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Siebtes Kapitel

Der Fall des Hauses Desprez

Dem Doktorhause ist noch nicht die Ehre einer Beschreibung zuteil geworden, und es ist jetzt hohe Zeit, daß dies Versäumnis nachgeholt werde, denn das Haus selbst gehört zu den handelnden Personen dieser Geschichte, zu denen, deren Rolle beinahe ausgespielt ist. Zweistöckig, mit Mauern in warmem Gelb und uralten rotbraunen Ziegeln, die mit Moos und Flechten bunt geschmückt waren, stand es mit der einen Straßenwand in einem Winkel zu des Doktors Besitztum. Es war geräumig, zugig und unpraktisch. In die schweren Balken waren hie und da rohe Zeichen und Muster eingegraben; das Treppengeländer war in ländlichen Arabesken geschnitzt; eine feste Säule aus Holz, deren Pflicht es war, das Speisezimmerdach zu stützen, trug auf ihrer Schattenseite geheimnisvolle Schriftzüge, Runen, wenn man dem Doktor glauben wollte. Auch versäumte er nie, wenn er die legendäre Geschichte des Hauses und seiner Besitzer erzählte, bei dem skandinavischen Gelehrten zu verweilen, dessen Hinterlassenschaft sie waren. Dielen, Türen und Balken bildeten die verschiedenartigsten Winkel; jeder Raum hatte eine besondere Ebene; der Giebel hatte sich nach Art eines schiefen Turms in den Garten hinübergesenkt, und einer der früheren Besitzer hatte das Gebäude von der Seite her mit einer schweren Holzstrebe, ähnlich dem Drehkahn eines Kranes, gestützt. Im großen und ganzen wies es zahlreiche Merkmale des Verfalles auf; es war ein Haus, das die Ratten verlassen hätten, und nichts als seine glänzende Sauberkeit – die geputzten, leuchtenden Fensterscheiben, der klare Farbanstrich, das strahlende Messing, ja selbst die ganz mit Kletterpflanzen überwucherte Stütze – nichts, seine Ähnlichkeit mit einem wohlgepflegten, lächelnden Veteranen ausgenommen, der mitsamt Krücke und allem Zubehör in einem sonnigen Winkel des Gartens sitzt – machte es zu einem für Bequemlichkeit liebende Menschen bewohnbaren Hause. Unter schlechter oder achtloser Verwaltung wäre es gar bald in das Landstreicherstadium des Verfalls übergegangen. So, wie es war, liebte es die ganze Familie, und der Doktor war niemals so poetisch angehaucht, wie wenn er seine imaginäre Geschichte erzählte oder die Charaktere seiner verschiedenen Herren schilderte, von dem jüdischen Kaufmann an, der nach der Einäscherung der Stadt seine Mauern neu errichtete, über den geheimnisvollen Runenschnitzer bis zu dem langschädeligen, schmutzigen Knoten, von dem er es selbst unter ungeheuren Kosten erworben hatte. Was seine Dauerhaftigkeit anbetraf, so war ihm niemals der Gedanke gekommen, daran zu zweifeln. Was vier Jahrhunderte lang gestanden hatte, konnte wohl noch ein wenig länger aushalten.

Ja, in diesem besonderen Winter, nachdem der Schatz verlorengegangen war, quälte die Desprez eine ganz andere und ihrem Herzen weit näherliegende Sorge. Jean-Marie war ganz entschieden nicht mehr er selbst. Er hatte Anfälle hektischen Tätigkeitsdranges, während derer er ganz besonders zu gefallen sich bemühte, mehr und rascher redete als gewöhnlich und seine Studien doppelt fleißig betrieb. Diese wurden jedoch von Stunden der Melancholie und brütenden Schweigens abgelöst, in denen der Junge fast unleidlich war. »Schweigen,« moralisierte der Doktor, »du siehst, was das Schweigen für Folgen hat, Anastasie. Hätte der Junge sein Herz ausgeschüttet, wie es sich gehört, die kleine Enttäuschung über den Schatz, das bißchen Ärger über Casimirs Unhöflichkeit wäre längst vergessen. Unter diesen Umständen aber zehrt es an ihm wie eine Krankheit. Er magert ab, sein Appetit ist unregelmäßig und im großen und ganzen schwächer. Ich halte ihn unter strenger Zucht, verwende die kräftigsten Tonika, beides umsonst.«

