Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mit einer Gebärde ergriffensten Einverständnisses bat ich dem Alten alles ab, wodurch ich seine Zweifel an mir geweckt hatte, erhaschte seine große Hand und drückte sie leidenschaftlich.
Gleichmütig, doch nicht unfreundlich, nahm er meine reuevolle Huldigung entgegen und neigte sich dann, innerlich von mir abrückend, jenen Geschehnissen zu, durch die ich an der Hand seiner Erzählung sooft gewandelt war, und von denen ich doch nichts zurückbehalten hatte als die undeutliche Erinnerung an Wege, die man etwa mit verbundenen Augen oder in tiefer Nacht geführt worden ist.
Brindeisener schlug die Beine übereinander, bedeckte nach seiner Gewohnheit eine Hand mit der anderen, schickte einen suchenden Blick nach dem Turme des Hochwaldes hinauf, der schwarz in dumpf rauchendem Abendrot stand, und begann dann seine Erzählung:
»Sie kennen vielleicht die Aussicht von der Wilhelmshöh bei Salzbrunn. Nach Nordosten zu, glaube ich, erblickt man den Siegesturm von Hohenfriedeberg. Von da an wiegt sich das Gebirge in immer schwächeren Bodenwellen der Oderebene zu. Nicht höher müssen Sie sich die Hügel denken, die das westfälische Münsterland gegen den Rhein hin zwischen Wesel und Emmerich aufwirft. Die Siedlungen fügen sich wohl schon zu geschlossenen Dörfern. Aber auf den Höhen und Buckeln des Landes hat sich der starrköpfige, stolze Einsamkeitswille der Bauern, da und dort abgelegen, fernab von den Straßen, sein Gehöft gebaut und haust dort, in sich gekehrt, als sei er mit seiner Familie der vornehmste Mittelpunkt der Welt, um die er sich notabene nur kümmert, um sie aus tiefstem Herzensgrunde geringzuschätzen. Wenigstens war das in unserer Familie so, und in anderen Höfen spielte das gleiche Lied der bäuerlichen Überheblichkeit durch die Leute, denn es ist nun schon das Schicksal der Einsamen, sich zu übertreiben, entweder in ihrem Glück oder in ihrem Unglück. Es ist auch ebenso sicher, daß das Glück der Kindheit in einer Übertreibung des Wesens beruht, das sich noch nicht kennt. Allein, bedenkt man es recht, das heißt, sinkt man mit dem magischen Bewußtsein an seinem Denken vorbei, bis in jene selige Schicht, in der die Jahre der Kindheit wandeln, so merkt man, daß das junge flaumhaarige Menschenwesen sich doch eigentlich nicht übertreibt, sondern daß es nur tut, was die Menschen bis in ihre trockensten Altersrunzeln überhaupt tun müßten, sich schuldlos den Wundern zu überlassen, die aus seiner Tiefe die Welt seines Lebens und seiner Umgebung mit unnennbar göttlichem Glänzen überspielen und durchdringen. Mein lieber, junger Freund, glauben Sie's oder glauben Sie's nicht, aber ein solches Kind war der in so einem einsamen Bauernhofe, weit, weit von hier, den Sie als verlorenen Mann vor sich sitzen sehen, ich, der Buchhalter Brindeisener, ich, der sich gemüht hat, den Ring des Fatums zu zerbrechen, und der durch all das erbitterte Kämpfen doch nichts anderes erreichte, als an die alte Kette immer neue Ringe zu schmieden, die Kette immer länger zu machen, immer schwerer, und der nie von ihr loszukommen oder sie zu zerbrechen vermochte.«
Der alte Mann schwieg und sah lange forschend auf seine Hände, die unbeweglich auf dem Oberschenkel des übergeschlagenen Beines lagen. Er starrte so bohrend darauf, als müßte der Anblick der Finger, der Adern und Sehnen ihm die Erkenntnis des Grundes von der Schicksalsgebundenheit seines Lebens bringen. Dann hob er enttäuscht den Kopf und sah mich an, so, als ob er mich auffordere, ihn durch eine Frage oder einen Zwischenruf aus der Dunkelheit zu leiten, in die er geraten war.
