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Es war an einem Frühlingsabend des Jahres 1829. Ganz Rom war in Bewegung: der berühmte Bankier Herzog von B***, gab einen Ball in seinem neuen Palazzo am Venetianischen Platz. Alles, was die Künste Italiens, der Luxus von Paris und London hervorbringen können an Herrlichkeiten, hatte sich vereinigt zur Verschönerung dieses Palastes. Der Zustrom war gewaltig. Die sonst so zurückhaltenden schönen Blondinen des englischen Adels hatten sich eifrig um die Ehre einer Einladung zu diesem Ball beworben; sie kamen in Menge. Die schönsten Frauen Roms stritten mit ihnen um den Schönheitspreis. Ein junges Mädchen – der Glanz ihrer Augen und ebenholzschwarzen Haare verkündeten die Römerin – trat am Arm ihres Vaters ein; alle Blicke folgten ihr. Ein seltsamer Stolz lag in jeder ihrer Bewegungen.
Die Fremden waren sichtlich verblüfft von der Pracht dieses Balles. »Kein König in Europa«, sagten sie, »gibt Feste, die diesem nahekommen.«
Die Könige haben keinen Palast von römischer Architektur; sie sind gezwungen, die großen Damen ihres Hofes einzuladen; der Herzog von B*** fordert nur hübsche Frauen auf. An diesem Abend war er glücklich gewesen in seinen Einladungen; die Männer schienen geblendet. Man wollte entscheiden, wer unter so vielen bemerkenswerten Frauen die schönste wäre; man schwankte kurze Zeit; aber schließlich wurde die Fürstin Vanina Vanini, das junge Mädchen mit dem schwarzen Haar und den Feueraugen zur Königin des Balles ausgerufen. Alsbald verließen die Fremden und die jungen Römer alle andern Salons und drängten in den, wo sie sich aufhielt.
Auf den Wunsch ihres Vaters, des Fürsten Asdrubale Vanini, hatte sie zunächst mit zwei oder drei regierenden Fürsten Deutschlands getanzt. Sie nahm sodann die Aufforderungen einiger sehr schöner und sehr vornehmer Engländer an, deren steifes Wesen sie langweilte. Mehr Gefallen fand sie offenbar daran, den jungen Livio Savelli zu quälen, der sehr verliebt schien. Er war der glänzendste junge Mann von Rom und aus fürstlichem Haus; aber, hätte man ihm einen Roman zu lesen gegeben, er hätte das Buch nach der zwanzigsten Seite weggeworfen und erklärt, es machte ihm Kopfweh. Das war ein Nachteil in Vaninas Augen.
Gegen Mitternacht verbreitete sich auf dem Ball eine Neuigkeit, die starken Eindruck machte. Ein junger, in der Engelsburg gefangen gehaltener Carbonaro war am selben Abend in einer Verkleidung entflohen; bei der letzten Gefängniswache angekommen, hatte er in romantisch mutwilliger Kühnheit die Soldaten mit einem Dolch angegriffen, war aber selbst verwundet worden; und nun folgten die Häscher der Spur seines Blutes durch die Straßen; man hoffte, ihn einzufangen.
Während diese Begebenheit erzählt wurde, führte Don Livio gerade Vanina vom Tanze auf ihren Platz zurück; geblendet von ihrer Schönheit und ihren Erfolgen und beinah wahnsinnig vor Liebe, sagte er:
»Vergeben Sie die Frage – wer könnte Ihnen überhaupt gefallen?«
»Der junge Carbonaro, der eben entsprungen ist,« antwortete ihm Vanina, »der hat doch wenigstens mehr getan, als geboren zu werden.«
Der Fürst Don Asdrubale näherte sich seiner Tochter. Don Asdrubale ist reich: seit zwanzig Jahren hat er nicht mit seinem Intendanten abgerechnet, so daß der ihm seine eignen Einkünfte zu hohem Zinsfuße leiht. Wenn man ihm auf der Straße begegnet, könnte man ihn für einen alten Schauspieler halten; es würde einem nicht auffallen, daß er fünf, sechs mächtige Ringe mit dicken Diamanten an den Händen trägt. Seine beiden Söhne sind Jesuiten geworden und dann im Irrsinn gestorben. Er hat sie vergessen; aber daß seine einzige Tochter Vanina nicht heiraten will, verdrießt ihn sehr. Sie ist schon neunzehn Jahre alt und hat die glänzendsten Partien ausgeschlagen. Aus welchem Grunde? Demselben, der Sulla dazu brachte, abzudanken: Verachtung für die Römer.
Am Tag nach dem Balle bemerkte Vanina, daß ihr Vater, sonst der nachlässigste Mensch, der sich nie im Leben die Mühe gegeben hatte, einen Schlüssel in die Hand zu nehmen, umständlich die Tür zu einer kleinen Treppe verschloß, welche zu einigen Zimmern im dritten Stockwerk des Palastes führte. Die Fenster dieser Zimmer gingen auf eine Terrasse mit Orangenbäumen. Vanina hatte einige Besuche in der Stadt zu machen; als sie zurückkam, war das Hauptportal des Palais durch die Vorbereitungen zu einer Illumination versperrt; der Wagen fuhr durch die Hinterhöfe. Vanina hob die Augen und sah mit Erstaunen, daß ein Fenster der Räume, welche ihr Vater so sorgfältig abgeschlossen hatte, offen stand. Sie entledigte sich ihrer Gesellschaftsdame, stieg in den Giebelstock hinauf und suchte so lange, bis sie ein kleines vergittertes Fenster fand, das auf die Terasse mit den Orangenbäumen ging.
Zwei Schritt vor ihr war das offene Fenster, das sie gesehen hatte. Die Stube war bewohnt, aber von wem nur?
Andern Tages verschaffte sich Vanina einen Schlüssel zur Terrassentür.
Schleichend wie ein Marder kam sie an das Fenster, das noch offen war. Ein Laden verbarg sie. Hinten im Zimmer stand ein Bett und in dem Bett lag jemand. Erst wollte sie sich zurückziehen; aber dann bemerkte sie ein Frauenkleid, das auf einen Stuhl geworfen war. Als sie die Person im Bette schärfer ins Auge faßte, sah sie, daß diese blond und offenbar sehr jung war. Sie zweifelte nicht mehr daran, daß es eine Frau wäre. Das Kleid auf dem Stuhl war blutbesudelt; auch an den Frauenschuhen, die auf einem Tisch standen, war Blut. Die Unbekannte machte eine Bewegung; Vanina nahm wahr, daß sie verwundet war. Ein großes blutbeflecktes Stück Linnen bedeckte ihre Brust; das Linnen war nur mit Bändern festgemacht; diesen Verband konnte nicht die Hand eines Wundarztes angelegt haben. Vanina bemerkte, daß ihr Vater sich täglich gegen vier Uhr in seine Gemächer einschloß und sodann die Unbekannte besuchte; bald kam er wieder herunter, stieg in den Wagen und fuhr zur Gräfin Vitteleschi. Sobald er fort war, ging Vanina hinauf auf die kleine Terrasse, von wo sie die Unbekannte beobachten konnte. Ihr Gemüt war erregt zugunsten dieser jungen so unglücklichen Frau; sie suchte ihr Abenteuer zu erraten. Das blutige Kleid auf dem Stuhl schien von Dolchstichen zerrissen zu sein. Vanina konnte die Risse zählen. Eines Tages sah sie die Unbekannte genauer; ihre blauen Augen waren zum Himmel gerichtet; sie schien zu beten. Bald füllten Tränen die schönen Augen; und der jungen Fürstin wurde es schwer, nicht zu ihr zu sprechen. Am nächsten Tage wagte es Vanina, sich vor der Ankunft ihres Vaters auf der kleinen Terrasse zu verstecken. Sie sah Don Asdrubale bei der Unbekannten eintreten; er trug ein Körbchen mit Speisen. Der Fürst sah besorgt aus und redete nicht viel. Er sprach so leise, daß Vanina, obwohl die Glastür offen war, seine Worte nicht verstehen konnte. Er ging gleich wieder.
