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Der »Präsident Girling« fuhr durch die Meerenge von Tsu-Shima, dann durch das Binnenmeer, mitten durch ein Paradies von Inseln, nach Osaka, dessen große Fabrikschornsteine gegen den blauen Himmel ragten.
Hier wurde Neilsson wieder an Bord genommen, und außerdem eine Order aus Kopenhagen, die aus Tonking gekommen war, der Dampfer sollte nach der Yaku-Insel fahren und zwischen diesem Punkt und Oho Sima für die japanische Regierung Lotungen vornehmen.
Dann ging es über die Pescadores und durch die Straße von Heinan zurück nach Tonking.
Dort blieb der »Präsident Girling« über Weihnachten liegen und lichtete am Neujahrstag die Anker mit Kurs auf Manila.
Als Ericsson von seinem Landurlaub in Noto an Bord zurückgekommen war, hatte er die Herrschaft über sich selbst so vollständig wiedergewonnen, daß kein Mensch auf den Gedanken gekommen war, sein Erlebnis an Land sei anders als vergnüglicher Natur gewesen; jetzt schien er oft ohne jeden Grund niedergedrückt, tat seine Arbeit mechanisch wie ein Automat, und manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, trug sein Gesicht einen gehetzten Ausdruck, wie der eines Menschen, den der Gedanke an eine drückende Schuld verfolgt, oder der einem Unheil mit knapper Not entronnen ist, die Erinnerung daran aber nicht loswerden kann.
Wenn man ihn über sein Abenteuer an Land befragte, wurde er gereizt, und Magnus kam zu dem Schluß, seinem Freund müsse irgend etwas zugestoßen sein, und dieses Etwas müsse mit dem Mädchen zusammenhängen, das wiederzusehen Ericsson geschworen hatte.
Später, in Tongking und Manila, bemerkte Magnus noch etwas anderes. Ericsson, der Schwerenöter, wurde bei der bloßen Erwähnung des Wortes »Mädchen« mürrisch und übellaunig, und einmal beim Essen vergaß er seine gewohnte Zurückhaltung und brach in derartig wüste Beschimpfungen auf die Frauen aus, das Johannsson, der verheiratet und Familienvater war, ihn scharf zurechtweisen mußte.
Eines Tages, im Hafen von Manila, erinnerte der Seeländer Ericsson an die Flasche Schnaps, die er ihm im Scherz für das »Bezaubern« des Kabels versprochen hatte. Er hätte den Mann fast geschlagen, aber er nahm sich zusammen, gab ihm ein paar Kronen und drehte sich auf dem Absatz um. Der Seeländer und Markierungsboje Nr. 5 waren Ericssons zwei Schreckgespenster, denn es schien ihm, als hätten diese beiden Dinge zu der Tragödie seiner Nacht an Land beigetragen – einer Tragödie, die Magnus ahnte, deren volle Tragweite ihm aber erst viel später klarwerden sollte.
Von Manila aus setzte das Schiff seine wundervolle Fahrt fort, an Labuan vorbei, dann westwärts durch die Meerenge von Malakka in den Indischen Ozean, durch das Rote Meer und das Mittelländische Meer nach Marseille.
Hier empfing der »Präsident Girling« den Befehl, nach Kopenhagen zurückzukehren und abzumustern.
Das Abmustern nach großer Fahrt ist immer eine betrübliche Geschichte, wenn das Schiff eine glückhafte Reise gehabt hat. Es ist fast, als würde ein Heim aufgelöst, und an dem Tage, als der »Präsident Girling« in Kopenhagen abmusterte, war Magnus so gerührt, daß er in der Riga-Taverne sämtliche Gäste freihielt; er selbst trank so viel Rum, daß er schließlich weinerlich und sentimental wurde und alle Welt umarmen wollte.
Ericsson blieb bei ihm, nahm ihn vor Schmarotzern in Schutz und brachte ihn schließlich an die frische Luft und zum Kai hinunter.
Am Kai leuchtete dicht neben dem »Präsident Girling« der rote Schornstein der »Botnia«.
Sie sollte am nächsten Tage nach Leith und Island abgehen. Beim Anblick der roten Rettungs-Bojen mit dem Stempel »Botnia« fing Magnus Feuer. Wollten sie nicht auf alle Fälle nach Island zurück – warum nicht gleich heute? In seinem berauschten Zustand schien es ihm, als könne et gar nicht schnell genug hinkommen. Vestmannaejar und Vik und Fluglasker, wie sie einsam aus dem Meere ragen, erstanden vor seinem inneren Auge so deutlich, als lägen sie auf der anderen Seite des Hafens. Da rief ihn der zweite Offizier der »Botnia«, der das Einnehmen der letzten Ladung überwachte, an; sie waren alte Freunde, und das brachte die Sache zum Klappen.
Ericsson ging ins Büro der Schiffahrtsgesellschaft, um Fahrkarten dritter Klasse zu besorgen und ihr Zeug zu holen, das noch auf dem Kabeldeck des »Präsident Girling« auf sie wartete; Magnus blieb an Bord der »Botnia«, um noch mehr alte Freunde unter der Besatzung zu begrüßen. Als Ericsson aus dem Schiffahrtsbüro trat, begegnete er Helgi Olssen, der mit einem halben Dutzend anderer Matrosen zusammen aus der Riga-Taverne kam.
Als Olssen hörte, daß Ericsson noch am selben Tage weiter wollte, lachte er.
»Und was ist mit dem Pfund Tabak und dem Paar neuer Schuhe, die ich dir zahlen sollte, wenn wir nach Reykjavik kommen?« sagte er. »Warte lieber bis zum nächsten Dampfer.«
Ericsson drehte sich um und ging ohne ein Wort davon.
*
Sie liefen Leith an und dampften dann nordwärts. Die Maiensonne leuchtete über der ganzen nördlichen Welt vom Hunafloi bis zu den Eisbergen Grönlands.
Es war ein wundervolles Frühjahr; als sie sich der isländischen Küste näherten, lag die See in jener Stille und Glätte da, die sonst nur im Spätsommer vorkommt; die Luft war warm, und ein schwacher Dunst verbarg den Horizont. Die Seevögel tauchten nach Beute, und wenn sie tauchten, bildeten sich Wasserringe um sie, als fischten sie in einem Teich.
Dann tauchte Island auf mit dem sonnenüberflammten Vatna Jokull, und der riesige Eisberg hob sich über der von Seenebel verhüllten wilden Küste klar in die blaue Luft. Sie berührten die Westman-Inseln, deren Basaltklippen wie Zähne aus dem Meere ragten und deren einziger grüner Hafen im Schutze von Möwen bewohnter Felsen lag. Hier schwärmten die Lummen zu Tausenden und aber Tausenden, brachen in Wolken aus den vorspringenden Felswänden und schrien und kreischten, als heulten alle Geister des Landes ihre Trostlosigkeit in die Luft.
Die Töne folgten ihnen, als das Schiff den Kurs westlich nahm, bis Fuglasker, das Magnus solange ersehnt, fern im Meer auftauchte: eine Insel wie ein Turm mitten im Ozean.
Auf der ganzen Welt gibt es kein Land wie Island. Die Südküste mit ihren Hügeln und Felsenkuppen und weiten Hochebenen ist eine einzige, trostlose Einöde; die Hochebene ist unbebaut, nie betritt ein menschlicher Fuß die Berge; im ganzen Land wächst fast kein Baum – es gibt nichts als Flugsand. Irgendwo steigt eine Rauchsäule in die Höhe, wie der Rauch eines Eisenbahnzuges – das ist der Dampf einer heißen Quelle, die mitten zwischen den Basaltfelsen und dem alten Moos kocht.
Aber gerade die Trostlosigkeit dieser Landschaft übt einen eigenen Zauber aus, und wenn man sie lange genug betrachtet, prägen das Grau, das verwischte Lila und Purpurrot, die scharfen Felszacken und die müden, einsamen Hügel sich der Phantasie des Beschauers ein, um niemals wieder zu verlöschen.
Gegen Abend rundeten sie Reykjanaes, und vor ihnen lag im hellen Licht des Tages und einer Sonne, die während des ganzen Sommers niemals völlig untergeht, der Faxa-Fjord mit Reykjavik und gegenüber, am anderen Ufer der riesigen Bucht, der Snaefel.
Der Anker wurde niedergelassen, und eine Unmenge Küstenboote umringte das Schiff. Magnus hing in wilder Aufregung über der Reling und brüllte zu seinen Freunden hinunter, und Ericsson stimmte ebenso aufgeregt ein.
»Da ist Bjarni Olssens Boot«, schrie Magnus. »He, hallo, Olssen! Erkennst du mich nicht? Nimm uns mit ans Ufer, mich und meinen Kameraden. Es ist Ericsson.«
»Bjarni!« rief Ericsson, während Magnus davoneilte, um ihre Sachen zu holen. »Was gibt's Neues?«
»Tja, schlechte Nachrichten für dich, Ericsson. Hast du die Briefe nicht bekommen? Dein alter Vater ist tot. Er hat den Winter nicht überstanden. Aber ich werde dir alles erzählen, wenn du im Boot bist.«
Ericsson trat von der Reling zurück und sah mit leeren Blicken auf die Passagiere, die sich auf dem Deck drängten, und auf die Isländer, die an Bord gekommen waren, um ihre Freunde zu begrüßen.
Sein alter Vater war also tot – der einzige Verwandte, den er noch besessen hatte. Es traf ihn hart, denn der alte Mann war ihm immer ein guter Vater gewesen.
»Und wie gehen die Geschäfte in Reykjavik?« erkundigte sich Magnus, als Olssen ihn und Ericsson zum Lande ruderte. »Die Geschäfte, wie sollten die Geschäfte gehen, wenn diese verfluchte Regierung mit den Dänen gemeinsame Sache machte! Das Neueste war – was meint ihr wohl?! –, man hatte ein Gesetz durchgebracht, wonach die Einfuhr von Alkohol in jeder Form verboten wurde.«
»Um Gottes willen!« sagte Magnus. »Soll das heißen, daß wir an Land nichts zu trinken kriegen?«
»O nein, ganz so schlimm war es nun wieder nicht. Was an alkoholischen Getränken im Lande war, durfte konsumiert werden, aber darüber hinaus war es verboten, neuen Alkohol einzuführen.«
Magnus stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus; dann fing er an auf die Dänen zu schimpfen.
Vor mehr als tausend Jahren war Island von Skandinaviern bevölkert. Sie brachten die alte Ursprache mit, aus der alle modernen skandinavischen Sprachen entstanden sind. Im Schutze dieses ruhigen Brackwassers hatte die Sprache sich unverändert erhalten; zwei Isländer reden heute ebenso miteinander wie vor Jahrhunderten. Auch denken sie fast noch ebenso, nur daß sie sich heute, statt mit Knütteln und Speeren, mit Feder, Tinte und Zunge bekämpfen; und ihr Kampfplatz ist nicht mehr die Ebene von Thingveller, sondern das kleine Parlamentshaus aus grauem Stein in der Mitte der Stadt.
Jeder Isländer ist ein geborener Politiker, und es gibt zwanzig Zeitungen, die in der Hauptsache politisch eingestellt sind, jede mit einer Auflageziffer von ein paar tausend, deren Leserkreis sich aus Angehörigen der Gesellschaftsklasse, zu der Magnus gehörte, zusammensetzt.
Auf der Helling drängten sich Frauen, Kinder und Männer. Die halbe Bevölkerung war auf den Beinen, um den Dampfer zu begrüßen, und die beiden Kabelarbeiter wurden, während sie die Helling hinaufgingen, von allen Seiten her von Männern mit Willkommensrufen und Handschlag begrüßt, während die Frauen verstohlene Seitenblicke auf den hübschen Ericsson warfen.
Oh, die Frauen von Island! Welch Geheimnis liegt in dem Ausdruck ihrer Gesichter! Ob sie schön oder häßlich, blond oder brünett sind, sie scheinen nie gelächelt zu haben, und der Schatten eines düsteren und dennoch erhebenden Geheimnisses schwebt über ihnen allen.
»Ich sehe deinen Vater nicht«, sagte Magnus.
»Er ist tot«, erwiderte Ericsson.
Magnus blieb stehen und sah seinen Kameraden voller Erstaunen an.
»Tot! Wer hat dir das gesagt?«
»Bjarni Olssen.«
Einen Augenblick dachte der leicht gerührte Magnus, daß sein Freund doch der hartherzigste Mensch von der Welt sei; da aber sah er Ericssons Lippe zucken und ahnte den Schmerz, den jener zu unterdrücken versuchte. Er faßte ihn unter den Arm und führte ihn in die Bar von Zoegas Hotel.
Obgleich es schon auf zehn Uhr ging, lag doch noch volles Tageslicht über der Stadt mit ihren Wellblechhäusern, und in den Straßen herrschte hellwaches Leben und ein Gewühl von Menschen – dänische Matrosen von dem Kanonenboot im Hafen; französische Matrosen von einem französischen Fischkutter, der zur Reparatur auf der Reede lag; die Besatzung eines grönländischen Schoners, der am nächsten Morgen in See stechen sollte.
Reykjavik liegt am Strande einer öden Ebene, die in Absätzen bis zu den Vorhügeln einer mächtigen Gebirgskette ansteigt. Es ist dort noch alles genau so, wie es zu Anbeginn der Zeiten war, als der Saurier an der schwarzen Küste sich wälzte und die Feuer der vulkanischen Hügel den Flammengluten des Snaefel achtzig Meilen jenseits des Faxa-Fjords Antwort gaben.
Nur eine einzige Straße führt durch das Innere des Landes, vorbei an kochenden Quellen, zu den Hügeln und dem fernen Thingveller hinüber. Von hier aus sieht man den Dampf der kochenden Quellen, an denen sämtliche Wäsche der Stadt gewaschen wird, und hinter diesem Dampf sieht man das Aussätzigen-Hospital weit draußen am Ufer des Meeres.
Die Bar des Zoega-Hotels war gesteckt voll, denn es ging bereits auf Feierabend. Es ist die sonderbarste Bar der Welt; man kann hier Parlamentsmitglieder vor ihrer Tasse Kaffee neben dem Kapitän eines Walfischfängers oder Matrosen von einem grönländischen Fischerboot sitzen sehen, die ihren Rum trinken; oder auch einen englischen Lord, der zum Lachsfang unterwegs ist, in lebhafter Unterhaltung mit einem Knecht treffen. Während der Saison findet man hier Franzosen, Dänen, Deutsche, Österreicher, Schweden, Engländer, Amerikaner, Schweizer, einheimische Dichter und Journalisten – ganz zu schweigen von den Ponyvermietern und einheimischen Führern.
Als Magnus und Ericsson hereinkamen, trat plötzlich ein hochgewachsener Mann, der hinter seiner Zeitung gesessen hatte, auf sie zu. Es war Helgi Stefansson, öffentlicher Notar und einer der besten Anwälte von Reykjavik.
»Das ist ja Erik Ericsson«, sagte er, »und Jonaß Magnus! Das ist eine Überraschung! Die traurige Nachricht haben Sie wohl schon gehört? Die ganze Stadt hat Anteil daran genommen, denn Ihr Vater war ein allgemein geachteter und beliebter Mann. Haben Sie meinen Brief bekommen?«
»Nein«, sagte Ericsson.
»Dann wird es Ihnen vielleicht ziemlich überraschend kommen, daß Ihr Vater eine ganz hübsche Summe zurückgelegt hat, die nun Ihnen gehört. Das Geld ist sicher in der Landesbank angelegt. Ich war sein juristischer Beirat, und das Testament und sämtliche Papiere liegen in meinem Büro.«
»Eine hübsche Summe?« sagte Ericsson überrascht. Der Gedanke an Geld war ihm nie gekommen, der alte Mann hatte eine kleine Fischräucherei betrieben.
»Nun, auf der Bank liegen achttausend Kronen in gutem Geld – und dann haben wir außerdem das Haus, das Ihnen bei einem Verkauf auch noch zweitausend bringen dürfte. Sie können nach Abzug aller Kosten jedenfalls auf gut zehntausend Kronen rechnen.«
»Zehntausend Kronen!« wiederholte Ericsson erstaunt. »Aber das ist ja unmöglich!«
»Er war ein sparsamer Mann. Denken Sie mal nach, wie lange hat er denn sein kleines Geschäft betrieben? Doch zwanzig Jahre und länger. Natürlich hat er auch mal harte Zeiten zu überstehen gehabt, aber er knauserte und knickerte und ließ seine Kronen hecken. Ich muß jetzt aber gehen, kommen Sie morgen früh zu mir ins Büro.«
Ericsson wandte sich zu Magnus, um sich beglückwünschen zu lassen. Aber Magnus war einsilbig. Schwärzeste Eifersucht verzehrte ihn. Da hatte er nun sein ganzes Leben lang gearbeitet, sich jedes Vergnügen versagt, eine Krone zur anderen gelegt; auf dem Schiff noch hatte er seinem Kameraden gegenüber mit den dreitausend Kronen, die er auf der Bank liegen hatte, geprahlt; und jetzt fielen diesem Glückspilz, der nie gespart, der sein ganzes Geld für Mädels zum Fenster hinausgeworfen hatte, zehntausend Kronen in den Schoß!
»Was hast du denn?« fragte Ericsson.
»Nichts, nichts«, erwiderte Magnus. »Da, ein Glas auf dein Glück und dein Geld – obgleich es dreimal soviel ist, wie ich mir in all den Jahren mit Mühe und Arbeit habe zusammensparen können.«
Er zerstieß den Zucker in dem heißen Rum wie ein zorniges Kind; dann trank er das Glas in einem Zuge leer. Tränen standen ihm in den Augen, während er Pfeife und Tabaksbeutel aus der Tasche zog.
»Magnus«, sagte Ericsson, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, »du bist ein Kamerad, mit dem nicht leicht auszukommen ist.«
Magnus blickte von dem Klumpen Tabak auf, den er mit dem Taschenmesser in kleine Stückchen zerschnitt.
»Wenn so schwer mit mir auszukommen ist, such dir doch einen anderen«, sagte er.
»Es ist schwer, deine Launen zu ertragen«, fuhr Ericsson unbeirrt fort, »ich bin der einzige gewesen, der auf dem ›Präsident Girling‹ als Freund zu dir gehalten hat – – –«
»Freund!« sagte Magnus höhnisch. »Und auf welche Weise hast du mir deine Freundschaft bewiesen?«
»Indem ich dich mit Gewalt aus den Bars herausgeschleppt habe, wenn du betrunken warst, und indem ich dich auf dem Rücken nach Hause getragen habe, wie damals in Tongking, als die ganze Straßenjugend mit Hallo hinter mir her war! Halt den Mund! Jetzt will ich dir mal ordentlich meine Meinung sagen! Ich habe zu dir gehalten, weil du es wert bist, und weil du der einzige wirkliche Freund bist, und ich schenke dir die Hälfte meines Geldes.«
Magnus, der sein Rumglas beiseite geschoben hatte, als verschmähe er es, mit einem Menschen wie Ericsson zu trinken, starrte seinen Kameraden einen Augenblick an, ohne zu begreifen. Als er aber sah, daß es Ericsson mit seinem Anerbieten ernst war, wurde er blutrot vor Scham über seine eigene niedrige Gesinnung. Ericsson hatte ihm nicht nur mit Fortunas Hilfe den Rang abgelaufen, er hatte sich durch seine Großmut als der Überlegene und Bessere von ihnen beiden erwiesen.
»Nein, danke«, sagte Magnus, »das Geld gehört dir. Ich habe genug. Und Geld, das ich mir nicht selbst verdient habe, scheint mir auch kein richtiges, lebendiges Geld. Aber jedenfalls danke ich dir.« Plötzlich durchbrach seine bessere Natur den Nebel von kleinlicher Eifersucht, er streckte seine Hand aus und schlug in die dargebotene seines Freundes ein.
»Na«, meinte Ericsson, »du kannst es dir ja überlegen. Oder wollen wir unser Geld zusammenwerfen und Kompagnons werden?«
»Kompagnons?«
»Erinnerst du dich nicht an die Nacht, als wir vor der Küste von Noto kreuzten und ich dir den Vorschlag machte, am Breidifjord eine Fischerei aufzumachen?«
»Das hatte ich fast vergessen«, sagte Magnus, »als ich dir aber neulich vorschlug, nur zu einem Besuch mit mir nach Skarsstöd zu kommen, da sagtest du doch, du wolltest in Reykjavik bleiben.«
»Neulich hatte ich auch noch keine zehntausend Kronen. Mit dem Geld kann man schon allerhand anfangen. Man kann eine Teilhaberschaft an einem Boot kaufen oder ein Fischrecht an dem Fluß, der deinem Onkel gehört. Außerdem hält mich jetzt, wo mein Vater tot ist, nichts mehr in Reykjavik. Früher einmal bedeutete Reykjavik für mich die ganze Welt, aber nach Kopenhagen und all den fremden Häfen, die ich inzwischen gesehen habe, ist es doch nur ein schäbiger Ort. Es ist im Grunde nichts als ein Fischerdorf, das versuchen möchte, eine Stadt zu sein, und da will ich schon lieber in einem richtigen Fischerdorf vor Anker gehen – – – irgendwo, wo es ruhig ist, und wo nicht so viele Menschen sind.«
Magnus war Feuer und Flamme für den Plan. Ein Geldgeschenk wollte er nicht annehmen, aber eine Teilhaberschaft, bei der er den Mangel an Kapital durch Arbeit und seine wirklich überragende Tüchtigkeit als Seemann und Fischer wettmachen konnte – – – das war schon etwas anderes.