Aber ich schwieg und verriet auch mit keiner Miene meine Überzeugung, daß wahrscheinlich aus seiner Erzählung wieder nur eine der aussichtslosen Geschichten werden würde. Deshalb wandte Brindeisener seine Aufmerksamkeit wieder seinen Händen zu, schüttelte aber bald das leidvolle Eindämmen von sich ab und fuhr mit behutsamer Stimme in der Erzählung fort:
»Aber, wie gesagt, es gab eine Zeit, da ich nicht nur noch nichts von einer Schicksalsfesselung meines Daseins wußte, nein, da ich sicher von jeder Kette frei war. Jawohl, das muß es gegeben haben, denn wenn ich in meine Todeskette hineingeboren worden wäre, so wäre ich für meine Verbrechen nicht verantwortlich, die Qualen meines Lebens wären eine Torheit samt meiner jetzigen Situation, und meine Sicherheit, dieser heutige Abend bedeute die endgültige Sprengung des Ringes, wäre auch eine Täuschung und noch dazu eine vollkommen unnötige.
Doch lassen wir das einstweilen auf sich beruhen. Denn wenn ich mich schon jetzt darauf versteife, durch Denken aus dem Pfadlosen auf sicheren Weg zu kommen, so wiederholt sich in dieser Stunde notwendig die Aussichtslosigkeit des Ringens fast meines ganzen Lebens, weil ich es ja tausend-, nein hunderttausendmal erfahren habe, daß Denken unweigerlich ins Pfadlose führen muß, und der Erfolg meiner Bemühung würde wirklich am Ende dem stillen Verdacht recht geben, den Sie auch jetzt wieder in Ihrer Seele heimlich hegen, den nämlich, daß meine heutige Erzählung auch wieder nur eine der aussichtslosen Geschichten wird, mit denen ich bisher die Geschichte meines Lebens vor Ihnen und anderen verheimlicht habe, um das Bekenntnis, zu dem ich gedrängt wurde, durch mein Bekenntnis zu verwischen. – Haha! – Also, weiter! Auf einem solch einsamen Hofe, wie ich ihn vorhin beschrieben habe, bin ich gerade heut vor fünfzig Jahren als der Sohn eines Großbauern geboren, dessen Besitz so umfangreich war, wie hier in Ihrem Schlesien die Rittergüter zu sein pflegen. Nicht die großen, nein! Wir hatten vierhundert Morgen unterm Pfluge und etwa zweihundert Morgen Wald. Uns gegenüber hauste ein ebenso reiches Bauerngeschlecht, der Hof wie der unsere auf einem Hügel. In dem kleinen Tälchen lief ein Weg, der zugleich die Grenze zwischen den Besitzungen bildete. Zwischen den beiden Familien herrschte eine alte Feindschaft, die weit, fast ins Legendenhafte, zurückreichte. Ob alles wahr ist, was in unserem Hause von den Sintlingern, so hieß das Geschlecht, das uns gegenüber wohnte, geredet und uns Kindern eingeprägt wurde, weiß ich nicht. Mein Vater behauptete, jeder Sintlinger sei von der Windel her ein Teufel, und am Ende werde drüben sicher einst der Satan den Kehraus blasen. Und so hätte ich eigentlich von Anfang an auch voller Feindseligkeit gegen die Sintlinger sein müssen, die uns gegenüber auf dem Hügel saßen. Allein, ich war der letzte, verspätete Sprößling, und der alte Familienhaß schien sich in mir erschöpft zu haben. Ich war wirklich ohne die Kette zur Welt gekommen, mit der alle in unserer Familie vom Mutterschoße her gefesselt waren. Ja, je Schlimmeres, je Böseres mir von den Sintlingern erzählt wurde, desto seltsamer, ferner, herausgehobener, ja sogar ausgezeichneter von allen erschienen mir die Menschen, die ich hassen sollte. Die Finsternis aber, die man durch immer neue Geschichten auf den Hof unseres Nachbars warf, schlug merkwürdigerweise in meiner Vorstellung auf unseren eigenen Hof zurück. Unsere Stuben erschienen mir verwinkelt und lichtlos, unsere Scheunen verwahrlost, unser ganzes Gehöft war grämlich.
Als dies an mir geschah, mag ich an zehn Jahre alt gewesen sein. Der erste der Kreise, in denen die Menschen immer gedreht werden, der göttliche, der so um das siebente Jahr sich rundet, war geschlossen, und aus dem verwunschen-seligen Überallhinspielen begann ich mich dem Schmerz des Daseinsgefühles zu nähern, der uns eigentlich nie mehr verläßt, sondern in den folgenden Lebensbulgen sich immer mehr vertieft, entweder zu unserm Glück oder zu unserm Unglück.
