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Der Doktorwagen war ein zweirädriges Gig mit einer Haube; ein Gefährt, wie es von Landärzten bevorzugt wird. Wie oft ist man ihm auf entlegenen Landwegen zwischen den Pappeln oder auf der Dorfstraße, an irgend einen Torpfosten gebunden, begegnet! Diese Art Wagen leidet – besonders im Trott – an einer Art schaukelnder Bewegung quer über der Achse, die ihm ein recht albernes Aussehen gibt. Die Haube beschreibt einen stattlichen Bogen in der Landschaft und übt auf den nachdenklichen Fußgänger eine feierlich-lächerliche Wirkung aus. Das Fahren in solch einem Wagen kann daher nicht wohl zu den bevorzugten Beschäftigungen des Lebens zählen, mag sich bei Leberleiden indes als eine recht nützliche Sache erweisen. Daher wohl auch seine große Beliebtheit bei Ärzten.
Eines frühen Morgens führte Jean-Marie des Doktors Einspänner aus dem Stall, öffnete das Tor und erklomm den Kutschersitz. Der Doktor folgte ihm, von Kopf bis zu Fuß in schneeweißes Leinen gekleidet, mit einem ungeheuren flaschenfarbenen Sonnenschirm bewaffnet und einer Botanisiertrommel am Gürtel, und die Equipage fuhr alsbald in schlankem Trabe in selbsterzeugtem Wirbelwind davon. Das Ziel war Franchard, der Zweck, Pflanzen zu sammeln, im Hinblick auf die »Vergleichende Pharmacopoea«.
Ein kurzes Rattern auf der offenen Landstraße und sie hatten den Rand des Waldes erreicht und bogen auf einen unbefahrenen Weg ein. Das Gig schaukelte zur Begleitung des Geräuschs knackender Zweige sanft über den Sand hinweg. Zu Häupten spannte sich eine große, grüne, leise murmelnde Wolke dichten Laubes. In den Bogengängen des Waldes hatte die Luft die Frische der Nacht beibehalten. Die athletische Haltung der Bäume, die statuengleich jeder einen Berg Blätter zu stemmen schienen, erfreute das Herz; und die Umrisse der Stämme führten den bewundernden Blick aufwärts dorthin, wo die äußersten Blattspitzen in einem Fleck von Azur glänzten. Kurz, es war der richtige Ort für einen Anhänger der Göttin Hygieia.
»Bist du schon in Franchard gewesen, Jean-Marie?« erkundigte sich der Doktor. »Ich glaube nicht.«
»Niemals,« erwiderte der Junge.
»Es ist eine in einer Schlucht gelegene Ruine,« fuhr Desprez in belehrendem Tonfall fort; » die Ruine einer Klausnerei und Kapelle. Die Geschichte weiß viel von Franchard zu erzählen; daß die Einsiedler häufig von Räubern ermordet wurden; daß sie eine höchst ungenügende Diät hielten, und daß man von ihnen erwartete, daß sie ihre Tage im Gebet zubrächten. Ein Brief voll der vorzüglichsten hygienischen Ratschläge von einem Vorgesetzten des Ordens an einen dieser Einsiedler ist uns erhalten geblieben; er rät ihm, von seinem Buch zum Gebet sich zu wenden und dann wieder zum Buche zurück, der Abwechslung halber, und, wenn er beides satt habe, im Garten zu wandeln und den Honigbienen zuzuschauen. Dies ist auch heute noch mein System. Du wirst häufig bemerkt haben, daß ich – oft in der Mitte eines Satzes – meine Pharmacopoea im Stich ließ, um an die Sonne und die Luft zu gehen. Ich bewundere den Verfasser dieses Briefes aus tiefstem Herzen; er war ein Mann, der über die meisten Dinge nachgedacht hatte. Ja, hätte ich im Mittelalter gelebt (Gott sei Dank, daß ich es nicht tat), ich wäre auch Eremit geworden ... das heißt, wenn ich nicht von Beruf Narr geworden wäre. Diese waren damals noch die einzigen, die philosophisch leben durften, ob lachend, ob weinend, ob im Spott, ja, man kann sagen, sogar in ihren Tränen. Bis die Sonne des Positiven tagte, blieb dem Weisen nichts übrig, als zwischen diesen beiden zu wählen.«
»Ich wäre natürlich ein Narr geworden,« bemerkte Jean-Marie.