»Weiß Gott«, sagte er, »an der Sache ist was dran. Ich kenne den Breidifjord von Flatey bis Breidavik, und nicht nur den Breidifjord, sondern auch den Talknafjord und den Arnafjord und die ganze Küste bis nach Adalvik hinauf. Ich bin bei jedem Unternehmen dabei, nur stelle ich die eine Bedingung, daß wir klein anfangen.«
»Dafür bin ich auch«, sagte Ericsson. »Es ist besser, klein anzufangen und groß zu werden, als groß anzufangen und klein zu werden. Aber wir können keine Pläne machen, bevor wir dort sind. Wie groß ist dieses Skarsstöd eigentlich?«
»Groß genug für uns«, antwortete Magnus. »Es ist auch ein Gasthaus da, in dem wir unterkommen können, aber ich bin sicher, daß Stefan Gunnarsson uns bei sich aufnehmen wird. Er lebt mit Schwalla in seinem eigenen Haus.«
Ericsson hatte Schwalla ganz vergessen, und bei der Erwähnung des Mädchens flog ein düsterer Schatten über sein Gesicht. Seit dem geheimnisvollen Zwischenfall an der Küste von Noto hatte er mit keinem Mädchen mehr gesprochen, keines auch nur angesehen. Das ganze weibliche Geschlecht schien ihm zum Abscheu geworden zu sein.
»Ich werde im Gasthaus wohnen«, sagte er. »Mir steht der Sinn nicht nach Gesellschaft. Ich suche einen Ort, wo der Mensch nicht andauernd mit Leuten schwatzen muß. Ich will arbeiten, je eher, desto besser.«
Magnus stimmte schweigend zu. Es war ihm nicht entgangen, daß der Name des Mädchens Ericssons Verstimmung hervorgerufen hatte, und zum hundertsten Male verwunderte er sich über die Verwandlung, die mit seinem Freund vorgegangen war.
Des Nachts, während Magnus wach lag und Zukunftspläne schmiedete, hörte er, wie Ericsson sich in seinem Bett herumwälzte. Gegen Morgen wachte er plötzlich auf: Ericsson hatte im Schlaf einen furchtbaren Schrei ausgestoßen. Magnus sprang aus dem Bett und schüttelte seinen Freund, bis er aufwachte.
»Die Japanerin!« keuchte Ericsson und starrte mit weit geöffneten, schreckerfüllten Augen wild um sich.
Dann fiel er, völlig wach geworden, aufs Kissen zurück und murmelte etwas von einem Gespenst, von dem er geträumt habe. Magnus aber wußte, daß er von einem Mädchen geträumt hatte.
*
Am nächsten Morgen um acht Uhr, nachdem sie gefrühstückt hatten, verließen sie das Hotel und machten sich auf den Weg nach Stefanssons Büro. Ericsson hatte sich von der Wirkung seines Alptraumes vollständig erholt und schien sogar besonders guter Laune zu sein. Magnus war schweigsam und geistesabwesend. Dieses geheimnisvolle Etwas, das seinem Kameraden zugestoßen war und ihn immer noch mit Alpträumen verfolgte, übte eine lebhafte Anziehungskraft auf Magnussens Phantasie aus. Neugierde war überhaupt eine seiner Schwächen.
Stefanssons Büro lag im Erdgeschoß des Hauses, in dem er seine Wohnung hatte. Er empfing Ericsson und Magnus nicht im Büro, sondern führte sie hinauf in sein Wohnzimmer, das, wie die meisten besseren Häuser in Reykjavik, in einem ziemlich schweren, gediegenen und nicht ganz modernen Stil eingerichtet war.
Er bot ihnen Zigarren an, und während sie rauchten, wurde das Geschäftliche besprochen. Ericsson ließ sämtliche Papiere in der Hand des Anwalts, wie er ihm auch alles überließ, was mit dem Verkauf des Hauses zusammenhing.
»Sie wollen also nach dem Breidifjord?« fragte Stefansson, nachdem das Geschäftliche erledigt war. »Wann fahren Sie?«
»Die ›Botina‹ segelt übermorgen«, erwiderte Ericsson, »wahrscheinlich werden wir mitfahren. Nachdem ich alles mit Ihnen besprochen habe, bleibt ja hier für mich nichts zu tun, aber ich komme jedenfalls vor meiner Abreise noch einmal vorbei.«
Stefansson begleitete die beiden bis zur Tür und erkundigte sich bei Magnus nach dem Befinden seines Onkels.
»Darüber werden Sie wahrscheinlich besser Bescheid wissen als ich«, meinte Magnus. »Es ist ein volles Jahr, seit ich zuletzt von ihm gehört habe.«
»Ich habe ihn vor sechs Monaten gesehen«, sagte Stefansson, »und da sah er außerordentlich wohl und vergnügt aus. Fräulein Schwalla war auch da. Sie ist übrigens verlobt.«
»Was?« rief Magnus und drehte sich um. Er stand schon auf der Türschwelle und mußte sich einen Augenblick an den Türpfosten klammern, um nicht zu fallen.
»Mit Olafur Gudmundsson, dem der Fluß oberhalb der Besitzung ihres Vaters gehört.«
»Verlobt! Verlobt mit Olafur Gudmundsson! Aber der ist doch verheiratet.«
»Seine Frau ist vor einem Jahr gestorben. Sie waren so lange fort, daß Sie es nicht wissen können. Ja, vor einem Jahr ist sie gestorben – und nun wird er sich also mit Schwalla trösten.«
»Sich mit Schwalla trösten! Gott im Himmel! Der Mann muß doch über fünfzig sein!«
»Tja – aber er hat über fünfzigtausend Kronen auf der Bank.«
»Zum Teufel mit ihm!« brüllte Magnus. Der Gedanke, daß Gudmundsson sich mit Schwalla »trösten« würde, machte ihn rasend. Einen Augenblick lang konnte er weder sprechen noch sehen – Tränen füllten seine Augen. Es entsprach dem weiblichen Element in seiner komplizierten Natur, daß wilde Wut auf seine Tränendrüsen genau so wie weiche Gefühle wirkte.
»Aber was sagte sie dazu?! Sie kann einen solchen Menschen doch nicht lieben?« brachte er schließlich heraus. Stefansson zuckte die Achseln.
»Wer kann sagen, was eine Frau liebt? – Und es gibt keine große Auswahl an Männern in Skarsstöd.«
»Ich habe sie verloren«, klagte Magnus, als sie draußen waren. »Wäre ich nur zu Hause geblieben, anstatt durch die Welt zu reisen! Ich habe gar keine Lust mehr auf den Breidifjord.«
»Weißt du denn, ob du sie verloren hast?«
»Hast du nicht gehört, was Stefansson sagte?«
»Das beweist doch nichts. Wenn ich du wäre, würde ich hingehen und sie dem Gudmundsson wieder von der Angel nehmen. Vorläufig hat er sie doch erst angehakt, aber noch nicht an Bord.«
»Du hast leicht reden«, sagte Magnus.
»Leicht reden! Bist du denn kein Mann? Na also. Wenn man sich eine Sache fest vornimmt, setzt man sie auch durch.«
»Ja, wenn ich du wäre«, meinte Magnus neidvoll. »Du brauchst nur zu pfeifen, und die Weiber laufen dir nach. Aber ich verstehe nicht mit ihnen umzugehen – und doch möchte ich schwören, sie hat mich einmal liebgehabt.«
»Dann bring' sie dazu, daß sie dich wieder liebhat. Ich werde dir helfen, zusammen werden wir mit dem Gudmundsson schon fertig werden. Nicht, daß ich mich mit den Leuten einlassen will – ich will für mich allein bleiben und nichts mit Menschen zu tun haben.«
»Du bist mein Freund«, brach Magnus los, »mein wahrer Freund, du hast mir das Leben wiedergegeben.« In seinem plötzlichen Dankbarkeitsgefühl sprang er vom Thema ab: »Aber nun sag mir auch, was ist mit dir los, daß du ihnen aus dem Wege gehst und den Weibern den Rücken drehst?«
Ericsson schien die Frage zu überhören.
Sie nahmen ihren Weg durch die Hauptstraße, bis sie zu einer Häuserreihe kamen, die, nur wenige hundert Fuß von dem brausenden Meer entfernt, parallel mit dem Strande lief. Eines dieser kleinen Häuser war fest verschlossen, und kein Fisch trocknete auf den Lavablöcken des Hofes.
Dann gingen sie zu dem kleinen Friedhof hinüber, der an dem See hinter der Stadt lag, und wo der alte Vater seinen letzten Schlaf fern vom Geräusch des Meeres, mitten im Frieden der einsamen vulkanischen Hügel schlief.
*
Der Breidifjord lag in tiefer Ruhe. Nicht die kleinste Welle kräuselte die Oberfläche der weiten Bucht, die sich mit ihren vielen Löchern und der kühnen, schroffen Küste von Sandur bis zu dem Vorgebirge erstreckte, hinter dem Breidavik verborgen lag.
Der blaue Himmel war von weißen Flügeln wie gesprenkelt, Vögel überall. Weiße Meerschwalben, die, wie Libellen, fast spukhaft durch die Luft schossen; Papageientaucher, Lummen, Eisturmvögel und Kormorane.
Von den fernen Inseln stiegen sie auf wie Rauchwolken und sanken wieder wie Rauch, der vom Wind zu Boden gedrückt wird; sie folgten im Kielwasser der »Botina« wie ein Schneesturm, und ihre Schreie erfüllten die Klippen des sich stetig nähernden Landes. Dann brüllte die Sirene, der Anker wurde ausgeworfen, und das Schiff lag still.
Einen Büchsenschuß entfernt lag das Ufer; und zu beiden Seiten des Floka-Flusses, der diamantklar über die Felsblöcke seines Bettes dahinjagte, lagen die Häuser des Städtchens. Rechts und links von Fluß und Stadt erhoben sich Klippen aus braunem Basalt, wie beschneit von einer Unzahl von Möven.
Der Strand zwischen den vorspringenden Klippen war von Menschen besät, die alle hergekommen waren, um das Schiff zu begrüßen. Von der kleinen Landungsbrücke stieß jetzt ein Ruderboot ab.
Ericsson und Magnus standen neben der niedergelassenen Laufplanke und beobachteten das Boot.
»Na«, sagte Magnus, »was hältst du von Skarsstöd?«
»Ich habe schon schlimmere Orte gesehen«, erwiderte Ericsson. »Aber wo ist der Hafen?«
»Drüben hinter den Klippen ist ein Schlupfhafen, wo jedes Boot in rauhem Wetter Schutz finden kann. Oh, mein Gott!«
»Was ist dir?«
»Dort im Boot kommt mein Onkel, irgend jemand muß ihm erzählt haben, daß ich an Bord bin. Es gibt Telefon von hier nach Reykjavik, und die Leute erzählen sich immer sämtliche Neuigkeiten.«
»Ein Mädchen sitzt neben ihm im Boot«, sagte Ericsson.
Magnus antwortete nicht. Konnte das Schwalla sein?! Konnten zweieinhalb Jahre einen Menschen so verändern? Das Mädchen, das er damals verlassen hatte, kleidete sich in die Nationaltracht; jung, eckig, wenn auch künftige Schönheit versprechend, trug sie in allem das Gepräge des Mädchens aus dem Volke. Dies hier aber war eine Dame.
Als das Boot dicht neben dem Dampfer angelegt hatte, stiegen die Insassen an Bord. Zuerst kamen ein paar Fischer mit großen Körben: sie wollten über den Sommer nach den nördlicheren Fjorden. Dann kam ein einheimischer Führer, der sich ängstlich nach dem Touristen umsah, der ihn telefonisch von Reykjavik aus engagiert hatte. Dann kam Stefan Gunnarsson.
Gunnarsson war ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren mit braunem Bart und einem Prophetenkopf, der indessen nichts anderes in sich barg als Eigensinn, eine gründliche Kenntnis der Lebensgewohnheiten des Lachses und ein paar klingende Strophen aus den Sagas.
Sein Eigensinn hätte ihn sicher schon lange zugrunde gerichtet, wäre nicht sein Weib gewesen, dem er, wie so viele Männer, alle seine Erfolge verdankte. Sie war vor ein paar Jahren gestorben.
Gunnarsson hatte Magnus sofort entdeckt und begrüßte ihn, ohne zu lächeln – er lächelte nie –, aber mit einer freundschaftlichen Herzlichkeit, die erheblich mehr besagte; und Magnus erwiderte den Gruß und schüttelte seinem Onkel die Hand wie ein ungeschickter Schuljunge, denn seine ganze Geistesgegenwart war beim Anblick des Mädchens, das hinter Gunnarsson stand, zum Teufel gegangen.
Freilich war das Mädchen vor ihm von dem Mädchen, das er vor zwei Jahren zuletzt gesehen hatte, so verschieden, wie die Eiderente im vollen Schmuck ihres Gefieders von dem eben ausgekrochenen Grünschnabel. Ihr Gesicht war leicht gebräunt von Sonne und Wind, mit festen und beweglichen Zügen; erdhaft wirklich, mit der Andeutung himmlischer Möglichkeiten.
Ihr gefährlichster Reiz war ihr Mund.
Es war der vollkommene »Amorbogen«: groß, mit vollen Lippen, wie von einer kühnen und doch zarten Hand mit einem messerscharfen Meißel geschnitten – ein Mund, der die Träume eines Heiligen hätte stören können.
Von ihrem dunklen Haar war unter dem breitkrempigen Hut nur ein Schimmer zu sehen, und das Kleid aus grauem Wollstoff verhüllte eine Figur von angenehm gerundeten Formen und kräftigen Linien. Sie trug keine Handschuhe und zeigte ein Paar rundliche, feste, von Sommersprossen bedeckte Hände, gut gepflegt und kräftig entwickelt.
Aber was Magnussens Herz zum Stocken brachte, war, daß sie wie eine Dame dastand, vollkommen Herrin über ihre Person. Ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Kleidung, ja, alles an ihr trug dazu bei, diese niederschmetternde Wirkung zu vollenden. Sie gehörte einer anderen Welt an als der, zu der er gehörte.
»Ich bin froh, dich wiederzusehen«, sagte Gunnarsson, »ich habe schon gehört, daß es dir gut geht. Hier ist Schwalla, die dich ebenfalls begrüßen möchte.«
Er trat beiseite, und Schwalla streckte Magnus lächelnd die Hand entgegen.
»Willkommen in Skarsstöd«, sagte sie. »Du hast uns schönes Wetter mitgebracht. Erinnerst du dich noch an früher, wenn wir zum Fischen hinausfuhren und es immer schön war an den Tagen, an denen du es vorhergesagt hattest?«
Magnussens Schüchternheit verlor sich, während er Schwallas Hand schüttelte, aber die trübe Stimmung wollte nicht weichen.
»Tja«, sagte er, »das waren schöne Tage. Und der Seeforellenfang – ist der heute immer noch so gut? Aber ich habe einen Freund mitgebracht. Hier, Erik Ericsson, der Sohn von Helgi Ericsson aus Reykjavik.«
Er trat einen Schritt zur Seite und stellte Ericsson seinem Onkel und Schwalla vor.
Nun schwatzen die Leute in Island andauernd miteinander über Meilen Landes hinweg. Wenn man neben dem Postgebäude in Reykjavik steht und in die Luft hinaufsieht, könnte man glauben, man sei in Chikago, solche Unmenge von Drähten laufen dort durcheinander, Telefondrähte, die die Hauptstadt mit Bauernhöfen und Dörfern verbinden, die über Tausende von Quadratmeilen verstreut liegen.
Gunnarsson war bereits über alles, was Magnus und seinen Kameraden betraf, genau orientiert, denn der Anwalt hatte sich gestern zehn Minuten oder noch länger mit ihm unterhalten; und wenn er irdische Güter auch nur bis zu einem gewissen Punkt schätzte, so wurde die Herzlichkeit seiner Begrüßung durch die Tatsache, daß Ericsson ein recht wohlhabender Mann war, jedenfalls nicht beeinträchtigt.
Schwalla hatte sich im ersten Augenblick durch die körperliche Schönheit des großen Menschen angezogen gefühlt, dann aber überkam sie ein Gefühl, wie sie es nie zuvor empfunden hatte – das Gefühl einer unbestimmten Gegnerschaft.
Die blauen Augen, die den ihren begegneten, sagten ihr nichts, gaben kein Zeichen freundlicher Begrüßung. Wäre sie dem Wassernix begegnet, so hätte sie ihm gegenüber dieselben Gefühle hegen können. Denn der Wassernix hat keine Seele.
Als sie in das Boot, das sie alle ans Land bringen sollte, stiegen, bemerkte Magnus, daß Schwalla noch immer jene Leichtigkeit der Bewegungen besaß, die sie als Kind ausgezeichnet hatte. Sie war auf den Namen Gudrun getauft; Schwalla war nur ein Kosename, aber oft ist ja gerade der Kosename der wirkliche Name, der aus einem besonders liebenswerten Wesenszug geboren wird. Ihre Mutter, eine in Kopenhagen geborene Dänin, hatte ihn ihr gegeben; und unter allen Blumen- und Vogelnamen hätte sie keinen passenderen finden können.
Von der Bootshelling aus gingen sie den Strand hinauf zu der einzigen Straße des Örtchens. In den Häusern zunächst der See leben Fischer, die Fischtrockenblöcke aus Lava erstrecken sich bis zu den Klippen. Dann kam auf der rechten Seite der Kramladen, der Björn Simonarsson gehörte; in diesem Laden bekam man alles zu kaufen, vom Kautabak bis zum Ölzeug, vom Kaffee bis zur Bratpfanne. Björn, ein kleiner, dürrer Mann, den die Politik geradezu auffraß, ein Schwätzer und Dänenhasser von reinstem Wasser, kam aus seinem Laden gelaufen, um Magnus zu begrüßen.
Björn hatte eine Prophetenstirn und irre Augen, und sein Geschäft wäre schon seit Jahren zum Teufel gegangen, hätte nicht seine Frau, eine kleine blasse, sanfte Person, die ganz Willenskraft und gesunder Menschenverstand war, die Dinge zusammengehalten.
Nachdem Björn ihn endlich freigegeben hatte, fiel Magnus dem Bäcker Jonsson in die Arme. Neben Jonssons Laden lag der Gasthof des Ortes, ein paar Meter von der Straße entfernt. Hier machte Magnus und sein Freund halt.
»Da ihr darauf besteht, im Gasthof zu wohnen, werden wir euch also hier verlassen«, sagte Stefan Gunnarsson. »Auf alle Fälle aber müßt ihr zum Abendessen zu uns kommen. Sieben Uhr pünktlich.« Dann ging er mit Schwalla durch die seltsame kleine Straße mit ihren Spielzeughäusern aus Wellblech; an ihrem Ende sah man das Floka-Tal mit seinem smaragdgrünen Gras und seinen grauen Felsblöcken und dem dahinjagenden Fluß. Und hinter dem Tal erhoben sich die vulkanischen Berge, in düsteres Purpur und Nebelgrau getaucht, und noch weiter hinten leuchtete wie eine Vision eine riesige Eiskuppel, auf der das Sonnenlicht flimmerte.
Das Gasthaus bestand aus einer Küche, einem allgemeinen Raum, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden, und sechs bis acht Schlafräumen mit je zwei übereinandergelegenen Kojen, wie auf einem Schiff. In jedem Schlafraum befand sich ein Waschständer mit einer blechernen Schüssel und einem Handtuch. Sonst gab es im ganzen Haus keine Möbel, mit Ausnahme der Tische und Stühle im Speisesaal. Aber die Zimmer waren tadellos sauber und das Essen für ländliche Verhältnisse recht gut; die Hauptgerichte bestanden aus Lachs, Kaffee und den unvermeidlichen Pfannkuchen.
Als sie mit dem Mittagessen fertig waren, wandte sich Magnus, der seit dem Abschied von Schwalla und ihrem Vater kaum ein Wort gesprochen hatte, an Ericsson.
»Nun«, sagte er, »was hältst du von ihr?«
»Von wem?«
»Von Schwalla.«
Ericsson, der im Begriff war, Kautabak in seiner Handfläche zu zerschneiden, überlegte einen Augenblick.
Dann sagte er: »Warum hast du sie nicht gefragt?«
»Wonach hätte ich sie fragen sollen?«
»Nach ihrem Verlobten. Ich an deiner Stelle würde bereits alles über ihn in Erfahrung gebracht haben – und du weißt noch nicht einmal, wann sie heiraten wollen! Vielleicht sind sie schon längst verheiratet!«
»Sie sind noch nicht verheiratet«, sagte Magnus in überzeugtem Ton. Und dann fuhr er aufgeregt fort:
»Siehst du denn nicht, daß sie mir entwachsen ist? Sie ist ganz verändert, weit über mich hinausgeflogen. Siehst du nicht, daß sie eine Dame geworden ist?«
Ericsson lachte.
»So was gibt es nicht«, sagte er. »Es gibt auf der ganzen Welt nur Weiber – und die sind sich alle gleich.«
Seine Stimme klang hart, als spräche er von Wesen, die er von Grund aus kannte und von Grund aus haßte. Es war kein Wunder, daß Schwalla bei seiner Begrüßung die Kälte der Feindseligkeit gespürt hatte, die von ihm ausging. Und in der Tat war sie es gewesen, die den Haß gegen ihr ganzes Geschlecht, der ihn erfüllte, noch geschürt hatte. Sie war das in Jugend, Schönheit und Reiz triumphierende Weib; und um allem die Krone aufzusetzen, ein Frauentyp, der gesellschaftlich über ihm stand.