»Diese arme Frau muß schreckliche Feinde haben,« sagte sich Vanina, »wenn mein Vater, der doch so sorglos ist, sich niemandem anzuvertrauen wagt und die Mühe nimmt, täglich hundertzwanzig Stufen zu steigen.«
Als Vanina eines Abends den Kopf sachte dem Fenster der Unbekannten näherte, begegnete sie ihren Augen, und alles war entdeckt. Vanina warf sich auf die Knie und rief:
»Ich liebe Sie, ich bin Ihnen ergeben!«
Die Unbekannte winkte ihr, einzutreten.
»Können Sie mir verzeihen?« rief Vanina. »Wie beleidigend muß Ihnen meine dumme Neugier vorkommen! Ich schwöre Ihnen Verschwiegenheit, und wenn Sie es verlangen, werde ich nie wiederkommen.«
»Wen müßte es nicht glücklich machen, Sie zu sehen?« sagte die Unbekannte. »Bewohnen Sie dies Palais?«
»Gewiß«, erwiderte Vanina. »Aber ich sehe, Sie kennen mich nicht: ich bin Vanina, Don Asdrubales Tochter.«
Die Unbekannte sah sie verwundert an, errötete heftig und sagte dann: »Gewähren Sie mir die Hoffnung, daß Sie mich alle Tage besuchen werden; aber ich wünschte, daß der Fürst nicht um Ihre Besuche wüßte.«
Vaninas Herz schlug heftig; das Benehmen der Unbekannten schien ihr voll Vornehmheit. Diese arme junge Frau hatte ohne Zweifel irgendeinen Mächtigen beleidigt. Hatte sie vielleicht in einem Anfall von Eifersucht ihren Liebhaber getötet? Eine gewöhnliche Ursache konnte Vanina ihrem Mißgeschick nicht zutrauen. Die Unbekannte sagte ihr, daß sie an der Schulter eine Wunde bekommen hatte bis in die Brust und die ihr viel Schmerz machte. Oft hatte sie den Mund voll Blut.
»Und Sie haben keinen Wundarzt!« rief Vanina.
»In Rom«, sagte die Unbekannte, »müssen, wie Sie wissen, die Wundärzte der Polizei genau Bericht erstatten über alle Verwundungen, die sie behandeln. Der Fürst geruht, eigenhändig meine Wunden hier mit dieser Leinwand zu verbinden.«
Die Unbekannte vermied es mit großer Feinheit, ihren Unfall rührend darzustellen; Vanina liebte sie inbrünstig. Nur eins verwunderte die junge Fürstin: mitten in einer sicherlich recht ernsten Unterhaltung hatte die Unbekannte Mühe, eine plötzliche Lachlust zu unterdrücken.
»Ich wäre glücklich,« sagte Vanina, »Ihren Namen zu wissen.«
»Ich heiße Clementina.«
»Liebe Clementina, morgen um fünf Uhr will ich Sie besuchen.«
Am Tage danach fand Vanina ihre neue Freundin sehr krank.
»Ich will Ihnen einen Wundarzt bringen,« sagte Vanina und küßte sie. »Lieber will ich sterben«, sagte die Unbekannte. »Sollte ich meine Wohltäter bloßstellen?«
»Der Wundarzt von Monsignore Savelli-Catanzara, dem Gouverneur von Rom, ist der Sohn eines Bedienten von uns«, erwiderte lebhaft Vanina; »er ist uns ergeben, und durch seine Stellung hat er niemand zu fürchten. Mein Vater glaubt nicht an seine Treue; ich werde ihn holen lassen.«
»Ich will keinen Wundarzt!« rief die Unbekannte mit einer Heftigkeit, die Vanina überraschte. »Kommen Sie zu mir, und sollte Gott mich zu sich rufen, so werde ich glücklich in Ihren Armen sterben.«
Am nächsten Tage ging es ihr schlechter.
»Wenn Sie mich lieben,« sagte Vanina im Weggehen, »so lassen Sie einen Arzt kommen.«
»Wenn er kommt, ist mein Glück dahin.«
»Ich lasse ihn holen«, erwiderte Vanina.
Wortlos hielt die Unbekannte sie zurück, nahm ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Es gab ein langes Schweigen; die Unbekannte hatte Tränen in den Augen. Schließlich ließ sie Vaninas Hand los und sagte mit einer Miene, als ginge sie in den Tod:
»Ich habe Ihnen ein Geständnis zu machen. Vorgestern, als ich sagte, ich hieße Clementina, habe ich gelogen; ich bin ein unglücklicher Carbonaro...«
Erstaunt schob Vanina ihren Stuhl zurück. Bald erhob sie sich.
»Ich fühle,« fuhr der Carbonaro fort, »daß dies Geständnis mir das einzige Gut raubt, das mich noch an das Leben fesselt; aber es ist unter meiner Würde, Sie zu täuschen. Ich heiße Pietro Missirilli; ich bin neunzehn Jahre alt; mein Vater ist ein armer Wundarzt aus Sant-Angelo-in-Vado, ich bin Carbonaro. Man hat unsere letzte Venta überrascht; ich bin in Fesseln aus der Romagna nach Rom geführt worden. Dreizehn Monate verbrachte ich tief in einem Verlies, wo Tag und Nacht eine Lampe brannte. Eine mitleidige Seele hat den Einfall gehabt, mich befreien zu lassen. Man verkleidete mich als Frau. Als ich das Gefängnis verließ und bei der Wache des letztes Tores vorbeikam, schimpfte ein Soldat auf die Carbonari; ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben. Ich versichere Ihnen, daß es kein eitles Bravourstück von mir war, sondern einfach Geistesabwesenheit. Nachts in den Straßen Roms, nach diesem törichten Streich verfolgt, von Bajonettstößen verwundet, schon meine Kräfte verlierend, dringe ich in ein Haus ein, dessen Tür offen steht; ich höre, wie die Soldaten mir nachkommen, ich springe in einen Garten hinab, falle ein paar Schritt vor einer lustwandelnden Dame hin.«
»Gräfin Vitteleschi, die Freundin meines Vaters«, sagte Vanina.
»Wie? Hat Sie es Ihnen gesagt?« rief Missirilli. »Nun, wie dem auch sei, diese Dame, deren Namen nie ausgesprochen werden darf, rettete mir das Leben. Während die Soldaten bei ihr eintraten, um mich zu ergreifen, ließ mich Ihr Vater in seinem Wagen wegfahren. - Ich fühle mich sehr schlecht: seit einigen Tagen hindert mich dieser Bajonettstich in der Schulter am Atmen. Ich werde sterben, verzweifelt sterben, da ich Sie nicht wiedersehen soll.«
Vanina hatte ungeduldig zugehört; sie ging rasch fort: Missirilli fand kein Mitleid in diesen schönen Augen, nur verletzter Hochmut lag in ihnen.
Nachts erschien ein Wundarzt; er war allein. Missirilli war verzweifelt; er fürchtete, Vanina nie wiederzusehn. Er stellte dem Wundarzt Fragen; der ließ ihn zur Ader, ohne zu antworten. Die folgenden Tage das gleiche Schweigen. Pietros Augen wichen nicht von dem Fenster zur Terrasse, durch das Vanina einzutreten pflegte; er war sehr unglücklich. Einmal glaubte er gegen Mitternacht jemanden im Schatten auf der Terrasse zu bemerken: war es Vanina?
Jede Nacht kam Vanina und drückte ihre Wange an die Scheibe.
»Wenn ich zu ihm spreche,« sagte sie sich, »bin ich verloren! Nein, niemals darf ich ihn wiedersehn!«
Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, erinnerte sie sich wider Willen an die Freundschaft, die sie zu diesem Jüngling ergriffen hatte, als sie ihn so töricht für eine Frau hielt. Nach so süßer Vertraulichkeit sollte sie ihn also vergessen! In ihren vernünftigsten Momenten erschrak Vanina vor dem Wechsel, der sich in ihrem Denken vollzog. Seit Missirilli sich zu erkennen gegeben hatte, waren ihr alle Dinge, an die sie sonst zu denken pflegte, wie mit einem Schleier verhüllt und in die Ferne gerückt.
