Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nach einer zweiten in der Postkutsche auf jener einsamen und verlassenen Bergstraße verbrachten Nacht erwachte ich ziemlich früh am Morgen und ging in den Wald, um Brennmaterial zu sammeln. Bei dieser Beschäftigung machte ich die Entdeckung, daß der Schnee jetzt mit einer harten Kruste bedeckt war, die mein Gewicht trug. Nachdem sich der Sturm am Tage zuvor gelegt hatte, war die Sonne herausgekommen, wodurch sich die Wärme so bedeutend gesteigert hatte, daß die oberste Schneeschicht aufgetaut worden war. Während der Nacht war es wieder sehr kalt gewesen und der Schnee war nun mit einer festen Eiskruste bedeckt. Als ich mich überzeugt hatte, daß ich überall hingehen konnte, wohin ich wollte, hielt ich Umschau. Das Bild, das die Straße bot, war indessen wenig ermutigend. Es waren Massen von Schnee niedergegangen, aber dieser würde unsrer Befreiung nur mäßige Schwierigkeiten entgegengesetzt haben, wenn der Schneefall nicht von einem so heftigen Sturm begleitet gewesen wäre. Als ich einen Punkt erreicht hatte, von wo aus man den Bergabhang auf eine weite Strecke übersehen konnte, nahm ich wahr, daß die Straße an vielen Stellen gar nicht mehr zu erkennen war, so gewaltige Schneeberge waren darauf aufgetürmt. Hierauf ging ich bis zur Vereinigung der beiden Straßen vor, überschritt diese, erstieg eine kleine Bodenerhebung, die mir die Aussicht nach dieser Richtung versperrte, und befand mich nunmehr an einem Orte, von wo ich den Bergabhang unterhalb der Straße unmittelbar übersehen konnte.
Ich hatte angenommen, dieser sei sehr schroff und zerrissen, sah nun aber, daß er sich in zwar ziemlich steiler, aber gleichmäßiger Böschung zur Ebene hinabsenkte, und der größte Teil dieser schiefen Ebene war mit einer glatten, glänzenden Decke gefrorenen Schnees überzogen, die von keinem Felsen oder Baum unterbrochen wurde. Diese Schneefläche hatte anscheinend eine Meile oder etwas mehr Ausdehnung und ging dann allmählich in den braungrünen Rasen des Tieflands über. Da unten im Thale hingen noch Blätter an den Bäumen, und hie und da zeigten sich Stellen, die noch ganz grün waren. Der Wind, der hier oben den Schnee zusammengetrieben, hatte da unten Regen gebracht und alles erfrischt. Es war, als ob man in ein wärmeres Klima, in ein andres Land hinabschaue. Hinter einer kleinen Baumgruppe stieg Rauch empor. Dort mußte ein Haus sein! War es möglich, daß wir uns nur eine oder zwei Meilen von einer menschlichen Wohnung befanden? Die Leute in jenem Hause konnten nicht zu uns gelangen, ebensowenig als wir zu ihnen: auch konnten sie nichts von unsrer Lage gehört haben, denn der Punkt, wo unsre Straße das Tiefland erreichte, lag Meilen weiter. Und doch, welcher Trost lag in dem Gedanken, daß uns Menschen nahe waren!
Während ich so dastand und hinabblickte, kam mir der Gedanke, ich könne einen Anlauf nehmen und den Bergabhang hinabgleiten, hinab in die grünen Felder, in Sicherheit, ins Leben. Ich erinnerte mich der wilden Krieger, die, von den schneebedeckten Gipfeln der Alpen in die fruchtbare Ebene Oberitaliens hinabschauend, sich auf ihre Schilde setzten und hinabglitten zu Sieg und reicher Beute.
Nun stieg ein Plan in mir empor, den ich freudig willkommen hieß. Aber es war keine Zeit zu verlieren. Noch stand die Sonne nicht hoch, aber sie erhob sich an einem klaren Himmel, und wenn ihre Strahlen warm genug wurden, um die Kruste, worauf ich stand, zu schmelzen, dann war unsre letzte Aussicht auf Rettung dahin. Uns einen Weg durch tiefen, weichen Schnee zu bahnen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich eilte nach dem Wagen zurück und fand dort drei ernste, nachdenkliche Frauen ums Feuer versammelt.
Sie betrachteten die wenigen Nahrungsmittel, die auf dem Boden eines großen Korbes lagen.
»Das sin die letzten Brocken, die wir noch haben,« sagte Mrs. Aleshine zu mir, »un wenn wir etwas davon den Unglücklichen auf der andern Seite des Schneehaufens zukommen lassen – wozu wir natürlich verpflichtet sin –, dann haben wir, was ich 'ne Bettelmahlzeit nenne. Un es is unser letztes Essen, bis jemand zu uns kommt.«
»Meine lieben Freundinnen,« sprach ich und nahm meine arme Ruth bei der Hand, denn sie sah sehr bleich und kummervoll aus, »hier kann noch lange, lange Zeit niemand hergelangen, und ehe uns Hilfe erreichen könnte, wären wir alle tot. Aber erschreckt nur nicht, denn wir brauchen gar nicht zu warten, bis jemand zu uns kommt. Der Schnee ist jetzt mit einer Kruste bedeckt, die unser Gewicht tragen wird. Und so bin ich auf den Ausweg verfallen, wir könnten vielleicht den Bergabhang hinunterschlittern. An einer Stelle, wo ich eben gestanden habe, ist er nicht steiler, wenn auch viel länger, als manche Anhöhen, die zum Fahren mit Rutschschlitten benutzt werden. In wenigen Minuten können wir aus dieser Schneegegend, wo Kälte und Hunger uns mit einem baldigen Tode bedrohen, in ein Wiesenthal gelangen, wo es keinen Schnee gibt, und wo wir nicht mehr weit zu einer menschlichen Wohnung haben.«
»Ist das nicht gefährlich?« rief Ruth, meinen Arm umklammernd.
»Das glaube ich nicht,« antwortete ich. »Ich sehe keinen Grund, weshalb uns ein Unfall zustoßen sollte. Jedenfalls ist es viel weniger gefährlich, als wenn wir noch eine Stunde länger hier bleiben, denn wenn die Kruste schmilzt, ist unsre letzte Hoffnung dahin.«
»Mr. Craig,« sagte Mrs. Lecks, »was ich un Barb'ry Aleshine sin, wir sin sehr ungeschickt mit 'em Rutschschlitten. Wir haben das schon aufgegeben, seit wir kleine Mädchen in kurzen Rücken waren, un wo's nicht drauf ankam. Aber Sie wissen ja besser damit Bescheid als wir; un wenn Sie glauben, daß wir von diesem greulichen Ort fortkommen können, indem daß wir runter rutschen, dann machen wir mit, wenn Sie vorausrutschen. Wir sin Ihnen durch den Ocean gefolgt, wo nichts zwischen unsern Füßen un dem festen Grund war, als Meilen von Wasser, un wer weiß was für greuliche Fische, un wenn Sie sagen, daß das der richtige Weg is, unser Leben zu retten, dann werden wir Ihnen wieder folgen. Un was Sie sin, Mrs. Ruth, haben Sie keine Angst. Ich weiß nicht, worauf wir rutschen sollen, aber was es auch sein mag, selbst wenn's unser eignes Ich is, ich un Mrs. Aleshine, wir nehmen Sie zwischen uns, un wenn wir gegen was rennen, dann kriegen wir den Puff un nicht Sie.«
Ich war hoch erfreut, meinen Vorschlag so unbedenklich angenommen zu sehen, und wir beeilten uns, zu frühstücken, nachdem wir einen Teil unsrer Nahrungsmittel der andern Gesellschaft zugeschickt hatten. Der Herr teilte mir durch den Verbindungstunnel mit, sie seien alle ziemlich wohl, aber infolge der Kälte und des Mangels an Bewegung etwas steif. Er fragte in besorgtem Tone, ob wir Zeichen nahender Hilfe entdeckt hätten. Darauf antwortete ich, ich hätte einen Plan ausgedacht, wie wir uns aus unsrer gegenwärtigen gefährlichen Lage befreien könnten, und würde binnen kurzem zur Thür seiner Hütte kommen – denn ich könne jetzt auf dem gefrorenen Schnee gehen – und ihm alles auseinandersetzen. Meine Worte ließen sein Herz frohlocken, erwiderte er, und er werde alles thun, was in seiner Macht stehe, um mich zu unterstützen.
Nunmehr machte ich mich eifrig ans Werk. Ich nahm die Kissen aus dem Wagen, im ganzen vier, und trug sie nach dem Punkt am Rande des Abhangs, von wo ich abzufahren gedachte. Ebendahin brachte ich auch einen langen, aus roher Haut geflochtenen Lasso, den ich im Gepäckkasten entdeckt hatte. Hierauf eilte ich auf die andre Straße, die, wie früher erwähnt, etwas tiefer lag als die unsrige. Als ich zur Thür der Hütte gelangte, fand ich sie geöffnet, und der Herr hatte mit seiner Blechpfanne schon so viel von dem vorliegenden Schnee fortgeschafft, daß der Ein- und Ausgang ziemlich erleichtert war. Er erwartete mich außen und ergriff meine Hand.
»Wenn Sie einen Plan zur Rettung vorzuschlagen haben, mein Herr,« sagte er, »dann sprechen Sie rasch. Wir befinden uns in sehr gefährlicher Lage. Die beiden Damen in der Hütte können diesen Zustand nicht mehr lange ertragen, und ich nehme an, daß die Damen Ihrer Gesellschaft – wenn auch ihre Stimmen nichts davon verraten – nicht besser daran sind.«
Bis jetzt hätten meine Gefährtinnen sich sehr brav gehalten, erwiderte ich und entwickelte, ohne noch viel Worte zu verschwenden, meinen Fluchtplan.
