mehr zu fürchten, seit Schön und der damalige Rationalismus mit ihm in Königsberg zur Macht gekommen war.

Seine still lauernde Bereitschaft fand unverhofft einen Bundesgenossen im Grafen Finkenstein, dessen Schwester bald nach Minnas Tode Kanitz heiratete und dadurch zu einer herrschenden Stelle in der 135 Gemeinschaft aufrückte. Sie hatte sich längst jedem Gefühl für den Bruder entzogen, dessen Austritt aus dem Kreise ihn zum Feind aller gemacht. Die Schwester empfand seinen Abfall doppelt, weil sie sich als Verwandte gewissermaßen für ihn verantwortlich fühlte. Sie betrieb nun die Vergeltung hierfür mit jener kleinlichen Eindringlichkeit und böswilligen Findigkeit, die Frauen so natürlich ist, wenn sie hassen. Sie bewog Kanitz, ihrem eigenen Bruder ein Darlehen aufzukündigen, womit er ihm vor Zeiten eine wichtige, jetzt noch schwer zu entbehrende Hilfe geboten hatte. Dieses Vorgehen der eigenen Schwester mußte den Grafen Finkenstein aufs äußerste erbittern. Er sah sich von ehemaligen Nächsten nicht nur ausgeschlossen und gehaßt, sondern wie ein Schädling verfolgt und in der Ebelschen Gemeinschaft nun nichts anderes mehr, als die vereinigte menschliche Niedrigkeit und Feindseligkeit. Haben Gegner sich wie zwei Tiere einmal in solchen Kampf verbissen, so wird das Gefühl nicht leicht fehlen, im andern sei nicht der einzelne, sondern das Böse schlechthin zu vernichten. Wie mußte es den Beleidigten empören, als er nun noch erfuhr, der Ebelsche Kreis sei im Begriffe, ein anderes Mitglied seiner Familie, ein junges Wesen von auserlesener Schönheit, eine Verwandte, die er hoch schätzte und die ihm bisher herzlich nahe stand, an sich zu ziehen, ein Fräulein Celine von Myrbach. Dieser, wie er es ansah, ruchlosen Verführung wollte er nicht länger untätig zuschauen und schrieb der jungen Dame, die ihn wegen 136 vorher geäußerter andeutender abfälliger Bemerkungen über Ebel zur Rede gestellt hatte, folgenden Brief:

»Meine liebe Celina! Da Dich der liebe Gott in Deinem Schreiben Fragen an mich hat tun lassen, von denen es des Heils Deiner Seele wegen wünschenswert gewesen wäre, wenn Du sie früher und in unbefangenerem, gedemütigterem Geiste des Christentums getan hättest, als es, nach Form Deines Briefes zu urteilen, nun der Fall zu sein scheint, so habe ich die feste Hoffnung, daß Dein Ohr den einfachen Worten der Wahrheit noch nicht ganz verschlossen sein wird. Ich werde also meine Kenntnis von dem Geist und Leben Ebels kurz aussprechen, die ich durch bittere Erfahrungen von vielen Jahren und böse Kämpfe der Seele erworben habe. Dem Menschen, der an sich selbst und durch Beobachtung der Geschichte die Bosheit und Schmach des menschlichen Herzens erfahren hat und von der List und Tücke des Satans weiß, welcher sich sogar einem Engel des Lichts angleichen kann, dem wird, was ich erzähle, weder außerordentlich, noch unglaublich scheinen. Der gewöhnliche Weltmensch kann es freilich nicht fassen. Du weißt, daß am Ende des vergangenen und zu Beginn unseres Jahrhunderts ein hochbegabter, aber vielfach verwirrter Mann, Schönherr, die ewigen Wahrheiten des Glaubens in der Heiligen Schrift auf die äußere gebrechliche Stütze des menschlichen Verstandes setzen wollte und aus der Beobachtung, daß man in allen 137 geschaffenen Wesen einen männlichen und einen weiblichen Pol wahrnehmen kann, ein Urwesen des Feuers und des Wassers als göttliche Elemente ableitete. Mit dieser Einbildung bemeisterte sich seiner und namentlich seines vorzüglichsten Schülers Ebel zugleich der hochmütige Wahn alleiniger Erleuchtung und daß sie einen Schlüssel zu aller Wahrheit besäßen, Träger der Erkenntnis für die ganze Menschheit seien. Es ist Dir bekannt, wie Ebel sich nachmals von Schönherr lossagte und viele, nach christlicher Vollendung trachtende Menschen, Kanitz und andere und so auch mich und mein Haus durch seine Versprechungen zu gewinnen verstand, daß er uns den Weg des wahren Christentums weisen könnte. In vier Jahren eines fürchterlichen Gewissenszwanges, der mir jetzt erst erklärlich und notwendig erscheint, wann immer ernste Menschen auf selbstgewählten Wegen heilig werden wollen und zwischen Gott und dem ewigen Mittler Jesus noch einen Mittler schieben, so daß sie nicht geradeaus zu Christus gehen, in vier Jahren dieses Seelenzwanges erfuhren wir als eigentliche Aufgabe, für uns ein Reich Gottes in unseren irdischen Sinnlichkeiten zu erschaffen. Dies ist der Sinn der Ebelschen Unterweisung und nicht anderes, daß jeder dem anderen Urwesen in sich zum Bewußtsein und zur Unterwerfung unter das erste verhelfen müsse. Dies geschehe durch sogenannte Reinigung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander und dadurch, daß man erkenne, wie unter den Erleuchteten alles rein und heilig sei, wie man also dem gemeinen 138 tierischen Triebe des Geschlechts auch unter den nach Vollkommenheit Strebenden immer mehr Raum gestatten müsse, und es nur darauf ankäme, in jedem Augenblick über ihn Herr zu bleiben. Erst jetzt verstehe ich die höllische Verruchtheit andeutender Ratschläge, die Ebel mir und meiner Frau in bezug auf unser eheliches Leben gegeben hat, und ich fühle mich wie vor einem Abgrunde gerettet, daß ich vor solcher Übung zurückgeschauert bin. Ich habe die zur Gewißheit gesteigerte Vermutung, daß Ebel mit Ida von der Gröben, Emilie von Schrötter und Marie Konsentius in einem unzüchtigen Umgang nach seiner scheinheiligen, in Wahrheit buhlerischen und lüsternen Lehre gestanden hat und Marie Konsentius, aber auch die arme Minna Kanitz durch unnatürliche Aufregung des Geschlechtstriebes vor der Zeit ins Grab gehetzt hat. Das sind die Gefahren für alle, die in die Ebelsche Kirche treten. Darum schließen sich Frauen ihr an, darum sind Mädchen wie Du aufs schwerste bedroht, wenn sie daran denken. Als ich das erkannt hatte, lernte ich wieder mich, wie ich bin, an der unsichtbaren, aber dem Sünder und Armen nahen Hand Jesus halten, und so untreu ich bin, er ist getreu geblieben, bis auf diesen Augenblick. Diese herrliche Erfahrung, liebe Celina, wünsche ich auch Dir, dann wirst Du in einem Augenblicke wieder klar sehen und an Christi Hand alle Stricke des Versuchers zerreißen, die Dir drohen. Ich bin zu jeder weiteren Erklärung bereit und dazu, Dich immer wieder aufzunehmen, wenn Du auf Deinen unseligen 139 Wegen weiterwandelnd, einmal wirst zurückkehren wollen.«

Der Brief hatte den entgegengesetzten Erfolg, als den er beabsichtigt. Er trieb das Mädchen in die Arme der Ebelschen Gemeinschaft. Sie übergab das Schreiben dem Pfarrer Diestel, der mit seiner ganzen Gier und Fleischerhundleidenschaft über die Sache herfiel und dem Grafen mit solchen Beleidigungen antwortete, daß dieser notgedrungen eine Injurienklage einreichen mußte, die in der Folge eine nähere Untersuchung der gegen Ebel erhobenen Anschuldigungen nötig machte. Diese vom Oberpräsidenten Schön veranlaßte und beeinflußte Erforschung des Sachverhaltes ergibt einen Prozeß gegen Ebel und Diestel, der nun alles aufrollt, was für und wider die Gemeinschaft vorgebracht werden kann. Hier enthüllt Sachs, was er gegen seinen einstigen Freund auf dem Herzen hat und ist der gefährliche Zeuge, weil er den Geist der Lehre selbst als Geist zugleich darzustellen und zu widerlegen vermag. Ebel verteidigt sich mit einer gewissen duldenden Gelassenheit, die von Mißgünstigen als Zaghaftigkeit und Schuldbewußtsein, vom Geneigten als innerste Unberührbarkeit gedeutet werden kann. Für ihn treten die Gräfin von der Gröben und der getreue Kanitz mit zorniger, leidenschaftlicher und rücksichtsloser Ergebenheit ein, beide erhalten im Gange des Verfahrens Ordnungsstrafen, weil sie sich zu Beleidigungen von Zeugen, ja der Richter, des Gerichtes selber hinreißen lassen. Endlich weigert sich Ida von der Gröben überhaupt, vor einem solchen 140 Tribunal zu erscheinen. Sachs wird durch die Bekundung seines eigenen, dereinst der Gräfin übergebenen Sündenbekenntnisses lächerlich und als Zeuge fragwürdig gemacht.