Ehe eine Woche um war, trat Vanina, blaß und bebend, mit dem Wundarzt in das Zimmer des jungen Carbonaro. Sie wollte ihm sagen, daß er den Fürsten veranlassen müßte, sich durch einen Bedienten vertreten zu lassen. Sie blieb keine zehn Sekunden; aber einige Tage später kam sie wieder mit dem Wundarzt, aus Menschlichkeit. Dann eines Abends, als es Missirilli schon viel besser ging und Vanina nicht mehr den Vorwand hatte, für sein Leben zu fürchten, wagte sie es, allein zu kommen. Bei ihrem Anblick war Missirilli auf dem Gipfel des Glücks, aber er suchte, seine Liebe zu verbergen; vor allem wollte er nicht von der einem Manne geziemenden Würde abweichen. Vanina war mit geröteter Stirne und vor Liebesworten bangend bei ihm eingetreten: es verwirrte sie, als er sie mit edler und ergebener, aber kühler Freundschaft empfing. Als sie ging, versuchte er nicht, sie zurückzuhalten.
Als sie einige Tage danach wiederkam, dasselbe Benehmen, dieselben Versicherungen ehrerbietiger Ergebenheit, ewiger Dankbarkeit. Da gab es für sie kein Übermaß im Zaum zu halten, und Vanina fragte sich, ob sie allein liebte. Dieses bisher so stolze junge Mädchen fühlte mit Bitterkeit die ganze Größe ihres Wahnsinns. Sie spielte Heiterkeit und sogar Kühle und kam seltener, aber sie konnte es nicht über sich gewinnen, den jungen Kranken nicht mehr zu sehen.
Missirilli fühlte brennende Liebe, aber in dem Gedanken an seine niedere Herkunft und an das, was er sich schuldig war, hatte er sich gelobt, sich nicht zu Liebesreden zu verstehen, es sei denn, daß Vanina acht Tage lang nicht zu ihm käme. Nach und nach verging der Stolz der jungen Fürstin.
»Gut,« sagte sie sich schließlich, »wenn ich ihn sehe, so tue ich es für mich, um mir Freude zu machen, und nie werde ich ihm meine Zuneigung bekennen.«
Sie machte Missirilli lange Besuche, und er sprach mit ihr, wie er es hätte tun können, wenn zwanzig Personen zugegen gewesen wären. Einmal, nachdem sie den Tag damit verbracht hatte, ihn zu verabscheuen und sich fest zu versprechen, noch kälter und strenger mit ihm zu sein als gewöhnlich, sagte sie ihm am Abend, daß sie ihn liebte. Bald hatte sie ihm nichts mehr zu verweigern.
Ihre Tollheit war groß, aber Vanina war vollkommen glücklich. Missirilli dachte nicht mehr an das, was er seiner Manneswürde schuldig zu sein glaubte; er liebte, wie man zum ersten Male liebt mit neunzehn Jahren und in Italien. In der Gewissenhaftigkeit der Liebe aus Leidenschaft ging er so weit, der jungen stolzen Fürstin einzugestehen, welche Politik er getrieben hatte, um von ihr geliebt zu werden. Er war von dem Übermaß seines Glückes überrascht. Vier Monate vergingen im Fluge. Eines Tages gab der Wundarzt dem Kranken seine Freiheit wieder. »Was soll ich tun?« dachte Missirilli. »Verborgen bleiben bei einer der schönsten Römerinnen? Die erbärmlichen Tyrannen, die mich dreizehn Monate gefangen hielten, mich nie das Tageslicht sehen ließen, werden glauben, meinen Mut gebrochen zu haben! Italien, du bist wahrhaftig unglücklich, wenn dich deine Kinder um so Geringes im Stiche lassen!«
Vanina zweifelte nicht daran, daß es Pietros größtes Glück wäre, für immer an sie gefesselt zu bleiben; er schien ja so glücklich; aber in seiner Seele hallte ein bitteres Wort des Generals Bonaparte wider und bestimmte seine ganze Haltung zu den Frauen. Als der General Bonaparte im Jahre 1796 Brescia verließ, sagten die Stadtväter, die ihn zum Tore geleiteten, zu ihm, daß die Brescianer mehr als alle andern Italiener die Freiheit liebten.
»Ja,« antwortete er, »sie lieben es, zu ihren Liebchen davon zu sprechen.«
Missirilli sagte mit ziemlich gezwungener Miene zu Vanina:
»Sobald es Nacht wird, muß ich fort!«
»Sieh zu vor Tagesanbruch ins Palais zurückzukommen; ich werde dich erwarten.«
»Bei Tagesanbruch werde ich schon mehrere Meilen von Rom fern sein.«
»Sehr gut,« sagte Vanina kalt, »und wohin gehst du?«
»In die Romagna, mich zu rächen.«
»Da ich reich bin,« erwiderte Vanina mit der ruhigsten Miene, »so wirst du, hoffe ich, Waffen und Geld von mir annehmen.«
Missirilli sah sie einige Augenblicke an, ohne die Miene zu verziehen: dann warf er sich in ihre Arme und rief:
»Seele meines Lebens, du machst mich alles vergessen, selbst meine Pflicht. Aber je edler dein Herz ist, um so mehr mußt du mich verstehen.«
Vanina weinte sehr, und es wurde verabredet, daß er Rom erst am übernächsten Tage verlassen sollte.
»Pietro,« sagte sie am nächsten Tage, »oft hast du mir gesagt, daß ein Mann von Ansehen, ein römischer Fürst zum Beispiel, der über viel Geld verfügen könnte, imstande wäre, der Sache der Freiheit die größten Dienste zu leisten, wenn jemals Österreich fern von uns in irgendeinen großen Krieg verwickelt wird.«
»Zweifellos,« sagte Pietro erstaunt.
»Nun gut! Du bist kühn; dir fehlt nur eine hohe Stellung; ich biete dir meine Hand an und zweihunderttausend Lire Einkommen. Ich nehme es auf mich, die Einwilligung meines Vaters zu erreichen.«
Pietro warf sich ihr zu Füßen; Vanina strahlte vor Freude.
»Ich liebe dich leidenschaftlich,« sagte er, »aber ich bin ein armer Diener des Vaterlandes; je unglücklicher Italien ist, um so treuer muß ich ihm bleiben. Um Don Asdrubales Einwilligung zu erreichen, müßte ich mehrere Jahre hindurch eine traurige Rolle spielen. Vanina, ich weise deine Hand zurück.«
Missirilli mußte sich beeilen, Wort zuhalten; der Mut wollte ihm versagen.
»Mein Unglück,« rief er, »ist, daß ich dich mehr liebe als das Leben, und daß es für mich die schlimmste Strafe ist, Rom zu verlassen. Ach, warum ist Italien nicht schon befreit von den Barbaren! Mit welcher Lust ginge ich mit dir zu Schiff, um in Amerika zu leben!«
Vanina erstarrte. Dies Ausschlagen ihrer Hand hatte ihren Stolz überrascht; aber bald warf sie sich Missirilli in die Arme.
»Nie bist du mir so liebenswert erschienen,« rief sie; »ja, mein kleiner Landbader, ich bin dein für immer. Du bist ein großer Mann, wie unsere Ahnen, die Römer.«
Alle Zukunftsbilder, alle trübseligen Einflüsterungen des gesunden Menschenverstandes verschwanden; es war ein Augenblick vollkommener Liebe. Als man wieder vernünftig reden konnte, sagte Vanina:
»Ich werde fast ebensobald wie du in der Romagna sein. Ich lasse mir die Bäder der Toretta verordnen. Ich werde das Schloß beziehen, das wir in San Nicolo bei Forli besitzen ...«
»Dort will ich mein Leben mit dir verbringen«, rief Missirilli.
»Mein Los ist von nun an, alles zu wagen«, fuhr Vanina fort und seufzte. »Ich werde zugrunde gehn für dich, aber es tut nichts. Wirst du ein entehrtes Mädchen lieben können?«
»Bist du nicht mein Weib,« sprach Missirilli, »das ich immer verehren werde? Ich werde dich zu lieben, dich zu schützen verstehen.«
Vanina mußte in Gesellschaft gehen. Kaum hatte sie Missirilli verlassen, so fing er an, sein Benehmen barbarisch zu finden.