Manche Menschen werden offenbar wie im Schlummer durch ihr Leben getragen. Vieldeutig und geheimnisvoll wie Träume fliegen die Ereignisse ihrer Zeit an ihnen vorüber, und erwachen sie je einmal aus dem Schlaf ihres Schicksals, so dauert das nur kurze Momente. Das, wovor sie unklar bangten, wonach sie im Halbschlaf ein unbestimmtes Verlangen trugen, ist dann schon geschehen, vorüber, und der Schlaf- und Traumzustand ihres Daseins spinnt sie wieder ein. Ich aber gehöre zu der anderen Art von Menschen, zu jener, ich muß wohl sagen, dunklen Kaste, die, einmal erwacht, nie, nie wieder einschlafen können, durch keinen Schlaf, keinen Genuß, kein Kasteien, weder durch das Alter noch durch Entbehrungen oder Erfüllungen, ja nicht einmal durch die Eintönigkeit des Alltags.
Jener vergessene Weise, der das Märchen von der Austreibung aus dem Paradiese ersonnen hat, entstammte wohl auch der Gilde von Menschen mit schlaflosen Augen und schlummerlosem Geist. Und wirklich, nie in all den Jahren, bis auf diesen Augenblick, da ich im Begriff bin, die Decke aller Geheimnisse meines Lebens vor einem anderen wegzuziehen, habe ich den Austritt aus meiner Kindheit anders als eine Austreibung angesehen.
Und wenn ich ganz genau hinblicke, so fing die Austreibung aus dem Paradies mit dem Einzug ins Paradies an. Denn wenn Gott den Hammer hebt, schlägt er schon zu, und inmitten all seiner Zerstörungen sitzt die Aufrichtung. Aber in der Zeit, um die ich so paradox herumrede, habe ich von all dem Gedankengewölle, das ich mir nun seit Jahrzehnten schon in die Augen blase, nichts gewußt. Nur das eine ist mir klar, daß ich schon damals in unserm Haus nicht zu Hause war. Denn ich wußte mit der Nützlichkeit, die alles in unserm Hofe regierte, nichts anzufangen. Wenn ich Steine vom Kleeacker lesen sollte, so hob ich sie nicht auf, um das Feld zu reinigen, sondern mit ihnen Jagd auf Vögel und Mäuse zu machen. Ich weidete das Vieh, indem ich es ruhlos umhertrieb, daß es hungrig und mit leerem Euter in den Stall zurückkehrte, oder überließ es seinen eigenen Gelüsten, saß auf einem hohen Baume, sang und träumte den Wolken nach und kümmerte mich nicht darum, daß es zu Schaden ging. Das hätte schon in einem Hofe zu Zerwürfnissen geführt, in dem der Stiel sozusagen schweigend in der Axt saß. Bei uns aber maulten noch die Ziegel miteinander, aus denen die Mauern bestanden. Alles ging grämlich und unfroh in den Gelenken, und selbst die geschmierten Wagen quietschten. Und alles das rührte eigentlich von meinem Vater her, der wie eine Schwarzbuche alles und sich selbst noch verfinsterte, und der doch eigentlich durch diesen Schatten gedieh, mit dem er sich und uns allen das Leben sauer machte. Meine Schwester siechte dahin, mein älterer Bruder wurde tiefer in die Dumpfheit getrieben, zu der ihn sein Wesen sowieso verlockte, und meine Mutter, die wohl einst mit einer geheimen Sonne in der Brust auf den Brindeisenerhof gekommen war, verwirrte sich um des Friedens willen mit den Jahren immer weiter in dies gegenseitige Wort- und Gemütshecheln. Ach, dieser Frieden bei uns wucherte wie Nesseln auf einem Müllhaufen, wie Nesseln, die alles brennen und verwunden, das mit ihnen in Berührung kommt.