»Ich kann mir nicht denken, daß du dich in deinem Berufe ausgezeichnet hättest,« sagte der Doktor, den Ernst des Jungen bewundernd. »Lachst du eigentlich jemals?«
»Oh ja,« entgegnete der andere. »Ich lache häufig. Ich habe Witze sehr gern.«
»Seltsames Wesen!« meinte Desprez. »Aber ich divagiere. (Ich merke an tausend Dingen, daß ich alt werde.) Franchard wurde schließlich in den englischen Kriegen, die auch Gretz schleiften, zerstört. Aber – und hierauf kommt es an – die Klausner (denn inzwischen gab es ihrer schon mehrere) hatten die Gefahr vorausgesehen und die Opfergefäße sorgfältig versteckt. Diese Gefäße hatten ungeheuren Wert, Jean-Marie, – einen ungeheuren, ja man kann sagen, unschätzbaren Wert; sie waren herrlich gearbeitet, von kostbarstem Material. Und jetzt höre auf mich, – man hat sie niemals gefunden. Unter der Regierung Ludwigs des Vierzehnten gruben einige Kerls ganz in der Nähe der Ruinen nach. Plötzlich – tock! – stieß der Spaten gegen einen harten Gegenstand. Stell dir vor, wie die Männer sich anblickten; wie ihre Herzen klopften, wie sie die Farbe wechselten. Es war eine Truhe – die Stelle, wo der Schatz von Franchard begraben lag! Wie hungrige Raubtiere rissen sie den Deckel hoch. Aber ach! Es war nicht der Schatz, sondern nur einige Priestergewänder, die, sowie sie mit der zehrenden Luft in Berührung kamen, zusammensanken und in Staub zerfielen. Der Schweiß dieser braven Kerls ward ihnen am Körper eiskalt, Jean-Marie. Ich möchte meinen Ruf dafür verpfänden, daß, falls gerade ein schneidender Wind wehte, der eine oder andere von ihnen sich für seine Mühe sogar eine Lungenentzündung holte.« »Ich hätte gern gesehen, wie sie in Staub zerfielen«, sagte Jean-Marie. »Sonst wäre es mir ziemlich gleichgültig gewesen.«
»Du hast keine Phantasie«, rief der Doktor. »Stell dir doch die Szene vor! Verweile bei dem Gedanken: ein großer Schatz liegt jahrhundertelang in der Erde; der Stoff für eine Existenz des Leichtsinns, der Fülle und des Überflusses liegt brach; Kleider und herrliche Bilder werden nicht gekauft; die flinksten Pferde rühren, wie von einem Zauber befallen, keinen Huf; Frauen, mit der lieblichen Gabe des Lächelns begabt, lächeln nicht; Karten, Würfel, Operngesang, Orchester, Schlösser, wundervolle Gärten und Parks, große Schiffe mit Türmen von Segeltuch, liegen alle ungeboren im Sarge – und die dummen Bäume wachsen im Sonnenlicht Jahr um Jahr über sie hinweg. Der Gedanke kann einen doch rasend machen.«
»Es ist doch nur Geld«, entgegnete Jean-Marie. »Es würde ja nur schaden.«
»Na, na,« rief Desprez, »das ist Philosophie; das ist ja alles sehr schön, trifft aber den Nagel nicht auf den Kopf. Außerdem handelte es sich ja nicht ›nur um Geld‹, wie du es nennst; es waren auch Kunstwerke dabei; die Gefäße waren getrieben. Du redest wie ein Kind. Du machst mich wirklich müde, meine Worte so wie ein Papagei, aus jedem logischen Zusammenhang heraus, daherzuleiern.«
»Nun, uns geht die Sache ja nichts an«, meinte der Junge gehorsam.