Nachdem er ihn angehört hatte, ward er sehr ernst. »Es scheint gewagt,« sagte er, »allein es mag wohl die einzige Möglichkeit sein, wie wir den uns drohenden Gefahren entrinnen können. Wollen Sie die Güte haben, mir die Stelle zu zeigen, von wo aus Sie Ihre Beobachtungen gemacht haben?«
»Ja,« entgegnete ich, »aber mir müssen eilen. Die Sonne steigt höher, und die Kruste könnte anfangen, zu schmelzen. Es ist noch nicht wirklich Winter, wissen Sie.«
Wir gingen nun rasch an den Ort, wohin ich die Kissen getragen hatte. Der Herr betrachtete schweigend erst die schneeverwehte Straße, hierauf die ausgedehnte glatte Böschung des Bergabhangs und dann das Grün des Thales da unten, das im vollen Lichte des Tages noch freundlicher aussah. »Es bleibt uns nichts andres übrig, mein lieber Herr,« sprach er, sich mir zuwendend, »als Ihren Plan auszuführen, oder hier zu bleiben und zu sterben. Wir wollen an Ihrer Abfahrt teilnehmen, und ich stelle mich unter Ihren Befehl.«
»Zunächst,« erwiderte ich, »bringen Sie Ihre Wagenkissen hierher; und dann helfen Sie mir, sie zurecht zu machen.«
Nachdem er die drei Kissen aus der Hütte herbeigeschafft hatte, legten wir sie mit den andern auf den Schnee, so daß das Ganze eine Art von Matratze von fast quadratischer Form bildete. Hierauf banden wir sie mit dem Lasso, den wir netzartig darum schlangen, fest zusammen, bei welcher Arbeit sich mein Gefährte sehr geschickt und anstellig zeigte. Als diese rohe Matratze fertig war, ersuchte ich den Herrn, seine Damen herbeizuholen, während ich nach den meinen ging.
»Was sollen wir zum Mitnehmen zusammenpacken?« fragte Mrs. Aleshine, als ich den Wagen erreichte.
»Wir nehmen weiter nichts mit,« entgegnete ich, »als unser Geld in der Tasche und unsre Decken und Mäntel. Alles andre bleibt im Wagen und wird abgeholt, wenn die Straße frei ist.«
Mit unsern Mänteln und Tüchern auf den Armen verließen wir nun den Wagen, und als wir die andre Straße kreuzten, sahen wir den Herrn mit seinen Begleiterinnen herbeikommen. Die Damen waren dicht vermummt, aber eine von ihnen ging mit jugendlich federnden Schritten und ohne Schwierigkeit, während die andre langsam einherschritt und oft von dem Herrn unterstützt wurde.
Es hatte sich ein Wind erhoben, der die Luft mit feinen Eisnadeln, die er von dem losen Schnee am Rande des Waldes emporriß, erfüllte, und ich riet Ruth, ihren Mund zu bedecken und so wenig als möglich von dem Schneestaub einzuatmen.
»Wenn ich überhaupt Schlitten fahren soll,« sagte Mrs. Aleshine, »dann thu' ich's ebenso gern mit Fremden, als mit Bekannten, ja, noch en bißchen lieber, wenn's zum Beinbrechen kommt. Aber das muß ich doch sagen, ich möchte gerne die Bekanntschaft der Damen machen, ehe ich auf den Schlitten klettre, den« – in diesem Augenblick sah sie die Matratze – »doch nit etwa dieses Ding da vorstellen soll?«
»Barb'ry Aleshine,« antwortete Mrs. Lecks unter ihrem dicken wollenen Tuch hervor, »wenn du die Lungen erfrieren willst, dann fahr nur so fort, zu schwätzen. Anstand is Anstand, aber er kann warten, bis wir unten am Berg angekommen sin.«
Trotz dieser Ermahnung bemerkte ich, wie sowohl Mrs. Lecks als Mrs. Aleshine auf die Damen zutraten, als die beiden Gesellschaften zusammenkamen und ihnen, die unter so eigentümlichen Umständen unsre Nachbarn gewesen waren, die Hände reichten, und daß Mrs. Lecks eine halberstickte Hoffnung aussprach, daß wir wohlbehalten unten anlangen würden.
Nunmehr schob ich die Matratze, die uns als Schlitten dienen sollte, so dicht, als ratsam war, an den Rand des Abhangs und ersuchte die Gesellschaft, Platz zu nehmen. Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine setzten sich ohne Umstände und nahmen, wie sie versprochen hatten, Ruth zwischen sich. Meine junge Frau war sehr ängstlich, aber die Kaltblütigkeit ihrer Gefährtinnen und meine augenscheinliche Zuversicht in das Gelingen unsres Planes machten ihr Mut, und auch sie nahm ruhig ihren Sitz ein. Die jüngere der beiden fremden Damen trat leicht auf die Kissen und betrachtete, ehe sie sich niederließ, eine Weile das weite Schneefeld, über das wir hinabgleiten sollten. Der Anblick schien nichts Erschreckendes für sie zu haben, und sie setzte sich rasch und mit einer Miene nieder, die bewies, daß sie sich Vergnügen von dem Abenteuer versprach. Die alte Dame hingegen legte ganz andre Empfindungen an den Tag. Als der Herr sie an die Kissen führte, bebte sie erschreckt zurück und wandte ihren Blick von dem Abhang ab. Ihr Begleiter versicherte ihr, es sei unumgänglich notwendig, daß wir auf diesem Wege den Berg verließen, denn einen andern gäbe es nicht, und indem er sie zu überzeugen suchte, daß unsre Abfahrt vollkommen gefahrlos sei, zog er sie sanft zu der Matratze hin und überredete sie, sich darauf zu setzen.
Jetzt bemerkte ich zum erstenmal, daß der Herr unter einem Arm von seinem Mantel bedeckt einen Gegenstand trug. »Es wäre sehr unverständig von uns,« sagte ich sofort, »wenn wir versuchen wollten, mehr mitzunehmen, als was wir in die Taschen stecken können. Alles andre sollten wir zurücklassen, entweder in Ihrem oder in unserm Wagen; es ist ja kaum zu befürchten, daß etwas davon verloren geht. Aber selbst wenn wir Gefahr liefen, unser Gepäck zu verlieren, können wir unter den gegenwärtigen Verhältnissen keine Rücksicht darauf nehmen.«
»Mein lieber Herr,« erwiderte der Fremde sehr ernst, »ich bin mir über die Gefahren unsrer Lage ebenso klar als Sie. Unsre Koffer und alles leichtere Gepäck, das wir bei uns im Wagen hatten, habe ich zurückgelassen und werde mir weiter keine Gedanken darüber machen. Aber von dem Gegenstand, den ich hier unterm Arm trage, kann ich mich nicht trennen, und wenn ich auf diesen Kissen den Berg hinabfahre, muß er mit. Lehnen Sie es ab, mich unter dieser Bedingung mitzunehmen, dann muß ich zurückbleiben und versuchen, ein Brett oder sonst etwas zu finden, worauf ich Ihnen allein folgen kann.«
Er sprach höflich, aber mit einer Bestimmtheit, die mir zeigte, daß jeder Versuch, ihm die Sache auszureden, nutzlos sei. Wir hatten außerdem keine Zeit zu langen Verhandlungen, und wenn der Herr gewillt war, die gefährliche Schlittenfahrt mit nur einem freien Arm zu unternehmen, ging mich die Sache weiter nichts an. Ich ersuchte ihn daher, Platz zu nehmen, und ordnete die Gesellschaft so, daß je zwei Rücken an Rücken, mit über den Rand der Matratze zurückgezogenen Füßen, saßen. Ich nahm den Platz ein, der für mich als Steuermann freigelassen war. Vorher hatte ich einige Tücher aneinander geknotet, die ich jetzt der ganzen Gesellschaft unter den Armen herzog und zusammenband, denn ich war überzeugt, daß eine unsrer größten Gefahren während der Niederfahrt das Herabfallen eines oder mehrerer Personen von der Matratze sei.
Als alles bereit war, bat ich den Herrn, der mit der älteren Dame neben mir auf dem hintern Teil der Matratze saß, mir zu helfen, uns in Bewegung zu setzen, indem er mit den Absätzen in den Schnee stoße, während ich das Gleiche mit dem Stiel meiner hölzernen Schaufel thun wolle. Der erste Abstoß war etwas schwierig, aber nach ein paar Minuten hatten wir die Matratze glücklich teilweise über den Rand gebracht, und nach einigen weiteren Anstrengungen fingen wir an, bergab zu gleiten.
Die Bewegung, anfangs langsam, ward plötzlich sehr rasch, und ich hörte in meinem Rücken einen Schrei oder Ausruf; von wem, wußte ich nicht, allein ich war sicher, daß er nicht von einem Mitglied unsrer Gesellschaft kam. Ich hatte gehofft, meine Schaufel auf irgend eine Weise zur Steuerung unsres unbeholfenen Floßes oder Matratzenschlittens gebrauchen zu können, fand aber sehr bald, daß das unmöglich war, und so schossen mir über die glatte, hartgefrorene Fläche hinab, ohne daß etwas andres die Richtung unsrer Fahrt bestimmte, als die zufälligen Unebenheiten des Bergabhangs. Unsre Geschwindigkeit schien sich von Minute zu Minute zu steigern, und bald fing unser Fahrzeug auch an, sich zu drehen, so daß ich bald vorn, bald hinten war. Einmal, als wir über eine ganz besonders glatte Strecke sausten, wirbelten wir geradezu herum, so daß unsre Füße vom gemeinsamen Mittelpunkt aus nach allen Richtungen zeigten und die Absätze in der gefrorenen Kruste Kreislinien zogen. Aber Schreie oder Ausrufe waren nicht mehr zu hören. Jedes von uns klammerte sich krampfhaft an den Lasso an, der unsre Kissen zusammenhielt, und die Schnelligkeit der Bewegung nahm uns den Atem.
Hinunter sausten wir über die glatte weiße Fläche, wie ein Vogel durch die Luft. Mir schien es, als ob wir über Meilen und Meilen von Schnee dahinflögen. Manchmal war mein Gesicht bergab gerichtet, wo sich eine unabsehbare Fläche von Schnee vor mir auszubreiten schien, und dann sah ich wieder bergan, wo die anscheinend ebenso unbegrenzte Strecke sich ausdehnte, die wir schon zurückgelegt hatten.
