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Wohin er zuerst rannte, hat John niemals gewußt; auch nicht, wie lange Zeit vergangen war, als er sich auf dem Feldwege in der Nähe des Pförtnerhauses von Ravelston fand. Da stand er an der Gartenmauer; seine Lungen arbeiteten wie Blasebälge; die Beine waren ihm schwer wie Blei; in seinen Gedanken hatte er nur einen einzigen Wunsch – sich hinzulegen und von keinem Menschen gesehen zu werden. Er erinnerte sich der dichten Gebüsche an dem Fischteich, der früher ein Steinbruch gewesen war; dies war ein einsamer Winkel der Welt, wo er sicherlich ein Versteck finden konnte, bis es dunkel würde. Dorthin ging er den Feldweg hinunter; und als er ankam, o weh! Er hatte den Frost vergessen, und die Eisdecke des Teiches wimmelte von schlittschuhlaufenden jungen Leuten, und die Gebüsche ringsum wimmelten von Zuschauern. Er sah ebenfalls eine Weile zu. Da war ein großes anmutiges Mädchen, das Hand in Hand mit einem jungen Mann lief, den sie vielleicht etwas unvorsichtig mit ihren hellen Augen ansah; und es war sonderbar, mit welchem Ärger John sie betrachtete. Er hätte laut fluchen mögen; er hätte wie ein abgewiesener Landstreicher seine Fäuste schütteln und seine Galle in stundenlanges Schimpfen ergießen mögen – so dachte er wenigstens; und im nächsten Augenblick blutete ihm das Herz um dies Mädchen.
»Das arme Geschöpf – wie wenig weiß sie von der Welt!« seufzte er. »Laß sie lustig sein, solange sie's kann!«
Aber war es möglich, daß in früheren Zeiten Flora, wenn sie ihn auf dem Braid-Teich angelächelt hatte, auf einen Zuschauer mit traurigem Herzen einen so unangenehmen, unzüchtigen Eindruck gemacht? –
Obgleich seine Denkkraft wie erstarrt war, erinnerte der Anblick des früheren Steinbruchs ihn an einen anderen Steinbruch, und er trottete nach Craigleith weiter. Im Nordwesten hatte sich ein Wind aufgemacht; die Kälte war schneidend scharf, sie trocknete ihn wie ein Feuer und seine Fingergelenke taten ihm weh. Der Wind brachte auch Wolken mit; graue, schnellsegelnde Wolken, die den Himmel überzogen und die Erde in eine trübe Dämmerung hüllten. Er kletterte unter den mit Haselsträuchern bestandenen Schutthaufen herum, die den Kessel des Steinbruchs umgeben, und legte sich platt auf die Steine. Der Wind blies dicht über die Erde hin, die Steine waren scharf und eiskalt, die kahlen Haselsträucher winselten, wenn der Wind durch sie hindurchfuhr; und bald war die Nachmittagsluft voll von jenen seltsamen, pfeifenden Tönen, die die Vorboten von Schneefall sind. Schmerzen und Elendsgefühle machten John ungeduldig, daß er keinen anderen Gedanken hatte als den Wunsch, es möchte anders sein. Bald wälzte er sich auf seinem harten Lager, und wenn die scharfen Kiesel sich in sein Fleisch eindrückten, machte ihm dies beinahe Vergnügen; bald kroch er bis an den Rand der tiefen Grube und blickte hinunter, und ihm wurde schwindlig vor den Augen. Er sah die Krümmungen der in die Tiefe führenden Fahrstraße, die steilen Felswände, die Büsche in den Spalten des Gesteins, die Schneetupfen hier und dort, und ganz unten in der Tiefe den großen Kran, der in der Entfernung ganz klein aussah. Hier war ohne Frage eine Möglichkeit, eine Ende zu machen. Aber ein solches Ende war doch nicht recht nach seinem Geschmack.
