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Seit dem Tage, an dem Amadeus seine stummen Lieder verbrannt hatte, zog sich das Leben des Knaben immer mehr aus seinem gewohnten Getriebe und geriet in die Wasser eines unterirdischen Stromes, die es einem unbekannten Ausgange zutrugen. Das Junglein wußte von nichts. Nichts als ein schmerzvolles Harren war in ihm.
An einem Abende trat das Unsichtbare, das immer um das Mandelhaus schweifte, in die Stube des Schneiders und nahm den Jungen mit.
Der alte Mandel hatte seine Tagesarbeit vollendet. Er legte das Stück, an dem er eben schaffte, säuberlich zusammen und schob es unter die Bank, räumte die Geräte auf dem Tische zusammen, spulte sich Garn auf das Schiffchen der Maschine, kurz, bereitete alles vor, daß das alte Rädchen am andern Morgen ohne Aufhalten weitergetrieben werden könne. Darauf schlüpfte er hinter der Kleiderschranktür aus der Wochenkluft in einen besseren Spenser. Mancherlei gewichtige Überlegungen tummelten sich in seinem Gesicht, und als er mit ihnen halbwegs ins reine gekommen war, trat er an Maruschka heran und trieb sie mit einem stummen Wirbel seiner Hände auch zur Eile an. – Der Wirtschafterin bescherte diese Aufforderung ein zufriedenes Lächeln. Sie verließ die Stube, und der Schneider stellte sich vor das Fenster und sah in das Dämmern des Abends hinaus.
Warum hat sich mein Vater einen andern Rock angezogen? Was steht er und sieht in die Welt? Warum schickt er die Maruschka-Mutter hinaus? Was will er mit mir machen und ihr? Sie werden doch nicht etwa fortgehen, mich hier lassen, nicht mehr zurückkehren, in ein anderes Land wandern, ganz aus Preußen heraus, und sich einen neuen Jungen kaufen?
Das alles wirbelte dem Amadeus durch den Kopf, während er mit schmerzendem Erstaunen seinen Vater beobachtete, der immer noch am Fenster stand und nun mit den langen Nägeln seiner Hände ungeduldig auf dem Brett zu trommeln begann. Dabei ruckte er unter leichtem Schnauben seinen Kopf immer wieder auf. Dieses fortwährende Auseinanderfahren des zusammengeschobenen Rückens brachte in dem Kinde die Vorstellung hervor, sein Vater habe ein Gesicht bekommen, das er noch nie gesehen habe. Gerade wollte Amadeus aufstehen, um zu beobachten, was mit dem Gesicht passiert sei, daß er mit dem Rücken ohne Aufhören auf und zu schnappe, als Maruschka in die Stube trat. Sie stellte ein Töpfchen auf den Tisch und legte eine dicke Schnitte Brot darauf. Das sollte des Knaben Abendbrot sein. Dann zog sie sich das bunte Tuch über den Schultern zurecht und rüttelte den Schneider leicht an der Achsel zum Zeichen ihrer Bereitschaft. Eusebius fuhr aus tiefem Sinnen herum, umfing die Stumme mit einem glücklichen Blick, legte seine Hand auf ihre Brust und schob sie so ein wenig zur Seite, um sich den Weg zu seinem Jungen frei zu machen.
Der sah in einem Erwarten, das zugleich Bangen war, seinen Vater auf sich zukommen und dachte: Mein Vater kommt zu mir und wird mich mitnehmen. Dann schloß er die Augen im Vorgenuß einer Liebkosung. Aber Eusebius blieb zwei Schritte vor ihm stehen und sagte: er solle warten, bis sie zurückkehren, und indessen das Haus hüten. Es gäbe etwas in den Berghäusern zu besorgen. Das Abendbrot stehe auf dem Tisch, und wenn er müde sei, könne er auch schlafen gehen. »Aber Licht darfst du auf keinen Fall machen«, mit diesem Befehl schloß der Schneider seine Worte. »Hörst du, Amadeusla, priezeln tu ja nich. Denn da kommt der Feuerwolf und frißt dich samt dem Hause.«
Der Junge spürte das andere Gesicht seines Vaters auch in den Worten und wollte schreien: Vater, bleib, geh nicht fort. Mit dem Gesichte findst du nicht mehr nach Hause. Aber ein Krampf drückte dem Amadeus die Brust ein. Als er sich erholt hatte, klangen die Schritte der Davongehenden leiser und leiser durch das Eindunkeln. Aber das Kind sah die beiden doch noch in sich dahinschwanken. Endlich waren sie auch nicht mehr mit den Gedanken zu sehen. Entsetzt sprang er auf und lief vor das Haus, um ihnen nachzueilen. Eine graue Leere breitete sich rund aus. In dieser sah Amadeus Maruschka und seinen Vater undeutlich, weit wie am Ende der Welt, fortgetragen werden und dann gleich Vögeln in einer Wolke verschwinden.