Nach einiger Zeit, als meine Stellung einmal wieder an der Spitze der kleinen Gesellschaft war, die ihren glitzernden Weg betrachtete, bemerkte ich in einiger Entfernung vor mir eine lange Bodenerhebung oder Terrasse, die sich auf eine beträchtliche Strecke an dem Bergabhange rechts und links hinzog und das, was darunter lag den Blicken entzog. Als wir uns dieser Bodenerhebung näherten, nahm unsre Geschwindigkeit allmählich ab, und ich fing endlich an zu besorgen, daß sie nicht ausreichen würde, uns über deren Rand zu tragen und unsre Weiterfahrt zu ermöglichen. Ich rief deshalb allen, die nach hinten zu saßen, zu, mit aller Kraft gegen den Schnee zu treten, und ich versuchte mit meiner Schaufel unsre Vorwärtsbewegung zu unterstützen. Langsamer und langsamer ward unsre Fahrt, während wir uns dem höchsten Teile der Erhebung näherten. Meine Besorgnis nahm zu, daß es, wenn wir zum Stillstand kämen oder gar rückwärts glitten, sehr schwierig oder unmöglich sein würde, uns selbst und unsre Matratze diese kleine Anhöhe hinauf zu bringen. Aber der andre Herr und ich arbeiteten tapfer, und Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine stampften ihre Absätze mit solcher Kraft in den Schnee, daß wir uns beinahe ebensoviel nach der Seite, als vorwärts bewegten. In einem Augenblick war die ängstliche Spannung vorüber, und wir hielten auf dem Rücken der langen Anhöhe an. Vor uns erstreckte sich der Bergabhang bis zur Ebene, die nun nicht mehr weit entfernt war.
Ich hätte gern einige Minuten an jener Stelle verweilt, um Atem zu schöpfen und unsre weitere Niederfahrt etwas zu überlegen, allein jemand hinter mir fuhr fort, zu schieben – die Matratze glitt über den Rand der Terrasse, und wir schossen wieder bergab. Unsre Bewegung war jetzt nicht mehr so rasch, aber sie war viel unangenehmer. Die Schneeschicht war dünner und wenig oder gar nicht gefroren, und wir erreichten bald einen Streifen unbedeckten Rasens, über den wir zwar auch hinwegglitten, aber nicht ohne viele Stöße gegen Steine und andre Erhöhungen. Dann kam wieder eine Schneefläche, auf der sich unsre Abwärtsbewegung beschleunigte, und danach sah man nur noch vereinzelte Stellen, die mit Schnee bedeckt waren, und unsre Fahrt ging über eine lange, mit kurzem, teilweise trockenem Grase, das sehr glatt war, bewachsene Böschung, über die wir mit großer Geschwindigkeit hinwegflogen.
Ich hätte jetzt unsern ungefügen Schlitten gern zum Stehen gebracht und versucht, den Rest des Abstiegs zu Fuß zu bewerkstelligen; allein so sehr ich auch meine Absätze und meine Schaufel gegen den Boden stemmte, es half alles nichts. Wir sausten weiter, und die Unebenheiten des Bodens bewirkten, daß unsre Bewegung sehr unregelmäßig und deshalb unbehaglich, selbst beunruhigend ward. Wir drehten uns bald nach dieser, bald nach jener Seite, erlitten Stöße und flogen manchmal förmlich in die Luft, und der Lasso, der durch die Reibung sehr gelitten hatte, riß an verschiedenen Stellen, so daß der Augenblick nicht fern sein konnte, wo sich die Matratze in ihre ursprünglichen Bestandteile, die Wagenkissen, auflösen mußte, wenn man diese überhaupt noch Kissen nennen konnte. In der Besorgnis, daß unsre Gefahr nur größer sein würde, wenn alle zusammengebunden waren, riß ich den Knoten, der die Enden der zusammengeknüpften Tücher auf meiner Brust verband, auf, und im nächsten Augenblick schien eine allgemeine Auflösung unsres Zusammenhangs zu erfolgen. Glücklicherweise waren wir jetzt ganz nahe am Fuße des Bergabhangs angelangt, denn während einige von uns sich krampfhaft an ihre Kissen anklammerten, kugelten andre übereinander und ich wurde in die Höhe geschleudert, kam aber auf meine Füße und rannte thatsächlich bergab. Es war mir eben gelungen, anzuhalten, als der Rest der Gesellschaft kunterbunt um mich herpurzelte.
Und aus einem unförmlichen Bündel von Tüchern und Mänteln erhob sich ein Schrei: »O! Albert Dusante! Wo bist du? Lucille! Luci!«
Sofort stand die gute Mrs. Aleshine auf einem Fuß, während der andre in eine Masse von Tüchern, die hinter ihr herschleppten, verwickelt war. Ihr Hut war aufgerissen und hing ihr über die Augen; in ihrer linken Hand schwang sie ein Stück gelben Flanells, den sie im letzten tollen Absturz Mrs. Lecks irgendwo vom Leibe gerissen hatte, und in der andern ein Bündel starken trockenen Grases, an das sie sich angeklammert und das sie mit den Wurzeln ausgezogen hatte. Ihr Kleid war auf ihrem rundlichen Rücken der Länge nach aufgerissen und die an den Wurzeln des Grases hängende Erde hatte ihr Gesicht beschmutzt. Mitten in diesem Trümmerhaufen funkelten ihre Augen vor Aufregung. Auf einem Fuß vorwärts hüpfend, während die Tücher und ein Teil des Kissens hinter ihr hertanzten, schrie sie: »Die Dusantes! Das sin Dusantes!«
Dann auf den Knieen zu den beiden fremden Damen rutschend, die sich jetzt in die Arme gesunken waren, rief sie: »O, welche is Emily, un welche is Lucille?«
Ich war zu Ruth geeilt, die sich an ein Kissen geklammert hatte und nun darauf saß, als sich Mrs. Lecks, die dicht neben ihr war, auf die Füße stellte. Einer ihrer Füße hatte sich durch ihren eigenen Hut gebohrt, und ihr Anzug zeigte Spuren der wahnsinnigen Kraft, womit sich Mrs. Aleshine daran gehalten hatte, aber ihr Ausdruck war würdevoll, ihre Haltung gemessen.
»Barb'ry Aleshine!« rief sie aus. »Wenn dir diese Dusantes vom Himmel gerade vor die Füße gefallen sin, kannst du ihnen dann nicht wenigstens eine Minute Zeit lassen, sich 'mal die Rippen zu befühlen un zuzusehn, ob sie nicht Arm' un Beine gebrochen haben?«
Jetzt wandte sich die jüngere Dame an Mrs. Aleshine und sagte: »Ich bin Lucille.«
Sofort schlang die gute Frau ihre Arme um ihren Nacken. »Ich habe Sie immer am gernsten von den beiden gehabt,« flüsterte sie der erstaunten jungen Dame ins Ohr.
Nachdem ich mich versichert hatte, daß Ruth unverletzt war, eilte ich den andern zu Hilfe. Der Herr hatte sich eben von dem Kissen erhoben, auf dem er, flach auf dem Rücken liegend, über das Gras geglitten war. Unter dem Arm hielt er immer noch den Gegenstand, von dem zu trennen er sich geweigert hatte. Ich half ihm, die ältere Dame aufzurichten. Sie war arg zerstoßen und hatte große Angst ausgestanden, und wenn auch etwas geschrammt, hatte sie doch keine ernstliche Verletzung erlitten.
Ich begab mich zu einer nahen Quelle und füllte meinen ledernen Taschenbecher mit Wasser, und als ich zurückkehrte, sah ich den Herrn vor Mrs. Lecks, Mrs. Aleshine und Ruth stehen, während seine eigenen Gefährtinnen die Gruppe mit Spannung betrachteten.
»Ja,« sagte er, »ich heiße Dusante, aber warum fragen Sie mich gerade jetzt danach? Warum regt Sie das so augenscheinlich auf?«
»Warum?« rief Mrs. Lecks. »Das will ich Ihnen sagen, Herr Dusante. Mein Name is Mrs. Lecks, un das is Mrs. Aleshine, un wenn Sie der Mr. Dusante sin, der ein Haus auf 'ner einsamen Insel hat, dann müssen Sie wissen, daß dies Mrs. Craig is, die in dem Haus geheiratet hat, un der Herr, der da mit Wasser kommt, das is Mr. Craig, der Ihnen den Brief geschrieben hat, den Sie hoffentlich gefunden haben; un wenn das nicht Grund genug für uns is, wissen zu wollen, ob Sie Mr. Dusante sin, dann möchte ich wohl wissen, was es noch für Gründe geben könnte!«
»Sie sin's! Natürlich sin sie's!« rief Mrs. Aleshine. »Wie wir den Berg 'runterschossen, hatte ich immer so 'n Gefühl, daß sie uns naheständen un lieb wären, aber warum un wieso wußte ich nit. Un sie hat mir gesagt, sie wäre Lucille, un natürlich muß die andre Emily sein; aber wie sie miteinander verwandt sin –«
»Sie wollen doch nicht sagen,« unterbrach sie der Herr, uns eins nach dem andern mit tiefem Interesse anschauend, »daß dies die guten Leute sind, die mein Haus auf der Insel bewohnt haben?«
»Ganz dieselben,« rief Mrs. Aleshine. »Aber wie sin Sie mit Emily verwandt, un Lucille mit ihr?«
Der Herr trat zurück und legte den Gegenstand, den er unter dem Arm hielt, auf den Boden. Dann kam er mit ausgestreckten Händen auf mich zu.
»Und dieser Herr, dem ich so viel Dank schulde, ist Mr. Craig?« fragte er, wobei ihm Thränen in die Augen stiegen.
