Julius Stinde
Die Familie Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt
Julius Stinde

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Wieder ein Jahresanfang.

Hatte das Schicksal aufgehört, Steine auf den Lebenspfad der Frau Buchholz zu werfen, oder lagen andere Ursachen vor, die sie vom Schreiben abhielten, denn nach dem Briefe aus Flunderndorf hörte man nichts mehr von ihr? Der Sommer war vergangen, mit dem Herbste waren die letzten Ausflügler nach Berlin zurückgekehrt, dann hatte man angefangen einzuheizen und die Tage schrumpften ein, wie sie im Winter zu thun pflegen. Das alte Jahr rüstete sich zum Abschied, wie alle seine Vorgänger es thaten, es wurde alt und schwach und kümmerlich. Ein altes Jahr, das vor dem Abbruch steht, macht einen wehmüthigen Eindruck, wenn man bedenkt, daß es einmal jung war und auch einmal eine Kindheit hatte, gerade wie wir Menschen, die wir in Staub zerfallen, wenn wir nicht ausnahmsweise in einem Museum aufbewahrt werden.

Was aber wird aus den alten Jahren? Irgendwo müssen sie doch bleiben. Es ist freilich wahr, daß sie mit dem Glockenschlage Zwölf am Sylvester in das Meer der Vergessenheit tauchen, so habe ich wenigstens sehr oft in Blättern gelesen, an deren Aufrichtigkeit ich zu zweifeln durchaus keine Ursache habe, wenn mir auch immer unklar geblieben ist, warum die alten Jahre sich zum Baden keine wärmere Jahreszeit aussuchen?

Daß die alten Jahre aus ihrer Vergangenheit nicht wieder zurückkehren, kann man ihnen nicht verdenken, denn was wird ihnen nicht Alles nachgeredet? Gewöhnlich heißt es, daß sie schlecht waren und nichts taugten, ganz im Gegensatz zu Menschen, von denen man nach dem Tode nur Gutes spricht, mit Ausnahme von den Hingerichteten. Und mit welchem Jubel wird das neue Jahr begrüßt, von dem man höchstens weiß, ob es ein Schaltjahr ist oder nicht, und das ist wenig genug.

Nur einen jungen Mann habe ich getroffen, der nicht viel von neuen Jahren hielt. Er sagte, sie fingen stets mit Kopfschmerzen an. Das haben Andere mir bestätigt. Warum schilt man denn aber auf die alten Jahre, die meistens so fidel endigen? Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Jahre sich gar nicht ordentlich entwickeln können: – die Zeit ist ja viel zu kurz. ich sprach einmal mit einem Gelehrten darüber, ob es nicht möglich sei, die Jahre dreimal oder viermal so lang zu machen, als sie jetzt sind? Er meinte, das wäre allein wegen der Zinsen unmöglich. Der Mann ist nämlich Nationalökonom und muß es wissen. Ferner, sagte er, ginge es nicht wegen der Neujahrsrechnungen. Ich kenne aber Leute, denen es auch um Neujahr nicht einfällt, ihre Rechnungen zu bezahlen, und mußte mich daher sehr wundern, daß ein studirter Volkswirthschafter von den simpelsten Dingen keine Ahnung haben kann. Er versprach mir, bei den Geschäftsleuten von Haus zu Haus zu gehen und sich das Material für die Statistik unerledigter Conten im neuen Jahr geben zu lassen, sobald er mit der wichtigen Arbeit fertig sein würde, die er vorhätte. Er berechnete nämlich, wie hoch die Malzsteuer aufschlagen könnte, wenn es möglich wäre, die uns zugewandte Seite des Mondes mit Gerste zu bebauen. Wenn er das heraus hat, will er auch die andere Seite in Betracht ziehen, wovon er sich eine außerordentliche Wirkung auf die wissenschaftliche Welt verspricht.