So konnte es denn nicht anders sein, daß ich wirklich erst aufatmete, wenn ich unsern Hof nicht mehr sah, ja oft erst, wenn ich über die Grenzen unserer Wirtschaft mich verlor, ander Leuts Bäume und Felder und Wässer um mich erblickte, einen anderen Himmel über mir sah und andere Stimmen um mich hörte, oder wenn ich mit meiner Schwester zur Nacht unter dem Dach in der Schlafkammer lag und wir von Bett zu Bett durch die Finsternis hin mit halber Stimme zueinander redeten. Unter uns rumpelte der Vater mit schweren Schritten, stieg auf und ab ruhelos durch das Haus und grummelte mit meiner Mutter, die auch ab und zu schlurfen mußte, und die seinen galligen Worten mit bitterlicher Widerrede diente. Und immer, wenn dieser gemächliche Ehezank von Zeit zu Zeit aufeinanderplatzte, unterbrachen wir unser gedämpftes Gespräch, lauschten angehaltenen Atems unter uns und ließen dann die leisen Wässerlein unserer Worte weiterrinnen. Am meisten sprach ich natürlich von allerhand Knabensachen, von den Vogelnestern, die ich ausgekundschaftet hatte, von Hummeljagden, von Igeln, die ich heimlich belauscht hatte, von Krähen, die mich kannten, und daß ich einstens auf einem großen Schiffe den Rhein hinunter ins Meer fahren und nie, nie mehr nach Hause kommen wollte, nicht eher wenigstens, bis ich ganz reich wäre, daß ich nicht mehr Steine lesen und Disteln stechen müßte, und daß mich niemand mehr ausschimpfen durfte. Dann stand ich wohl auf, tastete mich ans Bett der Schwester, und Amalie, so hieß sie, mußte fühlen, ob der Schnurrbart schon auf meiner Lippe zu sprießen beginne.
Einmal lagen wir wieder so und plauderten, und ich erzählte gerade eine phantastische Geschichte, wie ich auf der Querhovener Lehne durch das Abreißen eines blauen Gewitterblümchens einen richtigen Donner aus dem Himmel gelockt hatte, und ereiferte mich sehr, weil ich spürte, daß Amalie die Geschichte nicht glaubte, die mir selbst sehr unwahrscheinlich vorkam. Und da ich mich bemühte, ihr und mir den letzten Zweifel zu nehmen, indem ich beschrieb, wie der Donner aus dem blauen Himmel gefallen und in dem Hornwassergrund polternd entlang gefahren sei, gerieten drunten im Hause Mutter und Vater so laut aneinander, daß ich genötigt war, meine Erzählung aufzugeben.
Ärgerlich schwieg ich und wartete wie gewöhnlich das Ende des Streites ab. Als alles wieder ruhig war und ich meine Schwester bekümmert Atem holen hörte, sagte ich erbittert, es wäre am besten, daß Vater und Mutter für immer die Sprache verlieren möchten, denn dann könnten sie nicht mehr schimpfen. Da spürte ich, wie meine Schwester entsetzt im Bett auffuhr, und dann sagte sie verweisend, so etwas könne und dürfe man nicht wollen, weil es eine große Sünde sei. Ich aber beharrte trotzig auf meinem Wunsch und ließ mich selbst nicht davon abbringen, als Amalie fragte, ob ich denn wisse, was das sei, stumm sein. Das wäre gerade so schlimm, als wenn der Sintlinger drüben und seine Frau gewünscht hätten, ihr kleines Mädchen möge blind sein.
›Siehst du, Peter, nun ist sie wirklich blind, und niemand auf der Erde kann mehr machen, daß sie sehend wird‹;, sagte sie verweisend.
Plötzlich, warum weiß ich nicht, wurde ich von der Tatsache, daß das einzige Mädchen auf dem feindlichen Hofe drüben – blind zur Welt gekommen war, tief ergriffen. Wohl schon oft hatte man im Hause im Schwall der Böswilligkeit von dem Unglück des Kindes als einer gerechten Strafe für die Schlechtigkeit der Sintlinger gesprochen. Aber es war doch wie all das andere Finstere und Scheele spurlos an mir niedergeglitten, so als sei es nur eine häßliche Erfindung meines Vaters und mithin nicht wahr. Nun aber packte es mich dergestalt, als trüge ich durch meinen bösen Wunsch gegen meine Eltern auch eine Schuld an dem Zustande des Sintlinger Mädchens. Ich zog mir das Deckbett über den Kopf, daß es rabenschwarz um mich war, und dachte mit Erschrecken und Entsetzen, daß Blindsein so wäre. ›Sieht sie auch am Tage nicht?‹; fragte ich, die Decke niederstreifend. ›Nein,‹; antwortete meine Schwester, ›auch wenn die Sonne scheint, nicht.‹; ›Um Gottes willen, da hat sie keine Augen?‹; fragte ich mit der den Kindern eigenen Hartnäckigkeit, und als ich hörte, daß die Augen des armen Mädchens im Gegenteil so schön himmelblau seien, wie sie noch keine gesehen hätte, ja, daß das Kind so zart und hübsch wie ein Engel sei, wurde die Sache für mich wahrhaft gespenstisch.