In diesem Augenblick stießen sie auf die große Landstraße, und der plötzliche Wechsel von der Waldesstille zum rasselnden Straßenpflaster bewirkte, zusammen mit seinem Ärger, daß der Doktor schwieg. Das Gig holperte weiter: die Bäume glitten vorüber, in schweigender Beobachtung, als hätten sie etwas auf dem Herzen. Vorbei gings an der Wegkreuzung; dann hatten sie Franchard erreicht. Sie stellten das Pferd in dem kleinen einsamen Gasthof ein und gingen im Schlenderschritt weiter. Die Schlucht war dunkelrot von Heidekraut; die Felsen und Birken leuchteten in der Sonne. Lautes Biengesumm machte Jean-Marie schläfrig, und er setzte sich gegen einen Klumpen Heidekraut, während der Doktor beim Sammeln seiner Kräuter in raschen Wendungen hin und her ging.
Dem Jungen war der Kopf leicht auf die Brust gesunken, die um die Knie geschlungenen Finger hatten sich entspannt, als er durch einen plötzlichen Schrei aus die Füße gerissen wurde. Es war ein seltsamer Laut, dünn und abgehackt; er fiel gleichsam zu Boden, und Stille kehrte wieder, als hätte man sie nie gestört. Er hatte des Doktors Stimme nicht erkannt; da aber niemand anders sich in dem Tale befand, mußte es offenbar der Doktor gewesen sein, der den Laut ausgestoßen hatte. Er spähte nach links und rechts, und da stand Desprez in einer Nische zwischen zwei Felsblöcken und blickte auf seinen Adoptivsohn mit einem Gesicht, weiß wie Papier.
»Eine Viper!« schrie Jean-Marie und rannte auf ihn zu. »Eine Viper! Sie sind gebissen worden!«
Der Doktor trat schweren Schrittes aus dem Spalt heraus und ging schweigend auf den Jungen zu, den er rauh bei der Schulter packte.
»Ich habe ihn gefunden«, sagte er und rang nach Luft.
»Eine Pflanze?« fragte Jean-Marie.
Desprez bekam einen Anfall unnatürlicher Heiterkeit, den die Felsen aufgriffen und nachahmten. »Eine Pflanze!« wiederholte er verächtlich. »Ja – natürlich – eine Pflanze. Und hier,« fuhr er plötzlich fort, seine rechte Hand zeigend, die er bisher hinter dem Rücken verborgen hatte, »hier ist eine der Zwiebeln.«
Jean-Marie erblickte einen schmutzigen, ganz mit Erde bedeckten Teller.
»Das?« rief er. »Das ist ja ein Teller!«
»Das ist ein Wagen und Pferde«, schrie der Doktor. »Junge,« fuhr er, wärmer werdend, fort, »ich riß ein dickes Moospolster von diesem Felsen los und entdeckte einen Spalt; und als ich in den Spalt hineinsah, was meinst du wohl, das ich da erblickte? Ich sah ein Haus in Paris mit Hof und Garten, sah meine Frau in Diamanten erstrahlen, sah mich selbst als Deputierten, sah dich – ja, ich – ich sah deine Zukunft«, schloß er ein wenig matt. »Ich habe soeben Amerika entdeckt«, fügte er hinzu.
»Aber was ist es denn wirklich?« fragte der Junge.
»Der Schatz von Franchard«, schrie der Doktor, und seinen braunen Strohhut auf die Erde werfend, stieß er ein Indianergeheul aus und stürzte sich auf Jean-Marie, den er mit Umarmungen erstickte und mit Tränen benetzte. Dann warf er sich der Länge nach ins Heidekraut und lachte von neuem, bis das Tal widerhallte. Allein der Junge empfand jetzt ein eigenes Interesse, das Interesse eines Knaben. Kaum hatte er sich von des Doktors Umklammerung befreit, als er auch schon in die Nische hineinsprang, seine Hand in die Spalte schob und nacheinander die mit einer jahrhundertealten Erdschicht überzogenen Kelche, Leuchter und Hostienteller der Eremitage von Franchard hervorholte. Als Letztes kam ein festverschlossener und sehr schwerer Kasten.
»Ach, welch ein Spaß!« rief er.
Als er sich jedoch nach dem Doktor umsah, der ihm auf den Fersen gefolgt war und ihn nun stumm beobachtete, erstarben ihm die Worte auf den Lippen. Desprez war wieder aschgrau geworden; seine Lippen zuckten und zitterten; eine Art bestialischer Gier hatte sich seiner bemächtigt.