Und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er hungrig war. Ja, stärker als die Martern der Kälte, stärker als die Qualen der Verzweiflung erwachte in ihm eine ungeheure Sehnsucht, irgend etwas zu essen – einerlei was, einerlei wie! Dieser Gedanke rüttelte ihn auf. Wie wäre es, wenn er seine Uhr versetzte? Aber nein, am Weihnachtstag – heute war ja Weihnachtstag! – waren natürlich alle Pfandleihen geschlossen. Wenn er nun in das Wirtshaus ginge, ganz dicht in der Nähe bei Blackhall, und seine Uhr, die zehn Pfund wert war, als Bezahlung für etwas Brot und Käse anböte? Es wäre zu auffallend gewesen – die guten Leute hätten ihn entweder hinausgeworfen, oder ihn nur eingelassen, um die Polizei zu holen. Er drehte seine Taschen um, eine nach der anderen: ein paar Trambahn-Fahrkarten von San Francisco, eine Zigarre, eine leere Zündholzschachtel, der Schlüssel zu seinem Vaterhaus, ein Taschentuch mit einem ganz schwachen Parfümgeruch, nein, Geld konnte er auf keinen von diesen Gegenständen bekommen. Es war nichts anderes zu machen, als zu hungern; und wenn er sogar verhungerte – was kam schließlich darauf an? Auch dies war eine Ausgangstür.
Er kroch unter den Büschen herum; der Wind traf ihn wie mit Peitschenhieben; seine Kleider schienen so dünn wie Papier zu sein, seine Glieder schmerzten ihn, die Haut auf den Knochen schnurrte zusammen, er hatte eine Vision von einem Rindvieh-Trieb, den er einmal in Kalifornien mitgemacht hatte: er sah das ausgetrocknete Flußbett mit der einzigen Schlammpfütze, an deren Rand die Vaqueros das Lager aufgeschlagen hatten. Strahlende Sonne über dem Ganzen, das große Holzfeuer loderte, am hölzernen Bratspieß bräunten sich die Rindfleischstücke und dampften. Wie warm war es, wie köstlich duftete der Braten! Und dann fielen ihm wieder seine mannigfaltigen Unglücksfälle ein, und er preßte sein Gesicht in den Grund und wälzte sich auf der Erde im Gefühl seiner Schande und Scham. Dann wieder trat er in Franks Speisewirtschaft in Montgomery Street in San Francisco, er hatte ein Pfannengemüse mit Rehrippchen bestellt, ein Gericht, das er unvernünftig gern aß, und wie er nun dasaß und wartete, brachte Munroe, der gute Kellner, ihm einen Whiskypunsch; er sah die Erdbeeren auf dem köstlichen Getränk schwimmen, er hörte die Eisstückchen um die Strohhalme herum gegeneinander anstoßen. Und dann erwachte er wieder zum Bewußtsein seines gräßlichen Geschicks: fand sich zusammengekauert in einem zugigen Loch unter Steinbruch-Müllhaufen hocken, dicke Finsternis rund um ihn herum, und feine Schneeflocken wirbelten rings wie Papierschnipsel, und in dem Schütteln seines von der Kälte gepackten Leibes klapperten die Zähne.
Wir haben John bisher nur stets in sehr stürmischen Lagen gesehen; wir sahen ihn indolent, dann wieder verzweifelt, weit über seine mittelmäßigen Anlagen hinaus auf die Prüfung gestellt – von dem Alltags-John, einem lustigen, regelrechten, keineswegs verschwenderischen Menschen haben wir nichts gesehen; es mag daher vielleicht den Leser überraschen, jetzt zu erfahren, daß John ängstlich auf die Erhaltung seiner Gesundheit bedacht war. Dieser Lieblingsgedanke erwachte jetzt in ihm: wenn er hier sitzenbliebe und an der Kälte stürbe, davon hätte er auch verdammt wenig; dann noch lieber in der Zelle einer Polizeiwache sitzen und es auf eine Gerichtsverhandlung ankommen lassen – immer noch besser als die erbärmliche Gewißheit, daß er noch vor dem nächsten Tauwetter an einem Grabenrand oder ein bißchen später im gasbeleuchteten Saal eines Krankenhauses sterben würde.