»Mir Dank?« entgegnete ich. »Wir verdanken Ihnen unser Leben und unser Entrinnen vom Tode mitten im Ocean.«
»O, reden Sie doch nicht davon,« antwortete er mit traurigem Ausdruck. »Sie schulden mir gar nichts. Wollte Gott, es wäre anders. Aber wir wollen jetzt nicht davon sprechen. Das ist also Mrs. Craig,« fuhr er fort, Ruth die Hand drückend – »die schöne junge Dame, deren Vermählung in meinem Hause gefeiert worden ist. Und Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine!« Dabei schüttelte er jedem die Hand. »Wie habe ich danach verlangt, Sie alle kennen zu lernen! Seit ich bei meiner Rückkehr auf die Insel die Entdeckung gemacht habe, daß Sie dort waren – ich wollte, ich könnte sagen, als meine Gäste – habe ich jeden Tag an Sie gedacht. Und wo ist der hochwürdige Herr? Und die drei Matrosen? Hoffentlich ist ihnen nichts Schlimmes zugestoßen!«
»Leider! – von dreien kann ich wenigstens sagen, leider – haben sie uns verlassen,« antwortete Mrs. Aleshine, »aber wohlbehalten. Un nun, Herr Dusante, wenn Sie uns sagen wollten, wie Sie mit Emily verwandt sin, und wie Lucille –«
»Barb'ry!« rief Mrs. Lecks, auf ihre Freundin zutretend, »willst du denn dem Herrn nicht eine Minute Zeit zum Atemholen lassen? Siehst du denn nicht, daß er ganz baff is un selber nicht weiß, ob er auf dem Kopp steht oder auf den Füßen. Wenn die beiden Damen nach der harten Rutschpartie vor deinen sichtbaren Augen tot hinfielen, während du immerfort frägst, wie sie zusammen un mit ihm verwandt sin, dann geschäh's dir ganz recht. Es wäre besser, wenn mir zusähen, ob ihnen 'was fehlt, un ob wir nichts für sie thun können.«
Nach diesen Worten trat die jüngere von Mr. Dusantes Damen rasch vor. »O, Mrs. Craig, Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine,« rief sie aus, »ich vergehe vor Verlangen, mit Ihnen bekannt zu werden.«
»Un was konträr im Gegenteil,« entgegnete Mrs. Aleshine, »ganz unser Fall is, genau so.«
»Und hier von allen Orten in der Welt,« fuhr die junge Dame fort, »gerade hier müssen wir uns treffen.«
Niemand konnte begieriger sein als ich, alles, was Dusantes betraf, zu erfahren und die wunderbare Art unsres Zusammentreffens zu besprechen, aber ich bemerkte, daß Ruth sehr blaß und angegriffen aussah, und daß die ältere der fremden Damen sich wieder auf den Boden gesetzt hatte, als ob sie vor Erschöpfung nicht mehr stehen könne. Deshalb begrüßte ich mit doppelter Freude die Unterbrechung aller weiteren Erklärungen, die durch das Erscheinen zweier im Galopp auf uns zusprengenden Reiter bewirkt wurde.
Diese gehörten zu dem Haus, dessen Rauch ich oben von der Straße aus bemerkt hatte, und einer von ihnen hatte unsre rasche Niederfahrt mit angesehen. Anfänglich hatte er den schwarzen über die Schneefläche gleitenden Gegenstand für einen losgerissenen Felsblock oder für Buschwerk gehalten, aber seine scharfen Augen hatten ihn bald erkennen lassen, daß es menschliche Wesen waren, und einen Gefährten herbeirufend, war er, so rasch Pferde eingefangen und gesattelt werden konnten, nach dem Fuße des Berges geeilt.
Die Leute waren sichtlich überrascht, als sie die Einzelheiten unsres Abenteuers erfuhren, allein da es auf der Hand lag, daß einige Personen unsrer Gesellschaft sofortiger Kräftigung und Pflege bedürftig waren, wurden alle Fragen und Antworten kurz abgemacht. Die Männer sprangen von ihren Pferden und die ältere Dame wurde auf eines davon gesetzt, das einer der Leute führte, während der andre die Reiterin stützte. Ruth bestieg das andre Pferd, und ich ging neben ihr her, um ihr zu helfen, ihren Sitz zu bewahren; aber sie hielt sich an dem hohen Sattelknopf fest, und es ging alles ganz gut. Mr. Dusante reichte seiner jüngeren Begleiterin den einen Arm und trug seinen Pack unter dem andern, während Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine, die sich inzwischen von den lästigen Tüchern befreit hatten, folgten. Die Männer hatten sich erboten, mit den Pferden zurückzukommen, um sie abzuholen, allein die beiden Frauen erklärten, sie könnten sehr gut gehen und hätten keine Lust, zu warten, und so schritten sie rüstig hinter uns her. Die Sonne stand schon hoch, und die Luft hier unten war ganz anders als oben auf dem Berge, sehr weich und fast warm. Die Leute meinten auch, der Schnee werde sehr bald da oben tauen, da man um diese Jahreszeit noch kein längeres Liegenbleiben auf diesen niedrigeren Bergketten erwarten könne.
Etwa eine Meile lang führte unser Weg über eine fast wagrechte Ebene. Teilweise war er indes ziemlich rauh, so daß wir alle sehr froh waren, als wir das niedrige Haus erreichten, das unser Ziel war. Es gehörte den beiden Männern, die hier eine kleine »Ranch« besaßen Unter Ranch wird im Westen der Vereinigten Staaten eine große, hauptsächlich mit Gras bewachsene Besitzung verstanden, die zur Zucht von Rindvieh und Pferden benützt wird. Anm. d. Uebers.. Einer von ihnen war verheiratet, und seine Frau machte sich sofort daran, für uns zu sorgen. Das Haus war klein, seine Zimmer gering an Zahl, die Speisekammer nur mit sehr einfachen Lebensmitteln ausgestattet, aber alles, was die Leute hatten, wurde uns zur Verfügung gestellt. Ihr eigenes Bett erhielt die älteste der Dusanteschen Damen, die augenblicklich davon Besitz ergriff, und nach einem rasch bereiteten Mahle aus gebratenem Schweinefleisch, Maisbrot und Kaffee streckten wir andern uns zur Ruhe nieder, wo wir Platz fanden. Ehe ich mich jedoch niederlegte, veranlaßte ich auf Ruths dringende Bitte einen der Männer, nach der Bahnstation zu reiten, um sich nach Mr. Enderton zu erkundigen und ihm mitzuteilen, wir seien in Sicherheit. Auf einer Straße, die mit der Bergkette in einiger Entfernung davon parallel lief, könne man, wie der Mann sagte, die Station erreichen, ohne auf Schnee zu stoßen.
Niemand von uns hatte während der letzten zwei Nächte wirkliche Ruhe gefunden, und schliefen wir sehr fest bis zum Dunkelwerden, wo wir zum Abendessen geweckt wurden. Wir alle, mit Ausnahme der älteren Dame, die vorzog, zu Bett zu bleiben, versammelten uns am Tische. Nach dem Essen wurde ein großes Reisigfeuer auf dem Herde angezündet, was im Verein mit zwei Lichtern und einer Lampe das niedrige Zimmer sehr hell und freundlich machte. Wir setzten uns auf Stühlen, Schemeln und Kisten – was wir eben finden konnten – um das Feuer herum, denn die Nacht war kalt, und hatten nicht sobald Platz genommen, als Mrs. Aleshine begann: »Nun, Mr. Dusante, geht's über sterbliche Männerkräfte, un Weiberkräfte auch – umgekehrt wär's vielleicht richtiger – noch länger zu warten, bis wir hören, wie Lucille un Emily zusammen verwandt sin und Sie mit ihnen, un was Sie uns über das Haus auf der Insel zu sagen wissen. Wenn ich heut vor zurückgehaltener Neugier zerplatzt wäre, hätt's mich gar nit gewundert. Un wenn nit der lange Schlaf gewesen wäre, ich hätte es, glaube ich, nit erwarten können.«
»Ganz meine Meinung,« sagte Mrs. Lecks, »un wenn ich auch weiß, daß alles seine Zeit hat, un daß es nichts nützen kann, müde Menschen mit Fragen zu bombardieren, so glaube ich doch, Mr. Dusante, ich hätte Sie gebeten, sich über diesen Punkt auszuquetschen, wenn ich Sie hätte einholen können, als wir auf dem Wege hierher waren. Aber Sie haben lange Beine, un Mrs. Aleshine hat kurze, un allein lassen konnte ich sie doch nicht.«
»Sie wäre auch nit allein geblieben,« entgegnete Mrs. Aleshine, »lange Beine oder kurze.«
Ruth und ich stimmten der Bitte, daß Mr. Dusante seine Geschichte erzählen möchte, zu, und der gute Mann von der Ranch und seine Frau meinten, wenn's an Geschichten erzählen ginge, dann wären sie mit dabei. Sie waren damit beschäftigt, das Geschirr vom Abendessen aufzuräumen, unterbrachen aber diese Arbeit, schleppten einen alten Koffer aus dem andern Zimmer herbei und setzten sich hinter Mrs. Lecks.
Die jüngere Dame, die, von ihren Umhüllungen, ihrem Schleier und dem wollenen Tuch, das ihren Kopf schützte, befreit, sich als ein sehr hübsches junges Mädchen mit schwarzen Augen entpuppte, erklärte jetzt, es sei ihre Absicht gewesen, uns bei der ersten Gelegenheit zu bitten, unsre Erlebnisse zu erzählen, aber da wir zuerst gebeten hatten, müßten wir wohl auch zuerst befriedigt werden.
»Ich will, meine lieben Freunde,« hob Mr. Dusante an, »die Befriedigung Ihrer sehr begreiflichen Wißbegierde in betreff meiner und meiner Familie nicht einen Augenblick länger verzögern als nötig ist, allein ich muß doch sagen, daß, wenn mir auch Ihr Brief, mein Herr, eine ziemlich klare Schilderung Ihres Besuchs auf meiner Insel geliefert hat, es doch noch vieles gibt, was sich naturgemäß nicht in den engen Rahmen eines Briefes fassen ließ, das zu hören ich aber sehr begierig bin. Indessen wollen wir das bis zur Beendigung meiner Erzählung verschieben.
»Mein Name ist Albert Dusante. Es interessiert Sie vielleicht zu hören, daß mein Vater ein Franzose, meine Mutter eine Amerikanerin aus den New England Staaten war. Ich bin zwar in Frankreich geboren, habe aber nur wenig dort gelebt und bin während des größten Teils meines Lebens Kaufmann in Honolulu gewesen. Während der letzten Jahre war ich jedoch in der Lage, mich in gewissem Maße von den Anstrengungen des Geschäfts frei zu machen und das Leben eines Mannes ohne bestimmte Beschäftigung zu führen. Ich war nie verheiratet und diese junge Dame ist meine Schwester.«
»Wie is sie also,« begann Mrs. Aleshine, »mit –«
Doch in diesem Augenblick fiel Mrs. Lecks' Hand schwer auf den Schoß der Sprecherin, und Mr. Dusante fuhr fort: »Unsre Eltern starben, als Lucille noch ganz klein war, und wir haben keine nahen Blutsverwandten.«
Bei diesen Worten nahmen Mrs. Aleshines und Mrs. Lecks' Gesichter einen Ausdruck an, als ob sie einen in unbekannter Handschrift geschriebenen Brief erhalten hätten und sich den Kopf zerbrächen, von wem er wohl sein könne.