Augen haben und doch nicht sehen, schön und doch blind sein, ich begriff es nicht und redete erregt und aufgestört zu meiner Schwester, auch als sie, schon eingeschlafen, keine Antwort mehr gab. Aber auch dann noch bohrte es in mir weiter. Ich konnte nicht los, denn mein Schicksal hatte mich berührt. Eine Pflanze sieht mit der Blume, sann ich, ein Teich mit dem Spiegel, ein Baum mit den Augen. Und wenn ein Baum keine Augen hat, aus denen das Leben kommt, muß er sterben.
Ich weiß genau, daß ich das von dem Teich gesonnen habe, von dem Teich, so, als sei ich kleiner Junge von einer Ahnung dessen berührt worden, was später hereinbrechen sollte. Zuletzt flog alles wie ein Wirbel um mich, daß ich aufstand, zum Dachfenster ging und angstvoll den Namen des Sintlinger Mädchens in die Nacht hinausschrie. ›Helene!‹; rief ich, daß meine Stimme überschnappte. Dann kroch ich ins Bett und fror, daß mir die Zähne klapperten.
Nach dieser denkwürdigen Nacht begann ich ein ruheloses Vigilieren um den Sintlingerhof, des Geheimnisses habhaft zu werden, das irgendwo in ihm verborgen war, vor allem, um das blinde Lenlein genau zu Gesicht zu bekommen, an dessen Schicksal ich mich durch den sündhaften Wunsch gegen meine Eltern schuldig fühlte. Denn dieses mimosenhafte Rechtsgefühl neben oft schrankenloser Leidenschaftlichkeit besaß ich schon damals. Anfangs getraute ich mich noch nicht in seine Nähe, sondern suchte mir einen überhöhten Hügel aus oder kletterte gar dort auf einen Baum und spähte in den Hof, der wohl nicht größer, aber viel stattlicher als der unsere war. Die großen Scheunen, der mächtige Stall, das überragende Wohngebäude mit seinem verschnörkelten Giebel und einem kleinen Türmchen auf dem First, alles massiv und blitzend von Sauberkeit und Ordnung, machten einen tiefen Eindruck auf mich. Noch mehr wirkte die geräuschlose Fröhlichkeit des Gehabens aller Leute, die in schaffiger Eile ab und zu gingen. Wie ich mich auch anstrengen mochte, nie hörte ich einen Fluch, nie ein lautes Schimpfwort, von denen unser altersdunkler, grämlicher Hof von früh bis abends widerhallte. Und durch all das Treiben stiller Emsigkeit sah ich den Sintlinger selbst, zierlich und klein, fast ein Zwerg gegen meinen Vater, und doch schien es mir, als sei alles von ihm behext und liefe nur auf seinen Fingerwink oder nach dem stummen Wenden seines Gesichts. Ich war auch hinter allen Knechten und Mägden vom Hofe drüben her, getraute mich aber aus eingebleuter Scheu an keinen mit einer Anrede heran, auch dann nicht, als ich einigemal das blinde Mädchen in Begleitung einer alten Frau gesehen hatte, wie sie zierlich, fast schwebend, in ihrem duftigen Kleidchen und blonden Haar eher ein unwirkliches weißes Wölkchen, denn ein Menschenkind war. Ja, einmal, da ich von meinem Baumwipfel aus beobachtete, wie der Sintlinger mit der kleinen Helene auf dem Arm aus dem Hause trat, hüpfenden Schrittes über den Hof, dem Blumengarten hinter der Scheuer zuging, sie dort auf den Boden stellte und Ringel-Ringel-Rosenkranz tanzte, daß ihr jubelndes Jauchzen und seine lachende Stimme bis zu mir herüberscholl, schossen mir armem Kerlchen die Tränen so dick und bitter in die Augen, daß ich fast aus dem Wipfel gefallen wäre, denn zu gleicher Zeit packte mich vom Herzen her ein Taumel des Neides, daß ich nur mit der größten Anstrengung aus den Ästen zur Erde kam, wo ich mich ins Gras werfen und laut heulen mußte, weil mich noch niemand auf Erden so geliebkost hatte.