Er sah Magnus an und stellte ihn in Gedanken ihr gegenüber. Magnus trug in seinem ganzen Sein und Gehaben den Stempel des »Fischers«. Schwalla stammte aus der gleichen Zucht; aber sie war ein Beispiel dafür, daß im sozialen Leben die Frau sich zu Höhen aufschwingen kann, die dem Mann unerreichbar bleiben. Mit Hilfe einer Reykjaviker Schneiderin, einer aus Kopenhagen bezogenen Mode und ihres eigenen Geschmacks würde Schwalla sich in jeder Frauen-Gesellschaft bewegen können, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Vielleicht würde sie als ein klein wenig außerhalb der Mode stehend wirken, ein Hauch von Fremdheit mochte sie umwehen, aber sie würde überall ihren Platz behaupten. Um Magnus gesellschaftsfähig zu machen, hätte man ihm zuerst die Haut abziehen müssen – und auch das hätte noch nichts genützt.
Ericsson war sich über die Kluft, die zwischen den beiden gähnte, ebenso klar wie über die Tatsache, daß er sich mit Magnus zusammen auf der falschen Seite der Kluft befand – und diese Tatsache trug keineswegs dazu bei, ihn milder zu stimmen. Sie schürte im Gegenteil den boshaften Wunsch, Magnus aufzuhetzen. Warum zum Teufel sollte sie einen einfachen Mann verachten? – Einen Mann, der ihres Blutes, ihrer Kaste wart
Er war gerade im Begriff, seiner Meinung in nicht allzu gewählten Worten Ausdruck zu geben, als Frau Sturlusson, die Wirtin, ins Zimmer trat, um das Eßgeschirr abzuräumen. Sie stammte aus Reykjavik und war erst vor anderthalb Jahren nach Skarsstöd gekommen, so daß sie sich an Magnus nicht erinnern konnte.
»Gudmundsson«, beantwortete sie Ericssons Frage. »Ja, er ist mit Schwalla, der Tochter Stefan Gunnarssons, verlobt und wird sie heiraten. Manche sagen im Herbst, manche sagen im Sommer; manche wieder erst nächstes Jahr. Was wollen Sie! Die Leute schwatzen soviel! Aber mit der Verlobung hat es schon seine Richtigkeit. Er ist älter als sie, aber er ist der einzige Mann hier, der zu ihrer Klasse gehört. Wen sonst sollte sie nehmen? Einen Fischer etwa? Oh, dazu steht sie viel zu hoch über den Leuten hier. Sie war den ganzen letzten Winter bei ihrer Tante Neilsson in Kopenhagen, und da hat sie eine Menge Heiratsanträge gehabt.«
»Eine Menge Heiratsanträge!« wiederholte Magnus.
»Eine Unmenge! Ich habe sie selbst gefragt, warum sie nicht einen von denen in Kopenhagen genommen hat, anstatt nach dem trübseligen Island zurückzukommen, und wissen Sie, was sie geantwortet hat? Sie könnte sich nicht vom Meer trennen. Nicht vom Meer trennen!« rief Frau Sturlusson mit der ganzen Wut beleidigten gesunden Menschenverstandes. »Ich hab' ihr gesagt, ›ja, aber um Gottes willen! Kannst du denn das Meer nicht auch in Kopenhagen haben?‹ Und wissen Sie, was sie mir da geantwortet hat?«
»Nun?«
»Sie hat gesagt, ›ja, das Meer schon, aber nicht den Breidifjord und die Möwen‹. Ist das nicht verrückt? Und sehen Sie, jetzt sitzt sie hier und ist mit einem Mann verlobt, der zwanzig Jahre älter ist als sie … weiß Gott, eine nette Möwe, die sie sich da eingefangen hat!«
Damit verschwand sie, Schüsseln, Teller, Messer und Gabeln auf einem Tablett vor sich hertragend, denn wenn sie auch zu schwatzen liebte, in ihrer Arbeit ließ sie sich dadurch nicht stören.
Als sie zurückkam, um das Tischtuch abzunehmen, erzählte Magnus ihr von seiner und Ericssons Absicht, einen Fischereibetrieb aufzumachen.
»In Skarsstöd?« fragte sie.
»Ja, in Skarsstöd.«
Madame Sturlosson setzte sich auf einen Stuhl, eine für sie höchst ungewöhnliche Handlung, wenn sie sich mitten in der Arbeit befand.
»Hier einen Fischereibetrieb aufmachen? Aber das können Sie ja gar nicht!«
»Weshalb nicht?«
»Weil doch Gudmundsson die gesamte Fischerei in der Hand hat. Sämtliche Boote gehören ihm.«
»Sämtliche Boote?«
»Ja. Er hat alle Boote am Ort in Händen. Sämtliche Petroleumboote gehören ihm und die Segelboote auch. Ja, ein paar Boote gehören wohl dem Namen nach den Leuten, die damit arbeiten – aber eben nur dem Namen nach. In Wirklichkeit sind sie Gudmundssons Eigentum. Und nicht nur die Boote, auch die meisten Häuser gehören ihm. Und nicht nur das – auch fast alle Bauernhöfe. Und nicht nur das – ich glaube, er will auch das Stück Fluß haben, das Stefan Gunnarsson gehört, und das ist der Grund, weshalb er Schwalla heiratet. Er hat alles; der ganze Ort gehört ihm, und eigentlich müßte er nicht Skarsstöd heißen, sondern Gudmundsson.«
Das waren ja nette Neuigkeiten! Ein aus einem einzigen Menschen bestehender Trust, der alles verschluckte, sogar Schwalla.
Magnus stöhnte, Ericsson aber lachte.
»Darüber, wie der Ort heißen müßte, können wir uns später noch unterhalten. Vorläufig sagen Sie mir nur eines: gibt es im ganzen Dorf nicht ein Haus, das unbewohnt ist, ein« Haus mit einem Trockenplatz, wo man Fische dörren kann?«
Frau Sturlusson sah Ericsson einen Augenblick nachdenklich an. Sie ahnte in ihm einen Menschen, der sowohl Tatkraft wie auch die Mittel, sie umzusetzen, besaß. Würde er es wirklich fertigbringen, den verhaßten Gudmundsson unterzukriegen?
»Es gibt ein solches Haus, gerade wie Sie es brauchen«, sagte sie. »Ein kleines Haus mit einem Trockenplatz. Es liegt talaufwärts, bevor man zur Kirche kommt. Und es gehört ein Morgen Land dazu, aus dem man einen Trockenplatz machen könnte, groß genug, um die Fische zu trocknen, die ein halbes Dutzend Boote fangen – aber das Haus gehört Gudmundsson.«
»Da hast du's«, sagte Magnus mit einem erneuten Aufstöhnen. »Schon wieder dieser Gudmundsson!«
Ericsson gebot ihm, zu schweigen.
»Vielleicht würde er es verkaufen oder vermieten, wenn er nicht weiß, wozu Sie es brauchen. Das dürfen Sie ihm natürlich auf keinen Fall sagen«, stimmte die Frau zu.
»Wir werden mal zu ihm gehen«, sagte Ericsson, indem er aufstand, »wo wohnt er denn?«
»Gerade oberhalb der Talbiegung. Ein paar englische Fischer haben sich da vor ein paar Jahren einen Bungalow gebaut, und den hat er übernommen. Sie können das Haus nicht verfehlen; es ist weiß gestrichen.«
»Komm«, sagte Ericsson.
Sie traten aus dem Gasthaus hinaus und gingen die Straße hinauf.
»Laß mich mit ihm reden«, sagte Ericsson. »Dieser Mann ist wie ein Meerungeheuer, dessen Arme sich über den ganzen Ort erstrecken und alles, was darin ist, umschlingen. Aber wir werden sie ihm einen nach dem anderen abschneiden, oder ich will nicht länger Ericsson heißen.«
»Dies muß das Haus sein, das sie gemeint hat«, sagte Magnus, indem er vor einem kleinen Haus stehenblieb, das geschlossen und anscheinend unbewohnt war. Und das ist der halbe Morgen Land. Ja, das wäre schon recht, wenn wir es bekommen könnten.«
»Wir werden es kriegen«, sagte Ericsson, »und wenn wir es haben, fahre ich nach Reykjavik und kaufe uns ein eigenes Petroleumboot. Es wird mit der Ausrüstung fünftausend Kronen kosten, aber das Geld zahlt sich schon wieder aus.«
Sie gingen an der kleinen Kirche und an dem Pfarrhaus mit seinem Gartenhof vorbei, wo der Pfarrer eigenhändig sein Gras schnitt. Dann kamen sie zu Stefan Gunnarssons Haus. Es war größer als die Pfarrei, aus hellgelb gestrichenem Wellblech, und lag mitsamt seinem kleinen Garten innerhalb einer Umzäunung, die ebenfalls hellgelb gestrichen war. Es war das schönste Haus im ganzen Ort. Weder von Schwalla noch von ihrem Vater war eine Spur zu sehen; übrigens sah sich keiner der beiden Männer nach ihr um; Magnus war zu schüchtern, und Ericsson war nur von dem Gedanken erfüllt, wie er Gudmundsson überlisten könnte.
Sie bogen um die Talkehre, wo der Fluß tief und schnell dahinschoß, und es war, als habe ein Tor sich hinter ihnen geschlossen. Sie befanden sich wie in einer anderen Welt, in einer Welt, die von miteinander kämpfenden Dämonen erbaut zu sein schien. Zu beiden Seiten stiegen die Basaltklippen siebenhundert Fuß hoch steil empor, aber sie machten weniger den Eindruck von Klippen als von Schloß- und Festungsruinen, die mit Winkelmaß und Senkschnur erbaut waren. Auf einer Strecke von einer Viertelmeile schlossen sie den Fluß eng ein, dann traten sie zurück, und zwischen ihnen hindurch strömte die Floka in einem weiten, steinigen Tal, stellenweise seicht und schäumend, dann wieder in tiefen Lachsteichen den Himmel spiegelnd.
Im Winter, wenn die Nordlichter am Himmel blitzten, wenn die Felsenburgen Kappen aus Schnee tragen und der Fluß nichts ist als eine tosende Stimme in der Dunkelheit, zwingt das Floka-Tal den Menschen, seinen Schritt anzuhalten. Aber im Sommer, wenn der brüllende Strom den schmelzenden Schnee mit sich führt, ist die Schönheit dieser Einsamkeit noch erhabener.
Von der Talkehre aus konnten sie Gudmundssons Haus vor sich liegen sehen. Es war grau gestrichen und lag dicht am Fluß; eine kleine Veranda ging auf das Wasser hinaus, und als sie näher kamen, sahen sie Gudmundsson, der in einem Rohrstuhl auf der Veranda saß und eine Pfeife mit Porzellankopf rauchte.
Er war ein ungewöhnlich großer, schwer gebauter Mann mit langsamen Bewegungen. Er hatte einen ziemlich abgetragenen Anzug an, aber seine Wäsche war tadellos weiß, und seine ganze Persönlichkeit strahlte eine Atmosphäre von Wohlhabenheit aus.
Tatsächlich kam er aus ganz kleinen Verhältnissen und hatte als junger Bursche die Angelleinen und Ruder in seines Vaters Boot bedient; aber das Ruder hatte ihn nicht halten können. Er hatte den Ehrgeiz, es im Leben zu etwas zu bringen, und eine genügende Portion Intelligenz, um diesen Ehrgeiz wirksam zu unterstützen. Das erste Geld, das er verdiente, benutzte er, um sich in der Welt umzusehen. Er war in Dänemark und Frankreich gewesen und hatte die Erfahrung gemacht, daß die Menschen, die in der Welt vorwärtskommen, nicht diejenigen sind, die arbeiten, sondern diejenigen, die andere für sich arbeiten lassen.
Er war jetzt über fünfzig, ein in seiner Art erfolgreicher Mann, mit einem auf den ersten Blick auffallend feinen Gesicht, etwa wie das Gesicht eines alten Offiziers der Fremdenlegion, der sich vom gemeinen Soldaten heraufgedient hat. Bei näherer Betrachtung allerdings verlor dieses Gesicht sonderbarerweise seine Feinheit; die kleinen Augen paßten nicht zu der sehr großen Nase, und der etwas weichliche Mund nicht zu dem kühn geschnittenen Kinn. Die einzelnen Gesichtszüge lagen sozusagen in Streit miteinander, und es waren nicht die edelsten, die den Sieg davontrugen.
Als Gudmundsson die beiden Männer erblickte, stand er auf und ging ihnen entgegen. An Magnus erinnerte er sich, denn er hatte ihn bei seinem letzten Besuch in Skarsstöd vor zwei Jahren gesehen.
Magnus wurde von einem nervösen Zittern befallen. Er hatte nie zuvor mit diesem Mann ein Wort gewechselt, der dank seiner Größe, seiner gebieterischen Persönlichkeit und der Tatsache, daß Schwalla ihn für würdig gehalten hatte, sich mit ihm zu verloben, eine Art hypnotisierender Wirkung auf ihn ausübte. Anders war es mit Ericsson, der sofort und sehr genau wußte, worauf es für ihn ankam. Er sah in Gudmundsson nichts als einen dicken, alten Schwindler mit unruhigen Augen; eine Geldsacklaus; ein Typ, den sein Seemannsherz verabscheute.
Magnus kam sofort auf die geschäftlichen Dinge zu sprechen.
»Ich habe gehört, daß Sie ein Haus zu vermieten haben«, sagte er. »Ich bin Stefan Gunnarssons Neffe –«
»Mein Kamerad und ich kommen aus dem Kabeldienst«, unterbrach ihn Ericsson. »Aber wir haben genug davon und dachten, daß wir vielleicht hier beim Fischfang Arbeit finden könnten.«
Gudmundsson warf einen Blick auf Ericssons mächtige Gestalt und nickte. Im Sommer war stets reichlich zu tun; und je mehr Arbeitskräfte er bekommen konnte, um so besser.
»Und ihr wollt also das Haus mieten?« fragte er.
»Ja, sehen Sie«, erklärte Ericsson, »es kommt uns auf die Dauer billiger, wenn wir ein eigenes Haus haben, als wenn wir im Gasthaus wohnen. Wir könnten eine Frau anstellen, die ein bißchen nach dem Rechten sieht; und kochen können wir schließlich selbst.«
»Tja, die Miete wäre vier Kronen die Woche«, sagte Gudmundsson. »Es gehört ein Stückchen Land zu dem Haus, sonst wäre es billiger.«
»Vier Kronen die Woche!« wiederholte Ericsson, der fühlte, daß er ein bißchen handeln müsse, wenn der Fisch ordentlich anbeißen sollte. »Ist das nicht reichlich teuer?«
»Habe ich euch gebeten, das Haus zu mieten?« erwiderte der andere.
Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, klopfte die Pfeife aus und zündete sie neu an.
In Wirklichkeit hätte er das Haus sehr gern vermietet, das ihm, so wie es war, keinen Profit brachte; und außerdem lag ihm daran, mehr Fischer nach Skarsstöd zu ziehen, besonders so erstklassige Arbeiter wie diese beiden. Aber er kannte auch den Wert von Unverschämtheit und gespielter Gleichgültigkeit. Aber er kannte Ericsson noch nicht.
»Dann ist die Sache für uns erledigt«, sagte Ericsson, während er Magnus am Arm nahm. »Skarsstöd ist nicht der richtige Ort für uns. Drei Kronen die Woche hätten wir gezahlt, aber schließlich kann man nicht mehr geben, als man hat.« Er zog Magnus am Arm mit sich, und dieser dachte einen Augenblick, sein Kamerad müsse verrückt geworden sein, denn der von Gudmundsson geforderte Preis entsprach durchaus ihren Mitteln. Aber er hatte die Schlauheit seines Freundes unterschätzt; sie waren nur wenig Schritte gegangen, als Gudmundssons Stimme sie zurückrief.
»Was rennt ihr denn so!« sagte der große Mann. »Wenn ihr das Haus zu einem so niedrigen Preis mieten wollt, müßt ihr es auf längere Zeit nehmen. Will sich einer von euch dauernd hier niederlassen?«
»Möglich!« sagte Ericsson. »Ich meinerseits habe es satt, mich in der Welt umherzutreiben; aber man kann natürlich nie wissen, wie man später einmal denken wird.«
»Wenn ich euch das Haus für drei Kronen wöchentlich lasse, müßt ihr es auf ein Jahr nehmen, eine Anzahlung von zwanzig Kronen leisten und den Rest in wöchentlichen Raten zahlen.«
»Und wenn wir es nach Ablauf des Jahres behalten wollen?«
»Ich werde euch eine Option geben, daß ihr das Haus so lange haben könnt, wie ihr es in anständigem Zustand haltet, aber nach den ersten zwölf Monaten müßt ihr vier Kronen die Woche zahlen. Die Mieten steigen überall.«
Nachdem man genügend lange gefeilscht und gehandelt hatte, stand Gudmundsson auf – er hatte die beiden übrigens zum Sitzen nicht aufgefordert – und ging ihnen voran ins Haus. Dort schrieb er auf gestempeltem Papier den Vertrag aus, empfing Noten der Landesbank im Wert von zwanzig Kronen und schloß sie in sein Pult ein.
»Und wenn ihr Arbeit haben wollt«, sagte er, »so könnt ihr euch morgen früh in meinem Kontor am Strand melden. Acht Uhr pünktlich. Wenn ihr euch ordentlich dranhaltet, könnt ihr ein schönes Stück Geld verdienen, denn es wird die beste Fangzeit werden, die wir seit vielen Jahren gehabt haben.«
»Was zahlen Sie denn?« fragte Ericsson.
»Das werde ich euch morgen früh im Kontor sagen. Guten Tag.«
Er hatte Magnus gegenüber mit keinem Wort die Verwandtschaft mit Stefan Gunnarsson erwähnt. Wenn er Schwalla heiratete, würde er mit Magnus verwandt sein, aber das berührte ihn nicht im mindesten. Er würde seine Miete genau so eintreiben und Magnussens Arbeitskraft genau so ausnutzen, als wäre er ein Fremder.
Auf dem Rückweg ließ Ericsson seiner guten Laune die Zügel schießen.
»Ich möchte sein Gesicht sehen, wenn er die Wahrheit erfährt«, sagte er, »und wenn er unser Boot sieht.«
Magnus war pessimistisch.
»Hoffentlich wird er nicht versuchen, uns zu schaden«, meinte er.
»Natürlich wird er, aber er soll sich vor mir in acht nehmen«, sagte Ericsson. »Ich lasse mir nichts gefallen. Morgen fahre ich mit der ›Thordur‹ nach Reykjavik, und in einer Woche bin ich mit unserem Boot wieder zurück. Du kannst inzwischen das Haus einrichten. Für fünfhundert Kronen kriegen wir alles, was wir brauchen.«
Als sie zum Gasthaus zurückkamen, war es Zeit, zu Magnussens Onkel zu gehen. Ericsson aber weigerte sich. »Ich mag nicht mitgehen«, sagte er, »ich will nicht mit Menschen zusammenkommen. Ich werde ein bißchen zum Hafen hinuntergehen; es ist jetzt Ebbe, und du sagtest doch, daß man bei niedrigem Wasserstand um die Klippen herumgehen kann.«
»Tja, bei niedrigem Wasserstand kann man herumgehen«, bestätigte Magnus geistesabwesend. Magnus war entsetzlich nervös. Der Gedanke, in Gesellschaft zu gehen, wenn diese Gesellschaft auch nur aus Schwalla und ihrem Vater bestand, ängstigte ihn. Er war gesprächig genug, wenn der Geist über ihn kam, aber es war ein sehr scheuer Geist, der nur dann erwachte, wenn sein Herz und seine Sinne bis zu einem gewissen Punkt aufgerührt wurden und er sein ›Ich‹ vergaß. Er war ein Zweifler an sich selbst – ein Egoist, der sich nicht traute. Zu Zeiten war der Egoist obenauf in ihm, und dann hielt Magnus sich selbst für den fabelhaftesten Kerl der Welt; dann wieder war er niedergeschlagen und schüchtern.
Er wußte nicht, was er mit seinen Händen und Füßen anfangen sollte, wenn Schwalla und ihr Vater ihn in aller Form empfingen; was er reden, und wie er sich überhaupt benehmen sollte. Wenn Schwalla nur dieselbe geblieben wäre wie vor zwei Jahren! Für den Augenblick beschäftigten ihn der Ärger und die Wut darüber, daß das Mädchen sich inzwischen in eine feine Dame verwandelt, und über die ungeschickte Lage, in die sie ihn dadurch gebracht hatte, so stark, daß all seine anderen Gefühle für seine Kusine in diesem Ärger untergingen.
Die kleine Magd, die Schwalla im Haushalt half, öffnete ihm die Tür. Sie trug nach Kopenhagener Mode eine weiße Schürze und ein Häubchen; und dies zusammen mit dem Umstand, daß der enge, mit Pechkiefer getäfelte Flur, auf den die Tür des Wohnzimmers mündete, mit einem schönen neuen Teppichläufer belegt war, gab ihm einen solchen Schock, daß er am liebsten gleich davongelaufen wäre. Dazu kam es allerdings nicht, denn im selben Augenblick öffnete sich die Tür des Wohnzimmers, und Gunnarsson erschien auf der Schwelle.
