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Fünftes Kapitel
Die Heimkehr des Verlorenen Sohnes

Kurz nach zwölf Uhr mittags am Weihnachtsabend hatte John seinen Koffer bei der Gepäckaufbewahrungsstelle aufgegeben und betrat nun die Princes Street mit einer wundervoll geschwellten Seele, wie ein Mensch, der sich der Erfüllung langgehegter Sehnsüchte freut. Er war wieder daheim – inkognito und reich. Nach wenigen Augenblicken konnte er dank seinem Hausschlüssel, den er auf allen seinen Irrfahrten pietätvoll aufbewahrt hatte, sein Vaterhaus betreten; er würde das geborgte Geld auf den Tisch werfen; es würde eine Aussöhnung geben, deren Einzelheiten er sich bereits häufig zurechtgelegt hatte; und er sah sich im Lauf des nächsten Monats freudig willkommen geheißen in vielen stattlichen Häusern, bei vielen langweiligen Eßgesellschaften; sah sich an der Unterhaltung teilnehmen mit der Freiheit des weitgereisten Mannes; hörte sich über die Gesetze der Finanzkunst mit der Autorität des erfolgreichen Besitzers von Wertpapieren reden. Aber dieses Programm durfte nicht vor dem Abend ausgeführt werden – nicht früher, als unmittelbar vor dem Essen; aber zu dieser Mahlzeit würde die versammelte Familie sich in rosiger Stimmung niedersetzen, und der beste Wein – der neuzeitliche Ersatz für das gemästete Kalb – würde zu Ehren der Heimkehr des Verlorenen Sohnes fließen.

Mittlerweile ging er durch bekannte Straßen; lustige Erinnerungen drangen auf ihn ein, auch traurige, aber beide mit der gleichen überraschenden Stärke. Die scharfe Frostluft; die niedrig am Himmel stehende rosenrote Wintersonne, das Schloß, das ihn wie einen alten Bekannten begrüßte; die Namen von Freunden auf Türschildern; der Anblick von Freunden, die er auf den Straßen zu erkennen glaubte, denen er aber sorgfältig auswich; der angenehme, singende Tonfall der nordbritischen Mundart; die Kuppel von Sankt Georg, die ihn an seine letzten zerknirschten Augenblicke in dem Gäßchen und an jenen »König der Ehren« erinnerte, dessen Name seither stets in dem traurigsten Winkel seines Gedächtnisses widergeklungen war; und die Rinnsteine, auf deren Eis er glitschen gelernt hatte; und der Laden, wo er seine Schlittschuhe gekauft hatte; und die Steine, auf die er getreten war; und die eisernen Geländer, an denen er auf seinem Schulweg mit dem Clachan gerasselt hatte – und alle diese tausendundeine namenlose Einzelheiten, die das Auge sieht, ohne sie zu bemerken, die das Gedächtnis aufbewahrt, ohne davon etwas zu wissen, und die, alle zusammengenommen, für uns das Aussehen des Ortes ausmachen, den wir »Heimat« nennen: alle diese Einzelheiten bestürmten ihn, wie er so dahinschritt, mit Entzücken und Trauer.

Sein erster Besuch galt Houston, der ein Haus an der Regent Terrace hatte, worin früher seine Tante gewohnt hatte. Die Tür wurde – zu seiner Überraschung – nur so weit geöffnet, wie die Sperrkette es zuließ, und eine Stimme fragte ihn von drinnen, was er wünsche.

»Ich möchte Herrn Houston sprechen – Herrn Alan Houston,« sagte er.

»Und wer sind Sie?«

Das ist ja sehr merkwürdig, dachte John, dann aber nannte er laut seinen Namen.

»Doch nicht der junge Herr John?« rief die Stimme, unverkennbar mit freundlicherer Betonung.

»Genau derselbe!« sagte John.