»Die Dame, die jetzt im Nebenzimmer der Ruhe pflegt,« sprach Mr. Dusante weiter, »ist eine liebe Freundin, die ich als Mutter adoptiert habe.«
»Na, das muß ich sagen,« brachen hier Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine so gleichzeitig und in so gleichem Tonfall aus, als ob es eine Antwort im Gottesdienst gewesen wäre, während Miß Lucille sich an die Wand, vor der sie saß, lehnte und lustig lachte. Mr. Dusante jedoch setzte seine Erzählung mit demselben ruhigen Ernst fort, womit er sie begonnen hatte.
»Die Dame war mit meiner Mutter innig befreundet, obschon jünger als diese. Ich adoptierte sie als Mutter für meine kleine verwaiste Schwester und brachte sie dadurch in dieselben mütterlichen Beziehungen zu mir selbst, und ich that das mit tiefer Genugthuung, in der Hoffnung, dadurch einigermaßen die zärtliche Sorge und Liebe, die sie als Mutter Lucille angedeihen ließ, vergelten zu können.«
»Un sie is Emily?« rief Mrs. Aleshine.
»Sie hat unsern Namen angenommen,« entgegnete der Sprecher, »und heißt Mrs. Emily Dusante.«
»Un Ihre adoptierte Mutter?« fragte Mrs. Aleshine.
»Adoptierte Mutter!« stieß Mrs. Lecks hervor.
»Ja,« antwortete Mr. Dusante.
»Un das is die einzige Art, wie sie mit Ihnen beiden verwandt is?« fragte Mrs. Lecks.
»Un Sie mit ihr?« fügte Mrs. Aleshine hinzu.
»Ganz gewiß,« antwortete Mr. Dusante.
Mrs. Lecks lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, faltete die Hände im Schoß und rief leise: »Das geht denn doch über die Hutschnur!« und dann gab sie ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck, als ob sie für jetzt nicht mehr über die Sache reden wolle.
»Eins is sicher,« bemerkte Mrs. Aleshine in einem Ton, der bewies, daß ihr nichts daran lag, wer sie hörte, »ich habe Lucille immer am gernsten gehabt.«
Bei diesen Worten wechselten Ruth und ich ein Lächeln mit Miß Lucille, und Mr. Dusante fuhr fort: »Ich will Ihre Zeit nicht allzuviel mit unsern persönlichen Verhältnissen in Anspruch nehmen und deshalb nur erwähnen, daß ich die Insel, worauf Sie Zuflucht gefunden haben und wo ich von Herzen gerne als Ihr Gastfreund gegenwärtig gewesen märe, als eine Zufluchtsstätte vor den Verdrießlichkeiten des Geschäftslebens und den Ansprüchen der Gesellschaft gekauft habe. Ich habe dort ein gutes Haus gebaut –«
»Was es allerdings war,« warf Mrs. Aleshine ein, »mit Wasserleitung un Abfluß, was ich nie in einem Hause so weit von der Stadt gesehen habe.«
»Ich richtete es angemessen ein,« sprach Mr. Dusante weiter. »Wir hatten Bücher und Noten, und mehrere Jahre lang brachten wir gewissermaßen unsre Ferien dort zu, die sehr angenehm und ersprießlich waren. In der letzten Zeit fand meine Schwester jedoch den Ort zu einsam. Wir sind deshalb viel gereist und haben weniger und meist nur kurze Besuche auf der Insel gemacht.
»Da ich niemand zumuten mochte, während unsrer Abwesenheit allein dort zu bleiben, brachten wir die eisernen Stangen in der einzigen Oeffnung des Riffs an, in der Absicht, Plünderungsbesuche von Fischerbooten und andern kleinen Fahrzeugen, die vorbeikommen mochten, zu verhindern. Da die Insel nicht im Bereich des gewöhnlichen Schiffsverkehrs lag, kam mir gar nicht in den Sinn, daß meine Stangen ein Hindernis für unglückliche Schiffbrüchige sein könnten, die dort Zuflucht suchten.«
»Was sie auch gar nicht waren,« bemerkte Mrs. Aleshine, »denn wir duckerten drunter weg.«
»Ich habe mir nie darüber klar werden können,« fuhr Mr. Dusante fort, »und ich hoffe, Sie werden es mir seinerzeit erklären, wie Sie über meine Stangen weggekommen sind, ohne sie zu entfernen, und ich habe eine schwere Last auf dem Gewissen gehabt, seit ich entdeckt habe, daß Schiffbrüchige, die in meinem Hause Zuflucht vor den Gefahren der See suchten, diese ungastlichen Stangen in ihrem Wege fanden –«
»Welche Last Sie ruhig abwerfen und vergessen können,« sagte Mrs. Lecks, deren festgewurzelte Ansichten über die Rechte des Besitzes sie zu sprechen zwangen, »denn wenn ein Mensch nicht einmal das Recht haben soll, sein Haus zuzuschließen, wenn er fortgeht un es verläßt, dann möchte ich wissen, was er überhaupt noch für Rechte hat. Ich un Mrs. Aleshine un sonst jemand hier könnten ebenso gut auf Reisen oder zum Besuchmachen in die Stadt gehn un die Hausthür unverschlossen oder das Hofthor sperrangelweit offen lassen, weil wir fürchteten, daß irgend ein Strolch oder jemand, der kein Haus hat, vorbeikommen un dann nicht reintreten und sich's bequem machen könnte. Als Sie, Herr Dusante, das Haus und all Ihr Hab un Gut auf der Insel verließen, war es Ihre Pflicht, alles fest un sicher zu machen, un die Pflicht der Leute, die in den Schiffen segelten, war es, auf ihrem richtigen Weg zu bleiben un sich nicht anzurempeln. Und wenn die Schiffer das nicht für nötig hielten un deshalb in die Patsche kamen, dann mußten sie nach ner Insel gehn, wo Leute waren, die sich um sie kümmern konnten, gerade so wie die Strolche ins Armenhaus gehören. Un das hätten wir auch gethan, – das heißt, ich meine nicht das Armenhaus – wenn wir nicht so überschlau gewesen wären, in das lecke Boot zu klettern, womit ich aber, wohlverstanden, durchaus nichts gegen Mr. Craig gesagt haben will.«
»So is es,« stimmte Mrs. Aleshine bei, »denn niemand hat ein Recht, sich zu beklagen, wenn ein Mitchrist sein Haus hinter sich zuschließt. Aber es scheint mir, Mr. Dusante, daß es in so ner einsamen Gegend, wie Ihre Insel, ganz gut wäre, wenn Sie was zu essen und zu trinken – vielleicht in ner Flasche oder nem Blecheimer – außerhalb Ihrer Stangen ließen, für solche, die schiffbrüchig vorbeifahren un nit im stand sind, rein zu gelangen, weil sie in nem Boot kommen un nit wie wir auf Schwimmgürteln; un wenn sie dann finden, daß sie weiter reisen müssen, dann haben sie doch was, das sie bei Kräften hält, bis sie das nächste Haus erreichen.«
»Höre mal, Barb'ry Aleshine,« entgegnete Mrs. Lecks, »wenn du mal wieder ne Reise nach Japan oder sonst wohin machst, dann kannst du ja Fleischpasteten un belegte Butterbrote auf die Spitzen deines Lattenzaunes für die Stromer, die vorbeikommen un Hunger haben, stecken, un dann kannst du so reden. Da's aber noch nicht soweit is, wollen wir erst mal den Nest von Mr. Dusantes Geschichte hören.«
»Unser erster diesjähriger Besuch auf der Insel,« fuhr der Erzähler fort, »war nur kurz, da wir alle wünschten, eine ausgedehnte Seereise mit meiner Dampfjacht zu machen. Wir besuchten einige interessante Punkte, und als wir gerade heute vor sechs Wochen zurückkehrten –«
»Genau eine Woche weniger ein Tag,« sagte Mrs, Lecks, »nachdem wir den Ort verlassen hatten!«
»Wenn ich gewußt hätte,« rief Mrs. Aleshine aufspringend, »daß Sie sobald zurückkämen, hätte ich die Matrosen mit Fisch gefüttert, un ich selbst hätte Grünzeug gegessen, un ich will verhext sein, wenn dann das Mehl nit noch sechs Tage für die andern gelangt hatte, un wenn ich mir auch hätte das Fleisch von den Fingern arbeiten müssen!« Und dann setzte sie sich feierlich wieder hin.
»Als wir zurückkehrten,« fuhr Mr. Dusante fort, »freute ich mich, die Stangen unversehrt zu finden, und nachdem sie aufgeschlossen waren und das Boot meiner Jacht uns und unsre Dienerschaft ans Land gebracht hatte, waren wir angenehm überrascht, zu bemerken, daß überall Ordnung herrschte. Auf unserm Weg von der Landungsbrücke nach dem Haus schienen nicht einmal abgefallene Zweige oder Unkraut anzudeuten, daß wir mehr als zwei Monate abwesend gewesen waren. Beim Eintritt ins Haus gingen meine Mutter und Schwester sofort hinauf nach ihren Stuben, und als sie die Fenster geöffnet hatten, hörte ich, wie sie Bemerkungen über die Frische und Sauberkeit der Zimmer austauschten. Ich begab mich nach der Bibliothek, und als ich hier Licht eingelassen hatte, fiel mir ein gewisser eigentümlicher Hauch von Ordnung auf, der den Raum zu erfüllen schien. Die Bücher standen in merkwürdiger Regelmäßigkeit auf den Borten, und die Stühle und sonstigen Möbel waren mit einer Symmetrie aufgestellt, die mir ungewohnt war. In diesem Augenblick, Mr. Craig, bemerkte ich Ihren an mich gerichteten Brief auf dem Tisch. Höchst erstaunt öffnete und las ich ihn.