»Meinst du nicht, daß du ihm zuviel eingibst?« fragte schaudernd Anastasie.

»Eingibst?« rief der Doktor. »Ich eingeben? Anastasie, ich glaube, du bist verrückt!«

Die Zeit verstrich, und des Knaben Gesundheit wurde langsam schlechter. Der Doktor schrieb es dem Wetter zu, das kalt und stürmisch war. Er ließ den Kollegen aus Bourron kommen, faßte eine Vorliebe für ihn, verhimmelte sein Können und befand sich bald selbst in Behandlung – für welches Leiden, war kaum ersichtlich. Er und Jean-Marie hatten jeder zu verschiedenen Tageszeiten verschiedene Medizinen einzunehmen. Der Doktor pflegte, die Uhr in der Hand, auf den genauen Moment zu warten. »Es geht nichts über die Regelmäßigkeit,« sagte er dann wohl, teilte die Dosen ab und pries die Tugenden der Tränklein; und wenn dem Jungen anscheinend auch nicht besser davon wurde, so war dem Doktor doch keineswegs schlechter.

Am fünften November ging es dem Jungen besonders schlecht. Es war unfreundliches, böiges Wetter. Ungeheure, zerrissene Wolkenmassen segelten eilig den Himmel entlang; flüchtige Sonnenstrahlen huschten über das Dorf hin, gefolgt von Dunkelheiten und einem weißen, fliegenden Regen. Mitunter erhob der Wind brüllend seine Stimme. Die Bäume an den Wiesenrainen peitschten sich gegenseitig, und die Blätter zerstoben wie Staub.

Bei dem Wetter und des Jungen Krankheit war der Doktor ganz in seinem Element, galt es doch eine Theorie zu beweisen. Da saß er, die Taschenuhr in der Hand und das Barometer vor sieh und wartete die Windausbrüche ab, um ihre Wirkung auf den menschlichen Puls zu notieren. »Dem wahren Philosophen,« bemerkte er entzückt, »wird jede Erscheinung in der Natur zum Spiele.« Ein Brief wurde ihm gebracht; da aber seine Ankunft mit dem Eintreffen eines Windstoßes zusammenfiel, stopfte er ihn nur in die Tasche und widmete sich Jean-Marie, und im nächsten Augenblick zählten beide um die Wette ihren Puls.

Bei Anbruch der Nacht steigerte der Wind sich zu einem Orkan. Er belagerte das Dörfchen scheinbar von allen Seiten, wie mit Kanonen. Das Haus zitterte und krachte; glühende Kohlen wurden über die Dielen gefegt. Das Toben und Grauen der Nacht hielt die Menschen noch lange wach; lauschend saßen sie mit bleichen Gesichtern da.

Es war zwölf Uhr, als die Familie Desprez sich niederlegte. Um halb zwei Uhr, als der Sturm seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, erwachte der Doktor aus einem unruhigen Schlummer und setzte sich aufrecht. Noch immer klang ein bestimmtes Geräusch in seinen Ohren, ob es jedoch aus dieser Welt oder aus der Welt der Träume stammte, vermochte er nicht zu sagen. Ein weiterer Windstoß folgte. Er wurde von einem schwindelerregenden Schwanken des ganzen Hauses begleitet, und in der darauffolgenden Stille konnte Desprez die Dachziegel wasserfallähnlich in den Heuboden über seinem Kopfe hinabstürzen hören. Er riß Anastasie buchstäblich aus dem Bett.