Hierauf entfernte der alte Haushofmeister seine Schutzvorrichtungen, wobei er nur bemerkte: »Ich dachte, es wäre der Mann.«

Aber sein Herr war nicht da; er hielt sich, wie es schien, in seinem Hause in Murrayfield auf; und obwohl der alte Diener sich sehr gefreut haben würde, wenn er Platz genommen und alles Neue erzählt hätte, suchte John eilig wieder fortzukommen, da die Nachricht ihn eigentümlich kühl berührte. Aber als sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte, bedauerte er sehr, daß er sich nicht nach »dem Mann« erkundigt hatte.

Mehr Besuche hatte er ja nicht zu machen, bevor er seinen Vater gesehen und zu Hause alles in Ordnung gebracht hatte. Alan war die einzige überhaupt mögliche Ausnahme gewesen, und John hatte keine Zeit, den weiten Weg nach Murrayfield hinaus zu machen. Aber hier war er nun einmal bei Regent Terrace; nichts konnte ihn hindern, um den Hügel herumzugehen und sich von außen Mackenzies Haus anzusehen. Unterwegs rechnete er sich aus, daß Flora jetzt ungefähr ebenso alt wie er sein müßte; es läge also durchaus innerhalb des Bereichs der Möglichkeit, daß sie verheiratet wäre; aber diesen schimpflichen Gedanken verdammte er sofort.

Ja, da war allerdings das Haus; aber die Tür war von anderer Farbe; und was war das? Zwei Türschilder? Er trat näher heran; das obere Schild trug mit würdevoller Einfachheit nur das Wort »Proudfoot«; das untere Schild war wortreicher und belehrte den Vorübergehenden, daß hier zugleich die Behausung von »J. A. Dunlop Proudfoot, Advocat« sei. Die Proudfoots mußten reich sein; denn kein Advokat konnte erwarten, in einer so entlegenen Stadtgegend viel zu tun zu bekommen; und John haßte sie wegen ihres Reichtums und wegen ihres Namens und weil sie dieses Haus durch ihre Gegenwart entweihten. Er erinnerte sich eines Proudfoot, den er in seiner Schulzeit gesehen, nicht gekannt hatte: einen kleinen, käseweißen Bengel, den verächtlichen Angehörigen einer niedrigeren Schulklasse. Konnte diese Mißgeburt so hoch gestiegen sein, daß er jetzt ein Advokat war und in dem Geburtshaus Floras, auf der Stätte von Johns zärtlichsten Erinnerungen wohnte? Das Gefühl von Kälte, das ihn zum erstenmal angepackt hatte, als er Houstons Abwesenheit erfuhr, wurde stärker und schmerzte ihn innerlich. Wie er so vor der Tür dieses ihm fremd gewordenen Hauses stand und nach Osten und Westen über das menschenleere Pflaster der »Königsterrasse« hinsah, wo sich keine Katze rührte, da packte ihn für einen Augenblick ein Gefühl der Einsamkeit und Trostlosigkeit an der Kehle, und er wünschte, er wäre in San Francisco.

Und dann kam ihm in den Sinn, daß die Figur, die er jetzt machte, mit seiner vornehmen Stattlichkeit, dem gelben Backenbart, dem Geld in seiner Börse, der ausgezeichneten Zigarre, die er in diesem Augenblick anzündete, doch in einem sehr tröstlichen Gegensatz stände zu einem gewissen zu wahnsinniger Verzweiflung getriebenen Jungen, der an einem gewissen Frühlingssonntag vor zehn Jahren, in der stillen Stunde der Kirchzeit, sich aus dieser Stadt geschlichen hatte und auf der Straße nach Glasgow davongelaufen war. Angesichts solcher Veränderungen war es ruchlos, an der Freundlichkeit der Glücksgöttin zu zweifeln. Alles würde noch gut werden: die Mackenzies würden aufgefunden werden; Flora würde jünger und lieblicher und freundlicher sein denn je; Alan würde aufgefunden werden und würde solche Fortschritte im guten Betragen gemacht haben, daß er einerseits ein geschätzter Freund des alten Herrn Nicholson geworden wäre, andererseits genau so ein gemütlicher Mensch geblieben wäre, wie Johns Kameraden sein mußten, wenn sie ihm gefallen sollten. Und so machte sich denn John wieder einmal daran, die entzückende Zukunft im voraus zu genießen: sein erstes Erscheinen im Familienkirchenstuhl; seinen ersten Besuch bei Onkel Greig, der sich für ein so großes Finanzgenie hielt und dessen blöde Edinburgher Augen John durch die strahlende Helligkeit des Westens zu blenden gedachte; und noch eine Menge Einzelheiten einer beispiellosen Verwandlungsszene, in denen er allen Edinburghern einen stattlichen, erfolgreichen Geschäftsherrn in den Schuhen des ausgelachten Flüchtlings zeigen würde.