»Was ist das, das Vaterland?« fragte er sich. »Es ist nicht ein Wesen, dem wir Dank schulden für eine Wohltat und das leiden würde, uns verfluchen könnte, wenn wir undankbar sind. Vaterland, Freiheit, das ist wie mein Mantel, etwas, das mir nützt, das ich mir kaufen muß, wenn ich es nicht vom Vater geerbt habe ... aber ich liebe am Ende Freiheit und Vaterland nur, weil diese beiden Dinge mir nützlich sind. Wenn ich nichts mit ihnen anfangen kann, wenn sie für mich wie ein Mantel im Monat August sind, was hilft es mir, sie zu kaufen, noch dazu zu solch hohem Preise? Vanina ist so schön! Sie hat einen so seltenen Geist! Man wird ihr zu gefallen suchen; sie wird mich vergessen. Welche Frau hat jemals nur Einen geliebt? Diese römischen Fürsten, die ich als Staatsbürger verachte, haben vor mir soviel voraus! Sie müssen sehr liebenswert sein! Ach, wenn ich weggehe, vergißt sie mich, und ich verliere sie für immer.«
Mitten in der Nacht kam Vanina zu ihm; er erzählte ihr, in welche Unsicherheit er versunken war, wie er gegen das große Wort Vaterland aus Liebe zu ihr gestritten hatte. Vanina war glückselig.
»Müßte er bedingungslos wählen zwischen dem Vaterland und mir,« sagte sie sich, »ich würde siegen.«
Die Glocke der nahen Kirche schlug drei Uhr; der Augenblick des letzten Lebewohls kam. Pietro riß sich aus den Armen seiner Freundin. Schon stieg er die kleine Treppe hinab, da sagte Vanina mit verhaltenen Tränen lächelnd:
»Hätte dich ein armes Weib vom Lande gepflegt, tätest du nichts, um ihr zu danken? Versuchtest du nicht, es zu bezahlen? Die Zukunft ist ungewiß, du reisest mitten unter deine Feinde; gib mir drei Tage zum Danke, als wäre ich ein armes Weib, dem du die Pflege bezahlen wolltest.«
Missirilli blieb. – Endlich verließ er Rom. Mit Hilfe eines von einer ausländischen Gesandtschaft gekauften Passes gelangte er zu seiner Familie. Es gab große Freude; man hatte ihn tot geglaubt. Seine Freunde wollten zur Feier seiner glücklichen Ankunft ein oder zwei Karabinieri (so heißen die Gendarmen im Kirchenstaat) töten.
»Laßt uns nicht ohne Notwendigkeit einen Italiener töten, der mit Waffen umzugehen weiß,« sagte Missirilli, »unser Vaterland ist keine Insel wie das glückliche England; uns fehlen Soldaten, um der Einmischung der Könige Europas zu widerstehen.«
Einige Zeit danach wurde Missirilli von den Karabinier heftig verfolgt: er tötete zwei von ihnen mit der Pistole, die Vanina ihm gegeben hatte. Man setzte einen Preis auf seinen Kopf.
Vanina erschien nicht in der Romagna: Missirilli glaubte sich vergessen. Seine Eitelkeit war verletzt. Er fing an, über den Standesunterschied nachzudenken, der ihn von seiner Geliebten trennte. In einem Augenblick der Rührung und des Heimwehs nach dem vergangenen Glück kam ihm der Gedanke, nach Rom zurückzukehren und zu sehen, wie es Vanina ginge. Schon war dieser tolle Gedanke im Begriff, über das, was er für seine Pflicht hielt, zu triumphieren, da läutete eines Abends die Glocke einer Bergkirche das Angelas auf seltsame Art, als wäre der Glöckner nicht recht bei der Sache. Das war ein Zusammenkunftssignal für die Venta der Carbonari, welcher Missirilli sich bei seiner Ankunft in die Romagna angeschlossen hatte. In derselben Nacht fanden sich alle in einer bestimmten Einsiedelei im Walde ein. Die beiden Einsiedler waren mit Opium betäubt und merkten nicht, zu welchem Zwecke ihr Häuschen diente. Missirilli, der in trüben Gedanken ankam, erfuhr, daß der Anführer der Venta gefangen worden war und daß er, ein junger Mensch von kaum zwanzig Jahren, zum Oberhaupt einer Venta gewählt werden sollte, zu der Männer von über fünfzig Jahren zählten, die schon seit Murats Feldzug im Jahre 1815 an den Verschwörungen teilhatten. Als ihm diese unverhoffte Ehre zuteil wurde, fühlte Pietro sein Herz schlagen. Sobald er allein war, beschloß er, nicht mehr an die junge Römerin zu denken, die ihn vergessen hatte, und alle seine Gedanken der Pflicht zu weihen, Italien von den Barbaren zu befreien.
Zwei Tage später las Missirilli in dem Bericht über die ein- und abreisenden Personen, den man ihm als dem Oberhaupte der Venta vorlegte, daß die Prinzessin Vanina auf ihrem Schloß San Nicolo eingetroffen war. Der Anblick dieses Namens brachte seiner Seele mehr Verwirrung als Freude. Umsonst wähnte er, dem Vaterlande seine Treue dadurch zu sichern, daß er es über sich gewann, nicht gleich am Abend selbst zum Schlosse San Nicolo zu eilen; das Bild Vaninas, die er vernachlässigte, hinderte ihn seine Pflichten in vernünftiger Art zu erfüllen. Am nächsten Tage sah er sie; sie liebte ihn wie in Rom. Ihr Vater, der sie verheiraten wollte, hatte ihre Abreise verzögert. Sie brachte zweitausend Zechinen mit. Diese unvorhergesehene Hilfe diente in hervorragender Weise der Erhöhung seines Ansehens in der neuen Würde. Man ließ in Korfu Dolche anfertigen; man gewann den Privatsekretär des Legaten, welcher mit der Verfolgung der Carbonari beauftragt war. So bekam man die Liste der Pfarrer, die der Regierung Spionendienste leisteten.
Um diese Zeit wurden die Vorbereitungen zu einer Verschwörung fertig, die weniger tollkühn war, als die meisten, die in dem unglücklichen Italien gewagt worden sind. Es ist hier nicht am Platze, auf die Einzelheiten einzugehen. Nur soviel will ich sagen: hätte das Unternehmen Erfolg gekrönt, so konnte Missirilli einen guten Teil des Ruhmes für sich beanspruchen. Durch seine Tatkraft hätten sich mehrere tausend Aufständige auf ein gegebenes Signal erhoben und in Waffen die Ankunft höherer Führer erwartet. Der entscheidende Moment nahte, als, wie das immer geschieht, die Verschwörung durch die Verhaftung der Führer lahm gelegt wurde.
Kaum war Vanina in der Romagna, so hatte sie den Eindruck, daß die Liebe zum Vaterland ihren Geliebten jede andre Liebe vergessen machte. Das reizte den Hochmut der jungen Römerin. Umsonst versuchte sie, vernünftig zu sein; ein finsterer Gram kam über sie: sie überraschte sich dabei, daß sie die Freiheit verfluchte. Eines Tages, als sie nach Forli zu Missirilli kam, war sie ihres Schmerzes, den bisher ihr Stolz gemeistert hatte, nicht mehr Herr.
»Wahrhaftig,« sagte sie zu ihm, »du liebst mich wie ein Gatte, ich habe auf mehr gerechnet.«
Bald flossen ihre Tränen; aber es waren Tränen der Scham, daß sie sich bis zu Vorwürfen herabgelassen hatte. Missirilli blieb diesen Tränen gegenüber geistesabwesend. Plötzlich kam Vanina der Gedanke, ihn zu verlassen und nach Rom zurückzukehren. Sie fand eine qualvolle Freude darin, sich für die Schwäche, die sie zum Sprechen gebracht hatte, zu bestrafen. Nach wenigen Minuten des Schweigens war ihr Entschluß gefaßt; sie hätte sich Missirillis unwürdig gefunden, wenn sie ihn nicht verließ. Sie genoß in Gedanken seine schmerzliche Überraschung, wenn er sie vergeblich neben sich suchen würde. Aber bald ergriff sie schmerzhaft der Gedanke, daß sie nicht die Liebe des Mannes hatte gewinnen können, für den sie soviel Tollkühnes getan. Da brach sie das Schweigen und machte alle Anstrengungen, um ein Liebeswort aus ihm zu locken. Er sagte ihr mit zerstreuter Miene sehr zärtliche Dinge; wenn er aber von seinen politischen Unternehmungen sprach, hatte er einen viel herzlicheren Ton; mit Schmerz rief er aus:
»Ach! wenn es diesmal nicht glückt, wenn die Regierung wieder alles entdeckt, verlasse ich unsere Sache.«
Vanina blieb still. Seit einer Stunde fühlte sie, daß sie den Geliebten zum letzten Male sah. Das Wort, das er ausgesprochen, gab ihrem Geist eine verhängnisvolle Erleuchtung. Sie überlegte:
Die Carbonari haben von mir mehrere tausend Zechinen erhalten. An meiner Aufopferung für die Verschwörung kann man nicht zweifeln.