»Ah, da bist du ja«, sagte Gunnarsson. »Leg' deinen Hut hier auf den Stuhl und komm' herein. Schwalla wird sofort kommen; sie sieht nur nach dem Essen. Aber wo hast du deinen Freund gelassen?«
»Er wollte nicht mitkommen«, sagte Magnus, während er seinem Onkel ins Wohnzimmer folgte, das gleichzeitig als Eßzimmer und Salon diente. »Er war zu schüchtern, weil er dich noch gar nicht kennt und sich hier noch fremd fühlt. Aber dieses Zimmer kenne ich doch gar nicht.«
»Es waren eigentlich zwei Zimmer, aus denen wir eins gemacht haben«, erklärte Gunnarsson. »Schwallas Idee. Es ist luftiger im Sommer, aber im Winter dafür allerdings kälter.«
Magnus setzte sich und sah sich um.
Das Zimmer war viel geräumiger, als man es in einem Haus dieser Größe erwartet haben würde; länger als breit, ohne störende Tapete an den Wänden, nur mit einer glatten Täfelung aus Pechkiefer, von der sich ein paar einfach gerahmte Fotografien isländischer Landschaften abhoben. Schwallas guter, einfacher Geschmack trat überall zutage.
Auf einem Bücherbord am Fenster standen Bücher, die ebenfalls Schwalla gehörten: Andersen. Björnson und Ibsens »Kronprätendenten«.
Eine Vase mit Feldblumen gab dem Zimmer das gewisse Etwas, das eben nur Blumen zu verleihen imstande sind. Der Boden war mit einer großen Matte bedeckt, auf der ein paar Teppiche aus langhaarigem, isländischem Schaffell lagen, die nur vier Kronen das Stück kosten, aber so seidenweich sind wie das Fell der Angoraziege.
Die in Kopenhagen gekauften Möbel aus englischer Eiche waren solide gearbeitet und schlicht in der Form. Überall herrschte jene Einfachheit und Gediegenheit des Geschmacks, die man in Island selbst in den einfachsten Häusern findet.
Magnus hatte sich kaum gesetzt, als die Tür geöffnet wurde und Schwalla ins Zimmer trat. Sie trug das Tablett mit dem Abendessen, während die kleine Magd ihr mit dem Tischtuch folgte.
Bei diesem Anblick begann Magnus sich sofort behaglich zu fühlen, und das freundliche Lächeln, mit dem das Mädchen ihn begrüßte, trug dazu bei, ihm seine Befangenheit ganz zu nehmen.
Beim Abendessen bewegte sich das Gespräch in durchaus praktischen Bahnen, ohne irgendwelche Untiefen, an denen er hätte stranden können.
Gunnarsson sprach von den Aussichten für den Lachsfang, und Magnus erzählte, wie er und Ericsson Gudmundsson das Haus abgemietet hatten und daß Ericsson nach Reykjavik fahren wollte, um ein Motorboot zu kaufen.
Nun wußten zwar Gunnarsson und seine Tochter beide, daß Gudmundsson seine Hand in fast sämtlichen Fischereibetrieben von Skarsstöd hatte; aber da sie gesellschaftlich über den Fischern standen und nur gelegentlich einmal gerüchtweise von ihren Nöten und Klagen hörten, so ahnten sie nichts von der polypengleichen Umklammerung, in der Gudmundsson den ganzen Ort hielt. Gunnarsson und Gudmundsson waren die beiden »Reichen« von Skarsstöd; sie waren die Arbeitgeber und bildeten eine Klasse für sich.
So kam es, daß die Gunnarssons, obgleich sie vielleicht manchmal das Gefühl haben mochten, daß Gudmundssons Faust etwas schwer auf seinen Leuten laste, doch die ganze Ausdehnung dieser im kleinen betriebenen Zwangsherrschaft nicht erkannten, ebensowenig wie die Tatsache, daß Ericssons Vorgehen einen schweren Schlag gegen die Zwangsherrschaft bedeuten mußte.
»Ich freue mich, daß du hierbleiben willst«, sagte Gunnarsson. »Skarsstöd braucht Zuwachs an Menschen, und dein Freund Ericsson sieht aus, als wäre er stark genug, um die Arbeit von zwei Männern zu leisten.«
»Stark genug –«, die beiden Worte lösten Magnus die Zunge. Der Dichter in ihm erwachte, und er begann, das Lob seines Freundes zu singen. Neid und Eifersucht waren vergessen, zum Schweigen gebracht durch den Instinkt des Barden. Er war in seiner Art ein starker und tapferer Mensch, aber seine wahre Natur kam eigentlich nur dann richtig zum Durchbruch, wenn Liebe oder Heldenverehrung sie aufrührten.
So erzählte er die Geschichte ihrer Freundschaft mit einer so prachtvollen Lebendigkeit, daß Schwalla und ihr Vater nicht nur die heroische Gestalt des tapferen Ericsson sahen, sondern auch einen Eindruck bekamen von dem gewaltigen Hintergrund des Fernen Ostens, von dem diese Gestalt sich abhob; von Timor und seinen Palmen, Tonking und seinen Pagoden, von der Küste von Noto und dem sommerlichen Saphirblau des Japanischen Meeres.
Magnus erzählte, wie Ericsson die Boje eingefangen hatte, und dann, in plötzlicher Gereiztheit, begann er, das Verhalten seines Freundes zu kritisieren.
»Er konnte sich etwas wünschen, aber er bat nur um zwölf Stunden Landurlaub, um einem Mädel nachzulaufen, in das er sich verliebt hatte – und sie muß irgendeinen bösen Zauber über ihn bewirkt haben, denn seit dem Augenblick ist er wie verwandelt.«
Schwalla sagte nichts, während der Vater hell auflachte.
»Man kann sich vorstellen, daß die Mädels ihm nachlaufen«, meinte Gunnarsson. »Na, hoffentlich findet er hier irgendein nettes Ding, das zu ihm paßt, damit er endlich seßhaft wird.«
»Ich glaube nicht, daß er überhaupt heiratet, und ich glaube auch nicht, daß er jemals seßhaft wird«, sagte Magnus in überzeugtem Ton.
Dann wurde das Geschirr abgeräumt, und Gunnarsson bot Zigaretten an. Magnus hatte von einer Zigarette ungefähr denselben Genuß wie ein Elefant von einer Kirsche, trotzdem nahm er eine und rauchte ernsthaft, während er sich mit Gunnarsson unterhielt; Schwalla saß mit einer Strickarbeit daneben. Sie brauchte keine Lampe; helles, starkes Tageslicht strömte durch das Fenster ins Zimmer, obgleich es schon fast zehn Uhr war. Von draußen hörte man das Tosen der Floka und von Zeit zu Zeit den melancholischen Schrei eines Brachvogels. Das Mädchen hörte auf das Gespräch der Männer, wie sie auf die Stimme des Flusses hörte. Sie dachte an Ericsson.
Erstens war er anders als alle Männer, die sie bisher gekannt hatte. Ericsson mußte überall als eine Persönlichkeit auffallen; selbst in Kopenhagen hatte sie keinen Mann gesehen, der ihm gleichgekommen wäre. Außerdem aber unterschied ihn auch die Art und Weise, wie er sie angesehen hatte, von anderen Männern.
Sie war es nicht gewohnt, angesehen zu werden, als sei sie ein Stock – und noch dazu ein uninteressanter Stock! Wäre Ericsson ein Mann gewesen wie alle anderen, so würde seine Gleichgültigkeit sie nicht weiter berührt haben; aber von ihm behandelt zu werden, als sei sie überhaupt nicht vorhanden, erweckte ein Gefühl in ihr, das sie bisher nicht gekannt hatte – ein Gefühl der Auflehnung. Bis zu diesem Augenblick hatte sie in dem Paradies des jungen Mädchens gelebt; alles, was sich auf das andere Geschlecht bezog, waren Worte gewesen und nichts als Worte – Heirat, Liebe, Flirt und so weiter: sie hatte all diese Worte gebraucht und sich eingebildet, ihre Bedeutung zu kennen, ohne in Wirklichkeit das Geringste von der ganzen Sache zu verstehen. Mit anderen Worten, ihr Geist war noch ganz jungfräulich.
Wäre Schwalla irgendeines unreinen Gedankens fähig gewesen, so hätte sie niemals Gudmundsson als Gatten gewählt. Sie hatte seine Werbung angenommen, weil er ihr genau dasselbe bedeutete wie jeder andere Mann. Für einen fröhlichen Ausflug würde sie einen der jungen Leute, die sie in Kopenhagen kennengelernt hatte, vorgezogen haben. Aber als Gatte war Gudmundsson ebensogut; besser sogar, denn sie hatte große Achtung vor seiner Klugheit und Weltkenntnis. Außerdem brauchte sie den Breidifjord nicht zu verlassen, und ihr Vater wünschte, daß sie ihn heiraten sollte. Dieser Wunsch war für sie so gut wie ein Befehl.
Schwalla war wie ein Schwan, der in einer Kolonie von Möwen ausgebrütet wurde – der seinen Nestgefährten vollkommen wesensfremd ist, aber selbst nichts davon weiß, bis ein anderer wilder Schwan sich auf seinem Felsen niederläßt; ein Schwan, der durch die ganze Welt geschweift ist, von Sturm und Schicksal hierhin und dorthin verschlagen; ein wilder männlicher Schwan, den sie dunkel als ihres Blutes und ihrer Rasse ahnt, aber der sie nicht erkennt, und der auf sie schaut mit demselben Blick wie auf die Möwen.
Während sie so saß und strickte, schweiften ihre Gedanken weit fort vom Breidifjord. Ja, das waren wohl seltsame Länder und Meere, von denen Magnus erzählt hatte; die Namen allein klangen wie ein Märchen. Sie rief sich alle Bilder von Japan und seinen Bewohnern, die sie in illustrierten Zeitungen gesehen hatte, ins Gedächtnis zurück und versuchte, sich das Mädchen vorzustellen, in das sich der große Ericsson verliebt hatte. Und zum erstenmal fühlte sie sich von der Vorstellung einer Liebe zwischen einem Mann und einem Mädchen abgestoßen, weil dieser Gedanke ihr heute in vollkommen neuer Gestalt vor Augen geführt wurde. Es war, als sei ein stumpfer Mensch, mit dem sie bisher stets zusammengelebt hätte, plötzlich geistig rege und klug geworden und befrage sie über Dinge, von denen sie nicht die leiseste Ahnung hatte. »Was ist Ehe? Was ist Liebe? Was ist der Mann? Was ist das Weib?«
Sie sah von ihrer Arbeit auf, und ihr Auge traf den Blick ihres Vetters; sie errötete, als habe er sie bei etwas ertappt, dessen sie sich zu schämen hätte.
In diesem Augenblick klopfte es, und Gudmundsson trat ins Zimmer. Er begrüßte Gunnarsson, gab Schwalla einen ernsthaft-würdevollen Kuß auf die Stirn, nickte Magnus zu, setzte sich und nahm eine Zigarette. Wenn er am Nachmittag Magnus gegenüber den Arbeitgeber herausgekehrt hatte, so behandelte er ihn jetzt, da er ihn in Gunnarssons Haus traf, als Gleichgestellten, allerdings mit einer betonten Kälte, unter deren Einfluß Magnus sich sehr bald verabschiedete, um ins Gasthaus zurückzukehren.
Gudmundssons Gegenwart bedrückte ihn, wie stets eine starke und grobschlächtige Persönlichkeit eine schwächer und zarter veranlagte bedrückt. Seltsamerweise empfand er Gudmundsson gegenüber keine Eifersucht, er fühlte sich von ihm überwältigt wie von einem Schicksal, gegen das es keine Auflehnung gibt. Die Tatsache, daß Schwalla den Mann zu ihrem künftigen Gatten erwählt hatte, gab ihm in Magnussens Augen eine Bedeutung, die über die, die sein Geld und seine Persönlichkeit ihm verlieh, noch hinausging.
Es war jetzt bereits nach zehn Uhr, aber immer noch lag helles Tageslicht über dem Floka-Tal, und das Städtchen war so wach wie zur Mittagszeit. Im Sommer legt der Isländer wenig Gewicht auf die Tageszeit … das Gasthaus war noch offen und würde vor Mitternacht auch nicht schließen. Ericsson war noch nicht nach Hause gekommen.
*
Als Magnus sich auf den Weg zu seinen Verwandten begeben hatte, ließ Ericsson sich etwas zu essen geben, dann ging auch er fort, um sich auf eigene Faust die Gegend anzusehen.
Er besaß eine Fähigkeit, der er seine gehobene Stellung auf dem »Präsident Girling« verdankt hatte, und die ihn, wäre er im Kabeldienst geblieben, sicher noch weitergebracht haben würde; die Fähigkeit, geradlinig zu denken, klar zu erfassen und rasch zu handeln. Magnus sah alle Dinge verschleiert durch die Ausstrahlung, die von ihm selbst ausging. Ericsson – wenn er nicht gerade unter dem Einfluß eines Mädchens stand – sah die Dinge ziemlich so, wie sie waren. Ericsson sah in Gudmundsson einen fetten, alten Schurken, aber darüber hinaus sah er noch etwas anderes in ihm – den Feind von jeher. Es war das Zusammentreffen des Hund-Menschen mit dem Fuchs-Menschen.
Und jetzt war Ericsson ausgegangen, um das feindliche Land zu erkunden. Er kam zu der steinernen Helling, die ins Meer lief. Sie war breit und gut angelegt, und selbst jetzt zur Ebbezeit lag sie teilweise unter Wasser. Ein Motorboot ließ sich hier bei hohem wie bei niedrigem Wasserstand vertäuen.
Alle von den Skarsstöder Booten gefangenen Fische wurden hier an Land gebracht, und bei schönem Wetter ankerten die Boote in drei Faden tiefem Wasser ein paar Kabellängen von der Helling entfernt, anstatt in dem kleinen Hafen südlich hinter den Klippen Schutz zu suchen.
Augenblicklich lagen vier oder fünf Boote vor Anker, kurze, breit gebaute Fahrzeuge, die jedem Sturm und jeder See Trotz bieten konnten; wie schlafende Möwen schaukelten sie auf den unter einer sanften Dünung leise sich hebenden, senkenden Wassern des Breidifjords.
Ein paar Kinder fischten nach den kleinen Fischchen, die sich in dem seichten Wasser tummelten, und ein Mann saß rauchend daneben und sah ihnen zu.
Ericsson begrüßte den Mann mit einem freundlichen »Guten Tag«, dann setzte er sich neben ihn, um ebenfalls die Kinder zu beobachten. Nach einer Weile kamen sie ins Gespräch, und Ericsson erfuhr, daß sein Nachbar auf den Namen Sursson hörte.
Sursson war über fünfzig Jahre alt; sein Bart war grau gesprenkelt und seine Haut braun gegerbt wie Leder. Er trug sich schwer, wie ein Mann, den sorgenvolle Gedanken zu Boden drücken, aber seine Augen waren blau und leuchtend und fast kindlich im Ausdruck.
Sein Haus lag neben dem, das Ericsson am Nachmittag gemietet hatte, und als er von der neuen Nachbarschaft hörte, zeigte er sich sehr überrascht.
»Willst du denn für immer in Skarsstöd bleiben?« erkundigte er sich.
»Ja, sonst hätte ich das Haus nicht gemietet.«
»Und dein Kamerad ist Jonas Magnus. Ich hörte schon, daß er heute zurückgekommen ist. Und was wollt ihr eigentlich hier?«
»Fischfang betreiben.«
Sursson lachte. – Es war kein fröhliches Lachen.
»Dann werdet ihr also für Gudmundsson arbeiten?«
»Ja«, sagte Ericsson. »Was für ein Mensch ist er eigentlich?«
Sursson schwieg einen Augenblick und sah zu den Kindern hinüber.
»Tja«, sagte er dann, »als Freund von Magnus, und da du hier wohnen willst, bist du ja schließlich kein Fremder, und ich kann offen mit dir reden. Du bist an die unrechte Stelle geraten.«
»Warum?«
»Es tut nicht gut, für Gudmundsson zu arbeiten, aber er ist der einzige, von dem ihr Arbeit bei der Hochseefischerei bekommen könnt. Ich weiß Bescheid, denn ich arbeite selbst für ihn. Siehst du das Boot dort draußen bei der Boje, wo die Sandbank anfängt? Das ist mein Boot – die ›Helga‹.«
Er lachte, während er ›mein Boot‹ sagte, und Ericsson erriet die Bedeutung dieses Lachens.
»Er hat mir vor drei Jahren das Geld geliehen, um sie zu kaufen. Ich sollte es ihm von meinem Verdienst zurückzahlen, und er sollte das Recht haben, meine Fische zu dem Preis zu kaufen, den er selbst bestimmte, und mir das Petroleum zu verkaufen, das ich brauche – so stand es in unserem Vertrag. Ich dachte damals, mein Glück sei gemacht, und daß ich, wenn alles nur einigermaßen gut ginge, ihn in drei Jahren ausbezahlt haben würde. Ich habe einen Sohn, der mit mir zusammenarbeitet, und ich habe eine Frau, die meinen Haushalt führt, und wir sind alle drei sparsame Menschen. Das Boot hat viertausend Kronen gekostet, und in drei Jahren habe ich Gudmundsson nur tausend Kronen abzahlen können, und dabei haben wir uns das Brot vom Munde abgespart.«
»Nur tausend Kronen in drei Jahren – das ist Pech!«
»Das ist Gudmundsson! Zunächst einmal zahlte er mir für meine Fische nur die Hälfte von dem, was er eigentlich hätte zahlen müssen, und dann setzte er den Preis für das Petroleum herauf – nicht auf einmal, immer so nach und nach. Glücklicherweise gehört wenigstens mein Haus mir, so daß er mir nicht auch die Miete heraufsetzen kann.«
Ericsson stieß einen leisen Pfiff aus.
»Und wenn ich ihn in fünf Jahren nicht ausbezahlt habe, so gehört das Boot ihm«, schloß der unglückliche Sursson mit kurzem Auflachen.
»Warum überläßt du ihm dann nicht einfach das Boot und gehst woanders hin?«
»Wenn ich das täte, müßte ich ihm doch den Rest von den viertausend Kronen bezahlen, und wenn ich das nicht kann, nimmt er mir mein Haus und mein bißchen Land weg.«
»Verfluchter Hund!« sagte Ericsson.
Ericssons sympathische Eigenschaft war sein Haß gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit in jeder Form. So schlecht er sich Frauen gegenüber zuweilen benahm, in allen Fragen, die nichts mit Liebesdingen zu tun hatten, stand er stets auf Seiten der Unterdrückten. Deshalb beschimpfte er jetzt Gudmundsson mit solcher Aufrichtigkeit, daß er sich Sursson sofort zum Freunde machte.
»Hör mal«, sagte Ericsson, dem plötzlich eine Idee gekommen war. »Du schuldest Gudmundsson dreitausend Kronen. Wenn du ihm das Geld bezahlst, gehört dann das Boot dir?«
»Ja, dann gehört es mir.«
»Ist es gut imstande?«
»So gut wie neu; es ist noch niemals auf eine Klippe oder Sandbank aufgelaufen. Es hält gut und gern noch seine fünfzehn Jahre.«
»Auch so gut wie neu.«
»Wem gehört die Einrichtung?«
»Sämtliche Fischereigerätschaften habe ich stellen müssen.«
Einen Augenblick saß Ericsson da, ohne zu sprechen, und pfiff nur leise vor sich hin. Dann wandte er sich wieder an Sursson.
»Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir dein Boot abkaufte, dir tausend Kronen in bar gäbe und Gudmundsson den Rest von dreitausend Kronen auszahlen würde; das heißt, ich würde natürlich dir die dreitausend Kronen geben, damit du sie Gudmundsson zahlst – denn mir würde er das Boot sicher nicht geben –, was meinst du dazu?«
»Mir sollte es schon recht sein«, sagte Sursson.
»Du mußt bedenken, daß ich damit viertausend Kronen für ein Boot zahlen würde, das nicht neu ist«, sagte Ericsson. »Immerhin, wenn Rumpf und Motor gut imstande sind, will ich dich nicht im Preis drücken. Es ist mir sogar sehr recht, wenn du bei dem Geschäft ein bißchen profitierst. Wenn ich mich hier niederlasse und selbst einen Fischereibetrieb aufmache, bedeutet es Kampf mit Gudmundsson – und dabei möchte ich dich auf meiner Seite haben.«
»Ist es dir auch wirklich ernst mit dem, was du sagst?«
»Es ist mir immer ernst mit dem, was ich sage. Natürlich wird Gudmundsson, wenn er erfährt, daß ich dein Boot gekauft habe, wütend sein und dir keine Arbeit mehr geben.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Sursson, von diesem Gedanken etwas betroffen.