»Das ist kindisch«, sagte er. »Wir verlieren hier kostbare Zeit. Zurück in den Gasthof, spann an und bringe den Wagen hierher an jenen Abhang. Lauf, als gälte es das Leben, und vergiß nicht – zu keinem Menschen ein Wort. Ich bleibe als Wache hier zurück.«
Jean-Marie tat, wie man ihm geheißen, wenn auch nicht ohne einige Verwunderung. Das Gig wurde an den angegebenen Platz gebracht, und die beiden trugen allmählich den Schatz von seinem Versteck nach dem Verschlag unter dem Kutschersitz. Sobald er verstaut war, gewann der Doktor seine alte Heiterkeit zurück. »Ich bringe voller Dankbarkeit meinen Tribut dem Genius dieses Tales dar,« sagte er. »Wer jetzt glühende Kohle, eine Färse und einen Krug Landwein hätte! Ich bin in der richtigen Stimmung für ein Opfer, für eine superbe Libation. Warum auch nicht? Wir sind hier in Franchard. Helles englisches Ale ist zuhaben – es ist zwar nicht klassisch, aber ausgezeichnet. Junge, wir werden Ale trinken.«
»Aber ich dachte, es wäre ungesund,« sagte Jean-Marie.
»Außerdem ist es sehr teuer.«
»Papperlapapp!« rief der Doktor lustig. »Auf nach dem Wirtshaus!«
Damit kletterte er in das Gig und warf mit elastischer, jugendlicher Geste den Kopf zurück. Das Pferd mußte wenden, und in wenigen Sekunden machten sie vor dem Zaun des Wirtsgartens halt.
»Hier,« sagte Dr. Desprez – »hier bei diesem Tisch, so daß wir ein Auge auf die Sachen haben können.«
Sie banden das Pferd an und betraten den Garten, der Doktor singend, mitunter mit phantastischen Kopftönen, dann wieder die tiefsten Resonanzklänge aus der Brust hervorholend. Er nahm Platz, klopfte laut gegen den Tisch, und überschüttete den Kellner mit geistvollen Bemerkungen; und als die Flasche, die mit Kohlensäure weit stärker geladen war als selbst der berauschendste Champagner, endlich erschien, schenkte er ein hohes Glas Schaum ein und schob es Jean-Marie zu. »Trink,« sagte er, »trink tief.«
»Ich möchte lieber nicht,« stammelte, seiner Erziehung treu, der Junge.
»Was?« donnerte Desprez.
»Ich fürchte mich davor,« sagte Jean-Marie, »mein Magen – «
»Nimm es oder laß es stehen,« unterbrach ihn wütend der Doktor; »aber merke dir ein für allemal, – es gibt nichts Verächtlicheres als einen Puritaner.«
Hier war wieder einmal eine neue Lektion! Der Junge saß in Gedanken versunken da und starrte, ohne davon zu kosten, das Glas an, während der Doktor das seinige leerte und von neuem füllte, anfänglich mit umwölkter Stirn; allmählich jedoch gab er der Sonne, dem prickelnden, zu Kopfe steigenden Getränk und seinem eigenen Hang, glücklich zu sein, nach.
»Mitunter,« sagte er schließlich, als eine Art Konzession an die strengere Haltung des Knaben, »ganz mitunter und in einem so kritischen Moment, ist solches Ale ein Nektar für die Götter. Die Gewohnheit, freilich, ist demoralisierend; Wein, der Saft der Traube, ist der wahre Trank der Franzosen, wie ich des öfteren zu bemerken die Gelegenheit hatte; und ich weiß nicht einmal, ob ich dich ob deiner Weigerung, dies ausländische Stimulansmittel zu genießen, tadeln soll. Du darfst dir Wein und Kuchen bestellen. Ist die Flasche schon leer? Nun, wir werden nicht stolz sein; wir werden uns deines Glases erbarmen.«
Als das Bier zu Ende war, wurde der Doktor, während Jean-Marie seinen Kuchen vertilgte, über die Maßen ungeduldig. »Ich brenne darauf, aufzubrechen,« sagte er, nach der Uhr sehend. »Großer Gott, wie langsam du ißt!« Dennoch entsprach das Langsamessen seinem ganz besonderen Rezept, ja stellte, seiner Meinung nach, das Hauptgeheimnis der Langlebigkeit dar.