Mit schmerzenden Beinen stand er auf und stolperte zwischen den Müllhaufen herum – bald nach dieser, bald nach jener Richtung, aber immer wieder kam er an den gähnenden Kraterschlund des Steinbruchs; oder vielleicht bildete er sich das nur ein, denn die Finsternis verdichtete sich immer mehr, die Schneeflocken wurden immer dicker, und er bewegte sich wie ein Blinder und mit der Angst eines Blinden. Schließlich kletterte er über einen Zaun, in der Meinung, auf die Landstraße zu kommen, und sah sich statt dessen zwischen den eisenharten Furchen eines gefrorenen Sturzackers, der dem Anschein nach sich endlos, so weit wie eine ganze Grafschaft erstreckte. Dann wieder war er in einem Wald und stieß sich auf junges Stangenholz; und dann wieder sah er ein Haus mit vielen hellerleuchteten Fenstern, Weihnachtskutschen warteten vor der Tür, und Weihnachtskutscher – denn Weihnachten ist zweischneidig – bekamen schnell eine Kapuze von Schnee. Vor diesem Lichtblick menschlicher Fröhlichkeit entfloh er wie Kain: steuerlos wanderte er in der Nacht – achtlos wohin er käme; fiel und lag und stand wieder auf und wanderte weiter; und zuletzt, wie in einem Märchenspiel, stand er wieder in dem hellerleuchteten Schlund der Stadt und starrte eine Laterne an, welcher der Schnee bereits eine spitze Nachtmütze aufgesetzt hatte. Es kam jetzt dick vom Himmel herunter, ein wahrer Schneesturm; und während er noch dastand und die Laterne anblinzelte, waren seine Füße schon in Schnee vergraben. Eine unbestimmte Erinnerung stieg aus der Vergangenheit vor ihm auf: eine Straßenlaterne mit einer Schneekrone und einer dicken Schneelage auf der Wetterseite, vom Sturm mit Klagetönen umheult, und er selber vor dieser Laterne stehend und sie anblickend, gerade wie in diesem Augenblick; aber die Kälte hatte seine Denkkraft zu hart mitgenommen, und sein Gedächtnis konnte ihm nicht sagen, wann das gewesen war und wie es weiter gegangen war.
Der nächste Augenblick, den er im Bewußtsein hatte, war der Anblick der Dean-Brücke; aber ob er John Nicholson, der Angestellte eines Bankhauses in Kalifornien war, oder irgendein früherer John, Schreiber in seines Vaters Kanzlei, das hatte er jetzt reinweg vergessen. Wieder ein erinnerungsleerer Zeitraum – und dann steckte er seinen Schlüssel in das Schlüsselloch von seines Vaters Haustür.
Stunden mußten vergangen sein. Ob mit dem Hocken auf den kalten Steinen oder mit dem Umherirren über die Felder und durch den Schnee – das war mehr, als er sagen konnte; aber Stunden waren verstrichen. Der kleine Zeiger der Standuhr in der Halle war dicht bei der zwölf; eine niedriggedrehte Gasflamme warf Schatten an die Wände; und die Tür zum Hinterzimmer – seines Vaters Zimmer – stand offen und entsandte ein warmes Licht. Dies alles war seltsam zu so später Stunde: die Lichter hätten ausgelöscht, die Türen verschlossen sein, die braven Bürgersleute hätten ruhig in ihren Betten liegen sollen. Er lehnte sich gegen den Tisch in der Halle und wunderte sich über die Unregelmäßigkeit; und er wunderte sich darüber, daß er selber da war; und in der wärmeren Luft des Hauses taute er auf und verspürte wieder Hunger.
Die Uhr ließ das Schnarren hören, das dem Stundenschlag vorangeht; in fünf Minuten würde der Weihnachtstag zu den Tagen der Vergangenheit zählen. Weihnacht! Was für ein Weihnachtsfest! Na ja, warten hatte keinen Zweck: Wenn sie ihn wieder hinauswerfen wollten, geschah das am besten sofort. Und er ging nach der Tür des Hinterzimmers und trat ein.
Aha – er war also wirklich verrückt, wie er schon längst geglaubt hatte.
Hier, in seines Vaters Zimmer, um Mitternacht, prasselte ein Feuer im Kamin, brannte das Gas! Die Papiere, die geheiligten Papiere – die anzurühren ein Verbrechen war! – waren vom Arbeitstisch heruntergenommen und auf dem Fußboden aufgestapelt; über dem Arbeitstisch war ein Linnentuch gebreitet und ein Abendessen stand darauf angerichtet; und auf seines Vaters Stuhl saß eine weibliche Person, wie eine Nonne gekleidet, und aß. Als er in der Türöffnung erschien, stand die Nonne auf, stieß einen leisen Schrei aus und starrte ihn an. Sie war eine große Frau, stark, ruhig, etwas männlich; aus ihren Gesichtszügen sprachen Mut und gesunde Vernunft; und als John sie wieder anstarrte, tauchte in seinem Gedächtnis eine schwache Ähnlichkeit auf – wie wenn uns eine Melodie verfolgt und doch nicht deutlich werden will.