Sie fuhr aus ihrer Versonnenheit nun auf, um Pietro zu sagen:
»Willst du vierundzwanzig Stunden mit mir auf dem Schloß San Nicolo zusammen sein? Eure Versammlung heute abend bedarf deiner Gegenwart nicht. Morgen früh können wir in San Nicolo spazieren gehen; das wird deine Erregung beruhigen und dir alle Kaltblütigkeit geben, die du in diesem ernsten Moment brauchst.«
Pietro ging darauf ein.
Vanina verließ ihn, um die Vorbereitungen für ihre Reise zu treffen und schloß ihn wie gewöhnlich in das kleine Zimmer ein, in dem sie ihn verborgen hatte.
Sie eilte zu einer ihrer früheren Kammerfrauen, die sich nach Forli verheiratet hatte, wo sie einen kleinen Handel betrieb. Dort angekommen, schrieb sie hastig auf den Rand eines Gebetbuches, das sie im Zimmer fand, genau Angaben über den Ort, wo die Venta der Carbonari sich in der Nacht desselben Tages vereinigen sollte. Sie schloß ihre Denunziation mit den Worten: »Diese Venta besteht aus neunzehn Mitgliedern; hier ihre Namen und Adressen.« Die folgende Liste war sehr genau bis auf den einen Punkt, daß der Name Missirilli ausgelassen war. Nachdem sie dies geschrieben, sagte sie zu der Frau, deren sie sicher war:
»Bring dies Buch zum Kardinal-Legaten; er soll das Geschriebene lesen und dir das Buch wiedergeben. Hier sind zehn Zechinen; wenn jemals der Kardinal deinen Namen erfährt, ist es dein sicherer Tod; aber du rettest mir das Leben, wenn du den Legaten die Seite lesen lassest, die ich geschrieben habe.«
Alles gelang vortrefflich. Aus Furcht benahm sich der Legat nicht als großer Herr. Er erlaubte der Frau aus dem Volke, die ihn sprechen wollte, mit Maske vor ihm zu erscheinen, unter der Bedingung, daß ihr die Hände gefesselt würden. So wurde die Händlerin vor den hohen Herrn geführt, der sich hinter einem Riesentisch mit grünem Tuche verschanzt hatte.
Der Legat las die Seite im Gebetbuch, das er aus Furcht vor einem scharfen Gift weit von sich weghielt. Er gab es der Händlerin zurück und ließ niemanden ihr nachgehn. Weniger als vierzig Minuten, nachdem sie ihren Geliebten verlassen hatte, erschien Vanina, die ihre frühere Kammerfrau hatte zurückkommen sehn, wieder vor Missirilli, den sie von nun an ganz ihr eigen glaubte. Sie erzählte ihm von einer außerordentlichen Bewegung in der Stadt; man bemerkte Patrouillen von Karabinieri in Straßen, in die sie sonst nie kamen.
»Wenn du mir glauben willst,« fügte sie hinzu, »so reisen wir am besten gleich nach San Nicolo.«
Missirilli war einverstanden. Sie gingen zu Fuß bis zu dem Wagen der jungen Prinzessin, in dem ihre Gesellschaftsdame, eine zuverlässige und gutbezahlte Vertraute, eine halbe Stunde vor der Stadt wartete.
Auf dem Schlosse San Nicolo angekommen, war Vanina, verstört von ihrem seltsamen Unternehmen, doppelt zärtlich zu dem Geliebten. Aber indem sie ihm von Liebe sprach, hatte sie das Gefühl, Komödie zu spielen. Gestern bei dem Verrat war ihr keine Reue in den Sinn gekommen. Jetzt, während sie ihn in ihren Armen hielt, sagte sie sich:
»Es gibt ein Wort, das man ihm sagen kann, und wird dieses Wort ausgesprochen, so muß er mich augenblicklich und für immer verabscheuen.«
Mitten in der Nacht drang ein Bedienter ungestüm in ihr Zimmer ein. Dieser Mensch war Carbonaro, wovon sie nichts ahnte. Missirilli hatte also Geheimnisse vor ihr, selbst in solchen Kleinigkeiten. Sie erschauerte. Dieser Mann brachte Missirilli die Nachricht, daß in der Nacht in Forli die Häuser von neunzehn Carbonari umzingelt und sie selbst, als sie von der Venta zurückkamen, festgenommen wurden. Trotz des unerwarteten Überfalles hatten sich neun gerettet. Zehn konnten die Karabinieri in die Festung der Zitadelle bringen. Beim Eintritt in diese hatte sich einer durch einen Sturz in den tiefen Brunnen getötet.
Vanina verlor die Fassung; glücklicherweise bemerkte Pietro es nicht; er hätte ihr Verbrechen in ihren Augen lesen können.
»In diesem Augenblick,« fügte der Bediente hinzu, »bildet die Garnison von Forli eine Kette durch alle Straßen. Jeder Soldat ist nur so weit vom nächsten entfernt, daß er zu ihm sprechen kann. Die Einwohner können nur dort von einer Seite der Straße zur andern hinüber, wo ein Offizier steht.«
Als dieser Mann hinausgegangen war, hatte Pietro nur einen Augenblick des Nachdenkens. Dann sagte er: »Für den Moment ist. nichts zu machen.«
Vanina verging; sie zitterte unter den Blicken ihres Geliebten.
»Was hast du nur so ungewöhnliches?« fragte er.
Dann dachte er an etwas andres und sah sie nicht mehr an. Gegen Mittag wagte sie es, ihm zu sagen:
»Da ist nun wieder eine Venta entdeckt; ich denke, nun wirst du für einige Zeit ruhig sein.«
»Sehr ruhig«, antwortete Missirilli mit einem Lächeln, das sie schaudern machte.
Sie mußte einen Auslandsbesuch bei dem Dorfpfarrer von San Nicolo machen, der ein Spion der Jesuiten sein konnte. Als sie um sieben Uhr zum Essen heimkam, fand sie das kleine Zimmer, in dem ihr Liebhaber verborgen gewesen, verlassen. Aber sich, lief sie ihn suchend durch das ganze Haus; er war nicht zu finden. Verzweifelt kehrte sie in das kleine Zimmer zurück; nun erst bemerkte sie einen Zettel; sie las:
»Ich werde mich dem Legaten stellen; ich verzweifle an unsrer Sache; der Himmel ist gegen uns. Wer hat uns verraten? Offenbar der Unglückliche, der in den Brunnen gesprungen ist. Da mein Leben dem armen Italien nutzlos ist, will ich nicht, daß meine Kameraden, wenn sie sehen, daß ich allein nicht verhaftet bin, auf den Gedanken kommen können, ich habe sie verkauft. Leb wohl; wenn Du mich liebst, trachte mich zu rächen. Verdirb, vernichte den Schurken, der uns verraten hat, und wäre es mein eigner Vater.«
Vanina fiel in einen Stuhl, halb ohnmächtig und in quälendes Weh versunken. Sie konnte kein Wort sprechen; ihre Augen waren trocken und brannten.
Endlich warf sie sich auf die Knie.
»Großer Gott!« rief sie, »nimm mein Gelübde an; ja, ich werde den Schurken bestrafen, der verraten hat; aber zuvor muß Pietro die Freiheit wieder bekommen.«
Eine Stunde später war sie auf dem Wege nach Rom. Seit langem drängte ihr Vater sie, zurückzukommen. Während ihrer Abwesenheit hatte er ihre Heirat mit dem Fürsten Livio Savelli eingeleitet. Gleich nach ihrer Ankunft sprach er ihr mit Zagen davon. Zu seinem großen Erstaunen war sie vom ersten Wort an einverstanden. Am selben Abend stellte ihr Vater bei der Gräfin Vitteleschi Don Livio fast offiziell vor; sie sprach viel mit ihm. Er war sehr elegant und hatte die schönsten Pferde; aber obwohl man ihm viel Geist zusprach, galt er doch für so oberflächlich, daß die Regierung keinerlei Verdacht auf ihn hatte. Vanina meinte, wenn sie ihn zunächst verliebt machte, könnte er ihr als bequemer Agent dienen. Da er Neffe des Monsignore Savelli-Catanzara, des Gouverneurs von Rom und Polizeiministers, war, vermutete sie, daß die Spione nicht wagen würden, ihm nachzuspüren.