Mein gequältes, leidenschaftliches Blut riß mich zu Verwünschungen und Lästerungen meiner Eltern hin, so böse und ausschweifend, daß ich leer und richtig mit ausgerodetem Herzen nach Hause zurückkehrte. Allein, wie es eben so geht, traf ich auf dem Hofe nicht die dumpfe Zerstörung und bittere Finsterlichkeit aller gegen alle an, gegen die ich unter dem Baume draußen gerade so schrankenlos gewütet hatte, sondern es herrschte eine jener weichen, fast beglänzten Stunden in dem alten Gewese meiner Eltern, wie sie von Zeit zu Zeit, dazu oft ohne jeglichen äußeren Anlaß, dem alten Hofe geschenkt wurden. Der Vater ging in der Sonne unter den Gartenbäumen umher und schnitt da und dort einen Zweig aus ihren verwichtelten Kronen, mein älterer Bruder saß in der Gerätekammer an der Schnitzbank und bastelte, pfeifend und dann und wann für sich behaglich auflachend, an einer Stange herum. Aus dem Kuhstall sangen die Mägde, die Mutter stand fröhlich am Butterfaß, und meine Schwester saß am offenen Fenster über eine Näharbeit gebeugt und nickte mir, aufsehend, einen liebevollen Gruß zu, als ich an der offenen Stubentür erschien, da sank denn der Zorn ganz aus meinem Herzen. Ich getraute mich nicht in die Stube, sondern schlich mich über die Stiegen hinauf in unsere Schlafkammer, warf mich auf mein Bett, stopfte mir das Kissen in den Mund und schluchzte, daß es mir die Brust schmerzend zerarbeitete, über mich schlechten Jungen, der seine guten, lieben Eltern mit so bösen Gedanken und Worten beleidigt hatte, und zwischen den Ausbrüchen der leidenschaftlichen Reue betete ich zum heiligen Barnabas, damit er mir wegen meiner Sünden bei Gott durch seine Fürbitte helfe, und da ich in meinem Schmerz einmal aufschaute, weil es mir gewesen war, als habe die Bodenstiege geknarrt, stand meine Schwester an meinem Bett und sah mich erschreckt und schwer atmend an. ›Was hat's denn mit dir, Peter?‹; fragte sie leise, und die Tränen traten ihr dabei in die Augen. Allein ich konnte und mochte nichts sagen, sondern richtete mich nur ein wenig auf, umschlang ihren Hals und fragte, ob die Eltern wirklich nun stumm werden müßten, weil ich ihnen das gewünscht habe. Das liebe Wesen strich mir die Haare aus dem Gesicht, fuhr mir ein über das andere Mal mit linder Hand über die Wangen und tröstete mich mit verschüchterten Worten, bis mich meine Herzensnot verlassen hatte. Dann brachte sie mir heimlich ein Töpfchen mit kaltem Wasser zum Augenkühlen und ging nach einem beruhigenden Druck ihrer Hand wieder hinunter ins Haus, aus dem die Mutter schon nach ihr rief. – –
Wäre ich doch damals nicht in diese Herzensweichheit verfallen! Hätte mich doch mein verzweifelter Schmerz so hart gesotten, daß ich das Gemütsblühen unseres Hofes in jener Stunde als das erkannt hätte, was es wirklich war, eine Art Verwesungsbuntheit des Lebens, vielleicht wäre es unterblieben, daß ich mich meinem Vater und meiner Mutter so dicht an die Fersen heftete, um das Unheil von ihnen abzuwenden, das ich ihnen sündhafterweise gewünscht hatte. – Allein, es ist nun eben so. Wenn ich auch den Hammer vom Stiel schlage, wird es doch kein Messer. Ich alter Narr. Haha!
Ja – – ich war also seitdem hinter meinen Eltern her wie ihr leibhaftiger Schatten, und hatten sie sonst um einer Arbeit halber zwei-, dreimal nach mir rufen müssen und das auch oft noch vergeblich, so genügte jetzt ein Pfiff, ein Wink, ein wortloser Puff, und ich war in fröhlicher Bereitschaft zur Hand, so daß sich alles im Hofe über die Verwandlung wunderte, die mit mir vorgegangen war, natürlich bis auf Amalie, die alles wußte, aber nichts verriet. Ja, ich blieb meinem Vorsatz gemäß achtsam, hingebend, anschmiegsam, auch als die Windblüten der guten Stunden auf unserm Hofe wieder abgefallen waren und alles wie sonst, Stich und Stoß, heimlich oder offen, gegeneinander arbeitete. Ich aber verharrte bei meinem guten Vorsatz und spielte mit meinem veränderten Betragen oft geradezu eine lächerliche Figur. Man fragte mich, ob ich ein ›Pitzkalb‹; geworden sei und an der Mutter Schürzenband lutschen müsse, griff mir hinterwärts an die Hosen, um mich von den Eierschalen zu befreien, und verhöhnte mich auf alle Weise. Und wenn mir der Zorn auch schon manchmal verstohlen Zahn auf Zahn setzte, ich diente weiter, denn ich wollte meine Eltern dadurch zwingen, so lieb zu mir zu sein, wie der Sintlinger drüben zu seinem blinden Kinde war.