»Oh! Es ist John!« rief die Nonne.
»Ich muß verrückt sein,« sagte John, ohne es zu wissen, König Lear zitierend; »aber, auf mein Wort, ich glaube, Sie sind Flora!«
»Natürlich bin ich das,« antwortete sie.
Und doch ist es ganz und gar nicht Flora, dachte John; Flora war schlank und schüchtern und wurde leicht rot und hatte feucht-glänzende Augen; und hatte Flora solch eine Edinburgher Aussprache? Aber von allen diesen Dingen sagte er nichts, und das war vielleicht auch ebensogut. Er sagte bloß:
»Aber warum sind Sie denn eine Nonne?«
»Was für ein Unsinn!« rief Flora. »Ich bin Krankenpflegerin, und bin hier, um Ihre Schwester zu pflegen, der übrigens, unter uns gesagt, herzlich wenig fehlt. Aber hierum handelt es sich nicht. Die Frage ist: wie kommen Sie hierher? Und schämen Sie sich nicht, sich hier zu zeigen?«
»Flora,« sagte John in einem Grabeston, »ich habe seit drei Tagen überhaupt nichts gegessen oder wenigstens – ich weiß überhaupt nicht, was für ein Tag es ist; aber jedenfalls hab ich einen rasenden Hunger!«
»Sie unglücklicher Mensch!« rief sie. »Hier, setzen Sie sich und essen Sie mein Abendbrot; und ich will schnell nach oben laufen und nach meiner Kranken sehen, die übrigens zweifellos in festem Schlaf liegt – denn Maria ist eine malade imaginaire.«
Mit dieser Probe ihres Französisch, das sie nicht in Stratford-atte-Bowe, sondern in einer höheren Töchterschule am Moray Place in Edinburgh gelernt hatte, ließ sie John allein in seines Vaters Allerheiligstem. Er fiel sofort über das Essen her; und es ist anzunehmen, daß Flora ihre Patientin wach gefunden hatte und von allerlei Pflegegeschäften aufgehalten worden war, denn er hatte Zeit genug, alles vorhandene Eßbare vollständig zu vertilgen und nicht nur die Teekanne zu leeren, sondern sich auch noch einmal aus einem Teekessel aufzufüllen, der behaglich über seines Vaters Kaminfeuer summte. Dann saß er satt, schläfrig, behaglich und verwirrt da; seine Mißgeschicke hatte er halb und halb vergessen und dachte jetzt, nicht ohne Bedauern, über diese unsentimentale Rückkehr zu seiner alten Liebe nach.
Hiermit war er noch beschäftigt, als die Krankenschwester geräuschlos wieder eintrat.
»Haben Sie gegessen?« rief sie. »Dann erzählen Sie mir jetzt alles.«
Es war eine lange und – wie der Leser weiß – eine klägliche Geschichte; aber Flora hörte sie mit zusammengepreßten Lippen an. Sie hielt sich bei keiner jener Betrachtungen über Menschenschicksal auf, die von Zeit zu Zeit meine eilende Feder stocken ließen. Denn Frauen wie Flora sind keine Philosophen und fassen nur das Konkrete ins Auge. Die Frauen wie Flora urteilen sehr hart über den unvollkommenen Mann.