Nachdem sie einige Tage den liebenswürdigen Don Livio gut behandelt hatte, erklärte ihm Vanina, er könnte nie ihr Gatte werden; er wäre für sie zu oberflächlich.
»Wenn Sie nicht solch ein Kind wären, sagte sie zu ihm, so hätten die Beamten Ihres Oheims keine Geheimnisse für Sie. Zum Beispiel was hat man beschlossen in betreff der Carbonari, die letzthin in Forli entdeckt wurden?«
Zwei Tage später kam Don Livio mit der Mitteilung zu ihr, alle in Forli ergriffenen Carbonari wären entsprungen. Sie heftete ihre großen schwarzen Augen mit dem bitteren Lächeln tiefster Verachtung auf ihn und würdigte ihn den ganzen Abend keines Wortes. Zwei Tage darauf bekannte ihr Don Livio errötend, daß man ihn zunächst getäuscht habe.
»Aber,« sagte er, »ich habe mir einen Schlüssel zum Arbeitszimmer meines Oheims verschafft; ich habe aus den Papieren, die ich dort fand, ersehen, daß eine Kongregation oder Kommission, bestehend aus den namhaftesten Kardinälen und Prälaten, sich in aller Heimlichkeit versammelt und berät über die Frage, ob man diese Carbonari in Rom oder Ravenna aburteilen soll. Die neun in Forli ergriffenen Carbonari und ihr Oberhaupt, ein gewisser Missirilli, der die Dummheit begangen hat, sich zu stellen, werden in diesem Moment auf dem Kastell San Leo gefangen gehalten.«
Bei dem Worte Dummheit kniff Vanina den Fürsten heftig.
»Ich will selbst die amtlichen Schriftstücke sehn,« sagte sie, »und mit Ihnen in das Arbeitszimmer Ihres Oheims gehen; Sie werden schlecht gelesen haben.«
Bei diesen Worten erschrak Don Livio; Vanina bat ihn um etwas fast Unmögliches; aber das bizarre Wesen dieses jungen Mädchens verdoppelte seine Liebe. Wenige Tage später konnte Vanina, als Mann verkleidet, in einer niedlichen Livree in den Farben des Hauses Savelli eine halbe Stunde über den geheimsten Papieren des Polizeiministers verbringen. Heftiges Glück ergriff sie, als sie den täglichen Bericht über den Angeklagten Pietro Missirilli entdeckte. Ihre Hände zitterten, als sie dies Papier hielten. Beim Anblick seines Namens war sie einer Ohnmacht nahe. Als sie das Palais des Gouverneurs von Rom verließen, erlaubte Vanina dem Don Livio, sie zu küssen.
»Sie bestehen die Proben gut,« sagte sie, »denen ich Sie unterwerfe.«
Nach einem solchen Worte hätte der junge Fürst den Vatikan in Brand gesteckt, um Vanina zu gefallen. An diesem Abend war ein Ball bei dem französischen Gesandten; sie tanzte viel und fast immer mit Don Livio. Er war trunken von Glück, es raubte ihm jede Überlegung.
»Mein Vater ist bisweilen seltsam,« sagte Vanina eines Tages zu ihm, »heute Morgen hat er zwei seiner Leute fortgejagt, die mit Tränen zu mir gekommen sind. Der eine hat mich gebeten, bei Ihrem Oheim, dem Gouverneur von Rom untergebracht zu werden; der andre, welcher unter der Franzosenherrschaft Artillerist war, möchte auf der Engelsburg angestellt sein.«
»Ich nehme beide in meinen Dienst,« sagte lebhaft der junge Fürst.
»Habe ich Sie darum gebeten?« erwiderte hochmütig Vanina. »Ich wiederhole Ihnen wörtlich die Bitte dieser armen Leute; sie sollen das bekommen, was sie wünschen und nichts andres.«
Das war äußerst schwierig. Monsignore Cantazara war durchaus kein leicht zugänglicher Mann und nahm in sein Haus nur Leute auf, die ihm wohlbekannt waren. Mitten in einem Leben, das dem Anschein nach von allen Genüssen erfüllt war, fühlte sich Vanina elend, gefoltert von Gewissensqualen. Der schleppende Gang der Ereignisse war ihr tödlich. Der Agent ihres Vaters hatte ihr Geld verschafft. Sollte sie das Vaterhaus verlassen, in die Romagna gehen und versuchen, ihren Geliebten zu befreien? So töricht dieser Plan war, sie war schon im Begriff, sich an seine Ausführung zu machen; da hatte der Zufall Mitleid mit ihr.
Don Livio sagte ihr: »Die zehn Carbonari der Venta Missirilli sollen nach Rom überführt werden, unter dem Vorbehalt, nach ihrer Verurteilung in der Romagna hingerichtet zu werden. Das hat mein Oheim heute abend beim Papst durchgesetzt. Sie und ich sind die einzigen in Rom, die um dies Geheimnis wissen. Sind Sie zufrieden?«
»Sie werden ein Mann,« antwortete Vanina; »schenken Sie mir Ihr Porträt.«
Einen Tag bevor Missirilli nach Rom kommen sollte, reiste Vanina unter einem Vorwand nach Città Castellana. In dem Gefängnis dieser Stadt läßt man die Carbonari übernachten, die man von der Romagna nach Rom überführt. Sie sah Missirilli morgens, als er das Gefängnis verließ; er war in Ketten auf einem Karren; er erschien ihr sehr bleich, aber durchaus nicht entmutigt. Eine alte Frau warf ihm ein Veilchenbukett zu; Missirilli dankte lächelnd.
Vanina hatte ihren Geliebten gesehn; alle ihre Gedanken schienen aufgefrischt; sie hatte neuen Mut. Schon vor langem hatte sie dem Abbate Cari, dem Anstaltspfarrer der Engelsburg, in die ihr Geliebter gebracht werden sollte, eine schöne Beförderung verschafft; sie hatte den braven Priester zum Beichtiger genommen. Es ist nichts Geringes in Rom, Beichtvater einer Fürstin zu sein, deren Oheim der Gouverneur ist.
Der Prozeß der Carbonari von Forli war nicht lang. Um sich für die Überführung derselben nach Rom, die sie nicht hindern konnten, zu rächen, setzten die Ultras die Kommission, welche die Carbonari richten sollte, aus den ehrgeizigsten Prälaten zusammen. Vorsitzender der Kommission war der Polizeiminister.
Das Gesetz gegen die Carbonari ist klar; die von Forli konnten sich keinerlei Hoffnung machen; gleichwohl verteidigten sie ihr Leben mit allen möglichen Ausflüchten. Die Richter verurteilten sie nicht nur zum Tode, mehrere stimmten sogar für grausame Strafen, Handabhacken usw. Der Polizeiminister, dessen Glück gemacht war (denn man verläßt diesen Posten nur, um den Kardinalshut aufzusetzen) hatte kein Bedürfnis nach abgehackten Händen: er ging mit dem Urteilsspruch zum Papste und ließ die Strafe aller Verurteilten in einige Jahre Gefängnis umwandeln. Nur Pietro Missirilli war ausgenommen. In diesem jungen Mann sah der Minister einen gefährlichen Fanatiker, und außerdem war er schon wegen der bereits erwähnten Ermordung der beiden Carabinieri zum Tode verurteilt. Vanina erfuhr das Urteil und die Strafmilderung wenige Augenblicke, nachdem der Minister vom Papste zurückkam.