»Lauf,« schrie er, ihr einige Kleidungsstücke in die Hand drückend; »das Haus stürzt zusammen! In den Garten!«

Sie ließ es sich nicht zweimal sagen, im Nu war sie die Treppe hinunter. Niemals hatte sie sich einer solchen Beweglichkeit für fähig gehalten. Inzwischen hatte der Doktor mit der Schnelligkeit einer Pantomime und ohne auf zerschundene Knie zu achten, Jean-Marie herausgetrommelt, Aline ihrem jungfräulichen Schlummer entrissen, sie bei der Hand genommen, und war mit ihr die Treppe hinunter in den Garten gerast, das noch halbschlafende Mädchen hinter sich herschleifend.

Die Flüchtlinge trafen sich, wie durch gemeinsamen Instinkt geleitet, in der Laube. Eine Sekunde lang brach sich der Mond durch die Wolken Bahn und enthüllte vier aneinandergedrängte Gestalten in bunt durcheinandergewürfelten, flatternden und stark mangelhaften Verkleidungen. Bei diesem demütigenden Schauspiel raffte Anastasie ihr Nachthemd verzweifelt zusammen und brach in geräuschvolles Weinen aus. Der Doktor flog, sie zu trösten, aber sie schob ihn weg. In jedem einzelnen vermutete sie Zuschauer von draußen und glaubte die Dunkelheit voll von spähenden Augen.

Ein zweiter Strahl und ein weiterer heftiger Windstoß; man sah das Haus in allen Fugen schwanken, und gerade als das Licht erlosch, verkündete ein Krachen, das das Brüllen des Windes übertönte, seinen Fall. Im nächsten Augenblick schwirrte der ganze Garten von fliegenden Dachpfannen und Mauerziegeln. Ein derartiges Wurfgeschoß berührte im Vorbeisausen des Doktors Ohr; ein zweites fiel Aline auf den Fuß, die sogleich die Nacht mit dem Grausen ihrer Schreie erfüllte.

Inzwischen war das Dorf munter geworden, Lichter blitzten in den Fenstern auf, Zurufe drangen zu den vieren vor, und der Doktor versuchte sie, heldenmütig gegen Aline und das Unwetter ankämpfend, zu beantworten. Allein die Aussicht, Hilfe zu bekommen, rüttelte Anastasie zu aktiverem Schrecken wach.

»Henri, es werden Leute kommen,« schrie sie ihrem Gatten ins Ohr.

»Ich hoffe es,« war die Antwort.

»Das geht nicht. Lieber sterbe ich,« jammerte sie.

»Liebes Kind,« sagte der Doktor tadelnd, »du bist aufgeregt. Ich habe dir doch Kleider gegeben. Was hast du denn mit ihnen gemacht?«

»Ach, ich weiß es doch nicht, – ich muß sie weggeworfen haben. Wo sind sie nur?« schluchzte sie.

Desprez tappte in der Dunkelheit herum. »Ausgezeichnet!« bemerkte er; »meine grauen Manchesterhosen! Gerade das, was du brauchst.«

»Gib sie her,« schrie sie krampfhaft; aber sobald sie sie in der Hand hielt, schien sie wie umgewechselt – einen Augenblick stand sie stumm da, und dann drängte sie dem Doktor das Kleidungsstück wieder auf. »Gib sie Aline,« sagte sie, – »armes Mädchen.«

»Unsinn,« sagte der Doktor. »Aline weiß ja gar nicht, wie ihr geschieht. Sie hat vor Schrecken den Verstand verloren. Außerdem ist sie nur ein Bauernmädel. Nebenbei bin ich ernstlich besorgt über eine der artige Exponierung einer Person mit so haushockerischen Angewohnheiten, wie du es bist. Meine Besorgnis und deine phantastische Schamhaftigkeit deuten beide auf das gleiche Gegenmittel – die Pantalons.« Und er hielt sie ihr hin. »Es ist unmöglich. Du verstehst mich nicht,« sagte sie würdevoll.