Sein Martyrium hatte jedoch schließlich ein Ende; das Paar nahm seine Plätze in dem Wägelchen wieder ein, und Desprez kündigte, sich wohlig in die Polster zurücklehnend, seine Absicht an, nach Fontainebleau zu fahren.
»Nach Fontainebleau?« wiederholte Jean-Marie.
»Meine Worte find stets wohl erwogen,« sagte der Doktor. »Los!«
Der Doktor wurde durch die Tore des Paradieses gefahren; die Luft, das Licht, die schimmernden Blätter, ja selbst die Bewegungen des Gefährts schienen sich seinen goldenen Meditationen anzupassen. Mit zurückgebogenem Haupte träumte er eine Reihe sonniger Visionen: das Ale und die Freude tanzten in seinen Adern. Endlich hub er zu sprechen an.
»Ich werde Casimir telegraphieren,« sagte er. »Der gute Casimir! Ein Bursche von einer niedrigeren Art von Intelligenz, Jean-Marie, entschieden unschöpferisch und unpoetisch; trotzdem wird er dein Studium lohnen. Sein Vermögen ist ungeheuer und ist voll und ganz die Frucht seines Fleißes. Er ist gerade der Mann, uns bei dem Verkauf unserer Kostbarkeiten zu helfen, uns in Paris ein passendes Haus zu finden und die Einzelheiten unserer Übersiedelung zu besorgen. Der vortreffliche Casimir, einer meiner ältesten Schulkameraden! Nebenbei geschah es auf seinen Rat hin, daß ich mein kleines Vermögen in türkischen Schuldverschreibungen anlegte; haben wir erst die Schätze der mittelalterlichen Kirche unseren Einsätzen im Reiche Mahomeds hinzugefügt, mein Jungchen, so werden wir uns in Dublonen wälzen, ja förmlich wälzen! Prächtiger Wald,« rief er, »fahr wohl! Obwohl zu anderen Schauplätzen berufen, werde ich dich doch nicht vergessen. Dein Name ist mir ins Herz gegraben. Ich werde unter dem Einfluß der Prosperität noch dithyrambisch, Jean-Marie. Dies ist der Impuls der natürlichen Seele; die Veranlagung des primitiven Menschen. Und ich – nun, ich will das Lob nicht zurückweisen – ich habe meine Jugend wie ein Jungfrauentum bewahrt; jeder andre, der jahrelang dies schläfrige Bauernleben geführt hätte, wäre rustifiziert, stereotyp geworden; allein ich, ich preise meine glückliche Veranlagung, ich habe mir meine Jugendfrische erhalten. Diese neue Opulenz und ein neuer Pflichtenkreis finden mich in der Begeisterung ungeschwächt und nur an Kenntnissen gereift. Was nun diesen künftigen Wechsel anbelangt, Jean-Marie – er hat dich vielleicht schockiert. Sage es nur gerade heraus, hat er dich nicht ein wenig inkonsequent angemutet? Gestehe es nur – es hat keinen Zweck, dich verstellen zu wollen – er hat dich geschmerzt?«
»Jawohl,« sagte der Junge.
»Siehst du,« entgegnete der Doktor mit sublimer Einfalt, »ich habe deine Gedanken gelesen! Es überrascht mich auch gar nicht – deine Erziehung ist noch unvollständig; man hat dich noch nicht in den höheren Pflichten des Menschen unterwiesen. Bis wir Muße haben, mag dir ein Wink genügen. Jetzt, da ich wieder über bescheidenen Wohlstand verfüge; jetzt, nachdem ich mich so lange Zeit hindurch durch Beschaulichkeit hinreichend vorbereitet habe, ruft mich die höhere Pflicht nach Paris. Meine wissenschaftliche Ausbildung, meine zweifellos große Rednerbegabung befähigen mich, dem Vaterlande zu dienen. Bescheidenheit wäre in diesem Falle eine Schlinge. Wäre Sünde ein philosophischer Ausdruck, so würde ich sie als Sünde bezeichnen. Ein Mann darf seine offensichtliche Begabung nicht verleugnen, denn das hieße, seinen Verpflichtungen ausweichen. Jetzt gilt es, sich zu rühren und zu schaffen. Ich darf in der Schlacht des Lebens kein Deserteur sein.«
So schwatzte er weiter, die Räder seiner Inkonsequenz mit einem Überfluß an Worten ölend, während der Knabe schweigend, die Augen fest auf das Pferd gerichtet, in einem Aufruhr der Gedanken zuhörte. Seine Beredsamkeit war verlorene Liebesmüh; keine noch so große Schaustellung von Worten vermochte je Jean-Maries Überzeugung zu erschüttern, und so fuhr er denn, von Mitleid, Schrecken, Empörung und Verzweiflung erfüllt, nach Fontainebleau hinein.