Bis dahin konnte der Junge nicht laufen, das war ja schon in einem fremden Lande. Und wenn er hinkäme, so würde er seinen Vater nicht mehr kennen, weil er doch mit dem fremden Gesicht fortgegangen war, das er sich anzusehen vergessen hatte.
Mutlos kehrte er in die Stube zurück und kauerte sich auf den Boden neben dem Ofen.
Es war in jener späten Zeit des Abends, da das Licht des Tages bereits so schwach geworden ist, daß es nur noch vereinzelte Wellen aufbringt, die über die Erde treiben, und hinter ihnen folgen immer Wogen tieferer Schatten. Die Leute sagen dann, der Herrgott sei überm Einschlafen und zwinkere schon mit den Augen. So flössen die Erhellungen und Verdunkelungen auch durch die Stube des Eusebiusschneiders, und Amadeus glaubte, es sei der Widerschein von Leuten, die draußen vorübergingen.
Der Junge wagte sich ein Schrittlein weiter gegen das Fenster und spähte vorsichtig hinaus. In diesem Augenblick hörte das rätselhafte Vorüberwandern auf, und nichts stand draußen als die krumme Weide auf dem Wiesenplan. Sie beugte ihre kätzchengelbe Rutenkrone wie einen aufgedunsenen schimmernden Kopf nieder, als blicke sie nach jemand zu ihren Füßen. Amadeus wußte zwar, daß es niemand als das Wässerlein sein konnte, nach dem der alte Baum schaute, wagte sich aber dennoch in Neugier einen weiteren Schritt vor und machte einen langen Hals.
Aber da erschrak er bis in seine Seele hinein. Denn unter der Weide saß jemand. Es hatte graue Gewänder an und schaute regungslos auf das kleine Wasser. Nebelfahl, ein aschgraues Tuch über den Kopf gezogen, daß Amadeus weder Schulter noch Arme wahrnehmen konnte, hockte es dort.
Sie wartet auf mich, dachte der Knabe, und will mich mitnehmen. Geräuschlos zog er den linken Fuß zurück, den er in der Aufregung vorgestellt hatte, um sich auf den alten Fleck wieder neben den Ofen zu kauern. Aber schon dieses leise Schleifen der Fußsohle auf dem Boden, das der Knabe selber nicht gehört hatte, mußte die Rätselhafte unter der Weide wahrgenommen haben. Denn es kam ein Wogen in sie, und ehe Amadeus sich niederlassen konnte, erhob sie sich, wurde lang, schwankte in der Luft und kam wehend über die Wiese, gerade auf das Schneiderhaus zu.
Der Junge getraute sich nicht, zu sehen, was jetzt werden würde, und schloß vor Grauen die Augen. Als er sie wieder öffnete, schaute ein Gesicht zum Fenster herein, das hatte Ähnlichkeit mit dem Gesicht der Hübnerbäuerin. Es lächelte, winkte dem Knaben und verschwand.
Da ergriff Amadeus das Brot auf dem Tisch und lief eilig vor das Haus.