»Aber ich kann dir Arbeit geben. Ich bin hergekommen, um Gudmundsson zu bekämpfen. Das Geld habe ich, was ich brauche, sind Leute. Du bekommst zunächst einmal deine tausend Kronen zurück, und diese tausend Kronen wirst du auf der Landesbank deponieren. Dann werde ich dir und deinem Sohn für die Fangzeit den üblichen Fischerlohn geben, und ihr werdet stramm arbeiten; ich werde dir auch sagen, weshalb. Ich habe mir während unseres Gesprächs alles genau überlegt, und ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, um hier ein schönes Stück Geld zu verdienen. Ich werde mir im Winter mit dem Verdienst aus dem heurigen Fischfang und von meinem eigenen Geld selbst ein Motorboot bauen, und dann fangen wir im nächsten Jahr mit zwei Booten an, und ich beteilige dich und deinen Sohn am Verdienst. Und das ist der Grund, weshalb ihr diesen Sommer stramm arbeiten müßt.«
»Du willst selbst ein Boot bauen!«
»Warum denn nicht? Die einzelnen Teile kann ich fertig aus Kopenhagen beziehen; wir haben also nur die Beplankung zu machen und alles zusammenzusetzen. Natürlich wirst du mir dabei helfen, denn ich habe dir ja schon gesagt, daß ich dich beteiligen werde.«
»Gott im Himmel!« sagte Sursson. »Was bist du für ein Mensch!«
»Ich bin ein Hochseekabelarbeiter, und bei der Kabelindustrie muß der Mensch eben alles können. Ich habe ein Kapital von dreizehntausend Kronen hinter mir, denn ich mache die Sache mit meinem Kameraden zusammen, und ich werde diesen fetten Räuber, den Gudmundsson, schon kleinkriegen und seine Herrschaft über Skarsstöd brechen. Ich hatte eigentlich morgen mit der ›Thordur‹ nach Reykjavik fahren wollen, um ein Boot zu kaufen, aber diese Absicht habe ich jetzt geändert – das heißt, wenn du einverstanden bist und falls dein Boot mir paßt.«
»Wann würdest du mir die tausend Kronen auszahlen?«
»Morgen früh. Ich habe fünftausend Kronen in Noten der Landesbank in der Tasche, und morgen früh gebe ich dir viertausend davon für dein Boot. Dann kannst du zu Gudmundsson gehen und ihm seine dreitausend geben, und wir fangen gleich morgen mit dem Fischfang an. Ich habe mir sagen lassen, daß der Heilbuttfang hier gut sein soll.«
»Ja, hinter den Fulmarklippen gibt es guten Heilbutt, und der Dorschfang verspricht so gut zu werden, wie seit Jahren nicht. Ich bin dein Mann – ich bin dein Mann. Aber Gudmundsson wird schön wütend sein, wenn er davon erfährt – und es ist nicht gut, mit ihm Kirschen essen.«
»Mit mir noch schlechter«, sagte Ericsson. »Es wird einen harten Kampf geben, du aber hast weiter nichts zu tun, als daneben zu stehen und zuzusehen – mit deinen tausend Kronen in der Tasche. Ich möchte bloß wissen, wo ihr Leute euren Mut gelassen habt, daß ihr euch nicht schon längst gegen ihn zusammengetan habt.«
»Wenn der Mensch arm ist, so liegt sein ganzer Mut in seiner Tasche, anstatt in seinem Herzen. Der Fluch des armen Mannes ist eben seine Armut, wie Pastor Olsen einmal in der Kirche gesagt hat.«
»Na, du bist ja jetzt nicht mehr arm! Komm, hilf mir mal das Boot drüben von der Helling runterschieben, dann können wir gleich zu deiner ›Helga‹ rüberrudern und sie uns ansehen.«
Mit vereinten Kräften schoben sie ein leichtes Ruderboot, das oberhalb der Hochflutmarke auf der Helling lag, ins Wasser und ruderten zur »Helga« hinüber. Ericsson ging an Bord und unterzog sie vom Vordersteven bis zur Schraube einer genauen Begutachtung. Er untersuchte den Motor, einen Teil nach dem anderen, wie ein Juwelier ein Schmuckstück untersucht. Dann erklärte er sich befriedigt, obgleich die immerhin beträchtlichen Spuren der Abnutzung ihn zu einer Drückung des Preises durchaus berechtigt hätten. Er wies Sursson sämtliche Defekte genau nach und stieg um hundert Prozent in der Achtung des Mannes, einmal wegen seiner Sachkenntnis und zweitens, weil er trotz dieser Schäden nicht versuchte, den Preis zu drücken.
»Und jetzt«, sagte Ericsson nach beendeter Untersuchung, während er sich an einem Baumwollfetzen die Hände abwischte, »sage mir, ob du mit dem Handel einverstanden bist? Dann schlag' ein.«
»Und ob ich einverstanden bin! Gudmundsson kann mir gestohlen werden.«
Sie schüttelten sich die Hände, und das Boot schwankte leise, wie zustimmend.
Sursson lehnte Ericssons Einladung, im Gasthaus noch ein Glas mit ihm zu trinken, ab. Er war früher ein starker Trinker gewesen, rührte aber seit Jahren keinen Alkohol mehr an. Außerdem lag ihm daran, möglichst schnell nach Hause zu kommen, um seiner Frau und seinem Sohn die Neuigkeit zu erzählen.
Magnus saß im Wohnzimmer des Gasthauses, das gleichzeitig als Speisesaal diente, und sog an einer kalten Pfeife. Als er von dem Handel hörte, den Ericsson abgeschlossen hatte, fing er an, Einwendungen zu machen. Jeder von uns ist dem Typ, den Magnus verkörpert, schon begegnet: dem Menschen, der jede Handlung der anderen kritisiert, selbst nichts tut, aber immer ganz genau weiß, was man hätte tun sollen.
»Das Kurze und Lange von der Geschichte ist also, daß du für ein altes Boot den vollen Preis bezahlt hast.«
»Der Anstrich muß aufgefrischt werden; sonst ist es so gut wie neu. Natürlich ist der Motor ein bißchen abgenutzt, aber eine gut eingefahrene alte Maschine ist mir lieber als eine neue, die sich womöglich als bockig erweist. Du weißt doch aus Erfahrung, wie das mit Maschinen so ist – ob es die Schiffsmaschine ist oder der Kurbelkran oder die Kaffeemaschine – jede hat ihre Launen, und du weißt nie, ob du es mit einem Biest oder einem vernünftigen Wesen zu tun hast, bevor du sie nicht mindestens einen Monat kennst. Ich habe Surssons Wort dafür, daß der Motor glatt läuft und kein Petroleumfresser ist, und überdies war er so begeistert über unsere Abmachung, daß er mir die ganzen Fischereigeräte als Dreingabe gegeben hat.«
»Du bist so entsetzlich unbeständig in deinen Plänen«, brummelte Magnus. »Heute nachmittag warst du noch Feuer und Flamme dafür, ein neues Boot zu kaufen.«
»Ja – und wozu sind Pläne gut, wenn man sie nicht ändern kann? Ich habe etwas gekauft, das besser ist als ein neues Boot. Ich habe uns Freunde gekauft und Helfer. Ich habe uns Zuneigung gekauft. Ich habe zwei der besten Fischer von Skarsstöd gekauft. Ich habe gekauft, was uns Erfolg bringen wird. – Und wie ist es dir ergangen? Hast du deine Kusine gesehen?«
Anstatt zu antworten, stand Magnus auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, als wäre es ein Schiffsdeck. Dann stopfte er seine Pfeife.
»Es ist alles aus und vorbei.«
»Sie mag dich nicht?«
»O ja, aber aus der Art, wie sie mich ansieht, erkenne ich, daß sie kein Herz und keinen Blick für mich hat.«
»Die Frage ist, ob sie dich überhaupt jemals lieb gehabt hat«, meinte Ericsson.
»Mich lieb gehabt hat! Sie würde mich schon lieb haben, wenn ich nicht fortgegangen wäre.«
»Bekenne mal«, sagte Ericsson lachend, »hast du sie überhaupt schon einmal geküßt?«
»Nein«, sagte Magnus in entsetzlicher Verlegenheit, »aber sie …«
»Na?«
»Sie hat mich einmal geküßt.«
»Dich geküßt! Wann denn?«
»Vor fünf Jahren. Eines Tages gab sie mir plötzlich einen Kuß, und dann lief sie weg und lachte.«
»Aber damals war sie ein Kind.«
»Kind hin, Kind her, an dem Tage habe ich mir geschworen, daß ich sie heiraten würde.«
»Hast du ihr das gesagt?«
»Um Himmels willen, nein! Es ihr sagen! Dazu liebte ich sie viel zu sehr. Aber du verstehst natürlich gar nicht, was ein ernsthafter Mensch für ein Mädchen empfindet, das er wirklich und ehrlich liebt. Aber jetzt ist alles aus.«
»Willst du es nicht wenigstens versuchen?«
»Wozu denn?«
»Um sie dem dicken Gauner wegzunehmen, den sie heiraten soll. Ich sage dir ganz glatt, wenn du es nicht tust, versuche ich es selbst.«
Es war Ericsson mit diesen Worten nicht etwa Ernst. Es würde ihm einen diebischen Spaß gemacht haben, zuzusehen, wie Magnus dem dicken Gudmundsson seine Beute vor der Nase wegschnappte, und seine Worte hatten nur den Zweck, seinen Freund aufzuhetzen. Magnus nahm sie sehr gleichgültig auf.
»So etwas würdest du nie tun«, sagte er. »Du wärest nicht imstande, einen Freund zu verraten.«
Ericsson öffnete den Mund, war aber zu überrascht, um etwas zu sagen. Schließlich meinte er: »Würdest du dich denn nicht freuen, wenn ein anderer Gudmundsson aussticht, falls du es nicht selbst kannst?«
Magnus gab zunächst keine Antwort. Die Dinge lagen seltsamerweise so, daß er es ertragen hätte, Schwalla in den Armen des ältlichen und reizlosen Gudmundsson zu sehen, der Gedanke aber, ein jüngerer Mann könnte sie erobern, machte ihn verrückt. Gudmundsson war kein Mensch, sondern ein Schicksal. Es war, als sei Schwalla durch irgendeinen gräßlichen Unglücksfall, an dem sie selbst halb und halb die Schuld trug, außerstande gesetzt, Magnus zu heiraten. Er war allerdings nicht mehr in Schwalla verhebt, weil die Schwalla, die er in seiner Phantasie umworben hatte, nicht mehr existierte und die neue Schwalla ihm Furcht einflößte. Aber trotz alledem konnte er den Gedanken, daß ein anderer Mann, das heißt ein junger Mann, sich um sie bewarb, nicht ertragen.
»Es handelt sich gar nicht darum, Gudmundsson auszustechen. Er ist ihr rechtmäßig anverlobt. Sie hat ihn erwählt. Es hat gar keinen Zweck, darüber zu reden. Wann willst du mit der Arbeit anfangen?«
»Morgen.«
»Du willst das Geld morgen ausbezahlen? Nun, ich kann dich nicht daran hindern; aber du scheinst es ja furchtbar eilig zu haben.«
»Hab' ich auch.«
»Du kennst doch das Sprichwort: ›Eile mit Weile‹.«
»Dies Sprichwort ist Islands Ruin gewesen«, sagte Ericsson. »Darum gehen alle Leute hier so langsam, als wenn sie halb im Schlaf wären. Aber jetzt komm. Ich geh zu Bett, denn morgen müssen wir zeitig heraus.«
*
Gudmundssons Kontor lag im ersten Haus zur Rechten, wenn man von der Seeseite her das Städtchen betrat. Hier hatte er ein großes Zimmer mit einem Schreibtisch, einem Kontorstuhl und einem Geldschrank, genau wie jeder Kopenhagener Kaufmann. Der Boden war mit einem Teppich bedeckt, und an den Wänden hingen eine Landkarte von Island, ein paar Dampferfahrpläne, ein Kalender und mehrere Fotografien aus dem Floka-Tal. In diesem Kontor erschien am nächsten Morgen Sursson, um Gudmundsson dreitausend Kronen für die »Helga« auszuzahlen.
Der Tyrann war auf einen Schlag vorbereitet. Gunnarsson hatte ihm am Abend zuvor von Ericssons Absicht, ein Boot zu kaufen, erzählt, und ihn auch über die Tatsache unterrichtet, daß Ericsson Kapital hinter sich habe. Er hatte die Neuigkeit anscheinend gänzlich unberührt aufgenommen, trotzdem sich ihm vor Wut das Herz im Leibe umdrehte, wenn er daran dachte, wie er sich hatte überlisten lassen. Jetzt hatte er also an Stelle von zwei neuen Arbeitskräften zwei Konkurrenten bekommen – allerdings eine recht bescheidene Konkurrenz, aber immerhin eine Konkurrenz.
Er nahm die dreitausend Kronen schweigend entgegen, und erst als er Sursson die Quittung aushändigte, sagte er lachend:
»Also du stehst jetzt im Dienst dieses Neuen – dieses Ericssons?«
Sursson faltete schweigend das Papier zusammen und fuhr dann glättend mit dem Finger darüber. Ihm saß noch immer die Furcht des Armen vor dem Reichen im Nacken, die Furcht des Sklaven vor seinem Herrn.
»Na«, meinte Gudmundsson, »ich wünsche dir viel Glück. Aber mir scheint doch, du hast das falsche Teil erwählt. Ich weiß nichts von diesen Ericsson, und ich glaube, er weiß ebensowenig vom Geschäft. Und wenn man sein Geschäft nicht versteht, wie will man vorwärtskommen? Na, viel Erfolg! Und du hast ihm dein Boot für dreitausend Kronen verkauft? – Auf diese Weise hast du tausend Kronen an der Geschichte verloren.«
»Er hat mir viertausend Kronen für die ›Helga‹ gegeben«, sagte Sursson.
»Vier! Dann ist er ein Narr, und wer sich mit einem Narren zusammentut, ist selber einer! Guten Tag!«
Aber im Innern wußte er ganz gut, daß Ericsson kein Narr war, und er preßte die Lippen fest zusammen, während er sein Geld wegschloß. Der Gedanke störte ihn jedoch nur kurze Zeit. Sein Vertrauen in seine eigene Macht war unerschütterlich. Der Breidifjord war blau wie das Auge einer Frau, als die beiden Freunde und Sursson aufbrachen; Möwen hockten in weißen Schwärmen auf den Inseln, und am Horizont verschwammen Meer und Himmel in einem schwachen opalisierenden Dunst.
Der isländische Frühling trägt nichts in der Hand als ein paar wilde Blumen; aber nirgendwo ist er sonst schöner und frischer als hier.
Weit draußen hinter Flatey schimmerten die Segel einer großen grönländischen Brigg wie die Flügel einer riesigen weißen Möwe.
Sursson stand am Ruder, während Magnus den Motor bediente, und Ericsson die Taljen überholte. Ein Schwarm von Möwen folgte ihnen, überholte sie, flog über sie fort, honigfarben, als schiene das Sonnenlicht durch ihre Körper. Die hohen, schrillen Schreie der Vögel durchschnitten die Luft.
Sie fuhren am Fulmar vorüber, der halb Insel, halb Felsklippe, der einsamste Ort im blauen Meere ist.
Der Fulmar war da, ehe der Mensch auf die Weit kam, und er wird bleiben, wenn der Mensch längst vergangen ist. Einst ein Riese, haben die Regengüsse, die Fluten und Stürme einer Jahrmillion ihn zu dem beschnitten, was er heute ist – ein riesenhafter Zwerg.
Seine Basaltklippen heben sich siebzig Fuß hoch zu einer sanft gewellten, mit smaragdgrünem Gras bedeckten Kuppe. Sein Fuß ist von Höhlen durchfurcht, die nur bei tiefem Wasserstand zu sehen sind, und auf der Südseite führt eine kleine Bucht zu einem Höhleneingang, den das Meer überhaupt nie berührt.
Trotzdem es auf dem Fulmar von Vögeln wimmelt, wird er doch von Vogelstellern und Eiersuchern gemieden. Denn es heißt, daß es dort spuke, und manchmal, wenn die Flut eine bestimmte Höhe erreicht, hört man ein leises Singen und Wispern. Es ist der Gesang des Wassers in den Höhlen, aber mit ein wenig Phantasie kann man sich ohne weiteres einbilden, es sei der Gesang der Wassernixen, besonders wenn man dies sonderbare Singen im Nebel hört.
Während der großen Winterstürme kann man das Gebrüll des gegen das Meer ankämpfenden Fulmar bis nach Skarsstöd hören. Die Wellen schlagen mit ihrer vollen Breitseite gegen den Felsen, und der Felsen schlägt gegen die Wellen, bis sie zu weißem Schaum zerstieben. Von weit her sieht man den Gischt aufsteigen wie den Rauch einer Schlacht, und der Wind faßt ihn und trägt ihn nach allen Richtungen davon.
Ericsson starrte zum Fulmar hinüber. Es war ihm, als hätte er diesen Ort schon früher mal gesehen, aber es mußte wohl im Traum gewesen sein, denn er war ja zum erstenmal am Breidifjord. Eine halbe Meile hinter dem Fulmar warfen sie in vier Faden tiefem Wasser, über einer in nord-südlicher Richtung verlaufenden Sandbank Anker. Der Köder wurde an den Haken befestigt, die Angelleinen wurden ausgeworfen: der Fischzug begann.
Nach dem Lärm des Motors wirkte die Stille hier draußen, die nur zuweilen durch den Schrei einer Möwe unterbrochen wurde, um so stärker. Das Ufer schien unendlich weit, und in der klaren Luft zeichneten sich die Klippen, die achtzig Meilen entfernt lagen, scharf gegen den blauen Himmel ab.
Weit draußen nach Nordwesten zu sah man die Segel der französischen Fischerflottille aus Paimpol.
Schweigend saßen die drei Männer im Boot, rauchten ihre Pfeife und sahen, jeder in seine Gedanken versunken, auf die Angelleinen.
Ericsson beschäftigte sich im Geiste mit Skarsstöd und seinen Bewohnern.
Das Geld, das ihm so unerwarteterweise in den Schoß gefallen war, hatte alle möglichen neuen Ideen und ehrgeizigen Pläne in ihm erweckt. Man weiß nie, wie alles in einem Kopfe schläft, ehe man ihn nicht mit Gold berührt hat. Noch vor einem Monat war Ericsson mit seiner Stellung im Leben durchaus zufrieden gewesen. Kabel, Kabel und wieder Kabel war ihm als Zukunft gerade recht gewesen. Aber zehntausend Kronen hatten das alles gründlich geändert. Und Gudmundsson hatte eine fast ebenso starke Wirkung auf ihn ausgeübt wie das Geld, er hatte den Teufel in ihm geweckt.
Gudmundsson hatte ihn nicht zum Sitzen aufgefordert, hatte ihn behandelt, wie ein Arbeitgeber einen Arbeiter behandelt; Gudmundsson trug nicht nur die Kleider eines »Herrn«, sondern hatte etwas Herrisches in seiner ganzen Art. Aber es war alles gefälscht – der Mann gehörte zum Volk, er stammte aus dem Volke –, doch die Tatsache blieb bestehen, daß er auf der sozialen Stufenleiter höher stand als der Arbeiter.
Der Gedanke an Schwalla trug auch dazu bei, die Flamme zu schüren. Sie war um nichts besser als Magnus, war sozusagen im gleichen Neste ausgebrütet, aber sie kleidete sich wie eine Dame und gab sich auch als solche! Er fühlte eine kalte Wut in sich aufsteigen bei dem Gedanken, daß Schwalla auf Magnus herabzublicken wagte, nur weil Magnus auf der gleichen Stufe stand wie er selbst, und die Verachtung des Mädchens ebensosehr ihm zu gelten schien wie seinem Kameraden.
Als Ericsson so dasaß, die Angelleine in der Hand, und auf seiner Pfeife herumbiß, fuhr ihm plötzlich ein neuer Feldzugsplan durch den Kopf. Der Teufel in ihm erhob seine Stimme und sprach:
»Warum willst du nicht im Ernst das tun, wovon du gestern abend im Scherz gesprochen hast? Mach dich doch selbst an das Mädel ran. Stich Gudmundsson bei ihr aus. Versprich ihr, wenn es sein muß, sogar die Ehe. Alles, was du willst, wenn es dir nur gelingt, diesen fetten Kerl an der Stelle zu verwunden, wo der Schlag am schnellsten und sichersten trifft.«
Sein Haß gegen die Frauen beeinträchtigte diesen Gedankengang keineswegs, im Gegenteil. Aber nicht jede Idee, und sei sie noch so glänzend, wird sofort vom Kopf aufgenommen – und so legte denn auch Ericsson diesen Plan zunächst einmal beiseite, wie jemand ein Dokument in eine Schublade legt, um später einmal darauf zurückzukommen.
Magnus war inzwischen einem »Köder-Schnapper« zum Opfer gefallen und war gerade dabei, seinen Haken neu zu besticken, als es plötzlich an Ericssons Leine einen Ruck gab, als wenn ein riesiges Meeresungeheuer daran zerrte. So stark war der Zug, daß das Boot sich schief legte; die Leine lief aus, straffte sich und erbebte unter der Gewalt des Kampfes, der unter Wasser stattfand.
»Ich hab' ihn«, sagte Ericsson.
Fuß um Fuß, Faden um Faden zogen sie die Leine ein, bis ein Heilbutt wie ein großes Bootssegel in dem grünen Wasser erschien. Sursson erteilte Anweisungen; er wußte, was kommen würde, und richtig, kaum war das Maul des Heilbutt über Wasser, als der riesige Fisch plötzlich wieder zum Leben erwachte. Er bog sich wie eine Uhrfeder und schnellte mit solcher Gewalt wieder zurück, daß sein riesenhafter Schwanz fast ein Loch in die Bootsplanken geschlagen hätte. Dann fing er an, mit Schwanz und Flossen das Meer zu peitschen, daß der weiße Gischt hoch aufspritzte. Der isländische Heilbutt entwickelt im Kampf um seine Freiheit oft eine erstaunliche Kraft und Ausdauer. Aber alles Ziehen und Zerren nützte ihm nichts – mit Hilfe von Angelleine und Hand zogen sie ihn an Bord, wo er noch eine halbe Stunde lang wild um sich schlug. Während dieser Zeit bekam er Gesellschaft von zwei anderen Fischen, einem Seehasen und einem siebzigpfündigen Heilbutt.
»Solches Glück beim Heilbuttfang habe ich seit Jahren nicht gehabt«, erklärte Sursson.
Aber das Berufen brachte Pech! Zwei Stunden vergingen, ohne daß ein einziger Fisch angebissen hätte, und dann brachte Magnus glücklich einen Kabeljau herauf.