Als am nächsten Tage Monsignore Catanzara gegen Mitternacht in sein Palais heimkehrte, war sein Kammerdiener nicht da; der Minister wunderte sich, läutete mehrere Male; endlich erschien ein alter einfältiger Bedienter; ungeduldig entschloß sich der Minister, sich selbst auszukleiden. Er verschloß die Tür; es war sehr heiß; er nahm sein Gewand und warf es als Bündel auf einen Stuhl. Aber er hatte zu kräftig geschleudert, und das Gewand flog über den Stuhl fort und schlug gegen den Musselinvorhang des Fensters, darin zeichneten sich die Formen einer Menschengestalt ab. Rasch sprang der Minister an sein Bett und ergriff eine Pistole. Als er wieder zum Fenster kam, trat ein sehr junger Mann, in seine Livree gekleidet, vor ihn, die Pistole in der Hand. Bei diesem Anblick hob der Minister die Pistole ans Auge, im Begriff, zu schießen. Da sagte der junge Mann lachend:
»Aber, Monsignore, erkennen Sie Vanina Vanini nicht?«
»Was bedeutet dieser schlechte Scherz?« rief der Minister zornig.
»Lassen Sie uns kühl und vernünftig sein«, sagte das junge Mädchen. »Zunächst: Ihre Pistole ist entladen.«
Verwundert vergewisserte sich der Minister davon; dann zog er einen Dolch aus der Tasche des Unterkleides.
Vanina sagte mit reizend gebieterischem Ausdruck:
»Setzen wir uns, Monsignore.« Und sie nahm ruhig auf einem Kanapee Platz.
»Sind Sie wenigstens allein?« fragte der Minister.
»Ganz allein, ich schwöre es Ihnen!« rief Vanina.
Davon überzeugte sich nun der Minister sorgfältig: er ging rings durch das Zimmer und sah überall nach; sodann setzte er sich auf einen Stuhl drei Schritte von Vanina.
»Was könnte mir daran liegen,« sagte Vanina mit sanfter und ruhiger Miene, »einem maßvollen Manne nach dem Leben zu trachten, der wahrscheinlich durch einen schwächlichen Hitzkopf ersetzt werden würde, der sich und die andern zugrunde richten könnte?«
»Was wollen Sie also, mein Fräulein?« sagte der Minister verdrossen. »Dieser Auftritt sagt mir durchaus nicht zu und darf nicht andauern.«
»Was ich hinzuzufügen habe,« erwiderte Vanina mit Hoheit und hatte mit einmal nicht mehr ihre liebenswürdige Miene, »ist für Sie wichtiger als für mich. Man will, daß der Carbonaro Missirilli mit dem Leben davonkomme; wird er hingerichtet, so überleben Sie ihn nicht um eine Woche. Ich habe an all dem kein Interesse; die Tollheit, über die Sie sich beklagen, habe ich begangen, zunächst, um mich zu belustigen, und dann, um einer meiner Freundinnen dienlich zu sein.« Dann fuhr Vanina wieder mit ihrer Gesellschaftsmiene fort: »Ich habe einem Mann von Geist einen Dienst leisten wollen, einem Manne, der bald mein Oheim sein und nach allem Anschein den Glanz seines Hauses hoch erheben wird.«
Der Minister gab die ärgerliche Miene auf; die Schönheit Vaninas trug ohne Zweifel zu diesem raschen Wechsel bei. Man kannte in Rom den Geschmack des Monsignore Catanzara für die hübschen Frauen, und in ihrer Verkleidung als Lakai des Hauses Savelli mit den straff anliegenden Seidenstrümpfen, einer roten Weste, der himmelblauen Weste mit Silberborde und mit der Pistole in der Hand, war Vanina hinreißend.
»Liebe künftige Nichte,« sagte der Minister, schon dem Lachen nahe, »Sie begehen da eine große Tollheit und es wird nicht Ihre letzte sein.«
»Ich hoffe, daß eine so einsichtsvolle Persönlichkeit mein Geheimnis wahren wird,« antwortete Vanina, »und besonders Don Livio gegenüber, und um Sie hierzu zu bewegen, mein lieber Oheim, werde ich, wenn Sie dem Schützling meiner Freundin das Leben schenken, Ihnen einen Kuß geben.«
Indem sie die Unterhaltung in dem halb scherzhaften Ton fortsetzte, mit dem die römischen Damen die größten Angelegenheiten zu behandeln verstehen, gelang es Vanina, dieser Zusammenkunft, welche mit der Pistole in der Hand begonnen hatte, die Stimmung eines Besuchs zu geben, den die junge Fürstin Savelli ihrem Oheim, dem Gouverneur von Rom, macht.
Monsignore Catanzara wies zwar mit Stolz den Gedanken zurück, sich durch Einschüchterung etwas aufdrängen zu lassen, aber er war nun doch so weit, seiner Nichte alle Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, auf die er bei dem Versuche, Missirillis Leben zu retten, stoßen würde. Indem er dies besprach, ging der Minister mit Vanina im Zimmer auf und ab; er nahm eine Karaffe mit Limonade und füllte ein Kristallglas. In dem Augenblick, als er es an die Lippen setzen wollte, nahm es Vanina ihm fort, hielt es einige Zeit in der Hand und ließ es dann wie in Gedanken aus dem Fester fallen. Gleich darauf nahm der Minister ein Schokoladenplätzchen aus einer Bonbonniere. Vanina entriß es ihm und sagte lachend:
»Geben Sie doch acht, alles bei Ihnen ist vergiftet; denn man wollte Ihren Tod. Ich aber habe die Begnadigung meines künftigen Oheims durchgesetzt, um nicht mit ganz leeren Händen in die Familie Savelli einzutreten.«
Monsignore Catanzara war höchst erstaunt; er dankte seiner Nichte und gab große Hoffnung für das Leben Missirillis.
»Unser Handel ist fertig!« rief Vanina, »und zum Beweise hier den Lohn.« Und sie küßte ihn.
Der Minister nahm den Lohn.
»Sie müssen wissen, meine liebe Vanina,« sagte er dann, »ich liebe das Blutvergießen nicht. Übrigens bin ich, obwohl ich Ihnen vielleicht recht alt erscheine, noch jung und kann noch zu einer Zeit am Leben sein, wo das heute vergossene Blut ein Makel sein wird.«
Es schlug zwei Uhr, als Monsignore Catanzara Vanina bis zur kleinen Gartentür begleitete.
Als am übernächsten Tage der Minister in ziemlicher Verlegenheit über sein Vorhaben vor dem Papst erschien, sagte Seine Heiligkeit zu ihm:
»Vor allem habe ich Sie um eine Begnadigung zu ersuchen. Einer der Carbonari von Forli ist zum Tode verurteilt geblieben; diese Vorstellung raubt mir den Schlaf: man muß diesen Menschen retten.«
Als der Minister sah, daß der Papst seinen Entschluß gefaßt hatte, machte er viele Einwände und setzte schließlich ein Motu proprio auf, das der Papst, gegen das Herkommen, unterzeichnete.
Vanina hatte gedacht, daß sie vielleicht die Begnadigung ihres Geliebten erreichen könnte, daß man aber versuchen würde, ihn zu vergiften. Seit gestern hatte Missirilli von ihrem Beichtiger, dem Abbate Cari, einige kleine Pakete Schiffszwieback erhalten, mit dem Wink, die Gefängniskost nicht anzurühren.
Als Vanina nachher erfahren hatte, daß die Carbonari von Forli nach dem Kastell San Leo überführt werden sollten, wollte sie versuchen, Missirilli bei seinem Aufenthalt in Città Castellana zu, sehen; sie traf vierundzwanzig Stunden vor den Gefangenen in dieser Stadt ein; dort fand sie den Abbate Cari, der mehrere Tage vor ihr angekommen war. Er hatte es beim Kerkermeister durchgesetzt, daß Missirilli Mitternachts in der Kapelle des Gefängnisses die Messe hören könnte. Man ging noch weiter: wenn Missirilli sich freiwillig die Arme und Beine mit einer Kette fesseln ließe, würde der Kerkermeister zurückbleiben an der Tür der Kapelle, von wo aus er den Gefangenen, für den er verantwortlich war, immer sehen konnte, ohne indessen hören zu können, was er sprach.