In der Stadt mußte Jean-Marie auf dem Kutschbock angenagelt den Schatz hüten, während der Doktor seltsam leichtbeschwingt und leise angeheitert in den verschiedenen Kaffees aus- und einschwirrte, den verschiedenen Garnisonoffizieren die Hand schüttelte und sich mit der Exaktheit alter Erfahrung seinen Absinth mischte. Auch in den Läden ging es aus und ein, von wo er mit kostbaren Früchten, einer echten Schildkröte, einem prachtvollen Stück Seide für seine Frau, einem gänzlich unmöglichen Stock für sich selbst und einem hypermodernen Keppi für den Jungen beladen zurückkehrte; herein und heraus ging's an dem Postamt, wo er sein Telegramm aufgab und drei Stunden später eine Antwort mit dem Versprechen eines morgigen Besuchs erhielt, und so schwängerte er ganz Fontainebleau mit dem ersten prächtigen Aroma seiner göttlich guten Laune.
Die Sonne stand bereits sehr tief, als sie sieh wieder auf den Weg machten; die Schatten des Waldes erstreckten sich über die breite, weiße Landstraße, die sie ihrem Heim zuführte; schon stieg der durchdringende Geruch des abendlichen Waldes wie eine Weihrauchwolke von dem breiten Feld der Gipfel auf, und selbst in die Straßen des Städtchens, wo die Luft den ganzen Tag über zwischen weißen Kalkmauern geschmort hatte, drang er, gleich einer fernen Musik, in Wellen und Intervallen ein. Als sie den halben Weg zurückgelegt hatten, schwand das letzte goldene Flackern von einer großen Eiche zur Linken; und als sie die jenseitige Grenze des Waldes erreicht hatten, war die Ebene schon in perlgrauem Nebel versunken, und ein großer, blasser Mond kam in himmelansteigendem Bogen durch die durchsichtigen Pappeln einhergezogen.
Der Doktor sang, der Doktor pfiff, der Doktor redete. Er sprach von den Wäldern, von den Kriegen, vom Tau; er wurde munter und schwatzte von Paris; in einer Wolke dunstigen Bombastes entschwebte er aufwärts in die Herrlichkeit der politischen Arena. Alles sollte anders werden; mit dem scheidenden Tag sollten auch die Spuren einer überlebten Existenz schwinden, und die Sonne des Morgens würde das Neue mit sich bringen. »Fort, fort,« rief er, »mit diesem Leben der Kasteiung!« Seine Frau (noch immer schön, oder er müsse beklagenswert voreingenommen sein) sollte nicht länger hier lebendig begraben werden; sie würde in der Gesellschaft glänzen. Jean-Marie würde die Welt zu seinen Füßen sehen, der Weg zum Erfolge, zu Reichtum, Ehren und posthumem Reichtum würde ihm offenstehen. »Ach ja, à propos,« sagte er, »halt' nur um's Himmels willen den Mund! Du bist natürlich ein höchst schweigsames Bürschchen, eine Eigenschaft, die ich mit Freuden anzuerkennen bereit bin, – Schweigen, das goldene Schweigen! Dies jedoch ist eine sehr ernste Angelegenheit. Kein Wort davon darf an die Öffentlichkeit dringen; einzig der gute Casimir darf etwas davon wissen; wir werden die Gefäße wahrscheinlich in England losschlagen müssen.«
»So gehören sie uns nicht einmal ganz?« meinte der Junge fast schluchzend – es war das einzige Mal, daß er den Mund auftat.
