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Der Stephansfriedhof ist keiner mehr, sondern ein geräumiger Stadtplatz mit schönen Häusern und Warenauslagen, und glänzende Karossen rollen über das Pflaster, unter dem die Reste unserer Vorfahren ruhen – ihre Kreuze und Monumente sind verschwunden, das Lob ihrer Tugenden auf denselben ist verstummt, die Denkmale, die sie einst gründeten, um die Stätten ihrer Angehörigen auf ewige Zeiten zu bezeichnen, sind von unserer Industrie und unserm Verkehre bis hart an die Mauern der Kirche gedrängt worden, wo noch manche Tafel aus rotem Stein übriggeblieben ist, auf dem ein betender Vater mit seinen Kindern ausgemeißelt ist, oder ein liegender Toter selber mit gefalteten Händen, oder Heiligenbilder, oder sonst Embleme und Wappen, wovon manch Stück durch die Zeit herabgeschlagen oder verwittert ist, und darunter steht Namen und Amt, und stehen die Tugenden des Toten – aber wie oft weiß man gar nichts mehr aus der Zeit seines Lebens, und es ist da keiner mehr, um zu sagen: er war unser Ahnherr.
Es ist in neuesten Zeit, gegenüber von der Rückseite der Kirche, ein sehr großes Haus aufgeführt worden, und als es bereits prachtvoll und wohnlich mit mehr als hundert Fenstern glänzte, als zu ebener Erde schon die grünen Flügeltüren der Verkaufsgewölbe hoch und elegant eingehängt waren und längs derselben ein breites flaches Trottoir hinlief, so ging man auch daran, den Platz vor dem Hause bis zur Kirche zu ebnen und das bisherige schlechte Pflaster zu verbessern. Es mußten einst die Grabhügel bedeutend höher gelegen haben, als das heutige Pflaster; denn als man zum Behufe der oben angeführten Planierung und Pflasterung die Erde lockerte, kamen die Knochen und Schädel der Begrabenen zum Vorscheine, und wie ich nebst vielen andern Menschen zufällig dastand und sah, wie man bald die Röhre eines Oberarmes, bald ein Stück eines Schädels, ein Gebiß mit etlichen Zähnen, ein Schulterblatt oder anderes gelassen auf einen bereitstehenden Schubkarren legte und lachend und scherzend und die Pfeife stopfend weiterschaufelte, so dachte ich: vor soundso viel Jahren hat man euch eingegraben, und an eurem Grabe wurde gesungen: »Requiem aeternam dona eis, domine!« (Die ewige Ruhe gib ihnen, Herr), dann deckte man es mit Erde zu und setzte ein Denkmal auf den Hügel, daß man wisse, wer da in Ewigkeit ruhe – – und jetzt legt man eure Reste, die niemand kennt, wie das wertloseste Ding auf einen Haufen, um sie an einen andern Ort zu bringen, wo sie wieder nicht bleiben; denn wer weiß, zu welchem Zwecke unsere Nachkommen denselben wieder werden brauchen können.
Außer den Hügeln des Stephansfriedhofes, deren Ruhe, wie wir erfahren haben, nichts weniger als ungestört blieb, haben sich aber jene, deren Rang oder Reichtum es erlaubte, noch ganz andere festere sicherere Grabesstätten auserwählt; nämlich nicht nur unter dem ganzen riesenhaften Baue von St. Stephan, sondern auch rückwärts hinaus unter dem ganzen Platze, ja selbst bis unter die umliegenden Häuser, wie z. B. bis unter das sogenannte Deutsche Haus, unter die Post, ist ein System von Gewölben und Gängen, nach Art unserer Voreltern äußerst fest gebaut, und man weiß heutzutage noch gar nicht, wie weit sie sich erstrecken. Sie sind hier unter dem Namen der Katakomben von St. Stephan bekannt und waren lauter Begräbnisstätten, gleichsam eine weitläufige unterirdische Totenstadt. Jedoch trotz der dickern Mauern, aus denen diese Zellen, als Fundament der Kirche, aufgeführt sind, trotz der Quadern, womit Gänge, Gemächer und Bogen überwölbt sind, ja trotzdem daß jedes Gewölbe, wenn es mit Toten gefüllt war, zugemauert wurde, fanden dennoch die hier liegenden Schläfer die beabsichtigte Ruhe nicht, so wie sie ihre ärmeren Brüder nicht gefunden, die man über ihnen auf dem Friedhofe in bloßer Erde eingegraben hatte. Manche Gänge, manche Gewölbe wurden im Laufe der Zeit geöffnet. Die einen lockte Neugierde; die andern jenes Schauergefühl, das den Menschen über Tod und Ewigkeit ergreift und ihn doch lockt, solche Stätten zu betreten, wo es erweckt wird; wieder andere wurden durch frevlen Vorwitz hingeführt, so daß Menschenhände, teils fromm ordnend, teils mutwillig zerstörend, das vollendeten, was Zeit und leise Verwesung begonnen hatten, nämlich einen ganz andern Zustand der hier verborgenen Reste hervorzubringen, als den die beabsichtigten, welche sie hier verbargen.