»Als ich geendet hatte, war meine Verwunderung wahrlich groß, aber einem augenblicklichen Triebe folgend, trat ich ins Eßzimmer, das ein Bedienter inzwischen geöffnet hatte, und nahm den Ingwertopf vom Kaminsims. Sie können sich meinen Gemütszustand vorstellen, als ich das Geld unter dem kleinen braunen Papierpäckchen fand. Ich habe es nicht gezählt, noch überhaupt angerührt, sondern lehrte, es wieder mit dem Papier bedeckend, das, glaube ich, Angelhaken enthält, mit dem Topf in der Hand in die Bibliothek zurück, wo ich mich niedersetzte und über diese erstaunlichen Enthüllungen nachdachte. Während ich noch dasaß, traten meine Mutter und meine Schwester hastig ein, Lucille behauptete sehr aufgeregt, sie glaube, während unsrer Abwesenheit seien Wichtelmännchen oder Feen dagewesen und hätten das Haus in Ordnung gehalten. Alles sei tatsächlich sauberer, als bei unserer Abreise, Sie hatte ein leichtes Sommerkleid aus dem Schrank genommen und gefunden, daß es geradezu so aussah, als ob es eben aus den Händen der Wäscherinnen gekommen wäre, mit besser geplätteten und getollten Garnierungen, als sie jemals gewesen waren, seit es gemacht worden war. ›Albert,‹ sagte meine Mutter ganz blaß, ›es ist jemand im Hause gewesen!‹ Dann erzählte sie mir, daß die Fenster, die wir bei unsrer etwas eiligen Abreise ungeputzt zurückgelassen hatten, so spiegelblank und rein seien, als ob sie die Mädchen eben gesäubert hätten, die Fußböden und Möbel seien reiner und staubfreier als je zuvor, und das ganze Haus sähe aus, als ob wir's erst gestern verlassen hätten. ›Wirklich,‹ sagte sie, ›es ist übernatürlich rein!‹«
Während dieses Teils von Mr. Dusantes Erzählung saßen Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine sehr stille, mit einer Miene gelassener Bescheidenheit auf ihren Gesichtern, aber man konnte an dem stolzen Leuchten ihrer Augen sehen, daß sie sich ihrer Ueberlegenheit über gewöhnliche Frauen wohl bewußt, wenn auch passender Weise entschlossen waren, diese Empfindung nicht zu verraten,
»In diesem Augenblick,« fuhr Mr. Dusante fort, »kam die Köchin in das Zimmer gestürzt und berichtete, daß das Mehl verschwunden und überhaupt fast gar keine Lebensmittel mehr in den Vorratskammern seien. Meine Mutter und meine Schwester, die wußten, daß reichliche Vorräte bei unsrer Abreise vorhanden gewesen waren, starrten sich bei dieser Nachricht sprachlos an. Aber ehe sie Worte für ihre Betroffenheit fanden, redete ich sie an. ›Liebe Mutter,‹ sprach ich, ›und Lucille, es sind allerdings Leute hier im Hause gewesen. Dieser Brief benachrichtigt mich, daß acht Personen einige Wochen hier unter diesem Dache gewohnt haben, eine Trauung ist währenddessen vollzogen worden, und das glückliche junge Paar ist durch unsre Thür ins Leben getreten. Diese acht Leute haben unsre Lebensmittel verzehrt, sie haben unsre Sachen benutzt und dies ist eine Zeitlang ihre Heimat gewesen. Aber es sind gute Menschen, ehrlich und treuherzig, denn sie haben das Haus in einem besseren Zustand zurückgelassen, als sie es gefunden haben, und mehr als der Geldwert dessen, was sie verbraucht haben, befindet sich hier in diesem Ingwertopf.‹ Und darauf las ich ihnen Ihren Brief vor, Mr. Craig.
»Ich bin nicht im stande, Ihnen die Verwunderung und das tiefe Interesse zu schildern, womit dieser Brief uns erfüllte. Alle Vorräte, deren wir bedurften, wurden von der Jacht, die außerhalb des Riffs vor Anker lag, herbeigeschafft, und wir begannen unser gewohntes Leben auf der Insel, aber keine der Beschäftigungen oder Vergnügungen, die sonst unsre Zeit ausfüllten, besaß etwas Anziehendes für uns. Unser Gemüt war mit den Gedanken an die Menschen beschäftigt, die in so eigentümlicher Weise in Beziehungen zu uns getreten und uns doch ganz unbekannt waren, und unsre Gespräche drehten sich hauptsächlich darum, was für Leute es wohl sein möchten, ob wir sie wohl jemals kennen lernen würden oder nicht, und ähnliches.«
»Ja, wahrhaftig!« rief Miß Lucille, »ich habe Tag und Nacht an Sie gedacht und Sie mir in den verschiedensten Arten ausgemalt, aber niemals so wie Sie nun wirklich sind. Manchmal dachte ich, das Boot, worin Sie abgereist sind, sei vielleicht in einem Sturm untergegangen, und Sie seien alle ertrunken, und nun würden Ihre Geister zurückkehren und in unsrem Hause wohnen, in unsren Betten schlafen, unsre Fenster putzen, unsre Wäsche waschen und bügeln und alles Mögliche in der Nacht anstellen.«
»Grundgütiger Himmel!« rief Mrs. Aleshine, »sprechen Sie doch nit so! Der Gedanke, ein kalter Geist zu sein und im Dunkeln zu waschen und zu bügeln, is ja schlimmer, als 'nen Schneeberg runter zu rutschen, selbst wenn man's auf dem bloßen – Rücken thun müßte.«
»Barb'ry!« sagte Mrs. Lecks streng.
»Na ja, es überläuft einen ja eiskalt bei dem Gedanken,« erwiderte ihre Freundin, ohne sich einschüchtern zu lassen.
»Zweierlei, was mit dieser Angelegenheit in Verbindung steht,« fuhr Mr. Dusante fort, »hat mich sehr bedrückt. Eins davon habe ich schon erwähnt – die schreckliche Ungastlichkeit der gesperrten Einfahrt.«
Ich hatte mich bis jetzt gescheut, Mr. Dusantes Erzählung noch öfter zu unterbrechen, fühlte mich aber jetzt verpflichtet, ihm in meiner Frau und meinem eigenen Namen zu versichern, mir feien ganz Mrs, Lecks' und Mrs, Aleshines Ansicht, daß es durchaus nicht zu tadeln sei, wenn er sein Eigentum auf jede Weise zu schützen suche.
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen,« entgegnete er, »aber ich will Ihnen doch mitteilen, daß jetzt keine Stangen mehr dort sind. Ich habe einige Leute auf der Insel gelassen, die mein Eigentum beaufsichtigen und etwa dort ankommende unglückliche Schiffbrüchige verpflegen sollen. Allein die andre Angelegenheit, worauf ich angespielt habe, bedrückt mich viel schwerer. Das ist das Geld in dem Ingwertopf. Der Gedanke, daß die Gastfreundschaft, die ich euch Schiffbrüchigen so gern geboten hatte, mit hartem baren Geld bezahlt worden, ist mir unerträglich. Alle meine Empfindungen lehnen sich dagegen auf. Ich war betrübt; ich schämte mich. Endlich beschloß ich, mich von dem Makel der Ungastlichkeit Zu befreien, und mit dem Ingwertopf in der Hand, wenn nötig, die ganze Welt nach den Leuten, die Kostgeld an mich bezahlt hatten, zu durchsuchen und ihnen den Topf mit seinem ungezählten und unberührten Inhalt wieder zuzustellen. Aus Ihrem Brief hatte ich den Namen der Insel erfahren, die Ihr erstes Ziel war, und falls ich Sie dort nicht mehr traf, konnte ich hören, nach welchem Hafen Sie abgereist waren. Dort konnte ich weitere Nachforschungen anstellen und Ihnen folgen. Als ich meiner Familie diesen Vorschlag machte, stimmte sie sofort freudig zu, denn ihr Interesse an der Sache war ebensogroß als das meine, und nach ein oder zwei Tagen traten wir unsre Forschungsreise an.
»Bis nach San Franzisko fand ich Ihre Spur ohne Mühe, ebenso den Gasthof, worin Sie dort gewohnt hatten. Hier erhielt ich die weitere Nachricht, daß Sie nach dem Osten abgereist seien, und man hielt Philadelphia für Ihr Reiseziel. Ich hatte Sie vor Ihrer Abreise aus Californien zu erreichen gehofft. Da ich nunmehr annahm, daß Sie Ihr Ziel bereits erreicht oder wenigstens einen großen Teil des Weges dahin schon zurückgelegt hätten, gab ich den Bitten meiner Schwester nach und machte mit den Damen einige Ausflüge in dem an Naturwundern so reichen Lande, in der Absicht, Ihnen später nach Philadelphia zu folgen und Sie, Mr. Craig, dort durch Anzeigen in den Zeitungen ausfindig zu machen, wenn es auf andre Weise nicht gelänge. Durch den wunderbarsten und glücklichsten Zufall haben wir Sie indessen schon so bald getroffen, wofür ich niemals dankbar genug dafür sein kann.«
»Und mir auch nicht,« entgegnete ich ernst, »denn unsre so ersehnte Bekanntschaft mit Ihnen konnte gar nicht früh genug beginnen,«
»Und nun,« fuhr Mr. Dusante fort, »will ich die Pflicht, die der Zweck meiner Reise war, erfüllen, und ich versichere Ihnen, es ist mir eine große Freude, diesen ernsten Vorsatz so bald ausführen zu können.«
Hierauf nahm er den Gegenstand, den er während unsrer raschen und gefährlichen Niederfahrt den Bergabhang herab so sorgfältig gehütet hatte, neben sich vom Boden auf, wo er ihn seitdem bewahrt hatte. Er stellte ihn auf sein Knie, entfernte zunächst das leichte Tuch, worein er gehüllt war, hierauf mehrere Bogen Packpapier, und nun kam unser alter, treuer dicker Freund, der Ingwertopf, der im Eßzimmer des Inselhauses auf dem Kaminsims gestanden und dem wir unser Kostgeld anvertraut hatten, zum Vorschein.