»In dem Sinne schon, daß sie niemandem sonst gehören«, erwiderte der Doktor. »Aber der Staat hätte schon einen gewissen Anspruch. Würden sie zum Beispiel gestohlen, so konnten wir keinen Ersatz verlangen; wir hätten keinen Besitztitel vorzuweisen; ja, wir dürften die Sache nicht einmal der Polizei melden. So ist der ungeheuerliche Zustand der Gesetze. Es ist nur ein Beispiel dafür, was es noch zu tun gibt, der Ungerechtigkeit zu steuern, die durch einen eifrigen, rührigen und philosophiebeflissenen Deputierten gesühnt werden muß.«
Jean-Marie setzte seine Hoffnung auf Madame Desprez, und während sie zwischen den rauschenden Pappeln die Bourroner Chaussee entlang fuhren, betete er insgeheim und trieb sein Pferd zu ungewohnter Eile an. Sicherlich würde Madame gleich nach ihrer Ankunft ihre Charakterfestigkeit beweisen und diesem wachen Alpdruck ein Ende machen.
Ihre Einfahrt in Gretz wurde von wütendem Hundegebell angekündigt und begleitet; sämtliche Dorfköter schienen den im Gig liegenden Schatz zu riechen. Auf der Straße befand sich jedoch niemand, drei müßige Landschaftsmaler vor Tentaillons Tür ausgenommen. Jean-Marie Öffnete das grüngestrichene Tor und führte Wagen und Pferd hinein; fast im gleichen Moment betrat Madame Desprez mit einer brennenden Laterne die Küchenschwelle, denn der Mond stand noch nicht hoch genug, um über die Gartenmauer zu sehen.
»Schließe das Tor, Jean-Marie!« rief der Doktor, indem er etwas unsicher vom Wagen kletterte. »Anastasie, wo ist Aline?«
»Sie ist nach Montereau auf Besuch bei ihren Eltern«, sagte Madame.
»Alles wendet sich zum Guten!« rief der Doktor bewegt. »Komm rasch hierher zu mir; ich möchte nicht zu laut sprechen«, fuhr er fort. »Liebling, wir sind reich!«
»Reich!?« wiederholte seine Frau.
»Ich habe den Schatz von Franchard gesunden. Schau her, hier sind die ersten Früchte davon; eine Ananas, ein Kleid für meine stets schöne Anastasie – es wird ihr stehen – vertrau eines Gatten, eines Liebhabers Geschmack! Umarme mich, mein Liebling! Die Periode der Dürftigkeit ist vorüber; der Schmetterling entfaltet seine bunten Flügel. Morgen wird Casimir hier sein; in einer Woche sind wir vielleicht schon in Paris – und sind endlich glücklich! Du sollst Brillanten bekommen. Jean-Marie, hol ihn mit größter Sorgfalt aus dem Kutschbock hervor und bring die Sachen Stück für Stück ins Speisezimmer. Wir werden Silbergeschirr auf der Tafel haben! Liebling, beeile dich, diese Schildkröte zu bereiten, sie wird appetitanreizend wirken – ein angenehmes Plus für unsere übliche Magerkost. Ich selbst werde mich in den Keller begeben. Wir werden ein Flaschchen von jenem Beaujolais trinken, den du so liebst, und den Abend mit Hermitage beschließen; es sind noch drei Flaschen da. Ein würdiger Wein für eine würdige Gelegenheit.«
»Aber, lieber Mann, du verdrehst mir ja den Kopf – ich verstehe nicht.«
»Die Schildkröte, meine Angebetete, die Schildkröte!« rief der Doktor, und er schob sie mitsamt der Laterne der Küche zu.
Jean-Marie war sprachlos. Er hatte sich eine ganz andere Szene vorgestellt, einen dringlichen Protest – und seine Hoffnung begann sogleich zu schwinden.