Im Hofe des Schnallkebauers wurde eben mit Gepolter das Tor geschlossen. Aus einem Hause im Dunkel rief eine mütterliche Stimme. Der Hainwald stand finster und unbeweglich. Auf der Chaussee ging jemand mit lauten Schritten dahin. Amadeus biß schnell einen großen Bissen von dem Brot, legte die Schnitte dann auf einen Zaunpfahl und fing an, das kleine Steiglein durch die Wiese hinunterzulaufen. Die krumme Weide langte mit den Ruten nach ihm; aber er achtete nicht auf sie. Die Unsichtbaren, deren fernen Vorüberzug er von der Stube seines Vaters aus beobachtet hatte, waren um ihn und, eingekeilt in einem unaufhaltsam vorwärts drängenden Strom, wurde er weitergetragen. Ohne zu wissen, was ihm geschah, rannte er auf dem Wege nach Bauerröhrsdorf weiter. Das Klopfmännlein stand vor dem Gebüsch der Bodenwelle und winkte ihm. Dann huschte das weiße, fliegende Kleidchen eines kleinen Mädchens durch die Zweige und verschwand im Hohlweg. Amadeus spie den Bissen, den er noch immer im Munde hielt, aus, biß die Zähne aufeinander und begann so schnell zu laufen, wie er in seinem Leben noch nicht vorwärts gekommen war, damit er nicht allein durch die greuliche Nacht des Hohlweges müsse. Er stürzte, sprang auf, taumelte da und dort gegen die Ränder. Sein Herz schlug zum Zerspringen.
Endlich stand er am Rande des Busches.
Die weißen Höfe von Bauerröhrsdorf schwammen ungewiß durch das Dunkel des Kessels unter ihm. Amadeus suchte mit den Augen den Hof des Hübnerbauern, und als er ihn gefunden zu haben glaubte, schrie er gellend in verzweifelter Freude: »Veronika!« und stürzte in eiligem Lauf weiter. Und während er rannte, sprach er fortwährend, weinend und lachend zugleich vor sich hin: »Veronika, ich komm' zu dir, Veronika, ich komm zu dir ... Veronika, ich komme ...«
So war er nicht lange danach an dem Teiche angekommen, der nicht weit von dem Hübnerhofe unter dem Gesträuch lag.
Er war ganz still und schlief blank und schwarz. Nicht einmal den Schatten der Bäume, die an seinem Ufer standen, nahm er bei sich auf. Lange sah Amadeus das Wasser an, das so regungslos und geheimnisvoll ruhte.
Die große Stille, die von ihm ausging, machte den Schneiderjungen verzagt, daß er sich nicht an den Hof getraute, der zwischen den Bäumen des Gartens hindurch mit zwei großen roten Fensteraugen zu ihm hersah. Ihre Helle reichte ein großes Stück in die schummerige, halbe Finsternis hinein und stand gerade gegen den Knaben hin.
Deswegen dachte Amadeus, wenn er sich in das Gras setzte und warte, so müßte Veronika mit dem Fensterlicht doch sehen, zu ihm herauskommen und ihn holen. Die Nacht war warm. Er kauerte sich in das junge Gras und begann die schmalen Blätter abzuzupfen und in den Teich zu werfen. Aber das Mädchen wollte sich nicht sehen lassen. Manchmal war es dem Knaben wohl, als taste es sich auf leisen Füßen zu ihm hin, dann sagte er glücklich den Namen seiner Freundin und sah auf seine Hände nieder.
Aber immer täuschte er sich doch, und es war wieder weiter nichts zu vernehmen als das Stampfen der Kühe und Pferde aus den verschlossenen Ställen. Ja, als er sich umdrehte, war auch das Licht in den Fenstern erloschen, und der Hof lag dunkel und fremd in der stockend stillen Nacht. Amadeus konnte nicht begreifen, warum die Hübnerbäuerin ihm am Fenster gewinkt habe, wenn sie jetzt schlafen ginge, ohne ihn hereinzuholen. Er hob die Augen und sah umher, um zu überlegen, was nun zu tun sei. Der Lange Busch lehnte gerade vor ihm wie eine riesige schwarze Mauer in den Himmel, und hinter ihm quoll eine Helle herauf, als ginge da wer mit einem Lichte vorüber.
Da fiel es dem Jungen ein, er könne warten, wer da heraufsteigen würde.
Es könnte ja jemand sein, der ihm leuchtete, daß er nicht mehr so einsam an dem Teiche sitzen müßte, der ohne Aufhören schlief und sich gar nicht um ihn kümmerte. – Langsam kam das Glänzen höher, hängte erst da und dort gleißende Goldnüßlein in die Buschfinsternis, stach bald darauf mit schimmernden Stäben durch die Zweige, füllte dann die hohen Bogenfenster des Waldes mit seinem Scheine, tauchte jetzt gar die schwarzen Kreuzblumen der höchsten Fichtenwipfel in blendendes Sieden und stand nun als das runde Tor am freien Himmel, das die Engel mit goldenen Zweigen durch die blaue Nacht bohren.