»Es wäre mir einfach unmöglich,« sagte Mr. Dusante, »Geld zu behalten, das mir ohne mein Einverständnis für Schiffbrüchigen geleistete Hilfe bezahlt worden ist. Wäre ich auf der Insel anwesend gewesen, dann wäre Ihnen diese Hilfe von Herzen gern und selbstredend ohne Bezahlung zu teil geworden. Der Umstand, daß ich abwesend war, kann meine Empfindungen in Beziehung auf Ihre Bezahlung für die Nahrung und die Unterkunft, die Sie in meinem Hause gefunden haben, in keiner Weise berühren. Da ich aus Mr. Craigs Brief ersehen habe, daß es Mrs. Lecks war, die den Einzug und die Hinterlegung des Geldes besorgte, übergebe ich Ihnen, Madame, hiermit den Topf nebst Inhalt.«
»Un den ich,« entgegnete Mrs. Lecks, sich stramm aufrichtend und die Hände auf dem Rücken zusammenlegend, »nicht annehme. Wäre es ein Tag un eine Nacht, oder selbst zwei Nächte, un über'n Sonntag gewesen, dann wäre es nicht drauf angekommen; aber wo ich un Mrs. Aleshine – die andern können für sich selbst sprechen ^ Wochen und Wochen ohne Erlaubnis in einem fremden Herrn seinem Haus bleiben, da bezahlen wir Kostgeld, natürlich unter Anrechnung unsrer Arbeit. Gute Nacht.«
Dabei stand sie auf und ging mit hocherhobenem Haupte ins Nebenzimmer.
»Das is ja ganz schön un gut, Mr. Dusante,« sagte Mrs. Aleshine, »daß Sie versuchen auszuführen, was Sie für richtig halten, aber wir haben unsre Ansichten über das, was unsre Pflicht is, un Sie haben sie über Ihre Pflicht, un damit sin unsre Gewissen beruhigt. Gute Nacht.«
Und sie folgte ihrer Freundin.
Mr. Dusante sah überrascht und bekümmert aus und wandte sich an mich. »Mein lieber Herr,« sprach ich, »diese beiden guten Frauen sind sehr zartfühlend in Beziehung auf Recht und Billigkeit, und ich glaube, es wäre am besten, wenn Sie sie mit der Sache in Ruhe ließen. Was meine Frau und mich betrifft, wir müssen es ablehnen, Geld anzuführen, das Mrs. Lecks unter der Voraussetzung in den Topf gelegt hat, daß niemand als Sie oder Ihre Familie es wieder herausnehmen würde.«
»Sehr schön, Mr. Craig,« versetzte Mr. Dusante, »ich will die Sache für jetzt auf sich beruhen lassen. Aber Sie gestatten mir wohl auszusprechen, daß ich in Beziehung auf Recht und Billigkeit ebenfalls sehr zartfühlend bin.«
Früh am nächsten Morgen kehrte der Mann, den wir nach der Bahnstation geschickt hatten, mit der Nachricht zurück, daß wir bald mit einem vierspännigen Wagen abgeholt werden sollten. Auch einen Brief von Mr. Enderton an Ruth brachte er mit. Er schrieb seiner Tochter, er habe sich wegen des Ungemachs, das sie in der verlassenen Postkutsche ausgestanden, Sorgen gemacht, sich jedoch mit der Hoffnung getröstet, daß der Schnee, der seine Rückkehr mit Hilfsmannschaft verhindert habe, an der hohen Stelle, wo wir liegen geblieben waren, nur leicht gefallen sei, und er habe sich darauf verlassen, daß Mr. Craig daran gedacht, irgendwo in der Nähe des Wagens ein Feuer anzumachen, woran sich seine Tochter habe wärmen können, und daß die Lebensmittel, wovon wir, wie er wisse, einen ansehnlichen Vorrat besäßen, entsprechend zubereitet und ihr zur rechten Zeit verabreicht worden seien. Diese Sorge, schrieb er, hätte seine eigene Beunruhigung sehr gesteigert, die durch die heftigen Schmähungen und unbegründeten Forderungen des Kutschers hervorgerufen worden fei, der es sich habe beikommen lassen, mit seinen Schimpfereien über ihn herzufallen, und fast zu Thätlichkeit geschritten wäre, wenn die Umstehenden es nicht verhindert und er sich nicht in seinem Zimmer eingeschlossen hätte. Er sei indessen jetzt durch den Weggang besagten Kutschers und durch die Nachricht beruhigt, daß seine Tochter in Sicherheit sei, was er übrigens für selbstverständlich gehalten, da der Unfall sich auf einer gewöhnlichen Fahrstraße ereignet habe.
Während wir auf die Ankunft des Wagens warteten, erzählten wir Dusantes ganz ausführlich, Mrs. Lecks', Mrs. Aleshines und meine Abenteuer seit unsrer Abreise von Amerika, ebenso wie die, welche Ruth und ihr Vater erlebt, seit sie China verlassen hatten, eine Erzählung, die Dusantes aufs höchste interessierte und zu vielen Fragen veranlaßte.
Mrs. Dusante, die sich infolge der guten Nachtruhe von ihrer nervösen Schwäche erholt hatte und erklärte, sie sei, wenn auch immer noch etwas steif und zerschlagen, wieder Vollkommen wohl, erwies sich als eine sehr liebenswürdige Dame von etwa fünfundfünfzig Jahren. Sie war von ruhigem Wesen, aber Sprache und Benehmen bewiesen, daß sie in früheren Jahren wenigstens eine Dame der Gesellschaft gewesen war, und ich fand bald, daß sie sich sehr für Charakterstudien interessierte. Diese Neigung zeigte sich besonders in Beziehung auf Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine, die sie augenscheinlich für zwei ganz ungewöhnliche Frauen hielt. Empfand sie etwas wie Bewunderung für sie, so wurden diese Empfindungen indes nicht mit gleicher Münze vergolten; Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine hatten nur eine geringe Meinung von ihr.
»Es gibt Schwiegermütter un Stiefmütter un rechte Mütter un Großmütter und manchmal sogar lebendige Urgroßmütter,« vertraute mir Mrs. Lecks leise an, »un was der Mr. Dusante is, der mag's ja wohl ganz gut meinen – daran zweifle ich nicht – un den Mut haben, was ich gar keinen Grund habe, nicht zu glauben, seine ganze Pflicht gegen seine Mitmenschen zu thun, aber das muß ich doch sagen, das Recht, 'ne neue Sorte von Müttern zu machen, hat er nicht. Kinder kann ein Mann ja freilich adoptieren, aber nach rückwärts wie hier, das geht nicht; das läuft wider das Naturgesetz un 's Evangelium.«
»Die Franzosen,« meinte Mrs. Aleshine, die dabei stand, »werden wohl Moden haben, wovon wir nichts wissen, denk' ich mir, un davor können mir nur dankbar sein. Französische Absätze und französische arsenikgrüne Bohnen habe ich nie ausstehen können, un wenn eist hierzulande das Adoptieren von Müttern einreißt, dann wird wohl 's nächste Gullotynen sein.«
»Ich begreife nicht,« entgegnete ich, »warum Sie die Familie Dusante als Franzosen betrachten. Sie sind ebensoviel Amerikaner als Franzosen.«
»Es is ja freilich nicht meine und Mrs. Aleshines Sache,« fuhr Mrs. Lecks fort, »uns als Richter über andre Leute aufzuspielen. Da, wo wir zu Hause sin, werden keine Mütter adoptiert, un wenn sie das in Frankreich oder auf den Sandwichinseln oder da hinten im Osten thun, dann geht's uns ja wohl nichts an.«
»Es wäre am besten gewesen,« sagte Mrs. Aleshine, »wenn er auch gleich einen Vater adoptiert hätte, aber dann hatte er aufpassen un einen nehmen müssen, der mit Mrs. Dusante bekannt war, damit die beiden sich nit einander fremd un doch seine Eltern gewesen wären. Das wäre 'ne schöne Geschichte geworden.«
»Wenn ich du wäre, Barb'ry Aleshine,« entgegnete Mrs. Lecks, »dann würde ich irgend 'ne Art Lappen für meinen Kopf adoptieren, 'n Adoptivhut, denn da kommt der Wagen und nu wird's ja wohl losgehen.«
Wir verabschiedeten uns von den freundlichen Besitzern der Ranch, die uns als ein Geschenk des Himmels, das etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben gebracht hatte, ansahen, und richteten uns so bequem als möglich in dem großen Wagen ein. Unsre Fahrt nach der etwa sieben bis acht Meilen entfernten Bahnstation ging langsam von statten und führte über sehr holperige Wege. Mrs. Dusante war zart und nicht an Anstrengungen gewöhnt, während Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine außerordentlich kräftig und zähe waren. Die Folge dieser Verschiedenheit war, daß ihre Herzensgüte sie dazu trieb, alles zu thun, was in ihrer Macht stand, Mrs. Dusante das Stoßen und Schwanken des Wagens nicht so sehr empfinden zu lassen, und dieser den besten Platz und die bequemste Lage zu verschaffen und die wärmsten Tücher umzulegen, damit sie das Ungemach der Fahrt nicht zu sehr angreife.
Dabei vergaßen die guten Frauen allmählich die adoptierte Mutter und sahen nur noch die liebenswürdige Dame in ihr, die ihrer Aufmerksamkeiten bedürftig war und die ein so lebhaftes und freundliches Interesse für ihre Familiengeschichte, ihre Heimat, ihre Lebensgewohnheiten und alles, was sie betraf, an den Tag legte, und noch ehe wir das Ende unsrer Fahrt erreicht hatten, plauderten die drei zusammen wie alte Freunde. Ruth und Miß Lucille schlössen sich ebenfalls aneinander an, und ich fand in Mr. Dusante einen sehr unterhaltenden Reisegefährten von ruhiger, überlegter Sprechweise, geistvollen Gedanken und sehr einnehmendem Wesen.
Als wir an der Bahnstation anlangten, wurden wir von Mr. Enderton empfangen, dessen Freude über unser Wiedersehen ziemlich mäßig war und der, besonders mir gegenüber, einen ganz unmäßigen Aerger entwickelte, als er fand, daß er das große Zimmer, das er in dem einzigen Gasthaus des kleinen Orts inne hatte, den Damen unsrer Gesellschaft abtreten müsse.
Meine Mitteilung, die Fremden seien die Dusantes, auf deren Insel wir eine Zeitlang gelebt, hörte er anfangs verständnislos an. Er hatte die Familie Dusante stets als Fabelwesen betrachtet, von Mrs. Lecks erfunden, um damit ihre Forderung, daß die Unglücklichen auf der Insel Kostgeld zahlen sollten, ein anständiges Mäntelchen umzuhängen.