Der Doktor war überall zu gleicher Zeit, wenn auch etwas unsicher auf den Beinen und sich ab und zu mit der Schulter an die Wand drückend. Es war schon lange her, daß er Absinth gekostet hatte, und jetzt dachte er selbst, daß der Absinth ein Mißgriff gewesen war. Nicht daß er an diesem herrlichen Tage den Exzeß bereute; aber er machte sich im Geiste eine Notiz, davor auf der Hut zu sein. Er durfte nicht zum zweitenmal einer so schädlichen Gewohnheit zum Opfer fallen. Im Handumdrehen hatte er seinen Wein aus dem Keller geschafft; er stellte die noch immer mit der historischen Erdkruste behafteten Opfergefäße teils auf dem weißen Tischtuch, teils auf dem Büfett auf; alle paar Augenblicke war er von neuem in der Küche, setzte Anastasie mit Wermuth zu, feuerte sie mit Ausblicken in die Zukunft an und schätzte ihren neuen Reichtum in ständig steigenden Zahlen ab. Noch ehe sie sich zu Tische setzten, waren dieser Dame Tugenden in dem Feuer seiner Begeisterung geschmolzen und ihre Ängstlichkeit geschwunden. Auch sie begann mit Verachtung von dem Leben in Gretz zu sprechen, und als sie Platz genommen hatte und die Suppe ausgab, funkelten ihre Augen in dem Glanze zukünftiger Diamanten.
Während der ganzen Mahlzeit schmiedeten sie und der Doktor Märchenplane. Sie nickten und prosteten einander zu und verbeugten sich über den Tisch herüber. Ihre Gesichter zerflossen in Lächeln; ihre Augen schossen Freudestrahlen, als sie sich des Doktors politische Auszeichnungen und die Salontriumphe der Dame ausmalten.
»Du wirst doch kein Roter werden!« rief Anastasie.
»Ich bin linkes Zentrum bis aufs Blut!« entgegnete der Doktor.
»Madame Gastein wird uns einführen – du wirst sehen, man wird uns vergessen haben«, sagte seine Frau.
»Niemals.« widersprach der Doktor. »Schönheit und Talent lassen ihre Spuren zurück.«
»Ich habe tatsächlich vergessen, wie man sich anzieht,« seufzte sie.
»Liebling, du machst mich erröten,« rief er. »Du hast eine traurige Partie gemacht.«
»Aber dein Erfolg,« rief sie, »zu sehen, wie man dich schätzt und ehrt, in sämtlichen Zeitungen deinen Namen zu lesen, das wird mehr als eine Freude, das wird der Himmel sein!«
»Und einmal die Woche,« sagte der Doktor mit koketter Betonung der einzelnen Silben, »einmal die Woche – ein einziges niedliches Spielchen Baccarat?«
»Nur einmal die Woche?« fragte sie, ihm mit dem Finger drohend.
»Ich schwöre es, bei meiner Ehre als Politiker.«
»Ich verwöhne dich,« sagte sie und reichte ihm die Hand.
Er bedeckte sie mit Küssen.
Jean-Marie schlüpfte in die Nacht hinaus. Der Mond stand hoch über Gretz. Er ging in den Garten hinunter und setzte sich auf den Landungssteg. Der Fluß strömte in Wirbeln geschmeidigen Silbers vorbei und mit einer leisen, eintönigen Melodie. Matte Nebelschleier bewegten sich zwischen den Pappeln am anderen Ufer. Das Schilfrohr nickte lautlos. Wohl hundertmal zuvor hatte der Knabe an ähnlichen Nächten hier gesessen und in ungetrübtem Nachdenken dem eilenden Fluß zugeschaut. Und heute sollte es vielleicht das letztemal sein. Er sollte dies ihm so vertraute Dorf, dies grüne, rauschende Land, den hellen, stillen Strom verlassen. Er sollte in die große Stadt hinein. Seine liebe Herrin würde sich aufgeputzt in den Salons bewegen; sein guter, geschwätziger, warmherziger Herr ein zänkischer Deputierter werden; und beide würden für immer Jean-Marie und ihrem besseren Ich verloren gehen. Er wußte, daß er im Trubel einer Stadt zu immer geringerer Bedeutung, unablässig vom Kind zum Dienstboten herabsinken mußte. Und undeutlich begann er die bösen Prophezeiungen des Doktors zu glauben. Er konnte in beiden bereits eine Veränderung wahrnehmen. Dies eine Mal versagte sein edelmütiges Nichtglaubenkönnen; selbst ein Kind mußte erkennen, daß der Hermitage vollendet hatte, was mit dem Absinth den Anfang genommen. War dies der erste Tag, wie würde dann erst der letzte sein? »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« murmelte er, eingedenk der Parabel des Doktors. Er ließ seine Blicke über das entzückende Bild schweifen und sog die von Heuduft schwangere, zauberhafte Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« wiederholte er. Und er erhob sich und kehrte ins Haus zurück.