Wir wollen in folgenden Zeilen einen Gang durch diese Katakomben beschreiben.
Es war ein feuchter, neblichter Novembernachmittag, als wir uns, fünfe an der Zahl, auf dem nassen Pflaster des St. Stephansplatzes, rückwärts der Kirche, wo der Turm emporsteigt, einfanden. Ein Freund hatte uns versprochen, uns in die Katakomben zu führen. Wir standen lachend und scherzend, als wir ihn erwarteten, und machten Bemerkungen über das trübselige Wetter und die Unpünktlichkeit des Freundes; aber nach einer Stunde war es ganz anders: nie werde ich den Eindruck vergessen, den diese Stunde unterirdischen Aufenthaltes in mir hervorbrachte.
Als wir einige Zeit gewartet hatten, erschien der Freund und mit ihm zwei Führer, weil er, obwohl schon öfter unten, doch nicht sicher war, sich und uns vor Verirrung zu bewahren. Nicht von der Kirche aus, wie ich wähnte, war der Hinabgang, sondern einer der Führer winkte uns an ein Haus des Platzes, das einen vorspringenden Winkel bildet und Wohnparteien und Handelsgewölbe enthält – es liegt mit dem Winkel schief gegenüber der Wohnung des Küsters, die sich im Erdgeschosse des Stephansturmes befindet.
An diesem Hause sperrte er eine dunkle schwarze hohe Türe auf, an der ich wohl hundertmal vorübergegangen war, und die ich immer für die zufällig zugemachte Hälfte des Tores einer Bude gehalten hatte. Als wir eingetreten waren, befanden wir uns in einem schmalen Gange; der Führer schloß hinter uns die Türe wieder zu, und der andere machte Licht, woran er eine Fackel und wir jeder unsere Wachskerze anzündeten, und dann ging es nicht über eine Treppe, sondern wie über einen sanften Gang abwärts; ein schwacher Tagesschein fiel in das erste Gewölbe durch einen schmalen Schacht herab, der in den Hof des Deutschen Hauses mündete. Dieses Gewölb war gleichsam eine Vorhalle, und es lagen Stangen, Stroh, Bretter, Tragbahren und dergleichen in dem Winkel, alles von seltsamem, veraltetem Ansehen.
Dann kamen wir in allerlei Gänge und Gewölbe, die leer waren. Nach Art unserer Voreltern sind die Gänge schmal, und die Gewölbe verhältnismäßig klein und niedrig, aber das Mauerwerk fest und dicht, als wäre es aus einem einzigen riesenhaften Granitblock gehauen worden. Ob wir in diesen Gängen nach Ost oder West, nach Nord oder Süd gingen, konnte keiner von uns erkennen, und da sie sich vielfach kreuzten und die gewölbten Zellen sich alle ähnlich sahen, so war es uns einleuchtend, daß man sich hier verirren und stundenlange herumsuchen könnte, ohne den Ausgang zu finden. Endlich kamen die ersten Bewohner dieser stillen finstern Stadt, nämlich: wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter lang und hoch, lauter Knochen von Armen und Füßen – es überläuft einen ein seltsamer Schauer.