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Der alte Buchhalter schwieg erschöpft und erschüttert von der langen Beichte seines schweren Lebens, nahm den Hut ab, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und hob doch, während er all dies tat, den Kopf nicht, sondern starrte zur Erde, als gelte es, eine schwer entzifferbare Schrift zu lesen, die nur für seine Augen dort vorhanden war. Und während dieses Mühens um den Sinn eines Unerforschlichen bewegte er wieder und wieder, bald verneinend, bald bejahend den Kopf.

Indessen zog der beginnende Tag mit seinem lichten Schleppnetz über die Wipfel des Tolkebusches und fing die letzten Dämmerungen und Schatten der Nacht ein, daß die fast schwarzblaue Kuppel des Hochwaldes mit dem Aussichtsturm morgenklar in der Höhe hervortrat.

Peter Brindeisener achtete auf all das nicht, sondern fuhr fort, über den geheimnisvollen Hieroglyphen zu grübeln, die auf der Erde für ihn geschrieben standen.

»So war es«, sagte er dann leise, ohne aufzusehen. »Ich wollte Helene von mir erretten und habe sie in den Tod getrieben. Ein Mörder wider Willen, aber doch ein Mörder. Trotz alledem ein Mörder, du, Peter Brindeisener! Jawohl. Wie sie im Teiche untergegangen war, so verschwand auch ihr Bild in mir. Und ich warf mich noch mit diesem wilden Dämon Mathinka Meixner auf die Gestorbene in mir, daß nichts von ihr in meinem Gedächtnis zurückbleibe, nicht einmal ein schwacher Schimmer des roten Schleiertuches, das ich auf dem Wasser hatte schwimmen sehen. Und ich brachte es durch ruheloses Reisen von Köln nach Wiesbaden, München, Nürnberg, Würzburg, ah, eben überallhin, und durch unsinniges Prassen und Prahlen fertig, daß alles und jedes von ihr in mir erlosch. Alles, alles, bis auf den Druck ihrer Geisterhand auf meiner Rechten. Der stellte sich unangemeldet ein. Auf stillen Spaziergängen, während der Eisenbahnfahrt, im Theater, in ausgelassener Gesellschaft, wo es immer sein mochte, fühlte ich meine Hand plötzlich auf diese geheimnisvolle, unaussprechliche Weise ergriffen, daß ich vor Schreck erstarrte und für eine Zeit sprachlos, entfärbt dasaß und die Menschen um mich furchtsam musterte. Mathinka wurde über meine Seltsamkeiten unwillig, und als ich mein Schweigen brach und sie über die spukhafte Gewalt unterrichtete, die das tote Lenlein von jenseits des Grabes über mich noch immer ausübe, nannte sie mich verächtlich einen Narren. Dann wurde sie scheu, fing an, sich von mir zurückzuziehen und ließ sich von anderen den Hof machen. Ich spürte, es ging bergab mit ihrer Liebe, und weil mein Geld bei der sinnlosen Schwelgerei, die wir trieben, nur noch wenige tausend Mark betrug, sah ich den Bruch voraus. Schneller als ich fürchtete, trat er ein. Es war in Eisenach. Wir hatten bis tief in die Nacht gezecht. Und als wir auf unserm Zimmer angelangt waren, kam es zu einem erregten Zerwürfnis wegen eines dunkellockigen, gelbhäutigen Menschen, der sich für einen ungarischen Grafen ausgab. Voll Bitterkeit schliefen wir endlich ein.

Plötzlich erwachte ich von einem unerträglichen Schmerz, der von der Rechten mein Hirn und Herz wie der Schnitt eines Rasiermessers traf, und kaum, daß ich ganz bei mir bin, fühlte ich mich durch den geheimnisvollen, unaussprechlichen Griff aus dem Bett gezogen. Er wirkte, bis ich neben dem Bett stand. Sooft ich aber Miene machte, mich wieder hinzulegen, überfiel mich dieser unerträgliche Schmerz durch mein Inneres.