Die Stunde rückte heran, zu der sein Vater von der Kanzlei nach Hause gekommen sein mußte und daher der Verlorene Sohn aufzutreten hatte. Er schlenderte nach Westen zu durch die Albany Street, der roten Glut des Sonnenuntergangs entgegen, mit einem ihm selber nicht ganz deutlichen Gefühl von Vergnügen darüber, daß er in dieser kalten Luft und in dem dunkelblauen Dämmerlicht dahinging, aus welchem die Straßenlaternen wie Sterne strahlten. Aber unterwegs sollte ihm noch eine dritte Enttäuschung beschieden sein.

An der Ecke der Pitt Street stand er still, um eine frische Zigarre anzuzünden; als er dies tat, warf das Zündholz ein helles Licht auf sein Gesicht, und ein Herr, etwa von dem gleichen Alter mit ihm, blieb bei seinem Anblick stehen.

»Ich denke, Ihr Name muß Nicholson sein,« sagte der Fremde.

Es war zu spät, eine Erkennungsszene zu vermeiden; außerdem kam kaum noch etwas darauf an, da John jetzt unmittelbar auf dem Wege nach seinem Vaterhause war, und er ließ daher seinen Gefühlen freien Lauf und rief: »Herrje! Beatson!« und schüttelte dem alten Kumpan herzlich die Hand; sein Händedruck schien ihm kaum auf die gleiche Weise erwidert zu werden, und Beatson sagte:

»So? Bist du wieder da? Wo bist du denn die ganze Zeit über gewesen?«

»In den Staaten – Kalifornien. Na, ich hab mir ein hübsches bißchen verdient, und plötzlich fiel mir ein, es wäre ein großartiger Gedanke, zu Weihnachten nach Hause zu kommen.«

»Aha! Na, ich hoffe, wir werden dich mal sehen, da du jetzt wieder hier bist.«

»Oh, das denke ich,« sagte John, etwas abgekühlt.

»Na, ta-ta,« sagte Beatson zum Schluß, schüttelte ihm wieder die Hand und ging.

Es war eine schmerzhafte erste Erfahrung. Es hatte keinen Zweck, sich gegen Tatsachen zu verschließen: hier war John wieder zu Hause, und Beatson, sein alter Beatson – machte sich nicht einen Pfifferling daraus. Er rief sich seinen alten Beatson aus der Vergangenheit zurück – diesen lustigen, freundschaftlichen Jungen – und ihre gemeinsamen Abenteuer und Missetaten: die Fensterscheibe in dem Haus am India Place, die sie mit dem Katapult zerschossen hatten, die Erkletterung des Schloßfelsens, und so manches andere unschätzbare Band der Freundschaft – und sein Schmerz wegen dieses überraschenden Benehmens wurde noch tiefer.

Na, schließlich konnte ein Mensch sich ja bloß auf seine eigene Familie verlassen; er dachte an das Sprichwort, daß Blut dicker als Wasser ist; und das schließliche Ergebnis dieses Zusammentreffens war, daß er mit zärtlicheren und weicheren Gefühlen vor der Schwelle seines Vaterhauses ankam.