»Sehr schön!« sagte sie, als er fertig war. »Dann jetzt sofort auf Ihre Knie und Gott um Verzeihung gebeten!«
Und das große Kind plumpste auf die Knie und tat, wie ihm befohlen war – und das schadete ihm auch gar nichts! Aber während er mit aufrichtigem Herzen um Vergebung im allgemeinen flehte, beschäftigte sein Verstand sich, vielleicht etwas verwundert, mit der Frage: ob die Bitte um Verzeihung nicht eigentlich von der anderen Seite ausgesprochen werden müßte. Und als er wieder aufstand, sah er erst seiner alten Liebe zweifelnd ins Gesicht; dann aber faßte er sich ein Herz, rückte mit seinem Protest heraus und sagte:
»Ich muß sagen, Flora, bei dieser ganzen Geschichte kann ich eigentlich nicht finden, daß ich sehr viel Schuld habe.«
»Wenn Sie nach Hause geschrieben hätten,« erwiderte die Dame, »so hätte es überhaupt gar keine Geschichte gegeben! Wären Sie auch nur nüchtern, wie ein vernünftiger Mensch sein muß, nach Murrayfield gekommen, so wäre das schlimmste nicht eingetreten. Übrigens begann diese Geschichte schon vor Jahren. Sie brachten sich in Ungelegenheiten, als Ihr Vater, der ehrenwerte Mann, darüber betrübt war und sich enttäuscht fühlte, da nahmen Sie ihm das übel oder kriegten Angst und rissen vor der Strafe aus. Na, Sie haben Ihren Willen gehabt, John, und ich glaube nicht, daß Ihnen das jetzt Vergnügen macht.«
»Ich denke manchmal, daß ich ein rechter Esel bin,« seufzte John.
»Mein lieber John, das sind Sie wohl!«
Er sah sie an und sein Auge trübte sich. Ein gewisses Gefühl des Ärgers stieg in ihm auf: dies war eine Flora, die er ablehnte; sie war hart; sie war fest in ihren Vorsätzen; ein gesetztes, reifes, unauffälliges Mädchen; einfach in ihrer Sprache, einfach im Benehmen – er hätte beinahe gesagt, von gewöhnlichem Gesicht. Und dieser Wechselbalg nannte sich mit demselben Namen wie die weißundrote, anschmiegsame Maid von einst – die so gern gelacht, die so gern geseufzt, die die freundlichen verstohlenen Blicke geworfen hatte! Und was das schlimmste war: sie hatte die Oberhand über ihn, und das war – wie John wohl wußte – nicht das richtige Verhältnis der beiden Geschlechter. Darum stählte er sein Herz gegen diese Krankenpflegerin und fragte:
»Und wie kommt es, daß Sie hier sind?«
Sie erzählte ihm, sie hätte ihren Vater während seiner langen Krankheit gepflegt, und als er nun gestorben wäre und sie allein gelassen hätte, da hätte sie angefangen, andere Kranke zu pflegen, teils aus Gewohnheit, teils um auf der Welt doch zu etwas nütze zu sein, teils vielleicht auch um eine Unterhaltung zu haben.
»Über den Geschmack läßt sich nicht streiten,« sagte sie. Und sie erzählte ihm, wie sie häufig in die Häuser alter Freunde ginge, wenn das nötig wäre, und wie sie da doppelt willkommen wäre, erstens als eine alte Freundin, und zweitens als eine erfahrene Krankenwärterin, der die Doktoren gern die schwersten Fälle anvertrauten.
»Daß ich jetzt wegen der armen Maria hier bin, ist allerdings die reine Komödie,« fuhr sie fort; »aber Ihr Vater nimmt sich das ewige Wehklagen zu Herzen, und ich kann ihm nicht immer seine Bitten abschlagen. Ihr Vater und ich, wir sind große Freunde; er war sehr gut zu mir, vor langer Zeit – vor zehn Jahren.«
Ein seltsamer Aufruhr erhob sich in Johns Herzen. Diese ganze Zeit hatte er nur an sich selber gedacht? Warum hatte er in all der Zeit nicht an Flora geschrieben? In reumütiger Zärtlichkeit ergriff er ihre Hand, und diese Hand blieb ruhig in der seinen liegen, daß er beinahe unruhig wurde und sich fürchtete. Eine innere Stimme sagte ihm: es sei schließlich doch seine Flora – sagte ihm das ganz ruhig, und doch durchzuckte ihn dabei ein eigentümliches Gefühl.
»Und Sie haben nicht geheiratet?« fragte er.
»Nein, John, ich habe nicht geheiratet.«
Die Uhr in der Halle schlug zwei und erinnerte sie an die Flüchtigkeit der Zeit.