Was aus den alten Jahren wird, wußte er jedoch nicht. Ich wandte mich deshalb an einige Dichter, denn die sind es, die das alte Jahr tauchen lassen. Man hat zwei Arten von Dichtern: solche, die nicht davon bleiben können, weil der Genius sie treibt, und solche, die nur um Neujahr davon befallen werden, vom Dichten nämlich. Diejenigen, welche vom Genius getrieben werden, haben die längsten Haare, weil es ihnen an Zeit gebricht, zum Friseur zu gehen. Daran erkennt man sie früh genug von Weitem, um ihnen ausweichen zu können, wenn man ihnen begegnet. Andere, welche anfallweise dichten, bereuen hinterher die mit Versemachen vergeudete Zeit, wenn die Redaktion ihnen statt des erhofften Honorars die Anzeige schickt, daß ihr Gedicht nur aus besonderer Gefälligkeit aufgenommen worden sei. Es ist eben ein Unglück, daß das Dichten vor der Patentgesetzgebung erfunden wurde. Mit den Licenzen könnte man Summen erwerben, viel größere, als mit dem patentirten Kunst-Lakritzen aus Hartgummi verdient werden, von dem eine zahlreiche Familie mit einem einzigen Stück für die ganze Lebenszeit auskommt.

Die Dichter wußten jedoch auch nicht, was aus den alten Jahren wird. Sie kümmerten sich nicht weiter um das, was sie zu Grabe gesungen hätten, sagten sie, denn die Hauptsache wäre das richtige Versmaß. Ich konnte nicht umhin, diese Äußerung für herzlos zu halten.

Zuletzt fragte ich eine liebe alte Frau mit Silberhaar und einem Antlitz, das immer noch schön ist, obgleich jedes Jahr ein kleines Fältchen darauf schrieb. Die sagte: »Mein Junge, aus den alten Jahren wird die gute alte Zeit. Sie kommen alle wieder als Erinnerung, und dann sind sie viel holder, denn je zuvor.« – »Großmama,« fragte ich, »wie ist es denn aber mit dem Tauchen?« – Sie lächelte. – »Das geht so zu,« sprach sie. »Wenn die Jahre in die Vergessenheit tauchen, dann verlieren sie alles Schlimme und Herbe, was sie brachten, und nur das Gute und Liebe, so wenig es auch sein mag, bleibt und breitet sich später wieder vor unserm geistigen Auge aus. Denkst Du noch an die Regenschauer des Tages, wenn am Abend ein herrlicher Sonnenuntergang den Himmel färbt? O nein, dann erscheint Dir der ganze Tag schön, und Du zürnst nicht mehr. So ist es auch mit den Jahren, aus denen die gute alte Zeit wird.«

Dem mag wohl so sein, denn woher soll die alte Zeit kommen, wenn nicht von den Jahren, die gewesen sind? Und nie habe ich anders gehört, als daß die alte Zeit – gut war!

Auch Frau Wilhelmine beschäftigte sich damit, den Schatz ihrer Erinnerungen durchzukramen, nachdem sie von Flunderndorf zurückgekehrt war. Sie hatte vor einigen Jahren in Begleitung von ihrem Karl und Onkel Fritz das Land Italien besucht, dessen heilsames Klima Herrn Buchholz von Dr. Wrenzchen gegen einen festen Rheumatismus verordnet worden war, und nun, da ihr die Reiseerlebnisse als gute alte Zeit erschienen, versuchte sie die im Süden erhaltenen Eindrücke auf dem Papier wiederzugeben. So entstanden »Buchholzens in Italien« und da kein Ungemach sie bei der Arbeit störte, verliefen die Tage, Wochen und Monate in Ruhe und Frieden. Vielleicht auch blieb Frau Buchholz unbehelligt, weil sie zum Aufstöbern von Widerwärtigkeiten zu wenig Zeit hatte.

Ganz ohne Kummer sollte jedoch das alte Jahr nicht vorübergehen, es tauchte nicht eher in die Vergessenheit, als bis es eine unangenehme Erbschaft ausfindig gemacht hatte, die es Frau Wilhelmine hinterließ. Wir schrieben das Jahr 1882, als zum ersten Tage des neuen Jahres der Postbote wieder einen Brief aus der Landsbergerstraße zu besorgen hatte.


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