Was ich ersehnte, erreichte ich nicht, dagegen erlebte ich etwas, das ich zwar damals noch nicht verstand, das aber von den unheilvollsten Folgen für mein Schicksal werden sollte. Noch heute, nach fast vierzig Jahren, steht der Nachmittag so deutlich, nein, grell in meiner Erinnerung, als sei es gestern geschehen.
Das Verhältnis zwischen meinen Eltern war jenen Tag schon vom frühen Morgen an besonders gespannt gewesen, und ich hatte mir vorgenommen, was auch kommen möge, und sollte es selbst einen blutigen Kopf geben, heute wollte ich zwischen ihren Unfrieden treten und ihnen ins Gesicht sagen, so miteinander zu verfahren, wie der Sintlinger mit seiner Frau umgehe, so würde alles gut sein, und wir alle wären im Himmel.
Das hatte ich mir fest vorgenommen, beobachtete die beiden unauffällig und schlich ihnen nach, wohin sie auch gingen. Vom Pferdestall aus, dessen Tür ich einen Spalt geöffnet hatte, sah ich meinem Vater zu, der in der Mitte des Hofes einen Brettwagen instand setzte. Da trat meine Mutter unter die Haustür, die in der Nachmittagsonne lag, und nachdem sie dem gebückt Schaffenden eine Weile zugesehen hatte, rief sie ihm lachend und höhnisch zu: ›Na, wie geht's, altes Krachscheit!?‹;
›Das wirst du gleich sehen, wie's geht‹;, antwortet mein Vater, richtet sich jäh auf, wirft den Hammer, mit dem er eben zuschlagen will, aus der Hand, daß er klingend auf die Steine schlägt, und springt förmlich mit seinen langen Beinen auf sie zu, daß mir auf meinem Lauscherposten ganz kalt wird und ich denken muß, nun geschieht etwas Schlimmes. Ich sehe, wie meine Mutter von meinem Vater am Arm gepackt und trotz heftigen Widerstrebens ins Haus gerissen wird. Alles ist auf dem Feld, der Hof einsam, und das Licht summt in der Luft.
Ich trat geräuschlos aus der Tür, lief zwei Fenster lang den Stall hinunter und war dann mit ein paar unhörbaren Sätzen meiner bloßen Füße von der Seite her über den Hof und unter der Wohnhaustür. Dort war der Flur schon leer, und ich hörte die beiden oben auf dem zweiten Flur mit ihren schweren Schuhen gegeneinandertreten, als ob sie erbost miteinander rängen. Wie ein Wiesel war ich auf den Zehen über der Stiege, den Flur hin und kam gerade in dem Augenblick an die halb geöffnete Tür des einzigen Gastzimmers, als mein Vater die Mutter eben aufs Bett warf und dann in Wut mit seinem ganzen Leibe gegen die Liegende einzurammen begann. Dabei schnaubte und stöhnte er wie ein Roß. Die Mutter stieß noch ein paarmal gegen ihn, dann wurde es still, und ich erlitt einen Schreck, als würde mir ein glühender Draht durch das Rückgrat gezogen. Alles taumelte um mich. Ich wußte, wenn mich die Eltern jetzt sähen, müßte ich sterben. So tastete ich mich über die steile Holzstiege geräuschlos, betäubt hinab. Auf den letzten Stufen verfingen sich vor Verwirrung meine Füße. Ich stürzte polternd vollends hinunter und sank dort in die Knie. Ehe ich mich erheben konnte, trat mein Vater aus der Tür und schrie eine Reihe Schimpfnamen auf mich nieder. Merkwürdigerweise belastete mich das nicht, sondern löste Lähmung und Schreck in mir. Ich rannte davon und lief so lange, bis ich nicht mehr konnte. Als ich mich umzudrehen wagte und unseren Hof nicht mehr sah, setzte ich mich an den Wegrand, nahm einen Stein auf und erstaunte bis in meine Seele hinein, daß das noch immer ein Stein sei, jetzt, nachdem ich das gesehen hatte mit Vater und Mutter droben in unserem Hause. Ich hatte zwar meines Vaters