So stand ich mäuschenstill, um Mathinka und ihren Hohn nicht zu wecken, bis es grau vor den Fenstern wurde. Da erst konnte ich mich niederlegen, und es gelang mir auch, einzuschlafen. Als ich spät erwachte, war Mathinkas Bett schon leer und fast kalt. Ich fand natürlich nicht das geringste dabei, zog die Vorhänge herum, daß das volle Licht hereinströmte, und trat ans Fenster, um in aller Ruhe eine Untersuchung meiner rechten Hand anzustellen, ob nicht doch eine tief liegende Entzündung der Grund dieses unerträglichen Schmerzes sei, der mich in der Nacht überfallen hatte und nur durch meine Schlaftrunkenheit mit diesen spukhaften Begleiterscheinungen beladen worden war. Als ich meine Rechte an die Augen hob, sah ich tatsächlich auf ihrem Rücken einen schwachblauen Fleck. Und wie ich ihn mir genauer betrachtete, sah er aus wie die Spitzen zweier toten Finger mit blauunterlaufenen Nägeln. Ich wusch mich immer aufs neue, allein anstatt zu verschwinden, trat das Bild der toten Finger immer deutlicher unter der Haut auf. Ich war so erregt, daß mir das Herz raste. Drunten traf ich Mathinka im Garten, mit dem Frühstück längst fertig, Zigarette rauchend und mit der Zeitung beschäftigt. Sie sah mich forschend an und fragte, warum ich so blaß sei. Da weihte ich sie in alles ein und hielt, während ich fliegend erzählte, meine Rechte mit der Linken bedeckt. Doch sie lachte mich wieder scheu und verächtlich aus. Da zog ich die linke Hand weg und enthüllte das Totenmal auf der Rechten. Angstvoll aufatmend, nahm sie meine Hand in Augenschein. Dann ließ sie sie mit Abneigung fahren, musterte mich mit zusammengezogenen Brauen und sagte dann mit Überwindung: ›So weiß wie die andere. Hier ist der blaue Fleck, Peter!‹; Dabei tippte sie mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Höhnisch auflachend verließ sie mich.

Am andern Tag war sie mit dem sogenannten ungarischen Grafen verschwunden.

Nun begann ich in Würdelosigkeit zu versinken. Anstatt hinter der Wertlosen laut aufzulachen und mich unverzüglich an das Reinigungswerk meiner Entsühnung und Entschuldung zu machen, verfolgte ich die Spur der beiden Flüchtigen, als besäße ich ein göttlich verbrieftes Recht auf den Alleinbesitz Mathinkas. Erst wandte ich mich nach München zurück. Dann wurde ich über das Allgäu an den Bodensee gezogen. Und während ich, oft nur auf die Auskunft eines Portiers hin, alle Kombinationen verwarf und eine neue Route einschlug, geriet ich immer tiefer in die Gewalt und die Verstrickungen der Toten, wiederholten sich öfter und öfter die Schmerzanfälle von der Hand her, sah ich das Kainsmal der blauen Totenfinger immer deutlicher auf meiner Hand hervortreten und wagte nicht mehr, unter den Menschen ohne Handschuhe auszugehen, nahm allein und an abseitigen Tischen meine Mahlzeit ein und gewöhnte es mir an, die eine Hand mit der anderen zu verdecken, weil ich fürchtete, von den Menschen als Mörder entlarvt zu werden. Fast bis zum Irrsinn steigerte sich der Zustand steter Angst und Furcht vor diesen geheimnisvollen Besuchen der Toten und die leidenschaftliche Sehnsucht nach Mathinka, deren hohnvoller, spöttischer Unglaube mir als die einzige Rettung aus dieser qualvollen Folter erschien. Zuletzt reiste ich wie ein geistig Entgleister völlig planlos durch Deutschland, mußte schon in Gasthäusern dritten Ranges Unterschlupf suchen und trug in meinem Köfferchen außer einigen alten Schlipsen, Kragen und Strümpfen nur noch meinen Talisman, die Flöte meines Großvaters, mit mir umher, dessen Kraft ich doch nicht zu erproben wagte, nur um nicht die letzte schwache Hoffnung noch zu verlieren.

Endlich nach monatelanger Jagd, schon heruntergekommen, zermergelt, mit ausgefransten Hosen und klebriger Wäsche, begegnete ich Mathinka und dem ungarischen Grafen auf der Prager Straße in Dresden, schlich ihnen nach und sah sie, von dem Portier als alte Gäste begrüßt, im Hotel Royal, nicht weit vom Postplatz, verschwinden. In der Nacht schlich ich mich ein. Sie wohnten Nummer sieben im ersten Stock. Als ich, wie mir Wahnsinnigen schien, Mathinka in meiner Gewalt sah, überfiel mich eine solche freudevolle Verzweiflung, daß mein Körper wie im Fieber zitterte und ich, zuletzt nur keuchend, auf den Knien und mit Hilfe der Hände die Stiege zu ihrem Zimmer mich emporarbeiten konnte. Auf den letzten Stufen angekommen, packte zu allem der Geist der Toten so heftig meine Hand, und der alte Schmerz befiel mich in einer solchen Furchtbarkeit, als würde ich mitten durchschnitten. Ich stöhnte, arbeitete mich aber trotzdem vollends auf den Flur hinauf. Da sah ich vor mir neben den hohen Lackstiefeln des Mannes ihre kleinen tief ausgeschnittenen Halbschuhe an der Tür stehen. In dem Augenblicke, als ich mit einem unterdrückten Freudenschrei mich auf die Schuhe stürzte, erschien am Ende des Ganges ein Zimmerkellner mit einem vollbeladenen Tablett. Ich riß einen Schuh an mich, sprang die Treppe hinab und gelangte mit ein paar wahnsinnigen Sätzen durch den dichtgefüllten Restaurationsraum ins Freie und entkam über die Elbbrücke, während hinter mir die Rufe nach dem Diebe immer schwächer wurden und sich endlich ganz verloren.