Die Untersuchung schleppt sich im umständlichen, schriftlichen Verfahren, in dem eigentümlichen Schneckenrechtsgang vorwärts, der manche Beeinflussungen und Trübungen, willkürliche Auslegungen und Unterstellungen zuließ, ja begünstigte.

Eine scheinbare Strafsache wird fast geflissentlich als Diszipinarangelegenheit behandelt. Vielleicht bestimmt auch eine selbst bei den Gegnern noch vorwaltende Rücksicht auf die Teilnehmer der Bewegung zu einer so ängstlichen und geheimen Behandlung der ganzen Sache, daß sie den Prozeß und seinen Gegenstand vielleicht für immer in Dämmerung und Unklarheit entrückt hat. Jeder sah darin nur, was er seiner Anlage und Gesinnung nach erkennen wollte, die sogenannten »Aufgeklärten« und Demokratischen ein Pfaffennest von geheimem Unflat und schmählicher Heuchelei, doppelt widerlich, weil es die Vornehmen und Begüterten anging, die Gläubigen und seelisch Beeinflußbaren den alten Kampf der weltlichen Masse gegen den reineren Willen des Einzelnen und gegen jede innere Erhebung und Zuversicht. Je nach der angeblichen Gesamtstimmung siegte bald die eine, bald die andere Meinung. Die erste Instanz verurteilte Ebel und Diestel zum Amtsverlust wegen vorsätzlicher Pflichtverletzung und erklärte beide zu allen öffentlichen Ämtern für unfähig, daß Ebel wegen 141 Sektenstiftung in eine öffentliche Anstalt zu bringen und nicht eher zu entlassen sei, als bis man von seiner Besserung überzeugt sein könne.

Als die demokratische und rationalistische Partei der ersten Instanz wiederum durch eine religiöse abgelöst war und Friedrich Wilhelm IV., selbst ein schwärmerischer und von verwandten Lehren bestimmter Monarch, zur Regierung gekommen war, entschied das Obergericht mit ebenderselben Ängstlichkeit und Vorsicht, die den ganzen Prozeß kennzeichnet, daß es zwar bei der Amtsentsetzung zu verbleiben habe, daß aber Ebel von der verhängten Verwahrung in einer öffentlichen Anstalt losgezählt und von der Anschuldigung der Sektenstiftung freigesprochen werde.

Aber Ebel und die Seinen waren, so oder so, im Augenblicke, da der Staat in das tief versteckte, innerliche und zarte Gewebe dieser Beziehungen eingegriffen hatte, als Gemeinschaft vernichtet.

Ebel zog sich mit seiner Frau, mit der Gräfin von der Gröben, dem getreuen Kanitz und noch etlichen Anhängern nach Ludwigsburg zurück, wo sie allesamt als eine stille scheue Kolonie lebten. Er selbst schrieb ein paar höchst verworrene und unlesbare Schriften über seine und Schönherrs Lehren, wie auch Ida von der Gröben und Kanitz in etlichen Broschüren nachträglich auf den Prozeß und auf ihrer aller Rechtfertigung zurückkamen, aber das Eigentliche wird man sowohl in diesen Äußerungen, als in den Prozeßakten vergeblich suchen, da die Handlungen im Dunkel 142 der geheimsten menschlichen Triebe und Zusammenhänge verborgen, ja vielleicht sich selber unbewußt, vor sich gingen, und, wie immer sie gewesen sein mögen, in ihrer Dämmerung und ihrer Unbestimmtheit zerfließend, nur mehr zu deuten, nicht sinnfällig zu ergründen sind.

Bloß die ewige Wiederkehr ewiger Wünsche und den Flügelschlag einer Sehnsucht nach Überwindung des gemeinen verhängten menschlichen Schicksals glaubt man zu vernehmen, und wie dieser Fittig rauscht und für eine Zeit einen Schatten auf den Tag der Menschen wirft. Der Schatten vergeht, und unversehens nach vielen, langen Zeiten rauscht und schattet es wieder.

Die kleine Fabel läßt eine größere Angelegenheit ahnen.

Im Jahre 1861 schied Ebel aus dem Leben.

Die Grabschrift des ersten Engels, des treuen Grafen Kanitz, aber ist diese: »Der Herr ist wahrhaftig auferstanden.« 143

 


 


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