Gesicht nicht erblickt, als er vom oberen Flur auf meine entsetzte Flucht die Schimpfnamen nachsandte. Aber als ich nun am Wegrands saß und mit einer schmerzlichen Anklage des Gemütes erstaunte, daß der Stein nach diesem ungeheuerlichen Erlebnis noch immer so wie vorher geblieben sei, während er doch, um sich in diese Weltumwälzung einzufügen, hätte fliegen, in meiner Hand zu Staub zerfallen oder mit einem Knall in die Luft zerstieben müssen ... während ich so saß und mich in das Zucken dieses schmerzvollen Erstaunens immer tiefer sinken ließ, klang indessen die Stimme meines Vaters fortwährend wie eine Begleitmusik um mich, und aus ihrem Tonfall und Rhythmus formte sich deutlich sein Gesicht, weiß, erschöpft, böse, so feindselig und fremd im Ausdruck, wie ich es noch nie gewahr geworden war. Denn in der Stimme des Menschen ist seine ganze Gestalt, und die Klänge nehmen wir nicht bloß mit dem Ohr, sondern ebenso mit den anderen Sinnen wahr. Und auch eine ungesehene Handlung wirkt auf das moralische Bewußtsein des anderen, wie man dem Einfluß der Sonne ausgesetzt ist, auch wenn sie verborgen bleibt.
Ja, du lieber Gott, was sag' ich's denn nicht klipp und klar heraus, ich war verführt, von meinen Eltern, wenn auch wider ihren Willen, dennoch von meinen eigenen Eltern, und wenn es gegangen wäre, ich wäre geradezu irgendwohin in die Welt gelaufen, nur um ihnen nicht mehr in die Äugen sehen zu müssen. So blieb ich bis in die Nacht sitzen. Als aber der erste Totenvogel im Walde seinen Klageruf ertönen ließ, schlich ich mich nach Hause, sagte Amalie, daß ich kein Abendbrot brauche, weil ich im Walde zuviel Beeren gegessen habe, und rannte erblaßt und mit den Tränen kämpfend hinauf in unsere Schlafkammer. Spät kam meine Mutter mit einem Licht die Treppe herauf. Sie betrachtete mein gramvolles Gesicht, befühlte mir die Stirn, versuchte mit mir zu sprechen, ja, rüttelte mich an den Schultern. Ich aber spielte den Träumenden und dann den Schlaftrunkenen so täuschend, daß sie, leise vor sich hinmurmelnd, wieder hinunterging, ohne mein Erwachen zuwege gebracht zu haben. Auch meine Schwester erfuhr von dem Stoß nichts, den es mir versetzt hatte. Ich verheimlichte es ihr geschickt, und so entstand auch zwischen uns beiden, wenngleich nicht so stark, dieselbe Fremdheit, der Argwohn, die Scheu, die zwischen meinen Eltern und mir aufgewachsen war, und das neue Wissen konnte sich ungestört in mir festsetzen, trotzdem ich mich anstrengte, es zu vergessen oder seiner nicht mehr zu gedenken. Denn ich konnte nicht verhindern, daß ich, als dieser Schleier gelüftet war, Dinge zwischen Knechten und Mägden, vor allem an meinem älteren Bruder sah, die mir früher verborgen geblieben waren, und warf mein Bruder beim Ernten wieder eine Magd zur Erde, deckte eine Garbe über sie und griff unter dieser an dem Körper der Liegenden umher, so stieg mir das Blut zu Kopfe, und es war mir wegen des heißen Würgens im Halse unmöglich, so darüber zu lachen, wie ich es früher getan hatte, als ich noch glaubte, all dieses sei nur ein harmloser Spaß. Nie auch konnte ich meine Eltern in ein Zimmer gehen sehen, ohne denken zu müssen, nun geschehe zwischen den beiden wieder jenes, was ich in dem Gastzimmer beobachtet hatte.
Kurz, ich war auf eine tiefere, gefährlichere Art unruhig in mir und glückloser in unserem Hause als früher, und der Hof unseres Nachbars schien mir seitdem noch in einem zauberhafteren Licht als sonst zu stehen.
*