Sursson untersuchte den Fisch und warf ihn, ohne ein Wort zu sprechen, zu den anderen in den Wasserbehälter. Das Auftauchen des Kabeljaus stimmte ihn nachdenklich, und eine halbe Stunde lang, während sie noch zwei weitere Kabeljaue fingen, saß er da, ohne zu reden. Dann plötzlich erklärte er, ohne seinen Kameraden einen Grund anzugeben, daß man einen Platzwechsel vornehmen müsse. Der Anker wurde eingeholt und der Motor angelassen.
Sie fuhren in Richtung auf die französische Fischerflottille zu, die jetzt mit festgemachten Segeln nordwestlich vor ihnen lag, ein Stück weiter ins Meer hinaus. Wie schwarze Flecken lagen die kleinen Boote auf dem schimmernden Wasser.
Magnus rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, und auch Ericsson fühlte sich, trotzdem er nicht wußte, was los war, von einer unbestimmten Erregung begriffen.
Plötzlich brach Sursson das Schweigen:
»Der Kabeljau kommt die Küste herunter. Die Franzosen füllen ein, was sie können! Seht nur einmal die Möwen!«
Unmengen von Möwen umschwärmten die Boote, und immer mehr kamen vom Lande aus herbeigeflogen, in der sicheren Hoffnung auf Abfall. Und hätte man unter Wasser sehen können, würde man die Haifische erblickt haben, die dem Platz des Stelldicheins zuströmten. Die Neuigkeit hatte sich durch die Tiefen des Meeres ebenso schnell verbreitet wie durch die Gefilde der Luft: »Die französische Fischerflottille hat einen guten Fang getan – Gräten, Köpfe, Abfall und Schwänze die Hülle und Fülle! Beeilt euch!«
Sie waren nur noch eine Meile von den französischen Booten entfernt, als Sursson den Befehl gab, den Motor zu stoppen. Dann warfen sie in fünfzehn Faden tiefem Wasser Anker, und die Leinen mit den bestickten Haken wurden ausgeworfen.
Während Ericsson seine Angel auswarf, bückte er ins Wasser hinunter. Und den Anblick, der sich ihm bot, würde er sein Lebtag nicht vergessen.
Er sah den Kabeljau.
In gerader Linie kam der Schwärm von der französischen Flottille hergezogen; Tausende und aber Tausende waren an den Angeln der Franzosen hängengeblieben, aber hätten sie auch sämtliche Fischerflottillen der ganzen Welt passiert, ihre Anzahl würde sich nicht merkbar verändert haben. Zu Millionen kamen sie daher, wie ein grüngrauer, unterseeischer Wind, der der Flut entgegenweht; ein Damm von fünfzig Meilen Länge, fünf Meilen breit und zehn Faden tief; ein Schwarm von Hunderten von Millionen, der sich bewegte wie ein einziger Fisch – der ganze Schwarm auf der Suche nach Nahrung, mit gefräßigen Mäulern und starrenden Augen.
Sie würden auch auf einen leeren Haken angebissen haben. Sie sprangen und hüpften an der Angel, während sie ins Boot geholt wurden. Die Fischer hatten eine Riesenarbeit zu bewältigen. Das Meer breitete ihnen seine weitgeöffneten, mit Schätzen gefüllten Hände hin und forderte sie auf, zu nehmen. Und sie nahmen und nahmen: Zwölfpfünder, Dreizehnpfünder, Fünfzehnpfünder. Schließlich verwandelte die erste wilde Erregung der Arbeit sich in stumpfe Monotonie: Herausziehen des Fisches aus dem Wasser, Loslösen von der Angel, Hineinwerfen in den Wasserbehälter, Neu-Auswerfen der Angel – die Männer wurden zu Teilen einer einzigen Maschine, die sich mit derselben automatischen Gleichförmigkeit bewegte wie der riesige Schwarm im Wasser.
Möwen kreisten schreiend über ihnen in der Luft, und auch die Möwen und ihre Stimmen wurden zu einem Teil des Traumes; die auffrischende Brise trug den Männern das Gekreisch der Vögel von der französischen Fischerflottille zu, wo man jetzt dabei war, die Fische auszunehmen und aufzuschneiden.
Es war wie ein Rausch des Tötens. Und wenn einer der Männer dem anderen in den Weg kam, so beschimpfte er ihn, ohne es selbst zu wissen, und ohne daß der andere darauf geachtet oder irgend etwas erwidert hätte.
Dann als sie nicht länger töten konnten, warfen sie sich auf den Boden, der eine hier, der andere da, triefend von Schweiß und Seewasser, die Handrücken steif von geronnenem Blut.
Der Wasserbehälter war voll. Das Boot lag unter dem Gewicht des Fanges tief im Wasser, und das Gefühl des Erfolges brachte die Männer schneller auf die Beine, als Alkohol es vermocht hätte.
»Das war ein glücklicher erster Tag,« sagte Ericsson.
»Wir haben gerade noch das Schwanzende des Schwarmes erwischt«, meinte Sursson. »Seht einmal!«
Er zeigte auf das Wasser. Nicht ein Fisch war mehr zu sehen. Allerdings war der Schwarm nicht, wie Sursson glaubte, vorübergezogen, sondern er hatte sich nur gedreht. Irgendein Hindernis, das sich ihm entgegenstellte, ein Streifen gefärbten Wassers vielleicht oder irgendein geheimnisvoller Vorgang hatte den Admiral dieser unterseeischen Flotte veranlaßt, sein Steuerruder umzulegen.
Magnus kroch nach vorn und besah sich die Beute.
»Und nicht ein einziges von den Skarsstöder Booten draußen!« sagte er.
»Nein«, bestätigte Sursson. »Gudmundsson hatte heute Arbeit an Land für die Leute; sie sagten, vor Abend würden sie nicht ausfahren.«
»Es ist ja bald Abend«, meinte Ericsson. »Das ist jetzt die dritte Lehre, die ich diesem fetten Räuber innerhalb von zwei Tagen erteilt habe – aber es wird bestimmt nicht die letzte sein.«
Schwatzend und lachend wuschen sie sich. Sie befanden sich in außerordentlich gehobener Stimmung; jede Spur von Müdigkeit war verflogen wie Nebel vor dem Seewind. Dann holten sie den Anker ein und ließen den Motor an.
*
Als sie sich dem Ufer näherten, sahen sie, daß der Strand von Menschen wimmelte. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise hatte sich die Nachricht von dem Kabeljau-Schwarm in Skarsstöd verbreitet, und schon waren Boote unterwegs zu den Petroleumbarkassen, die außerhalb des Landungsstegs vor Anker lagen. Männer, Frauen und Kinder drängten sich auf der Helling, und in der Menge entdeckte Magnussens scharfer Blick sofort die Gestalt seiner Kusine Schwalla.
Es war inzwischen fast völlig Ebbe geworden, aber der Landungssteg war so gut gebaut, daß sie mit dem Boot glatt anlegen konnten.
Ericsson sprang hinaus und machte das Boot fest; dann begann das Ausladen unter einem Ansturm von Fragen, die Magnus und Sursson, so gut sie konnten, beantworteten.
Ericsson hatte beschlossen, den gesamten Fang am nächsten Tage mit der »Thordur« nach Reykjavik zu schicken, und Magnus hatte dem Plan zugestimmt. Für den Kabeljau – vom Heilbutt gar nicht zu reden – würden sie einen guten Preis erzielen. Die Fische wurden also nach dem hinter der Helling gelegenen Lagerhaus der Dampfschiffahrts-Gesellschaft gebracht. Ericsson hatte sich eine Reihe von Fischer jungen zur Hilfe herangeholt und erteilte seine Befehle, ohne selbst einen Finger zu rühren.
Es war das erstemal, daß er sich in einer überlegenen Stellung befand. Er hatte Surssons Boot übernommen und ihn selbst zu seinem bezahlten Untergebenen gemacht, jetzt gab er Magnus Befehle wie ein Fabrikdirektor seinem Werkmeister, aber alles ohne die geringste Spur einer für die anderen kränkenden Überheblichkeit.
Sein Organisationstalent zeigte sich deutlich in der Art, wie er das Ausladen und Verstauen der Fische vornehmen ließ. Nach fünf Minuten ging die Arbeit ohne jede Stockung glatt vonstatten, so daß er Zeit hatte, daneben zu stehen und zuzuschauen wie ein Mann, der einen Mechanismus aufgezogen und in Gang gesetzt hat. Dann fand er sich plötzlich Schwalla gegenüber und in lebhaftem Gespräch mit ihr.
Schwalla war seit ihrer frühesten Kindheit mehr an die Gesellschaft von Männern als von Frauen gewöhnt. Sie konnte rudern und segeln und ein Motorboot regieren so gut wie jeder Fischer, und den Breidifjord kannte sie in- und auswendig. Während sie voller Erregung zusah, wie der Fang an Land gebracht wurde, stieg ihr Interesse an diesem neu aufgetauchten Menschen immer mehr, während er selbst, von seiner Arbeit in Anspruch genommen, ihre Gegenwart vollkommen vergessen hatte. Dann aber, als die Spannung nachließ und die Menge sich allmählich zerstreute, befand er sich auf einmal neben ihr und bot ihr »Guten Tag«. Es war das erste Wort, das er an sie richtete, seit Magnus sie an Deck der »Botnia« miteinander bekannt gemacht hatte.
»Ja«, sagte Ericsson auf eine Bemerkung von ihr, »es ist ein guter Fang, und für mich war es der erste Fischzug seit sieben Jahren.«
»Mein Vetter hat uns erzählt, daß Sie in Skarsstöd bleiben und sich auf die Fischerei verlegen wollen«, sagte Schwalla. »Das kann für Skarsstöd nur gut sein, denn –« sie brach ab, lachte und fuhr dann fort: »Nun ja, warum soll ich es Ihnen nicht sagen – die Leute hier sind entsetzlich langsam.«
Ericsson sah sie von der Seite an und lachte ebenfalls. Dabei hatte er die ganze Zeit ein wachsames Auge auf die Leute, die die Fische nach dem Lagerhaus trugen, und ohne unhöflich zu erscheinen, unterhielt er sich mit dem Mädchen ungefähr so wie ein Betriebsaufseher, während er mitten bei der Arbeit ist.
»Na«, meinte er, »Sie sind jedenfalls der erste Mensch in Island, den ich so etwas über die Isländer habe sagen hören. Ja, sie sind langsam, aber wenn man sie erst einmal in Gang gebracht hat, dann arbeiten sie sehr ordentlich.« Er brach ab, um ein paar Anordnungen zu geben, und Schwalla sah ihn aufmerksam an.
Das Anziehendste an Ericsson – vom weiblichen Standpunkt aus gesehen – war vielleicht seine kraftvolle Jugendlichkeit; weniger die Jugendlichkeit an Jahren als diejenige, die aus einer starken Lebenskraft entspringt. Auch mit 70 Jahren und weißem Haar würde er noch jung sein, mit genau dem gleichen sorglosen Gesichtsausdruck, dem gleichen scharfen, blauen Blick, den gleichen schnellen und entschlossenen Bewegungen und der gleichen freien und unbekümmerten Haltung des Kopfes.
Ein wahres Kind des Meeres.
Schwalla hatte, nachdem sie mit ihm gesprochen, ihre ganze Voreingenommenheit vergessen. Obgleich er durch seine Stimme, seine Art zu sprechen und seine ganze Persönlichkeit einen starken Reiz auf sie ausübte, so war es doch nicht die Anziehungskraft, die ein Mann auf eine Frau ausübt, sondern er wirkte eher wie ein Erwachsener auf ein Kind.
Und Ericsson, der sich noch im Boot überlegt hatte, daß er Gudmundsson an seiner empfindlichsten Stelle treffen könnte, indem er ihm Schwalla abspenstig machte, vergaß jeden derartigen Gedanken, denn Schwalla erschien ihm gar nicht mehr wie ein Weib. Der Tonfall ihrer Stimme, ihre offene, kindliche Art zu sprechen und die Natürlichkeit ihres Wesens trugen zu dieser Wirkung bei.
Wäre er ihr begegnet, ehe jener furchtbare Frauenhaß in ihm erwacht war, die Wirkung wäre die gleiche gewesen. Denn Schwalla gehörte zu jenen Frauen, die – mögen sie auch so schön sein wie der Morgenstern – nicht das Tier im Mann wecken, einfach weil ihre durch nichts zu trübende Unschuld jeden derartigen Gedanken im Keim ersticken würde.
Will man eine solche Frau lieben, so muß man sie zunächst lieben wie ein Kind; erst dann kann man sie als Frau gewinnen – und eine solche Liebe kann niemals sterben.
»Ja«, sagte Schwalla, »da haben Sie recht; wenn man sie erst einmal in Gang gebracht hat, arbeiten sie ganz flink. Aber bis man sie soweit hat … Sehen Sie nur jetzt fahren sie zum Fischfang aus, nachdem sie den ganzen Tag versäumt haben!«
Ericsson warf einen Blick auf die Boote. Aber er sprach seinen Gedanken nicht aus – daß es Gudmundssons Schuld war.
Magnus war im Fischerhaus, um das Einlagern zu überwachen; darum hatte er keine Ahnung von der Freundschaft, die auf dem alten Landungssteg von Skarsstöd so plötzlich aufgeblüht war wie eine junge, duftende Blume.
*
»So!« sagte Ericsson, als der letzte Fisch von einem keuchenden und stolpernden Jungen im Triumph davongetragen wurde; »das wäre erledigt. Und jetzt muß ich einmal hinübergehen und mir den Hafen ansehen. Denken Sie nur, ich habe ein Boot gekauft, ohne mir auch nur den Hafen anzusehen, in dem ich es bei rauhem Wetter vor Anker legen muß; und Sie wissen ja, es gibt Häfen, die keine Häfen, sondern Fallen sind, die ein Boot fangen und ihm das Genick brechen.«
»Unser Hafen ist keine Falle!« begehrte Schwalla in stolzer Verteidigung ihrer Heimat auf. »Es ist der beste Hafen am ganzen Fjord. Ich werde ihn Ihnen zeigen, wenn Sie wollen. Wo ist mein Vetter Magnus? Vielleicht hat er Lust, mitzukommen?«
»Er ist im Fischhaus«, erwiderte Ericsson. »Hallo, Magnus!«
Als keine Antwort erfolgte, sprang Ericsson, zu ungeduldig, um länger zu warten, von dem Landungssteg auf den Strand hinunter.
»Er wird schon erfahren, wohin wir gegangen sind, und kann uns nachkommen«, sagte er, während er Schwalla die Hand reichte. Sie ergriff sie und sprang ebenfalls hinunter.
Dann gingen sie am Strand entlang zum Fuß der Klippen. Das Ufer war mit schwärzlichen, groben Kieselsteinen bedeckt.
Dicht um den Fuß der Klippen herum führte der Weg zum Hafen. Man konnte ihn eigentlich kaum als Weg bezeichnen: riesige Basaltblöcke, die von den Klippen heruntergefallen waren, versperrten ihn stellenweise vollständig; bei hoher Flut war er überhaupt unpassierbar, denn die Wellen schlugen dann bis hoch an die Klippen herauf. Schwalla ging voraus, um den Weg zu weisen, um Felsblöcke herum und über sie hinweg; und jede Bewegung ihres schlanken Körpers zeigte jene leichte und sichere Anmut, wie sie dem Flug der Schwalbe eigen ist. Auch Magnus hatte am Abend zuvor die Beobachtung gemacht, daß sie alles, selbst das gewöhnlichste Stück Geschirr mit einer Zartheit berührte, als sei es von feinstem Porzellan, und dabei doch mit einer Sicherheit und Entschiedenheit des Griffes, wie sie nur in Kraft und Stärke ihren Ursprung hat.
Sie bogen um die Klippen und kamen zum Eingang des Hafens. Dieser Hafen war im Grunde nichts als ein etwa hundert Meter breiter Einschnitt in den Klippen, in den ein winziger Fjord mündete, zu dessen beiden Seiten die Basaltfelsen fünfhundert Fuß hoch emporragten. Ein Felsvorsprung führte vom Ufer aus etwa zehn Fuß weit ins Wasser und bildete so einen natürlichen Kai für diesen seltsamen, von der Natur selbst gebildeten Hafen. Auf den gegenüberliegenden Klippen waren deutlich die Flutmarken zu sehen. Nur ein einziges Fischerboot lag vor Anker, eine kleine Jolle, die sich in der silberblanken Oberfläche des Wassers spiegelte.
»Rufen Sie einmal!« sagte Schwalla.
Ericsson rief »Hallo!« Die Klippen warfen wohl hundert Echos zurück, und überall längs der Felsenriffe schrien die Möwen und schlugen die Luft mit den Flügeln.
»Früher ging ich immer hierher, um Vogelnester auszunehmen«, sagte Schwalla. »Man kann die ganze Klippenreihe entlanggehen, wenn man sich mit dem Rücken zum Felsen hält und langsam geht; aber es soll doch gefährlich sein.«
»Das glaube ich wohl! Und Sie sind wirklich allein auf den Klippen herumgeklettert?«
»Freilich. Auf den Fulmar zu klettern ist viel schwieriger.«
»Auf dem Fulmar sind Sie auch gewesen?«
»Ja, und auf dem Flatey und dem Burgomaster-Felsen – das war der schwerste. Aber Vogeleier habe ich nur gesammelt, solange ich klein war und es nicht besser verstand. Es ist schlecht, den Vögeln die Eier wegzunehmen.«
Ericsson lachte.
»Sehen Sie, das habe ich auch manchmal gedacht. Ich habe unsere Leute auf den Nestern der Seemöwen herumtrampeln sehen, daß die Eier unter ihren Füßen zerspritzten, und die Möwen kreischend um sie herumflogen. Solche Menschen töten einfach um des Tötens willen. Was hat übrigens das Boot dort drüben für einen fabelhaft vollen Bug! Ein französisches Boot, was?«
»Ja«, sagte Schwalla. »Unsere Segelboote sind draußen – wir haben nur zwei. Bevor die Motorboote aufkamen, hatten wir fünf.«
»Hier ist es nett«, sagte Ericsson, während er sich auf einen Felsvorsprung setzte und seine Pfeife aus der Tasche zog. »Stört Sie der Tabakrauch?«
»In Skarsstöd raucht doch jeder«, lachte Schwalla, die sich neben ihn auf den Felsen gesetzt hatte und mit kritischen Augen zu dem Boot hinübersah. In diesem Augenblick erschien drüben eine rote Mütze in der Kabinenluke, und ein großer alter Mann polterte auf Deck.
»Das ist Yves«, sagte Schwalla. »He, Yves!« Die Stimme flog über das Wasser wie Möwenschrei, und die Echos der Klippen antworteten ›He, Yves‹!
Yves hörte den Anruf, sah das Mädchen und winkte zur Antwort grüßend mit der Hand. Dann lehnte er sich an die Reling, rauchte und sah aufs Wasser hinunter.
»Er ist heute schlechter Laune. Gestern war er nett und hat mir sein ganzes Boot gezeigt. Er ist wütend, weil sie hier stilliegen müssen. Das Boot ist gegen einen Felsen aufgelaufen oder irgend so etwas, und das Bergungsschiff aus Reykjavik mußte kommen, und ein Taucher hat das Boot nachgesehen und gesagt, es müsse in den Sommerhafen nach Reykjavik zur Reparatur. Und das Bergungsschiff hat für das Nachsehen allein zweitausend Kronen gerechnet. Armer alter Yves!«
Ericsson rauchte und beobachtete den »armen, alten Yves«. Und dabei dachte er bei sich, daß, wenn die Entfernung ihn nicht täuschte, dieser Yves der typische Vertreter des ewig mürrischen, unzufriedenen französischen Fischers sei. Er kannte die Sorte – und das Mitleid, das Schwalla augenscheinlich für ihren Freund von ihm erwartete, wollte sich nicht einstellen.
»Sie kennen den Breidifjord gut?« fragte er.
»Jedes Fleckchen. Ich kenne ihn seit meiner Geburt. Die Leute machen immer so viel her vom Faxa-Fjord – die Leute aus Reykjavik meine ich – aber was ist der Faxa-Fjord im Vergleich zum Breidifjord? Er ist breiter, ich weiß; aber er hat nicht eine einzige Insel, von der zu reden sich lohnen würde. Sehen Sie sich nur Flatey an und die Inseln hier ringsum; und sehen Sie den Fulmar und den Horseman und den Burgomaster! Und die Möwen – wo gibt es noch solche Vögel wie hier? Selbst das Wasser ist anders – blauer und klarer – und solche Fische wie hier gibt es überhaupt nirgend sonst. Ich habe selbst erst im vorigen Jahr in der Floka einen Lachs gefangen, der gut seine fünfundzwanzig Pfund wog!«
»Wie haben Sie ihn denn gefangen?«
»Mit einer Angelleine, wie die Engländer es machen. Mein Vater fischt natürlich den Fluß mit dem Netz ab, und Gudmundsson, mit dem ich verlobt bin, auch, aber mich lassen sie manchmal mit der Angel fischen. Jetzt müssen wir aber zurück; es ist spät.«
Ericsson stand auf und folgte ihr. '
»Und ich will Ihnen sagen, was es in unserer Floka gibt«, sagte Schwalla, während sie längs des Strandes zurückgingen.