Mittlerweile war Hilfe herangenaht. Es hatte sich als unmöglich herausgestellt, von der Straße her einzudringen, da das Tor mit Mauerwerk verschüttet war, und die Regenhuschen drohten, weitere Lawinen loszulösen. Aber zwischen dem Garten des Doktors und dem Nachbarsgarten zur Rechten gab es jene überaus malerische Vorrichtung – einen Gemeindebrunnen. Die Tür nach der Desprezschen Seite hin war zufällig unverriegelt gewesen und jetzt tauchten in der gewölbten Öffnung das bärtige Gesicht eines Mannes und ein Arm auf, der mit einer Laterne in die stürmische Welt der Dunkelheit hineinleuchtete, in der Anastasie ihre Leiden verbarg. Das Licht fiel hier und dort auf die unruhigen Apfelbaumzweige und schimmerte auf dem Grase; allein die Laterne wurde Anastasie zum Mittelpunkt der Welt. Sie fuhr vor dem Eindringling zurück. »Hierher,« schrie der Mann. »Seid ihr alle in Sicherheit?«

Aline rannte noch immer schreiend auf den Neuankömmling zu und wurde mit dem Kopfe voran durch die Maueröffnung gezerrt.

»Jetzt ist die Reihe an dir, vorwärts, Anastasie,« sagte deren Gatte.

»Ich kann nicht,« erwiderte sie.

»Sollen wir hier vielleicht alle an Erkältung sterben, Madame?« donnerte sie Doktor Desprez an.

»Du kannst ja gehen!« rief sie. »So geh doch, geh doch! Ich kann hier bleiben; mir ist ganz warm.«

Mit einem Fluch packte sie der Doktor bei den Schultern. »Halt!« schrie sie. »Ich werde sie anziehen.«

Sie nahm die verhaßten Dinger zum zweitenmal in die Hand, aber ihr Widerwillen war stärker als ihre Scham. »Niemals!« rief sie schaudernd und warf sie im weiten Bogen in die Nacht hinaus.

Im nächsten Moment hatte der Doktor sie dem Brunnen zugeschleudert. Der Mann mit der Laterne stand immer noch da. Anastasie schloß die Augen, und es war ihr, als ob sie sterben müsse. Wie sie durch den Bogen hindurchgehoben wurde, wußte sie nicht; sowie sie jedoch auf der anderen Seite angekommen war, wurde sie von der Nachbarsfrau in Empfang genommen und in freundliche Tücher gehüllt.

Betten wurden für die beiden Frauen zurechtgemacht, Kleidungsstücke jeder Größe für den Doktor und Jean-Marie, und den Rest der Nacht, während Madame halb wachend, halb schlafend in den Regionen hart an der Grenze der Hysterie weilte, saß ihr Gatte neben dem Feuer und hielt den bewundernden Nachbarn Vorträge. Er zeigte ihnen des langen und breiten die Ursachen des Unglücks. Seit Jahren, erklärte er, sei der Zusammensturz zu befürchten gewesen. Ein Zeichen wäre dem anderen gefolgt. Die Fugen hätten sich erweitert, der Wandbewurf wäre abgeblättert, die alten Mauern hatten sich nach innen gebogen. Schließlich, vor noch nicht drei Wochen, wäre die Kellertür kaum noch auf- und zugegangen. »Der Keller!« meinte er, bedenklich über einem Glase angewärmten Weines den Kopf schüttelnd. »Das erinnert mich an meine armen Weine. Dank einer freundlichen Vorsehung war der Hermitage beinahe zu Ende. Eine Flasche – eine einzige Flasche dieses unvergleichlichen Weines ist mir verloren gegangen. Ich hatte sie für Jean-Maries Hochzeit aufgehoben. Nun, ich werde mir neuen hinlegen müssen; das wird meinem Leben noch Interesse verleihen. Ich bin jedoch in den Jahren schon etwas vorgerückt. Mein großes Werk liegt nun unter den Trümmern meines schlichten Heims begraben; es wird niemals vollendet werden – mein Name wird in den Sand geschrieben sein. Dennoch sehen Sie mich ruhig – ja fast heiter. Können Ihre Priester mehr?«