Als ich ihm aber erzählte, was Mr. Dusante gethan und daß er das Kostgeld mitgebracht habe, um es zurückzuerstatten, zeigte er sofort das lebhafteste Verständnis.
»Das wundert mich keineswegs,« rief er aus, »daß der Mann in seiner Gewissensbedrängnis das Geld zurückzuerstatten wünscht. Aber daß jemand ausschlägt, was tatsächlich ihm gehört, dafür habe ich kein Verständnis! Eins ist gewiß – meinen Anteil werde ich annehmen. Fünfzehn Dollars wöchentlich hat mir das Weib für mich und meine Tochter abgenommen, und das will ich wieder haben.«.
»Mein verehrter Herr,« entgegnete ich, »Ihr Kostgeld ward auf denselben Betrag ermäßigt, den wir andern bezahlten – Vier Dollars jeder.«
»Ich entsinne mich keiner Ermäßigung,« versetzte Mr. Enderton. »Ich erinnere mich noch ganz genau der unerhörten Summe, die mir als Kostgeld auf einer einsamen Insel berechnet wurde – sie hat damals einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«
»Es ist mir peinlich, noch weiter über diese Angelegenheit zu reden,« erwiderte ich, »Sie müssen sie mit Mrs. Lecks abmachen.«
Mr. Enderton zog ein saures Gesicht und ging voll Würde fort. Als ich mir aber ausmalte, in welchem Zustand er sich zwei Minuten später befinden würde, nachdem er seine Meinung Mrs. Lecks auseinandergesetzt haben würde, mußte ich lachen.
Mr. Dusante hatte, als er von San Franzisko abreiste, um uns aufzusuchen, sein schweres Gepäck nach Ogden City vorausgeschickt, wo er einen ersten kurzen Aufenthalt zu nehmen beabsichtigt hatte. Er hatte geglaubt, wir würden vielleicht vom kürzesten Wege nach der Heimat einen Abstecher nach der Mormonenstadt machen, und wollte in diesem Fall nicht an uns vorbeifahren. Wir kamen deshalb dahin überein, alle nach Ogden City zu fahren und dort das Eintreffen unsres in dem eingeschneiten Wagen zurückgelassenen Gepäcks zu erwarten. Die nötigen Abreden wegen dessen Nachsendung, sobald die Postkutsche und der Wagen herabgeschafft sein würden, wurden mit dem Bahnhofsvorstand getroffen. Das gesamte Gepäck meiner Gesellschaft befand sich im Postwagen, aber es bestand nur aus einigen in San Franzisko gekauften Handkoffern und den Rettungsgürteln, die Mrs. Lecks und Mrs. Aleshine mit nach Haus nehmen wollten, und wenn sie auch weiter nichts mitbrächten, wie sie sagten.
Am Morgen nach unsrer Ankunft in Ogden City nahm mich Mr. Dusante beiseite. »Mr. Craig,« sagte er, »ich will Ihnen anvertrauen, was ich bezüglich des Topfes mit dem Gelde vorhabe, und hoffe, Sie werden nichts thun, um meine Absicht zu durchkreuzen. Wenn Ihr Gepäck anlangt, werden Sie und Ihre Gesellschaft Ihre Reise nach Osten ohne Zweifel fortsetzen, während wir nach San Franzisko zurückkehren werden. Aber den Topf mit seinem Inhalt lasse ich hier, um ihn an Mrs. Lecks gelangen zu lassen. Wenn Sie die Güte haben wollten, den Topf in Ihre Obhut zu nehmen und ihn an Mrs. Lecks abzuliefern, würden Sie mich zu großem Danke verpflichten.«
Ich versprach Mr. Dusante, die Ausführung seiner Absicht nicht hindern zu wollen, erklärte aber auch aufs bestimmteste, die Uebergabe des Topfes auf keinen Fall übernehmen zu können. Das Eigentumsrecht an diesem Stück Töpferware und seinem Inhalt, sei eine Streitfrage zwischen ihm und Mrs. Lecks, und mit dieser müsse er sich verständigen.
»Sehr wohl, Mr. Craig,« entgegnete er. »Ich werde die Sache so einrichten, daß wir vor Ihnen und Ihrer Gesellschaft abreisen, und werde den Topf wohlverpackt in den Händen des Oberkellners lassen, mit der Anweisung, ihn nach meiner Abreise an Mrs. Lecks auszuhändigen. Dann kann sie nicht anders, sie muß ihn annehmen.«
Es trat jetzt jemand in das Rauchzimmer, wo wir saßen, und wir sprachen nicht weiter über die Sache. Mr. Dusantes Eröffnungen machten mir großen Spaß, denn Mrs. Lecks hatte mich schon vorher ins Vertrauen bezüglich ihrer Absichten in dieser Angelegenheit gezogen. »Mr. Dusante,« hatte sie gesagt, »hat nicht 'n Sterbenswörtchen mehr wegen des Geldes in dem Ingwertopf fallen lassen, aber ich weiß ebenso genau wie er selbst, was er thun will. Wenn die Zeit zur Abreise kommt, will er sich ganz stille drücken un den Topf zurücklassen, un er meint, dann wäre ich gezwungen, ihn anzunehmen, weil niemand da is, dem ich 'n zurückgeben kann. Aber da hat er sich in 'n Finger geschnitten, ich bin noch früher aufgestanden als er. Ich habe mir nämlich Straße un Nummer seines Geschäftshauses in Honolulu von seiner Schwester sagen lassen – ich habe so ganz nebenher danach gefragt, als ob ich mir weiter nichts dabei dächte – un wenn der Topf für mich hiergelassen wird, dann pack ich 'n in 'ne Kiste, Geld un alles, un schick 'n an Mr. Dusante, un wenn er nach Honolulu kommt, dann findet er 'n dort un merkt, daß zu dem Spiel zwei gehören.«
Da ich Mr. Dusante und Mrs. Lecks beide genau kannte, malte ich mir die den Ingwertopf enthaltende Kiste aus, wie sie, mit zahlreichen halbverwischten Aufschriften bedeckt, zwischen den Sandwichinseln und Pennsylvanien während der Lebenszeit der beiden Streitenden hin- und herreiste, und falls letztwillige Verfügungen darüber getroffen wurden, wahrscheinlich noch während des größten Teils des Lebens ihrer Erben; wie die allmähliche Abnutzung der Kiste es nötig machen würde, sie in ein Ankerfäßchen einzuschließen, und das Ankerfäßchen dann in ein Eimerfaß und dieses schließlich in ein Oxhoft gepackt werden würde. Dies erschien mir so wahrscheinlich als irgend ein andres Schicksal, das den ewig wandernden Ingwertopf befallen konnte.
Wir blieben drei Tage in Ogden City. Das Wetter war inzwischen erheblich milder geworden, der Schnee in den Bergen war hinreichend geschmolzen, so daß man unsre Fuhrwerke hatte abholen können. Unser Gepäck wurde uns nachgeschickt, und beide Gesellschaften trafen Anstalten, ihre von jetzt an getrennten Wege einzuschlagen. Ein nach Osten fahrender Zug ging an dem Abend, nachdem wir unser Gepäck erhalten hatten, aber wir mochten nicht so plötzlich abreisen und entschlossen uns, noch bis zum nächsten Tage zu bleiben.
Am Abend sagte mir Mr. Dusante, er freue sich, daß zeitig am nächsten Morgen ein Zug in westlicher Richtung abfahre, so daß er und seine Familie einige Stunden vor uns abreisen würden. »Das paßt ganz vortrefflich in meinen Plan,« fuhr er fort. »Ich habe den Ingwertopf, hübsch eingewickelt und an Mrs. Lecks adressiert, dem Oberkellner übergeben, der ihn morgen früh, unmittelbar nach unsrer Abreise, an sie abliefern wird. Alle unsre Vorbereitungen sind getroffen, und wir beabsichtigen, noch heute abend Ihnen und unsern lieben Freundinnen, von denen wir, ich versichere Ihnen, nur mit großem Schmerz scheiden, lebewohl zu sagen.«
Ich hatte ihm eben erwidert, daß auch wir die Notwendigkeit der Trennung außerordentlich bedauerten, als mir ein Kellner einen Brief einhändigte. Ich öffnete ihn und fand, daß er von Mr. Enderton war und folgendermaßen lautete:
»Geehrter Herr! Ich habe mich entschlossen, nicht bis morgen hier zu bleiben, sondern mit dem heutigen Abendzug die Reise nach Osten fortzusetzen. Ich möchte gern einen Tag in Chicago bleiben, und da Sie und die andern sich wahrscheinlich dort nicht aufzuhalten wünschen, kann ich dies auf diese Weise thun, ohne Ihre Reisepläne zu stören. Mein plötzlicher Entschluß läßt mir keine Zeit, Sie alle noch einmal vor meiner Abreise zu sehen; ich habe jedoch einen eiligen Abschied von meiner Tochter genommen, und den andern wird dieser Brief die nötige Aufklärung geben.
Ich will noch erwähnen, daß ich es für passend erachtet habe, als das nach Alter und Stellung natürliche Haupt unsrer Gesellschaft, dem freundschaftlichen Streit über die Annahme und Verteilung des unter einer unentschuldbaren verkehrten Auffassung von uns für Wohnung und Beköstigung gezahlten Geldes ein Ende zu machen. Ich entdeckte nämlich, daß das Gefäß, das das Geld enthielt, in der Obhut des Oberkellners gelassen und an Mrs. Lecks adressiert worden war, die sich nicht nur geweigert hat und voraussichtlich auch ferner weigern wird, es anzunehmen, sondern die auch nach meiner Ansicht in keiner Weise berechtigt ist, es zu empfangen, zu behalten oder darüber zu verfügen. Ich habe deshalb, ohne noch weitläufige Verhandlungen darüber zu führen, das Paket mit Beschlag belegt und werde es mit nach Chicago nehmen. Wenn Sie dort eintreffen, werde ich den Inhalt den Ansprüchen jedes einzelnen entsprechend verteilen. Ich halte dies für die verständigste und beste Lösung der kleinen Schwierigkeit, die uns aus der Verfügung über dieses Geld erwachsen ist.
In Eile Ihr
David I. Enderton.
Nachschrift. Ich werde in Brandigers Hotel absteigen, wo ich Euch erwarte.«