»Und das wäre?«
»Einen Wassernix!«
Ericsson war so lange von Island fortgewesen, daß er den isländischen Aberglauben fast vergessen hatte. Er erinnerte sich jetzt an den Nix, ein Wesen ohne Seele, dessen Stimme man im Rieseln des Flusses über den Kieseln hört, wie es schon die alten Isländer hörten, als sie die Ströme der öden Täler durchwateten. Auch heute noch kann man den Nix hören, wenn man aufmerksam lauscht und seine Seele auf die Einsamkeit der verlassenen Hügel und den melancholischen Schrei des Brachvogels einstellt.
»Haben Sie ihn einmal gesehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Schwalla. »Manchmal habe ich mir eingebildet, dort drüben an den Lachsteichen bei den Wasserfällen, wo die Nebel steigen, eine Gestalt zu sehen; aber daß ich seine Stimme gehört habe, weiß ich sicher. Wenn man an einem ganz stillen Tage, wenn kein Wind geht, dem Wasser lauscht, hört man ein Singen wie – ich weiß nicht recht, wie was. Aber man muß sich hüten, am Ufer der Floka einzuschlafen.«
»Weshalb?«
»Weil sonst der Nix kommt und den Schläfer küßt und ihm seine Seele stiehlt.«
»Und was würde dann mit dem Menschen geschehen?«
»Dann müßte er immer bei dem Nix bleiben und ihm einen Teil seiner Seele geben. Aber das ist natürlich nur ein Märchen, und manchmal lache ich über die ganze Sache. In Kopenhagen zum Beispiel habe ich überhaupt nicht an den Nix geglaubt; aber seit ich nach Island zurückgekommen bin, glaube ich wieder an ihn.«
Strand und Landungssteg lagen menschenleer und einsam da, aber obgleich es schon Nacht wurde, lag der Fjord bis zu den fernsten Vorgebirgen und Inseln im hellen Tageslicht.
Zusammen gingen sie die Straße hinauf, bis zu Gunnarssons Haus. Hier bot Ericsson dem Mädchen »Gute Nacht«.
Dann kehrte er ins Gasthaus zurück, wo er Magnus in außerordentlich gehobener Stimmung vorfand. Magnus hatte eine Flasche Gin in das alkoholfreie Hotel eingeschmuggelt, und jetzt saß er da, rauchte und trank Gin mit Wasser, und war so glücklich, daß er ganz vergaß, Ericsson zu fragen, wo er gewesen wäre.
Ericsson Heß sich etwas zu essen geben. Er mochte keinen Gin und lehnte es ab, mit seinem Freund zu trinken. Aber er rauchte eine Pfeife und unterhielt sich mit Magnus über die Ereignisse des Tages, bis Magnus anfing, poetisch zu werden und seine teuflischen Verse zu rezitieren, die man vorwärts und rückwärts hersagen konnte. Da stand Ericsson auf und ging zu Bett. Ericsson machte sich nichts aus Poesie. Er gehörte zu den praktischen Isländern, die auf die poetischen herabsehen und sie beherrschen.
*
Sie brauchten einen Monat, um ihr Haus in Ordnung zu bringen und den Fisch-Trockenplatz zu vergrößern. Während dieser Zeit besorgten Sursson, sein Sohn und noch ein Verwandter den Fischfang und brachten große Fänge nach Hause. Die Fische wurden ausgenommen und auf Surssons Platz getrocknet, und Gudmundsson hatte den Ärger, jeden Morgen, wenn er in sein Kontor ging, den Fortschritt ihrer Arbeit beobachten zu können.
Gudmundsson hatte alles in Skarsstöd vorhandene Petroleum aufgekauft, und Ericsson hatte sich revanchiert, indem er einen großen Vorrat aus Reykjavik kommen ließ. Es hatte ein ziemliches Loch in seine zehntausend Kronen gerissen, aber das Geld war immerhin gut angelegt.
Nach Gunnarsson und Gudmundsson war er tatsächlich jetzt bereits der erste Mann in Skarsstöd. Vielleicht mochten der Krämer und der Bäcker mehr Geld auf der Bank zu liegen haben, keinesfalls aber besaßen sie das Ansehen dieses Mannes, der, aus fernen Landen kommend, plötzlich in dem kleinen Gemeinwesen aufgetaucht war, der es unternommen hatte, Gudmundsson zu bekämpfen, und der augenscheinlich bei allem, was er anfing, Glück und Erfolg hatte.
Schwalla zeigte lebhaftes Interesse für das Unternehmen und trat eines Tages sogar ins Haus, um sich die übrigens recht spärlichen Möbel anzusehen.
»Wir haben kein Geld, um es an Möbel zu verschwenden«, erklärte Magnus, »und siehst du, zwei Männer brauchen auch keine großartige Einrichtung, nur ein Bett, einen Tisch und ein paar Stühle; wir werden tüchtig zu arbeiten haben – nächsten Winter bauen wir uns ein Motorboot.«
»Hier in Skarsstöd wollt ihr euch ein Motorboot bauen?« fragte Schwalla.
»Ja, es ist Ericssons Idee; und er wird es auch fertigbringen. Er kann überhaupt alles.«
Sie glaubte ihm ohne weiteres. Sie hatte eine außerordentlich hohe Meinung von Ericsson. Sie besaß das scharfe Auge der Frau für den Mann – nicht für sein Äußeres, sondern für seine Fähigkeiten –, und sie sah den Mann in Ericsson ebenso deutlich, wie sie das Weib in Magnus sah. Wenn sie Ericsson traf, blieb sie immer stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Ihre Gefühle für ihn waren rein freundschaftlicher Natur; sie hatte dieselbe Freude an ihm wie am Breidifjord und dem schönen Wetter; und Ericssons Gefühle für Schwalla waren allmählich fast dieselben geworden.
Eines Tages arbeitete Ericsson in dem kleinen Gärtchen vor dem Haus. Es war ein winziges Fleckchen, wo nichts wuchs außer ein paar Sträuchern; aber in Island, wo es kaum einen Baum gibt, wird auch das kleinste bißchen Grün gehegt und gepflegt, und ein Stachelbeerstrauch steht in gleichem Ansehen wie anderswo eine Eiche.
Als er Schwalla, von Helgi gefolgt, die Straße herunterkommen sah, blickte er auf. Helgi war ein kleiner Blaufuchs, den ihr ein Mann von den nördlichen Fjorden im vorigen Sommer geschenkt hatte. Sie hatte ihn mit Schafsmilch – der einzigen Milch, die es in Skarsstöd gab – großgezogen, und er folgte ihr überallhin wie ein Hund.
Sie blieb stehen, um ein paar Worte mit Ericsson zu wechseln, und Helgi schnüffelte um sie herum und setzte sich von Zeit zu Zeit auf die Hinterbeine, wie ein Hund, der schön macht.
»Ihr Garten sieht schon recht hübsch aus«, sagte Schwalla. »Wo ist mein Vetter Magnus?«
»Zum Fischen«, erwiderte Ericsson. »Er und Sursson sind mit dem Boot hinausgefahren. Ich war heute morgen faul. Ich hätte eigentlich den Trockenplatz fertigmachen sollen, aber ich hatte keine Lust, mich mit den Lavablöcken herumzuschlagen und habe mich lieber ein bißchen an den Garten gemacht.«
Nachdem sie einige Worte miteinander gewechselt hatten, ging Schwalla, von ihrem kleinen Fuchs gefolgt, in der Richtung des Strandes weiter, während Ericsson sich wieder an seine Arbeit machte.
Zehn Minuten später kam sie wieder angelaufen, und Helgi sprang um sie herum und zerrte an ihren Röcken, als sie am Gartenzaun stehenblieb.
»Draußen im Meer schwimmt ein Eisberg«, rief sie – »es ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Kommen Sie mit an den Strand – aber warten Sie auf mich, bis ich Helgi nach Hause gebracht habe.«
Sie lief weiter, und Ericsson zog seinen Rock an. Ein Eisberg in Breidifjord ist etwas ungeheuer Seltenes.
Nach kurzer Zeit kam Schwalla zurück, und sie eilten zum Strand hinunter, wo mehrere Leute, darunter Gunnarsson, auf der Landungsbrücke standen.
Dort, weit draußen auf dem blauen Wasser, lag der Eisberg, leuchtend weiß, wie ein Schiff unter vollen Segeln. Er war höher als der Fulmar. Und wie eine kleine, weiße Wolke das Blau des Himmels stärker leuchten läßt, so gab dieses Schiff aus Eis dem Breidifjord eine tiefere Bläue.
Gunnarssons Segelboot, mit dem er am Morgen draußen gewesen war, lag an der Helling, und nachdem Schwalla ihre Augen lange genug an dem Eisberg geweidet hatte, zog das Boot ihren Blick auf sich.
»Ich fahre hinaus, um ihn mir in der Nähe anzusehen«, erklärte sie plötzlich. »Wer kommt mit? Vater –«
»Ich habe keine Zeit«, sagte Gunnarsson. »Ich muß nach den neuen Lachsnetzen sehn. Außerdem ist ein Eisberg doch nichts als eben ein großes Stück Eis und sieht von weitem sehr viel schöner aus.«
»Ich habe noch nie einen in der Nähe gesehen«, bestand Schwalla, »und ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen.«
»Wenn Sie wollen, fahre ich mit Ihnen«, sagte Ericsson.
»Fahrt nur nicht zu nah heran«, sagte Gunnarsson, während er ihnen das Boot losmachte. »Es sollen manchmal Bären mit dem Eis kommen; man erzählt sich sogar, es sei einmal einer von einem Eisberg aus an Land gegangen.«
»Wir werden uns schon vor den Bären in acht nehmen«, lachte Schwalla. Sie stießen ab, und Ericsson setzte den Mast, es wehte eine leichte Landbrise, die auf dem Fjord an Stärke zunahm. Schwalla steuerte und bediente die Schoten, und Ericsson, der mittschiffs saß, bemerkte, daß sie das Boot regierte, als sei sie dazu geboren.
Es gibt nichts Schöneres, als auf leichter Dünung vor dem Wind zu. segeln. Die Winde im Breidifjord wehen stoßweise und in Böen, und um vor dem Wind zu segeln, muß jemand seine Sache gut verstehn. Aber Ericsson hatte keine Veranlassung, seinem Steuermann irgendwelche Anweisungen zu geben. Kein alter Seebär hätte Schwalla etwas lehren können.
Sie kamen am Fulmar vorüber. Es war mitten in der Brutzeit, und der ganze Fulmar bot einen eigenartigen Anblick.
Der ganze Felsen war von brütenden Vögeln bedeckt. Zuunterst saßen die Lummen in ihren schwarz-weißen Röckchen und beobachteten das sich nähernde Boot. Über den Lummen wohnten die Tord-Alken, darüber die Papageien-Taucher, die in den Felsenlöchern nisten, und ganz oben die Stummelmöwen.
Während das Boot vorüberglitt, begrüßte Schwalla die Vögel mit einem hellen Ruf, der Ericsson in Erstaunen setzte, denn er klang nicht wie der Ruf eines menschlichen Wesens, sondern wie der eines Vogels, der einen anderen Vogel ruft.
Die Lummen und Tord-Alken schlugen ein bißchen mit den Flügeln, als wäre ein Wind unter ihren Federn durchgegangen, und ein oder zwei Stimmen gaben über das Wasser hinweg Antwort.
»Ich wollte sie nur wissen lassen, daß ich es bin«, sagte Schwalla. Ericsson dachte, sie spräche im Scherz.
»Heißt das, daß die Vögel sie kennen?«
»Dieselben Vögel nisten immer auf denselben Felsen«, sagte Schwalla ernsthaft, »und glauben Sie, daß sie mit ihren Augen, die meilenweit über das Meer blicken können, nicht die verschiedenen Boote erkennen, die vorüberkommen? Sie kennen jedes Boot und jeden Menschen. Und jetzt haben sie sich gesagt: das ist Gunnarssons Boot. Ob wohl Schwalla darin sitzt? Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich ihnen nie ihre Eier nehme! Darum habe ich mich zu erkennen gegeben.«
»Jedenfalls haben sie geantwortet«, gab Ericsson halb gläubig, halb ungläubig zu. Ein Kind des Meeres wie sie, glaubte auch er an viele Dinge, die man an Land verlacht, wenn auch der skeptische Einschlag in seiner Natur ihn oft spöttisch und kritisch machte.
Eine große Raubmöwe flog über sie fort, und das Mädchen am Steuer schickte neckend den Schrei der Stummelmöwe hinter ihr drein.
»Ich habe einmal gesehen, wie so eine Raubmöwe ein Stummelmöwenkücken aus dem Nest geholt hat«, sagte Schwalla. »Sie spielte mit ihm, wie unsere Katze mit der Maus. Ich war oben am Felsen und rief ihr zu, sie solle es loslassen, und sie sah zu mir herauf; und als sie sah, daß ich näherkam, da packte sie das Kücken mit dem Schnabel und flog mit ihm davon. Gemein – oh, sie sind so gemein, diese Raubmöwen – sie rauben den anderen Vögeln ihre Fische – weil sie zu faul sind, sich selbst welche zu fangen. Oh, sehen Sie nur den Eisberg!«
Ericsson drehte sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schnell sie vorwärtsgekommen waren; jetzt hatte er einen Augenblick die Empfindung, als steuerten sie geradewegs auf das Vorgebirge irgendeiner eisumgürteten Küste zu, an deren Strand die Wellen sich brachen. Schrille Möwenschreie drangen an sein Ohr. Hunderte von Möwen folgten dem Eisberg und flogen in Wirbeln um ihn herum; auf die Entfernung sahen sie wie weiße Papierschnitzel aus, die der Wind vor sich herblies. Sie jagten um den Eisberg und schienen ihn zu verhöhnen. Dieses weiße Gespenst aus dem Norden war in die Träume des Breidifjords eingebrochen und hatte wer weiß welche uralten Erinnerungen wieder zum Leben erweckt, so daß die »weißen Tölpel« aufhörten, nach Fischen zu tauchen und, die langen Gänsehälse weit vorgestreckt, den Eisberg in weitem Bogen umkreisten, als seien sie auf eine Schnur aufgezogen; und die Tord-Alken und die Austernfischer und die kleinen Alken und Meerschwalben und Stummelmöwen flatterten und flogen umher, und von Zeit zu Zeit vereinigte der ganze Vogelschwarm seine Stimmen zu einem klagenden, schrillen Schrei.
War es der Vogelinstinkt in Schwalla, der sie hierher geführt hatte, um sich dies neue Ding anzuschauen? Jedenfalls war sie hier mit den anderen Vögeln zusammengetroffen. Als sie nur noch ein paar Kabellängen von dem Eisberg entfernt waren, machte Ericsson das Segel fest und zog die Riemen ein.
Schwalla blickte wie verzaubert auf den Eisberg.
Da, wo das Eis das Wasser berührte, war es von einem fast schaumigen Weiß, von den Wellen zu runden Vorsprüngen und verwischten Formen ausgewaschen. Dann stieg es, mit Klippen und Zacken gewaltig, klar und scharf gegen das Blau der Luft sich abhebend, zum Himmel empor. Neue Brüche im Eis schimmerten wie Adern aus azurner Luft, aquamarinblaue Terrassen teilten die Abhänge, und hie und da zeigte ein tiefes Loch das nachtschwarze Herz des ungeheuren Gebildes.
Das leise klingelnde und klatschende Geräusch, mit dem die Wellen gegen das Eis schlugen, war jetzt deutlich zu hören, denn die Möwen hatten, als sie das näherkommende Boot bemerkten, ihr Geschrei eingestellt und waren nach allen Richtungen davongeflogen.
»Ich möchte hinauf«, sagte Schwalla, »aber von hier aus ist es unmöglich. Wir wollen nach der anderen Seite rudern.«
Ericsson ruderte hinüber. Hier war das Wasser fast spiegelglatt, die Luft still und klar. Die Sonnenstrahlen fielen mit voller Kraft auf diese Seite des Eisbergs, und es schien Schwalla, als sei er von gefrorenem Sonnenlicht bedeckt.
Mit dem Meeresspiegel fast in gleicher Höhe, als habe die Natur ihn eigens für sie dort angelegt, befand sich ein Landungssteg aus Eisschollen; er war zwar nur ein bis anderthalb Meter breit, aber von ihm aus konnte man auf den Eisberg hinaufklettern.
Als sie längsseits neben den Eisschollen lagen, sprang Ericsson hinauf und hielt das Boot fest, während Schwalla ausstieg.
Sie hatten einen kleinen Anker an Bord. Ericsson trieb die Ankerschaufel in einen Spalt der Eisscholle und vertäute das Boot. Der Eisscholle gegenüber lief eine tiefe Spalte mitten in das Herz des Eisbergs hinein. Ein Eisberg, den man als kompakte Masse auf dem Meere treiben sieht, ist oft viel weniger massiv, als es den Anschein hat; Klüfte und Täler schneiden hinein, Höhlen durchfurchen ihn, die große Ähnlichkeit mit den Höhlen einer Felsenküste haben. Die Spalte, in der Schwalla und Ericsson gingen, war von kleinen Wasserkanälen durchsetzt, in denen winzige Ströme fröhlich zum Meere plätscherten. Sie bogen um die Ecke und sahen zu ihrem Erstaunen, daß der Spalt sich hier, anstatt enger zu werden, fächerförmig erweiterte und sanft ansteigend zu einer der höchsten Spitzen des Eisbergs hinaufführte.
Der ganze Abhang lag im vollen Sonnenlicht und brannte wie in Weißglut. In einer breiten Rinne, die wie mit dem Meißel in das Eis gehauen schien, brauste ein Wasserfall zu Tal, hie und da in eine Kaskade von Diamanten zerstäubend.
»Hören Sie nur!« sagte Schwalla.
In das Klingeln des Wasserfalls, in das Geläut der Wellen, in das Murmeln einer Höhle, die plötzlich von Wasser überflutet wurde, mischte sich zuweilen ein anderer Ton, ein zu Herzen gehender, zarter, musikalischer Klang – die Stimme des Eisbergs selbst, die Stimme dieser großen Insel aus Kristall, auf der der Finger des Meeres wie auf einem »musikalischen Glas« rieb. Manchmal ertönte ein Plumps, als wenn ein Seehund sich ins Wasser stürzt; das bedeutete, daß ein Stück Eis sich gelöst hatte und ins Meer gefallen war.
Es war ein seltsam überwältigendes Gefühl, in diesem von Sonnenlicht und geheimnisvollen Märchentönen erfüllten Tal zu stehen und zu wissen, daß man im Meere trieb.
Sie kletterten ohne jede Schwierigkeit den Berg hinauf und sahen von oben her den ganzen Umkreis des Fjords vor sich liegen, wie ihn nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Den Snaefel, die von Buchten durchzogene Küste, die Inseln, die französische Fischerflottille und dahinter die isländischen Boote. Skarsstöd erschien nur wie ein Punkt auf der Küstenlinie, Flatey wie eine Felsklippe im fernen Blau, ebenso der Horseman, der Burgomaster, der Petrel und die Fulmarspitzen. Und von dieser ganzen Welt aus Bergen, Fjord und Himmel, von all diesem Wunder aus Ferne, Glanz und Azur kam nicht ein Laut.
Nach einer Weile kehrten sie zu ihrer Eisscholle zurück – und das Boot war fort.
*
Hätte Ericsson von Eisbergen ebensoviel verstanden wie von Kabeln, so würde er das Boot anders vertäut haben. Die Oberflächenströmung, die das Boot trug, war schneller als die Strömung im tiefen Wasser. Infolge des von dem Boot ausgeübten Zuges öffnete sich der Spalt, in den die Ankerschaufel eingelassen war, ein großer Klumpen Eis brach ab, und von der Vertäuung befreit, trieb das Boot fröhlich dahin, in der gleichen Richtung wie der Eisberg, nur schneller.
Mit einem einzigen Blick hatte Ericsson die Situation erfaßt und gesehen, daß kein Augenblick zu verlieren war; schnell warf er Rock und Schuhe ab und sprang ins Wasser.
Schwalla wußte, daß das Boot nicht weit entfernt sein konnte, und daß sie es nur deshalb nicht sah, weil die Eisscholle, auf der sie stand, in einem Einschnitt des Eisberges lag, deren vorspringende Spitzen die Aussicht auf die Küste des Eisberges nach beiden Seiten versperrte.
Das Boot befand sich vielleicht nur ein paar Meter entfernt; sehr weit konnte es unter keinen Umständen sein. Sie sah den Kopf des Schwimmers hinter dem vorspringenden Eiskap verschwinden – dann wartete sie, ohne jede Angst oder Unruhe. Sie hatte überhaupt in ihrem Leben das Gefühl der Angst noch nicht kennengelernt. Der Tod gehörte zum Breidifjord, genau wie Nacht und Morgendämmerung und Sonnenschein und Möwen. Er fließt im Wasser, er wallt in der Luft, er wogt im Nebel; sie hatte ihr ganzes Leben lang mit ihm gespielt und fürchtete ihn nicht.
Sie wartete; und während sie wartete, hörte sie den Gesang des Eisberges.
Zwei Minuten vergingen – drei – vier – fünf. Fünf Minuten können unter Umständen eine erschreckend lange Zeit sein; und Schwalla hatte plötzlich das Gefühl, als habe der Geist des Eises ihr seine Hand aufs Herz gelegt; zum erstenmal in ihrem Leben empfand sie Furcht – Furcht nicht für sich, sondern für ihren Gefährten.
»Es ist ihm etwas passiert.«
Der Gedanke traf sie wie ein kalter Windhauch, und es schien ihr, als sei das Sonnenlicht plötzlich verlöscht, als liege die Welt ringsum in tiefem Schatten. Hatte das eisige Wasser, das den Eisberg umgab, ihn gelähmt?
