Adalbert Stifter
Der Hagestolz
Adalbert Stifter

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Attmaning ist der lezte Ort des Hügellandes, wo es an das Hochgebirge stößt. Seine hellgrünen Bäume, die nahen Gebirge, sein spizer Kirchthurm und die sonnige Lage machen es zu dem lieblichsten Orte, den es nur immer auf unserer Erde geben kann.

Victor blieb bis gegen vier Uhr an seinem Gassentischchen – welcher Gebrauch ihn sehr freute – sizen und ergözte sich an dem Anblike dieser hohen Berge, an ihrer schönen blauen Farbe und an den duftigen wechselnden Lichtern darinnen. Dergleichen hatte er nie in seinem Leben gesehen. Was ist der größte mächtigste Berg seiner Heimath dagegen? Als es vier Uhr schlug, und die blauen Schatten allgemach längs ganzer Wände nieder sanken, und ihm die früher geschäzten Fernen derselben wunderlich verrükten, fragte er endlich, wohinaus die Hul liege.

»Da oben am See,« sagte der Wirth, indem er auf die Oeffnung zeigte, auf welche Victor am Nachmittage so oft hingesehen hatte.

»Wollt ihr denn heute noch in die Hul?« fragte er nach einer Weile.

»Ja,« sagte Victor, »und ich will die jezige kühle Abendzeit dazu benüzen.«

»Da müßt ihr nicht säumen,« erwiederte der Wirth, »und wenn ihr niemanden andern habt, so will ich euch meinen Buben durch das Holz geben, daß er euch dann weiter weise.«

Victor meinte zwar keines Führers zu bedürfen; denn die Bergmündung stand ja so freundlich und nahe drüben: aber er ließ es dennoch geschehen, und richtete indessen seine hingelegten Reisesachen in Ordnung.

Seltsam war es ihm auch, daß die Leute, wenn sie von der Hul sprachen, immer »oben« sagten, während für seine Augen die Berge dort so duftschön zusammen gingen, daß er den Wasserschein tief unten liegend erachtete; obwohl er anderseits auch sah, daß die Afel gerade von jener Gegend springend und schäumend gegen Attmaning daher kam.

»Geh, Rudi, führe den Herrn da auf den Hals hinauf, und zeige ihm dann in die Hul hinunter,« rief der Wirth in das Haus hinein.

»Ja,« tönte eine kindliche Stimme heraus.

Alsbald kam auch ein blondhariger, rothbakiger Bube zum Vorscheine, sah Victor mit freundlichen blauen Glozaugen an, und sagte: »So gehe, Herr.«

Victor hatte seine Rechnung berichtigt, und war zum Aufbruche fertig. Gleich von der Wirthsgasse aus verließ der Knabe mit ihm die Straße, und führte ihn seitwärts auf einem steinigen Wege zwischen dichte, riesig große Eichen und Ahornen hinein. Der Weg ging bald bergan, und Victor konnte manchmal durch die Wipfel der nach abwärts stehenden Bäume auf die Bergeslasten hinaus sehen, die immer ernster zusammen rükten, und desto dunkler wurden, je tiefer die Sonne stand, und die auch ein desto schöneres Blau gewannen, je glänzender und schimmeriger der Strahl des Abends das grüne Laub der Bäume an seiner Seite färbte. Endlich wurde der Wald ganz dicht, das Laubholz verlor sich, und die zwei Wanderer gingen in struppigem, undurchsichtigem Nadelwalde hin, der nur zuweilen durch herabgehende erstarrte Steinströme unterbrochen war. Victor hatte von Attmaning aus den Wald gar nicht gesehen, und hätte nie geglaubt, daß eine solche Wildniß zwischen ihm und dem schönen Wasserbliz liegen könne, der so nahe heraus gegrüßt hatte. Immer gingen sie fort. Stets glaubte Victor, jezt werde man bergab steigen, aber der Weg wikelte sich längs eines Hanges fort, der sich immer selber gebar, als rükte der Wald hinaus und schöbe auch den See vor sich her. Der Knabe lief barfuß auf dem spizigen Steingerölle neben ihm. Endlich, da fast zwei Stunden vergangen waren, blieb der kleine Führer stehen und sagte: »Da ist der Hals. Wenn du jezt diesen Weg da, nicht den andern, hinunter gehst, nehmlich an dem Bilde des gemarterten Gilbert vorbei, und um das Seeek herum, wo die vielen Steine herab gefallen sind, da wirst du Häuser sehen, die sind die Hul. Schaue nur immer durch die Zweige hinaus, daß du das Wasser siehst, weil auch ein Weg in den Afelschlag geht, der wäre gefehlt.«

Diese Worte sagte der Knabe, und nachdem er von Victor einen Lohn empfangen hatte, lief er desselben Weges zurük, den er den Jüngling heran geführt hatte.