Endlich erschien der Tag, der über Vaninas Schicksal entscheiden sollte. Vom Morgen ab schloß sie sich in der Gefängniskapelle ein. Wer könnte die Gedanken in Worte fassen, die sie diesen langen Tag hindurch bewegten? Liebte Missirilli sie genug, um ihr zu verzeihen? Sie hatte seine Venta verraten, aber ihm hatte sie das Leben gerettet. Als in dieser gefolterten Seele die Vernunft die Oberhand gewann, schöpfte Vanina die Hoffnung, er würde darauf eingehen, mit ihr Italien zu verlassen: hatte sie gesündigt, so war es aus Liebesübermaß. Als es vier Uhr schlug, hörte sie von fern das Getrappel der Pferde der Karabinieri auf dem Pflaster. Der Laut jedes Trittes schien in ihrem Herzen widerzuhallen. Bald unterschied sie das Rollen der Karren, auf denen die Gefangenen befördert wurden. Sie machten auf dem kleinen Platz vor dem Gefängnis halt; sie sah, wie zwei Karabinieri Missirilli heraushoben, der allein auf einem Karren und so mit Ketten belastet war, daß er sich nicht rühren konnte. Wenigstens lebt er, sagte sie sich mit Tränen in den Augen, sie haben ihn noch nicht vergiftet! Der Abend war qualvoll; die Altarlampe, die sehr hoch angebracht war und für die der Kerkermeister mit Öl kargte, erhellte allein die düstere Kapelle. Vaninas Augen irrten über die Grabsteine einiger großer Herren des Mittelalters, die im Gefängnis nebenan gestorben waren. Ihre Steinbilder hatten grimmige Mienen.
Längst hatten alle Geräusche aufgehört; Vanina war verloren in düstere Gedanken. Kurz nach dem Mitternachtsläuten glaubte sie ein leises Geräusch zu hören, wie den Flug einer Fledermaus. Sie versuchte einen Schritt und sank halb ohnmächtig an die Balustrade des Altars. Im selben Augenblick erschienen zwei Phantome in ihrer Nähe, die sie nicht hatte kommen hören. Es war der Kerkermeister mit Missirilli, den soviel Ketten belasteten, daß er wie von ihnen eingewickelt war. Der Kerkermeister öffnete eine Laterne und stellte sie so neben Vanina auf die Balustrade des Altars, daß er seinen Gefangenen deutlich sehen konnte. Dann zog er sich in den Hintergrund nahe der Tür zurück. Kaum war der Kerkermeister fort, so stürzte sich Vanina Missirilli an die Brust. Während sie die Arme um ihn schlang, fühlte sie nichts als kalte kantige Ketten. Wer hat ihm diese Ketten gegeben? dachte sie. Es machte sie nicht glücklich, ihren Geliebten zu küssen. Diesem Schmerze folgte ein zweiter stechenderer; sie glaubte einen Augenblick, Missirilli wüßte ihr Verbrechen, so eisig war sein Empfang.
»Liebe Freundin,« sagte er endlich, »ich bedaure die Liebe, die Sie für mich hegen; umsonst denke ich nach, womit ich Ihr Gefühl verdient habe. Wir kehren besser, glauben Sie mir, zu christlicheren Gefühlen zurück und vergessen die Trugbilder, die uns ehedem in die Irre geführt haben; ich kann Ihnen nicht angehören. Das beständige Mißgeschick, das meine Unternehmen verfolgt hat, kommt vielleicht von dem Zustande der Todsünde, in dem ich mich beständig befunden habe. Und auch wenn man nur auf den Rat der Menschenklugheit hörte, warum wurde ich nicht in jener Unglücksnacht von Forli mit meinen Freunden verhaftet? Warum war ich im Augenblicke der Gefahr nicht auf meinem Posten? Warum hat meine Abwesenheit den grausamsten Verdacht rechtfertigen können? Ich hatte eine andre Leidenschaft als die für die Freiheit Italiens.«
Vanina konnte sich nicht von ihrer Bestürzung über die Veränderung Missirillis erholen. Ohne sichtlich abgemagert zu sein, hatte er das Aussehn eines Dreißigjährigen. Vanina schrieb diese Veränderung der schlechten Behandlung, die er in der Gefangenschaft erlitten, zu und brach in Tränen aus.
»Ach!« sagte sie, »die Kerkermeister hatten doch so fest versprochen, daß sie dich mit Güte behandeln würden.«
In Wirklichkeit hatte die Nähe des Todes alle religiösen Grundsätze, die mit der Leidenschaft für die Freiheit Italiens vereinbar waren, im Herzen des jungen Carbonaro wieder auferweckt. Nach und nach bemerkte Vanina, daß die erstaunliche Veränderung, die sie bei ihrem Geliebten wahrnahm, rein geistig war und keineswegs die Wirkung schlechter körperlicher Behandlung. Ihr Schmerz, den sie auf dem Gipfel glaubte, wuchs nun noch mehr.
Missirilli schwieg. Vanina schien nahe daran, vor Schluchzen zu ersticken. Er sagte dann, nun selbst ein wenig bewegt:
»Wenn ich auf Erden etwas liebte, so wärest du es, Vanina; aber, gottlob; ich habe nur noch ein Ziel in meinem Leben; ich werde sterben im Gefängnis oder bei dem Versuch, Italien die Freiheit zu geben.«
Wieder gab es ein Schweigen; Vanina konnte offenbar nicht sprechen; sie versuchte es vergeblich. Missirilli fuhr fort:
»Die Pflicht ist grausam, meine Freundin; aber wenn es nicht ein wenig Mühsal gäbe, sie zu erfüllen, wo bliebe das Heldentum? Gib mir dein Wort, daß du nicht versuchen wirst, mich wiederzusehen.«
Soweit es ihm die enge Kette erlaubte, bewegte er das Handgelenk ein wenig und streckte Vanina die Finger hin.
»Wenn ein Mann, der Ihnen teuer war, Ihnen einen Rat geben darf, so heiraten Sie ruhig den verdienstvollen Mann, den Ihr Vater Ihnen bestimmt. Machen Sie ihm keine peinlichen Geständnisse; aber suchen Sie andrerseits auch nicht, mich wiederzusehn; wir wollen von nun an einander fremd sein. Sie haben eine beträchtliche Summe für den Dienst des Vaterlandes vorgestreckt; wird es jemals von seinen Tyrannen befreit, so wird Ihnen diese Summe getreulich aus der Staatskasse zurückgezahlt werden.«
Vanina war zerschmettert. Während er zu ihr sprach, hatte Pietros Auge nur in dem Moment geleuchtet, als er das Vaterland nannte.
Endlich kam der jungen Fürstin der Stolz zu Hilfe; sie hatte sich mit Diamanten und kleinen Feilen versehen. Ohne Missirilli zu antworten, reichte sie ihm diese hin.
»Es ist meine Pflicht, dies anzunehmen,« sagte er, »denn ich muß versuchen zu entkommen; aber ich werde Sie nie wiedersehen, ich schwöre es angesichts Ihrer neuen Wohltaten. Leben Sie wohl, Vanina; versprechen Sie, mir niemals zu schreiben, nie zu versuchen, mich zu sehen; lassen Sie mich ganz dem Vaterlande; ich bin tot für Sie: leben Sie wohl.«
»Nein,« erwiderte Vanina wütend, »ich will, daß du weißt, was ich getan habe, geleitet von der Liebe, die ich für dich fühlte.«
Dann erzählte sie ihm all ihre Schritte von dem Augenblick an, als Missirilli das Schloß San Nicolo verlassen hatte, um sich dem Legaten zu stellen. Als dieser Bericht zu Ende war, sagte Vanina:
»All das ist nichts: ich habe mehr getan aus Liebe zu dir.«
Dann sagte sie ihm ihren Verrat.
»Ungeheuer!« rief Pietro wütend, warf sich auf sie und suchte sie mit seinen Ketten zu erschlagen.
Es wäre ihm gelungen, wenn nicht der Kerkermeister beim ersten Schrei herbeigeeilt wäre. Er ergriff Missirilli.
»Da, Ungeheuer, ich will dir nichts schulden«, sagte Missirilli zu Vanina, warf ihr, soweit es seine Ketten erlaubten, die Feilen und Diamanten hin und entfernte sich, so rasch er nur konnte.
Vanina blieb vernichtet. Sie kam nach Rom zurück; und die Zeitung meldet ihre Vermählung mit dem Fürsten Don Livio Savelli.