Bei dem ersten Morgenstrahl verließen sie den Kamin und begaben sich auf die Straße. Der Wind war abgeflaut, trieb aber nach wie vor eine Welt unruhiger Wolken vor sich her. Die Luft war schneidend wie bei Frost, und die ganze Gesellschaft klopfte sich, während sie in der regnerischen Morgendämmerung unter den Ruinen umherstand, auf die Brust und blies sich erwärmend in die Hände. Das Haus war gänzlich zusammengestürzt, die Mauern nach außen, das Dach nach innen. Es war nur mehr ein Schutthaufen, aus dem stellenweise ein zersplitterter Balken emporragte. Eine Wache wurde bei den Trümmern aufgestellt, um das Eigentum der Besitzer zu schützen, und die ganze Gesellschaft begab sich zu Tentaillon, um auf Kosten des Doktors zu frühstücken. Hierbei kreiste die Flasche ergiebigst, und noch bevor sie vom Tische ausstanden, hatte es zu schneien begonnen.

Drei Tage lang schneite es unaufhörlich, und die mit Öltuch zugedeckten und von einer Schildwache gehüteten Ruinen blieben unberührt. Die Desprez waren inzwischen zu Tentaillons gezogen. Madame brachte ihre Zeit in der Küche zu, wo sie mit Hilfe der bewundernden Madame Tentaillon kleine Leckerbissen bereitete, oder sie saß, in Gedanken versunken, neben dem Feuer. Der Fall des Hauses hatte sie merkwürdig wenig mitgenommen. Der Schlag war durch einen zweiten pariert worden. In Gedanken kämpfte sie den Kampf mit den Hosen ständig immer wieder durch. Hatte sie recht oder unrecht getan? Einmal lobte sie sich wegen ihrer Standhaftigkeit, dann wieder mit einem bitteren Erröten vergeblicher Reue beklagte sie den Verlust der Hosen. Keine Krise in ihrem Leben hatte ihre Urteilskraft auf eine so harte Probe gestellt. Inzwischen hatte sich der Doktor mit ungeheurer Genugtuung in die Situation hineingefunden. Zwei der Sommerpensionäre waren in Erwartung von Geldsendungen als Gefangene dort zurückgeblieben. Beide waren Engländer, aber der eine sprach ziemlich fließend Französisch, und war außerdem ein humorvoller, geistig beweglicher Bursch, mit dem der Doktor in dem sicheren Gefühl, verstanden zu werden, stundenlang debattieren konnte. Manch ein Glas leerten sie zusammen, und zahlreich waren die Themata, die sie berührten.

»Anastasie,« sagte der Doktor am dritten Morgen, »nimm dir ein Beispiel an deinem Gatten, an Jean-Marie. Die Aufregung hat bei dem Jungen besser angeschlagen als alle meine Kräftigungsmittel. Er absolviert seinen Dienst als Schildwache mit wahrer Begeisterung. Und was mich betrifft, so sieh mich doch an. Ich habe mit den Ägyptern Freundschaft geschlossen, und mein Pharao, ich versichere es dir, ist sogar ein äußerst angenehmer Mensch. Du allein bist verstimmt. Wegen eines Hauses – ein paar Kleider? Was sind die neben meiner Pharmacopoea, – der Arbeit vieler Jahre, die unter Steinen und Hölzern hier in diesem deprimierenden Dorfe begraben liegt? Der Schnee fällt; ich schüttle ihn mir vom Mantel ab! Mir solltest du nacheifern. Unser Einkommen wird zwar leiden, das gebe ich zu, da wir bauen müssen; aber Mäßigkeit, Geduld und Philosophie werden sich an unserem Herde versammeln. Inzwischen sind die Tentaillons höchst gefällig; das Essen ist, mit deinen Ergänzungen, ganz leidlich; nur der Wein ist abscheulich – nun, ich werde mir heute welchen kommen lassen. Mein Pharao wird sich freuen, mal wieder einen anständigen Tropfen zu trinken; aha! Und ich werde sehen, ob er die Krone aller Veranlagungen besitzt – eine Weinzunge. Hat er eine Weinzunge, so ist er einfach vollkommen.«