»Und jetzt,« sagte Flora, »haben Sie gegessen und sich gewärmt, und ich habe Ihre Geschichte gehört; und jetzt ist es hohe Zeit, Ihren Bruder zu rufen.«
»Oh!« rief John, ganz niedergeschlagen; »halten Sie das für unbedingt notwendig?«
»Ich kann Sie nicht hier im Hause behalten; ich bin ja eine Fremde. Möchten Sie wieder davonlaufen? Ich dachte, davon hätten Sie genug gehabt!«
Er beugte sein Haupt unter diesem Tadel.
Sie verachtet mich, dachte er bei sich selber, als er wieder allein saß; eigentlich war es doch ungeheuerlich, daß eine Frau einen Mann verachtete, aber das merkwürdigste dabei war: sie schien ihn liebzuhaben. Würde sein Bruder ihn auch verachten? Und würde sein Bruder ihn liebhaben?
Und auf einmal erschien dieser Bruder, von Flora geleitet; er blieb in der Türöffnung stehen und sah sich von weitem den Helden dieser Geschichte an.
»Also das bist du?« fragte er endlich.
»Ja, Alick, ich bin es – John,« erwiderte der ältere Bruder kümmerlich.
»Und wie kamst du hier herein,« forschte der jüngere Bruder.
»Oh, ich hatte meinen Hausschlüssel.«
»Den Deubel hattest du!« rief Alexander. »Ah, du lebtest in einer besseren Welt. Hausschlüssel gibt es jetzt nicht mehr.«
»Na ja, Vater hatte immer eine Abneigung dagegen,« seufzte John, und damit brach das Gespräch ab und die beiden Brüder musterten einander schweigend.
»Na, und was zum Henker sollen wir nun machen?« sagte Alexander schließlich; »ich vermute, du würdest festgesetzt werden, wenn die Behörden Wind von dir bekämen?«
»Das hängt davon ab, ob sie die Leiche gefunden haben oder nicht. Und dann ist allerdings ja auch noch der Droschkenkutscher da!«
»Bah, hol der Kuckuck die Leiche! Ich meine die andere Geschichte. Die ist ernst.«
»Meinst du das, wovon mein Vater sprach?« fragte John. »Ich habe nicht einmal eine Ahnung, worum es sich handelt.«
»Natürlich darum, daß du deine Bank in Kalifornien bestohlen hast!«
An Floras Gesicht konnte man deutlich sehen, daß sie das erste Wort davon hörte; an Johns Gesicht aber noch deutlicher, daß er unschuldig war.
»Ich!« rief er. »Ich hätte meine Bank bestohlen! Mein Gott! Flora, das ist zuviel; das müssen sogar Sie zugeben!«
»Soll das heißen, daß du es nicht getan hast?« fragte Alexander.
»Ich habe meiner Lebtage noch keine Menschen Seele bestohlen!« schrie John, »ausgenommen meinen Vater, wenn ihr das Stehlen nennen wollt; und ich brachte ihm dieses Geld zurück, hier in dieses Zimmer! Und er wollte es nicht einmal anrühren!«
»Höre mal, John! Hierüber darf es keine Mißverständnisse geben! Mac Even kam zum Vater und sagte ihm, eine Bank in San Francisco, bei der du angestellt gewesen seist, telegraphiere über die ganze bewohnte Erde, daß man dich am Schlafittchen packen solle – man nehme an, du habest Tausende geklemmt; absolut sicher aber sei, daß du dreihundert geklaut habest. So sagte Mac Even, und ich möchte dich bitten, dir deine Antwort wohl zu überlegen. Es ist auch wohl gut, wenn ich dir sage, daß Vater die dreihundert auf der Stelle bezahlte.«
»Dreihundert?« wiederholte John. »Dreihundert Pfund, meinst du? das sind fünfzehnhundert Dollars. Na, dann ist es Kirkman!« schrie er. »Gott sei Dank! Dann kann ich alles aufklären! Ich gab sie am Abend vor meiner Abreise Kirkman, um sie für mich zu bezahlen – fünfzehnhundert Dollars, mit einem Brief an den Geschäftsführer. Bilden sie sich ein, ich würde fünfzehnhundert Dollars stehlen? Wozu denn? Ich bin reich; ich kam auf eine gute Sache bei der Börse. Das ist ja der größte Blödsinn, den ich je gehört habe! Man braucht weiter nichts zu tun, als an den Geschäftsführer zu kabeln: ›Kirkman hat die fünfzehnhundert – sucht Kirkman!‹ Er war ein Kollege von mir bei der Bank und ein Hartsäufer; aber allerdings, um gerecht gegen ihn zu sein: für so hart hätte ich ihn nicht gehalten!«
»Und was sagen Sie dazu, Alick,« fragte Flora.