Am anderen Morgen machte ich mich zu Fuß nach Schlesien auf. Unterwegs wurde ich öfter und häufiger, fast jeden Tag, von dem Besuch der Toten und den gräßlichen Schmerzen angefallen, bis ich den Schuh Mathinkas in Görlitz am hellichten Tag, vor den Menschen, von einer Brücke in die Neiße warf.

Von diesem Tage an besserte sich mein Zustand zusehends. In Breslau hatte ich den letzten Schmerzanfall. Ich stand in der Nacht auf der Universitätsbrücke an derselben Stelle, wo ich vor langen Jahren das blutige Gesicht des Heiligen-Lenleins in dem stillen Wasserspiegel der Oder hatte auftauchen sehen, und wo ich aus der Wohnhütte eines Floßes, in dem Wiegenlied einer Schiffersfrau, den Klang ihrer Stimme gehört hatte. Ich stand und sah sehnsüchtig auf den Fluß und lauschte gespannt über den schwarzen Spiegel der Oder. Da streichelte es lind meine Hand, die auf der Brüstung der Brücke lag, und der Schmerz begann in meinem Innern aufzustehen, aber nun nicht so reißend und unerträglich wie sonst, sondern als ein unergründliches Wehegefühl wie durch mein ganzes Dasein hin.

Unsichtbar, aber deutlich, doch jenseits meines Wesens, gnadenvoll mir zugewandt, stand die Tote auf, und so, unerreichbar, nicht hörbar, nur mit dem Gefühl zu erahnen, merkte ich ihr letztes Lied durch den Weltraum schweben.

Hier in Wirbnitz fand ich endlich, dank der Menschengüte Herrn Methners, eine Unterkunft.

Nun begann ich heimlich und einsam mit der Flöte meines Großvaters als zerbrochener und gescheiterter Mann um die Stimme derjenigen zu kämpfen, die ich einst in den Tod getrieben habe, daß sie an diesem klingenden Seil sichtbar und verzeihend zu mir heraufsteige in mein abgegrastes Dasein.

Wie habe ich gerungen. Aber meine Inbrunst, mit der ich alle Jahre an ihrem Todestage in der Osternacht nach ihr langte, reichte gerade hin, mein Herz nicht ganz in Verzweiflung verkommen zu lassen und meine Sehnsucht zu reinigen und zu steigern. Allein, nie glückte es mir, sie zu sehen und ihre Stimme zu hören, wenn auch der Schmerz nie mehr mich heimsuchte und das Totenmal auf meiner Hand fast ganz verschwand.

So, nun wissen Sie alles, warum ich immer in der Osternacht bis an den Morgen auf der Flöte geblasen habe und warum ich den Anblick ganz junger Mädchen, solcher mit keimenden, kindhaften Busen, nicht ertragen habe. Denn diese blumenhaften Wesen erinnerten mich immer an den Mord, den ich an ihrer himmlischsten, engelhaften Schwester begangen habe.

Und nun werden Sie auch verstehen, warum ich die Gesellschaft von Jünglingen gesucht habe, um die noch, körperlich oder vom Gemüt her, der Knabenduft schwebte. Denn ich hoffte, durch ihre Traumseele könne ich mich doch wieder in die Schönheit meines frühesten Kindwesens zurückfinden.

Aber ich wagte mir nie die Larve rücksichtslos von dem Gesicht zu reißen. Ich glaubte immer noch recht gehandelt zu haben, konnte die Eitelkeit nie ganz abtun und log und verhüllte die Wahrheit, indem ich sie stückweise preisgab.

Angeekelt von mir, zerbrach ich mich zuletzt und versank vollkommen.

Aber was all dies Ringen mir immer verheißen und nie erfüllt hat, das ist mir durch diese Bekenntnisnacht geschenkt worden, in der ich mich weder verhüllt noch geschont habe.«

*


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