»Henri,« sagte sie kopfschüttelnd, »du bist ein Mann; du kannst meine Gefühle nicht verstehen. Keine Frau wäre imstande, die Erinnerung an eine derartige öffentliche Demütigung abzuschütteln.«

Der Doktor vermochte ein Kichern nicht zu unterdrücken. »Verzeih, mein Liebling,« sagte er, »aber wirklich, dem philosophischen Verstande erscheint der Vorfall als ein wenig nebensächlich. Du sahst außerordentlich gut – «

»Henri!« rief sie.

»Schon gut, schon gut, ich sage nichts mehr«, war seine Antwort. »Obwohl, wenn du eingewilligt hättest, meine – à propos,« unterbrach er sich, »meine Hosen! Sie liegen noch immer im Schnee – meine Lieblingshosen!« Und fort war er, auf der Suche nach Jean-Marie. Zwei Stunden später kehrte der Junge mit einem Spaten unter dem einen Arm und einem merkwürdig aussehenden Bündel aufgeweichter Fetzen unter dem anderen ins Gasthaus zurück.

Der Doktor nahm es ihm mit trauriger Miene ab. »Sie sind gewesen!« sagte er. »Vorbei! Vortrefflichste Pantalons, ihr seid nicht mehr! Halt, in dieser Tasche steckt etwas«, und er zog ein Blatt Papier hervor. »Ein Brief! Ah, jetzt erinnere ich mich; ich erhielt ihn am Morgen des Unwetters, als ich gerade in heiklen Untersuchungen verstrickt war. Er ist immer noch lesbar. Von dem armen, lieben Casimir. Wie gut,« meinte er behaglich lachend, »daß ich ihn zur Geduld erzogen habe. Der arme Casimir, und erst seine Korrespondenz – seine endlose, ängstliche, idiotische Korrespondenz!«

Inzwischen hatte er vorsichtig den nassen Brief entfaltet, als er sich jedoch darüber bückte, um ihn zu entziffern, umwölkte sich seine Stirn.

»Bigre!« rief er, wie elektrisiert zusammenzuckend. Im nächsten Augenblick flog der Brief ins Feuer und im Handumdrehen hatte er die Mütze auf den Kopf gestülpt.

»Zehn Minuten! Wenn ich laufe, kann ich ihn noch erwischen«, schrie er. »Er hat ja immer Verspätung. Ich fahre nach Paris – werde telegraphieren.«

»Henri, was ist denn los?« rief seine Frau.

»Türkenrente!« erscholl es von dem verschwindenden Doktor; und Anastasie und Jean-Marie blieben mit den durchnäßten Hosen allein. Desprez war nach Paris gereist, das zweite Mal in sieben Jahren. Er war nach Paris gereist, bekleidet mit einem Paar Holzschuhe, einer gestrickten Weste, einer schwarzen Bluse, einer Bauernnachtmütze und mit zwanzig Franken in der Hosentasche. Der Fall des Hauses war nur noch ein Wunder zweiten Grades, die ganze Welt hätte zusammenstürzen können, seine Familie wäre kaum weniger erstaunt gewesen.


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