»Ich sage: das Kabelgramm soll noch heute nacht abgehen!« rief Alexander energisch. »Und zwar mit bezahlter Antwort! Wenn diese Geschichte aufgeklärt werden kann – und auf mein Wort, ich glaube, das kann sie – dann werden wir alle wieder den Kopf hochhalten können. Hier, John: Schreibe du mal die Adresse deines Bankdirektors auf, und Sie, Flora, Sie können John in mein Bett packen, für das ich diese Nacht keine Verwendung mehr habe. Ich selber sause jetzt nach dem Hauptpostamt, und von da gleich nach High Street wegen der Leiche. Die Polizei muß es ja doch erfahren, nicht wahr? Und eigentlich mußte John es ihnen melden; aber ich erzähle ihnen einfach irgendeine Räubergeschichte: daß mein Bruder sehr nervös veranlagt sei usw. Und dann, höre mal, John – merktest du dir den Namen des Kutschers an der Droschke?«
John nannte ihm den Namen des Kutschers, den ich hier unterdrücke, da ich selber keine Gelegenheit gehabt habe, mit ihm zu fahren.
»Also«, begann Alexander, »ich spreche auf dem Rückweg bei dem Fuhrgeschäft vor und bezahle die Fahrt für dich. Auf diese Art wirst du, noch vor dem Frühstück, sozusagen ein nagelneuer Mensch sein.«
John brummte einen unzusammenhängenden Dank, daß sein Bruder sich so tatkräftig für ihn rührte; das machte auf ihn einen unaussprechlichen Eindruck; wenn er seine Gefühle aber nicht ausdrücken konnte, so waren sie deutlich auf seinem Gesicht zu lesen; und Alexander las sie und diese stumme Sprache gefiel ihm besser, wie wenn sie in Worte gefaßt worden wäre.
»Es ist bloß noch eins!« rief er plötzlich, »Kabelgramme sind teuer; und du wirst unseren Alten Herrn wohl noch gut genug im Gedächtnis haben, um den Stand meiner Finanzen erraten zu können.«
»Das schlimme ist nur,« sagte John, »daß alle meine Stempel in dem verflixten Hause sind.«
»Alle deine – was?« fragte Alexander.
»Stempel – Münzen, Geld,« erklärte John; »'s ist ein amerikanischer Ausdruck; ich fürchte, ich habe mir einen oder zwei angewöhnt.«
»Ich habe welches,« sagte Flora; »ich habe eine Pfundnote oben.«
»Meine liebe Flora,« erwiderte Alexander, »mit einer Pfundnote kommen wir nicht sehr weit; außerdem ist dies meines Vaters Sache, und ich würde mich sehr wundern, wenn Vater nicht dafür bezahlte.«
»Ich würde mich damit noch nicht an ihn wenden; ich glaube nicht, daß dies klug wäre,« warf Flora ein.
»Sie haben einen sehr unvollkommenen Begriff von meinen Hilfsquellen, und überhaupt keinen Begriff von meiner Frechheit,« versetzte Alexander. »Bitte, passen Sie mal auf.«
Er schob John zur Seite, wählte unter dem Eßgeschirr ein starkes Messer aus und erbrach mit überraschender Schnelligkeit seines Vaters Schieblade.
»Es gibt gar nichts Leichteres, wenn man's mal versucht,« bemerkte er, als er das Geld einsackte.
»Ich wollte, Sie hätten das nicht getan!« sagte Flora; »Sie werden das jeden Tag zu hören kriegen!«
»Oh, und ich weiß nicht,« antwortete der junge Mann; »der Alte Herr ist im Grunde ein guter Mensch. Und nun, John, laß mich mal deinen famosen Hausschlüssel sehen! Geh zu Bett und laß dich von keinem Menschen sehen, bis ich wieder da bin. Es wird ihnen nicht auffallen, wenn du auf ihr Klopfen nicht antwortest, denn ich tue das gewöhnlich auch nicht.«