Beim Anblick des Mondes schwand von dem armen Mandeljungen jede Furcht, denn er sah wie in der Nacht seiner frühesten Kindheit eine glänzende Straße aus dem runden Tor des Mondes fließen und über den Wald herunterrinnen. Das Bild seiner himmlischen Mutter, die er damals ersehnt hatte, stand in ihm auf. und jetzt wußte er auch, daß nicht die Hübnerbäuerin, sondern sie ihm durch des Vaters Fenster gewinkt habe.
Die Fesseln des aufgezwungenen Stummseins fielen von des Amadeus Seele. Das Spiel von leichten Flügeln huschte auf ihn zu, und auf einmal hörte er wieder aus leuchtender Tiefe in sich die Musik der goldenen Zweige klingen, mit der die Engel die Menschen von der Erde locken. Die verschütteten Jubel seiner Lieder wachten in ihm auf. Er hub an, das Strömen des Lichtes zu singen, die Finsternis des Langen Busches, den Gesang des nächtlichen Himmelsblaus, sein Einsamsein und seine Sehnsucht, daß ihn jemand streichele und liebkosend seine Händchen nehme.
Er merkte, daß seine himmlische Mutter ihm zuhöre, denn der silberne Weg floß immer näher an ihn heran und glitt schon von dem gegenüberliegenden Ufer in den Teich, der davon aufwachte und mit tausend Wellchen unruhig zu zittern begann.
Plötzlich hörte Amadeus durch den Gesang hindurch seinen Namen rufen.
Fern und angstvoll klang es: »Amadeusla! – Amadeusla!!«
Der Knabe schwieg bestürzt. Denn er glaubte, seine Mutter habe ihn gerufen, und doch schien es ihm auch, die Stimme sei aus einer anderen Richtung gekommen.
Er stand auf und sah sich um, erblickte aber nicht s als einen großen grauen Vogel, der über den Abhang von Oberröhrsdorf her gerade durch das Feld flog. Er flog sehr unbeholfen. Amadeus merkte, wie er sich immer mit den Beinen vom Boden abstieß und dann mit kurzen Flügeln eine Strecke flatterte. Noch einmal schien es aus der Gegend schwadr zu rufen. Dann verschwand der Vogel hinter einer Bodenwelle.
Der Knabe kehrte sich wieder dem Teiche zu. – Die silberne Straße war indessen bis über den halben Teich gerückt. Amadeus sah ein, daß er warten müsse, bis sie zu ihm herangeschwommen sei. Dann wollte er sich über den Uferrand auf sie hinunterlassen und eilig zu seiner Mutter gehen.
Schon schimmerten die Zweige der Büsche über ihm in weißem Glasten. Die Wellen schaukelten den Weg immer näher. Das Gras zu seinen Füßen begann zu glimmen. Jetzt stieß die leuchtende Straße ans Ufer.
Amadeus wurde von Verzückung und Inbrunst erfaßt. Lächelnd und kosend flüsterte er: »Meine liebe Mutter! Meine liebe Mutter!«
Dabei ließ er sich langsam über das Ufer hinabgleiten.
Aber ehe seine Füße die glitzernden Steine berührten, keuchte es pfeifend von hinten heran.
Er wurde an den Achseln ergriffen und aus seinem Rausch heraufgerissen.
Als er sich umwandte, sah er in das verzerrte Gesicht seines Vaters, der ihn an sich zog und sofort zu weinen anfing.
Nachdem sich der Mandelschneider etwas beruhigt hatte, fragte er seinen Jungen:
»Aber, Amadeusla, sag mir bloß, was wolltste denn machen?«
Der Knabe entzog sich der Umarmung seines Vaters und sagte kühl und ernüchtert:
»Zu meiner Mutter wollte ich gehen.«
Und nach einem Stocken setzte er, traurig und vorwurfsvoll, hinzu:
»Da bist du gekommen.«
Dann schwieg er, senkte den Kopf und ließ sich nach Hause führen.