Es war Nacht geworden; das Fenster über der Haustür leuchtete hell; die beiden Fenster des Eßzimmers, wo jetzt der Tisch gedeckt wurde, und die drei Fenster des Wohnzimmers, wo Maria jetzt sitzen und auf das Essen warten würde, schimmerten in sanftem Schein mit ihren gelben Vorhängen. Es war wie eine Vision aus der Vergangenheit. Während dieser ganzen Zeit seiner Abwesenheit war das Leben Schritt vor Schritt weitergegangen: zu den gewohnten Stunden waren Feuer und Gas angezündet, waren die Mahlzeiten angerichtet worden. Zur gewohnten Stunde auch war die Glocke dreimal ertönt, die Familie zum Gebet zu rufen. Und bei diesem Gedanken durchzuckte ihn ein Bedauern wegen seiner Unwürdigkeit: er dachte an die Dinge, die gut waren und die er vernachlässigt hatte, und an die Dinge, die böse waren und die er geliebt hatte; und mit einem Gebet auf den Lippen ging er die Stufen hinan und steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch.

Er trat in die erleuchtete Halle, schloß leise die Tür hinter sich und stand in Verwunderung festgebannt. Keine Überraschung wegen seltsamer Veränderungen hätte so stark sein können, wie die Überraschung, daß alles ihm vollkommen vertraut war. Da war Chalmers Büste dicht am Treppengeländer; da lag die Kleiderbürste an ihrem gewöhnlichen Ort; und dort, am Kleiderständer, hingen Hüte und Röcke, die sicherlich dieselben sein mußten, deren er sich noch erinnerte. Zehn Jahre entschwanden aus seinem Leben, wie einem eine Nadel aus den Fingern gleiten mag; und das Weltmeer und die Berge und die Minen, das Menschengedränge in den Straßen von San Francisco mit den Rassen der ganzen Welt, und sein eigenes Glück und seine eigene Schande wurden, für diesen einen Augenblick, Gestaltung eines Traumes, der vorüber war.

Er nahm seinen Hut ab und ging mechanisch an den Kleiderständer und fand da eine kleine Veränderung, die für ihn eine große war. Der Nagel, der von seiner Kindheit an sein Nagel gewesen war, auf den er seine Mütze geworfen hatte, wenn er von der Schule nach Hause gekommen war, und seinen ersten Hut, wenn er mit schnellen Schritten aus dem Kolleg oder der Kanzlei heimkam – sein Nagel war besetzt.

Meinen Nagel hätten sie wohl auch respektieren können! dachte er, und er empfand etwas wie eine Kränkung, und dann auf einmal fiel ihm ein, daß er hier ein Eindringling war, daß er sich in einem fremden Hause befand, in das er sich beinahe wie ein Einbrecher eingeschlichen hatte und wo man ihn jeden Augenblick wie einen solchen behandeln konnte.

Er schritt sofort, den Hut noch in der Hand, zu der Tür seines Vaters, öffnete sie und trat ein.

Herr Nicholson saß an derselben Stelle, in derselben Haltung wie an jenem letzten Sonntagmorgen; nur war er älter und grauer und ernster; und als er jetzt aufblickte und in das Auge seines Sohnes sah, da kam plötzlich eine seltsame Erregung in sein Antlitz, das sich mit einer dunklen Röte überzog.

»Vater,« sagte John herzhaft, ja sogar lustig, denn dies war ein Augenblick, auf den er sich seit langer Zeit vorbereitet hatte, »Vater, hier bin ich, und hier ist das Geld, das ich dir wegnahm. Ich bin zurückgekommen, um dich um deine Vergebung zu bitten und über Weihnachten bei dir und den Kindern zu bleiben.«

»Behalte dein Geld,« sagte der Vater, »und geh!«

»Vater!« schrie John, »um Gottes willen, empfange mich nicht auf solche Weise! Ich kam, um –«

»Versteh mich!« unterbrach Herr Nicholson ihn; »du bist nicht mein Sohn, und vor Gottes Angesicht wasche ich meine Hände! Ein Letztes will ich dir sagen; eine Warnung will ich dir geben: es ist alles entdeckt und du wirst wegen deiner Verbrechen verfolgt; wenn du noch in Freiheit bist, verdankst du das nur mir; aber ich habe alles getan, was ich zu tun gedenke; und von diesem Augenblick an würde ich nicht einen Finger rühren – nicht einen Finger – um dich vor dem Galgen zu retten! Und nun,« sagte er mit leiser Stimme, aber mit absoluter Autorität und mit einer einzigen, aber bedeutsamen Bewegung seines Zeigefingers, »und nun – geh!«


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