Der Plaz aber, von dem der Knabe so unbeachtend weg lief, als wäre er eben nichts, war für Victor von der unerwartetsten Wirkung. Die Gebirgsleute nennen häufig einen »Hals« einen mäßigen Bergrüken, der quer zwischen höheren läuft und sie verbindet. Da er immer auch zwei Thäler scheidet, so geschieht es nicht selten, daß, wenn man von dem einen langsam hinan steigt, man plözlich ohne Erwartung den überraschendsten Ueberblik in das andere hat. So war es auch hier. Der Wald hatte sich auseinander gerissen, der See lag dem Jünglinge zu Füßen, und alle Berge, die er von dem flachen Lande und Attmaning aus schon gesehen hatte, standen nun um das Wasser herum, so stille, klar und nahe, daß er darnach langen zu können vermeinte – aber dennoch waren ihre Wände nicht grau, sondern ihre Schluchten und Spalten waren von einem luftigen Blau umhüllt, und die Bäume standen wie kleine Hölzlein darauf, oder waren an andern gar nicht sichtbar, die schier mit einem ganz geglätteten Rande an dem Himmel hin strichen.

Nicht ein Häuschen, nicht einen Menschen, nicht ein einziges Thier sah Victor. Der See, den er von Attmaning aus als weiße Linie gesehen hatte, war hier weit und dunkel, nicht einen einzigen Lichtfunken, sondern nur das Dämmern der Schleiermauern, die ihn umstanden, gebend; und an den fernen Ufern lagen lichte Dinge, die er nicht kannte, und die sich blos in den ruhigen Wassern spiegelten.

Eine Weile stand Victor und betrachtete das Ding. Er empfand den Harzduft, und hörte aber nicht das Wehen des Nadelwaldes. Von Regung war gar nichts zu verspüren, man müßte nur das Weiterrüken des späten Lichtes rechnen, das an dem Schwunge der Wände hinüber ging und sich die farbenkühlen Schatten folgen ließ.

Fast Furcht vor dieser Größe, die ihn hier umgab, im Herzen tragend, machte sich Victor daran, seinen Weg weiter zu verfolgen. Er ging den Pfad, den ihm der Knabe gezeigt hatte, hinunter. Die Berge sanken allgemach in den Wald, die Bäume nahmen ihn wieder auf, und wie es schon auf dem Halse gewesen war, daß der flache See gleichsam die Berge, die er säumte, hinaus zu rüken schien, damit das Auge das zarte Duftbild schauen könne, das sich von dem Grün der Tannennadeln hinaus warf, so blikte auch hier immer das dämmerige Gewebe von Berg und Wasser links durch die Baumäste herauf. So wie er beim Hinaufgehen gemeint hatte, der Berg nehme kein Ende, so ging er nun auch wieder unaufhörlich und sachte hinunter. Stets hatte er den See zur Linken, als sollte er die Hand eintauchen können, und stets konnte er ihn nicht erreichen. Endlich wich der lezte Baum hinter ihm zurük, und er stand wieder unten an der Afel, wo sie eben den See verließ und durch steilrechtes Geklippe fort eilte, nicht einmal einen handbreiten Saum lassend, daß man einen Pfad für wandelnde Menschen anlegen könnte. Victor meinte hundert Meilen von Attmaning entfernt zu sein, so einsam war es hier. Nichts war da, als er und das flache Wasser, das sich unaufhörlich und brausend in die Afel hinaus leerte. Hinter ihm stand der grüne stumme Wald, vor ihm war die schwanke Fläche, geschlossen durch eine blaue Wand, die sich tief ins Naß zu erstreken schien. Das einzige Werk von Menschenhand sah er in dem Stege, der über die Afel lag, und in einem Wasserbeschlage, durch den sie hindurch mußte. Langsam ging er über den Steg, und der Spiz mäuschenstille und zitternd hinter ihm her. Jenseits gingen sie auf Rasengrund neben Felsen. Bald war auch der Plaz zu erkennen, von dem der Knabe gesprochen hatte: eine Menge durcheinander geworfener Steine lag herum und erstrekte sich in den See hinaus, daß man leicht erkennen konnte, hier mochte ein Bergsturz stattgefunden haben. Victor bog um eine scharfe Bergeke, und sogleich lag auch die Hul vor ihm: fünf oder sechs graue Hütten, die nicht weit entfernt auf dem Seeufer hin standen, und von hohen grünen Bäumen umgeben waren. Auch der See, den ihm die vorspringende Eke früher verdekt hatte, erweiterte sich hier, und manche Berge und Wände, die sich ihm entzogen hatten, standen wieder da.


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