Minute nach Minute verging. Sicher mußte ihm etwas zugestoßen sein. Wenn er das Boot gefunden hätte, wäre er ohne Schwierigkeit hineingeklettert und müßte jetzt längst zurück sein.
Sie war gerade im Begriff, auch ins Wasser zu springen und ihm nachzuschwimmen, als Ruderschläge an ihr Ohr drangen, und im nächsten Augenblick bog die Spitze des Bootes um das Eiskap.
Ericsson war triefend naß und sah aus wie jemand, der ein ziemlich böses Abenteuer hinter sich hat; er legte das Boot längsseits an der Eisscholle an, und Schwalla sprang hinein. Kaum hatten ihre Füße die Planken des Bootes berührt, als sie sich vorbeugte und ihm die Hand auf den Arm legte, als wollte sie sich überzeugen, daß er auch wirklich und leibhaftig da sei. Die kleine Geste sprach beredter als Worte. Zwei Landratten hätten, einer solchen Gefahr entronnen, eine Menge zu reden gehabt, aber diese beiden Kinder des Meeres verloren, als die Gefahr vorüber war, nicht viel Worte darüber.
»Das Boot war vom Berg abgetrieben, und das kalte Wasser erfaßte mich; ich dachte schon, ich wäre erledigt, als ich endlich in das Wasser außerhalb der Eiszone kam. Und dann kletterte ich an Bord.«
Schwalla hatte seinen Rock und seine Schuhe ins Boot geworfen, bevor sie hineinsprang, aber er zog sie nicht an.
»Ich will zurückrudern«, sagte er, »dann werde ich zugleich warm und trocken. Puh! Mir ist noch immer, als wenn ich im Eiswasser schwimmen würde.«
Das Boot war reichlich groß, um von einem einzelnen Menschen gerudert zu werden, aber das machte Ericsson nicht das geringste aus. Bereits nach einer halben Stunde war er wieder vollkommen erholt.
Auf der Helling war kein Mensch. Während Ericsson das Boot festmachte, sah er sich um, ob Magnus in der Nähe sei; er war jedoch nirgends zu entdecken. Dann brachte er Schwalla nach Hause, verabschiedete sich vor der Tür von ihr und ging zurück. Auch im Garten oder auf dem Trockenplatz war Magnus nicht zu sehen. Ericsson ging ins Haus. Die Haustür führte geradewegs in den Hauptraum. Ein Bett, in dem Ericsson schlief, stand in einer Ecke; ein eiserner Ofen, ein Tisch und ein paar Stühle bildeten den Rest der Einrichtung. Auf einem Bort stand der unvermeidliche isländische Kasten aus geschnitztem Holz, und das ebenso unvermeidliche Bild von Jon Sigurdsson war mit Stecknadeln an die Wand geheftet.
Jon Sigurdsson, Patriot und Staatsmann, ist der Nationalheld, und im ganzen Land gibt es kaum ein Bauernhaus, in dem nicht sein Bild im Wohnzimmer hängt. Das Bild gehörte Magnus; Schwalla, die eine ebenso glühende Patriotin war wie er selbst, hatte es ihm geschenkt. Es war ihr Beitrag zur Einrichtung des Hauses.
Magnus saß mit aufgestützten Ellbogen am Tisch, dem Bilde Jon Sigurdssons den Rücken kehrend, und rauchte.
»Hallo«, sagte Ericsson, »du bist schon zurück! Wie war der Fang?«
»Der Kabeljau beißt nicht mehr«, sagte Magnus.
»Na, morgen werden sie schon wieder beißen«, meinte Ericsson, während er seine Mütze auf einen Stuhl warf und seine Pfeife anzündete.
Magnus gab keine Antwort.
»Ich bin draußen gewesen, um mir den Eisberg anzusehen«, sagte Ericsson.
»Allein?« fragte Magnus, dem Gunnarsson vor einer halben Stunde erzählt hatte, daß Schwalla und Ericsson zusammen hinausgefahren wären.
»Nein«, sagte Ericsson, »ich hatte Gesellschaft – deine Kusine.«
Die wachsende Vertraulichkeit zwischen Schwalla und Ericsson war Magnus schon seit Tagen ein Dorn im Auge gewesen, und die Tatsache, daß die beiden stundenlang zusammen draußen gewesen waren, schmerzte wie eine Sonde in einer Wunde – einer Wunde, die bis in tiefe und unbekannte Regionen seines Wesens hinabreichte.
Plötzlich brach er los:
»Sie hat kein Recht, mit dir zusammen zu sein!«
»Kein Recht? Und warum nicht?«
»Sie ist mit Gudmundsson verlobt, das weißt du ja. Und du weißt auch, daß sie meine Kusine ist.«
»Du redest, als hättest du keinen Verstand im Kopf.«
»Aber ich habe ein Herz im Leib, und das ist mehr, als man von dir sagen kann.« Und indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, schrie er wild:
»Ich hab' dich nicht hergebracht, damit du mich betrügst! Ich hab' dich nicht hergebracht, damit du meine Kusine zugrunde richtest. Ich werde es Gudmundsson erzählen. Ich werde es ihrem Vater erzählen. Bei Gott, ich werde es ihrem Vater erzählen. Ich kenne dich!«
Er brüllte wie ein Verrückter. Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz herum und stürzte zum Haus hinaus.
Ericsson trat in die Tür und sah ihm nach, bis er in der Richtung des Meeres verschwunden war.
Dann holte er sich seine Mütze und ging ebenfalls fort, aber in entgegengesetzter Richtung, das Floka-Tal hinauf. Er ging an der Pfarre vorbei, wo Pastor Olsen in seinem Gärtchen arbeitete. An der Kirche ging er vorbei und an Schwallas Haus, dann bog er um die Talkehre und ging immer weiter längs des tosenden Flusses. Er achtete kaum auf seine Umgebung.
Er fühlte sich innerlich beunruhigt und verstört.
Er dachte weniger an Magnus als an Schwalla. Magnus' Gerede hatte seinen Gedanken an das Mädchen irgendwie festere Gestalt gegeben; ihr Bild stand plötzlich in wärmeren Farben vor seinem geistigen Auge; es hatte Leben und eine Stimme bekommen.
Was war das für ein Gefühl, das ihn erfüllte – das ihn beunruhigte und überraschte, wie nur etwas vollkommen Neues und Unbekanntes den Menschen überraschen kann.
Liebte er Schwalla?
Nein, es war nicht Liebe, oder wenigstens nicht die Liebe des Mannes zur Frau, so wie er das Gefühl bisher verstanden hatte.
Während der letzten zwei Wochen hatten sich zarte Fäden zwischen dem Mann und dem Mädchen gesponnen, als habe ein guter Geist der Kameradschaftlichkeit und des Sonnenscheins sie gewoben. Ihr fröhlicher, offener Gruß, wenn sie sich trafen, ihre warme, freundliche Stimme, ihr Interesse für das Haus, aus all diesem hatte ein freundliches Spinnchen ein Netz gesponnen, um seine Neigung zu fangen. Selbst Helgi, der Fuchs, hatte ein paar blaue Fädchen beigesteuert. Der kleine blaue Fuchs tollte mit dem Mädchen zusammen durch seine Gedanken und zerrte an ihren Röcken. Die beiden hatten ein warmes Eckchen in seinem Herzen gefunden, ein Eckchen, das ihm selbst bisher unbekannt gewesen war; und da hatten sie sich mit Hilfe irgendeiner List eingenistet – wie er sich in seinem Hause eingenistet und es Gudmundsson abgelistet hatte.
Schwalla war für ihn nichts als eben Schwalla – etwas Helles und Freundliches – ein Stückchen blauer Himmel – ein Handschlag von einer festen, warmen Hand.
Der Schrei eines Brachvogels weckte ihn aus seinen Gedanken. Er war weit über Gudmundssons Haus hinausgegangen. Die Teufelsbastionen des Floka-Tales umringten ihn und schlossen ihn ein, und in der erhabenen Stille dieser Einsamkeit tönte die Stimme des Flusses um so lauter. Er setzte sich auf einen Felsblock neben einem Lachsteich, der wie ein schweigender Gedanke mitten im Geschwätz des Flusses lag, er erinnerte sich, was Schwalla ihm von dem Nix erzählt hatte, und wie gefährlich es sei, am Ufer der Floka einzuschlafen, und diese Erinnerung traf ihn nicht wie eine gewöhnliche Erinnerung, sondern wie der Ruf einer Stimme.
Es war Schwallas Stimme. Er hörte die Worte, als seien sie vor einer Minute erst gesprochen worden – er hörte die süße, volltönende Stimme, eine jener seltenen Frauenstimmen, die bis zum Rande von lebendigem Leben erfüllt scheinen, immer bereit, in stilles Gelächter überzufließen.
Und während er dasaß und Schwallas Stimme lauschte, regte sich etwas in seinem Innern, etwas Neues, Unbekanntes.
Sein Herz sprang aus ihm heraus, lief das Tal hinunter bis zu dem Hause mit dem weißen Zaun, vor dem ein Mädchen stand und ein kleiner Blaufuchs; es nahm es in seine Arme – denn das Herz hat Arme wie auch Flügel – hielt sie einen Augenblick fest und kam wieder zurück.
In jedem Menschen liegt das Samenkorn einer Seele; aber es kann nicht voll erblühen, wenn es nicht von der Liebe angerührt wird; und dann plötzlich, in einer Nacht, ja manchmal fast in einem Augenblick, vollzieht sich das Wunder, ohne daß der Mensch selbst es ganz versteht.
Über Ericsson kam jene Wandlung wie eine milde Wärme, wie eine Fülle des Gefühls, wie eine Duldsamkeit Dingen gegenüber, die ihn noch eine Stunde vorher in Wut gebracht haben würden.
Und dennoch, obgleich die Liebe seine Seele angerührt hatte, war er sich seiner Liebe zu Schwalla nicht bewußt, sondern fühlte sie nur wie eine unbestimmte, warme Erregung in seinem Innern.
Er kehrte durch das Tal zurück. Seine Wut auf Magnus war verflogen. Als er an Gunnarssons Hause vorbeikam, sah er sich um, ob er nicht Schwalla irgendwo entdecken könnte; es hätte ihn gefreut, sie zu begrüßen, und während er weiterging, fühlte er sich ein wenig einsam, weil er sie nicht gesehen hatte. In der Nähe der Kirche traf er Gudmundsson, der ihm einen guten Tag bot. Und Ericsson erwiderte den Gruß, ohne zu bemerken, daß sein eigener Gruß freundlicher war als sonst.
Als er nach Hause kam, war Magnus bereits zurückgekehrt und saß beim Abendessen. Nach der melodramatischen Szene vorhin lag in dieser Heimkehr zum heimatlichen Futtertrog ein gewisser Humor. Während Ericsson seine Mütze auf das Bett warf, sah er einen Augenblick auf Magnussens Rücken, auf den einfachen Tisch und die ebenso einfache Kost. Der Anblick hatte etwas Rührendes. Armer Magnus! Nach all seinen Fahrten, nachdem er jahrelang gespart, hatte er schließlich nur dieses bescheidene kleine Heim gefunden – und war für Schwalla eingetreten, weil er glaubte, daß jemand ihr ein Leid angetan habe.
Ericsson trat hinter Magnus und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
»Magnus«, sagte er, »du bist ein Narr!«
Magnus wandte ihm das Gesicht zu; es war heftig gerötet. Er hatte den Mund voll Kartoffeln und die Augen voll Wasser. Das war echt Magnus – essen und weinen zu gleicher Zeit!
Er versuchte den Bissen, den er im Munde hatte, möglichst schnell hinunterzuschlucken, um mit einer Beleidigung antworten zu können, aber irgend etwas in der Art des anderen hielt ihn zurück, und so schluckte er nur, ohne etwas zu sagen.
Ericsson setzte sich auf seinen Platz.
»Ich habe nicht die mindeste Absicht, deiner Kusine ein Leid anzutun. Großer Gott! Genau so könnte es mir einfallen, eines von Olsens Kindern zu schlagen. Weißt du denn immer noch nicht, daß ich mit den Weibern fertig bin?«
Mit seinem feinen und sicheren Instinkt erkannte Magnus, daß eine Veränderung mit Ericsson vor sich gegangen war. Ericsson gab sonst nie Erklärungen über sich ab oder sagte Dinge, die wie eine Rechtfertigung klangen.
Magnus war überzeugt, daß Ericsson keine bösen Absichten Schwalla gegenüber hatte, aber eine neue Furcht wurde in seinem Herzen wach. Wie, wenn Ericsson sich in Schwalla verlieben würde – und sie sich in ihn?
Er hätte es ertragen können, sie mit Gudmundsson verheiratet zu sehen, weil eine solche Heirat jeden Gedanken an Liebe von vornherein ausschloß. Aber er konnte es nicht ertragen, sie mit einem anderen Manne verheiratet zu sehen, in einer aus Liebe geborenen Ehe. Bevor das geschah, so schwor er sich, würde er Ericsson töten.
»Also gut«, sagte er, »wir wollen nicht weiter von der Sache reden.«
Er wandte sich wieder seinem Essen zu, und auch Ericsson setzte sich an den Tisch und begann seine Mahlzeit.
Als sie fertig waren, kam Helga Tordursson, ein Mädchen aus dem Dorf, das ihnen die Wirtschaft besorgte, um das Geschirr abzuräumen und aufzuwaschen.
Helga war ganz jung, höchstens siebzehn Jahre alt. Sie trug die Nationaltracht, und ihre Figur ließ viel zu wünschen übrig. Sie wirkte schlampig und ungeschlacht, aber ihr Gesicht war reizend und trug jenen gütigen Ausdruck, den man in Skandinavien häufig bei ganz jungen Mädchen findet.
Nachdem Helga mit ihrer Arbeit fertig war, nahm sie sich eine der langen Angelleinen vor, die bei morgigem Fischfang benutzt werden sollten, um sie nachzusehen und auszubessern – eine ebenso mühsame wie notwendige Arbeit.
*
Als Schwalla nach Hause kam, war ihr Vater fortgegangen, so daß sie ihm nicht von ihrem Abenteuer auf dem Eisberg erzählen konnte. Erst beim Abendessen fing sie davon an, er hatte aber kein Ohr für Schwallas Erzählung. Eine Lachsfalle, die seine Leute grade bauten, machte ihm Sorge. Gunnarssons Geist war so konstruiert, daß eine kleinliche Sorge ihn vollkommen ausfüllen konnte – und es war auch immer eine zur Hand.
Das Mädchen machte sich nichts daraus.
Das Abenteuer war vorbei, verschwunden wie der Eisberg; die Erinnerung aber war geblieben, ein vielfarbiges Bild vom Breidifjord und den Möwen, dem blendenden Schneeweiß des Eisberges, dem Geläut des Wassers gegen das Eis und der ganzen schweigenden Welt aus Bläue und Licht, die wie eine Offenbarung über sie gekommen war, während sie mit Ericsson auf der Spitze des Eisberges gestanden hatte. Der Eisberg hatte ihr den Breidifjord gezeigt, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Der Breidifjord war plötzlich etwas ganz Neues für sie geworden, und Ericsson war ein Teil davon.
Aber das wußte sie noch nicht.
Amor, der in Wirklichkeit nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit Hammer und Amboß bewaffnet und Meister ist in der Kunst des Fesselschmiedens, war mit ihnen auf dem Eisberg gelandet, hatte die lange Kette des Breidifjords aufgerollt, Glied um Glied, Möwen, Inseln, Berge, Küste, blaues Wasser und braune Segel, hatte sie um Schwalla geschlungen und ein letztes Glied angeschweißt – Ericsson.
Und er hatte alles so zusammengefügt, daß von nun an Ericsson und das Meer ein zusammengehöriges Teil für sie sein würden.
Eigentlich war es lieber, die Ereignisse des Tages noch einmal zu überdenken, anstatt sie mit dem halbtauben Mann zu bereden. Während er bei Tisch sitzenblieb, stand sie auf, um Helgi zu füttern. Helgis Hütte stand in dem kleinen Hof neben dem Kücheneingang, und während sie ihn mit rohem Hammelfleisch fütterte, erzählte sie ihm alles, was sie während des Tages erlebt hatte.
Sie besaß eine natürliche Art, sich mit Tieren zu unterhalten; und wenn sie Helgi Geschichten erzählte, was sie oft tat, so glaubte sie fest, daß er sie verstand.
Und das tat er auch; wenigstens hörte er ihr mit einem aufmerksamen Ausdruck in seinen klugen Augen zu, als folge er voller Interesse ihrer Erzählung.
*
Skarsstöd besitzt eine große Besonderheit; wo immer man auch geht, in welchem Raum man sich aufhält – stets hat man einen Gefährten: die Stimme des Flusses.
Schwalla, die um halb zehn zu Bett gegangen war, wurde nach Mitternacht durch sie aus dem Schlaf geweckt. Die Stimme des Flusses war stets dieselbe – ein leises, eintöniges musikalisches Murmeln, das sich aus dem Rauschen des Wasserfalles, dem Aufklatschen der Wellen und dem Klingeln der Kieselsteine zusammensetzte. Warum hatte sie sie plötzlich aus ihrem Schlaf geweckt?
»Ich will dir etwas sagen – ich will dir etwas sagen – ich – will – dir – etwas – sagen –« sang der Fluß.
Als sie aber lauschte, hatte er ihr gar nichts zu sagen.
Durch das weitgeöffnete Fenster kam ein leichter Wind, der die Vorhänge bauschte und das Zimmer mit der Frische der Berge füllte; mit dem Winde drang, bald leiser, bald lauter, die Stimme des Flusses ins Zimmer.
Schwalla war jetzt ganz wach geworden, und da sie wußte, daß sie sobald nicht wieder einschlafen würde, und weil sie es haßte, wach im Bett zu hegen, stand sie auf, zog sich an und trat aus dem Haus.
Es war fast ein Uhr, doch lag noch immer helles Tageslicht über der Welt.
Skarsstöd lag in tiefem Schlaf. Die Hügel, ja der Himmel selbst sahen anders aus als am Tage. Die Nacht im vollen Sonnenschein ist voll von lieblichen Überraschungen, aber nur dann zeigen sie sich dir, wenn du so völlig allein bist, wie Schwalla es zu dieser Stunde war. Dann schaust du tief hinein in den dunklen Brunnen der Natur, der am Tage nur die Spiegelungen auf seiner Oberfläche zeigt.
Schwalla ging die stille Straße bis zum Strande hinunter und setzte sich am Landungssteg nieder. Es war halbe Flutzeit, und das Meer strömte nebelblau der Küste zu. Nicht eine einzige Möwe war zu sehen – nichts außer der Küste und den Inseln, dem Meer und dem Himmel, und alles lag in der Stille des Schlafes so klar und deutlich sichtbar da wie am Tage.
Der Eisberg war verschwunden, und die französische Fischerflottille lag, den Blicken verborgen, hinter Breidavik Point. Es war nicht das erstemal, daß Schwalla den Breidifjord in dieser Stimmung sah, und während sie so saß, eingelullt von dem Frieden und dem überwältigenden Schweigen ringsum, sangen die Wellen ihr dasselbe, was der Fluß ihr gesungen hatte, als seine Stimme sie aus dem Schlaf weckte.
»Ich will dir etwas sagen – ich will dir etwas sagen – ich will dir etwas sagen –« sang das Meer. Das Meer trug ihr eine zarte Botschaft zu, wie das Land, aber selbst der Breidifjord, ihre zweite Mutter, zögerte, ihr diese Botschaft mitzuteilen.
Und dann begann der große Fjord zu ihr zu sprechen, während er ihre Blicke von einem Punkt zum anderen lenkte:
»Was suchst du denn? Hier ist Flatey, aber die Lummen sitzen schlafend auf den Felsvorsprüngen; hier ist nicht das, was du suchst; und da ist der Strand von Skagastrondu, wo im letzten Sommer die Fischerboote untergingen; nichts ist hier als toter Männer Gebein. Der Burgomaster, der Fulmar und der Horseman, sie bergen nicht, was du suchst. Der ferne Snaefel dort drüben weiß nichts von dem, was du dir ersehnst.«
So wanderte ihr Geist, von Punkt zu Punkt, bis er, ermüdet von der Ferne, die nahen Wasser des Fjords suchte.
Und dann, wie die Möwe mit gefalteten Schwingen sich auf einer Felsenspitze niederläßt, kam ihr Geist nach seiner langen, langen Reise auf einem Gegenstand zur Ruhe, der nur wenige Kabellängen von der Küste entfernt lag.
Es war Ericssons Boot.
*
Am nächsten Tag, als Ericsson und Magnus die Straße zum Strand hinuntergingen, um zum Fischen hinauszufahren, trafen sie Schwalla mit Helgi.
Das Mädchen bot ihnen »Guten Tag«, sprach ein paar Worte und ging weiter.
Sie hatte Ericsson kaum angesehen.
Der gute Kamerad, der ihm stets mit einem freundlichen Lächeln begegnet war, der gute Gärtner, der den dürren Boden seiner Seele umgegraben und alle möglichen lieben, einfachen Blumen hineingepflanzt hatte, war plötzlich verschwunden.
Ohne ein Lächeln hatte sie ihn angesehen, ihn kaum gegrüßt.
Magnus hatte es bemerkt, und es schien Ericsson, während sie weitergingen, als suche Magnus durch sein Benehmen die Tatsache zu unterstreichen.
Er trug plötzlich eine gradezu unangenehme Fröhlichkeit zur Schau.
Sursson erwartete sie am Strande; und während sie die Angelleinen in der »Helga« verstauten, bemerkte Magnus seinerseits, daß Ericsson plötzlich von einer fast wilden Heiterkeit ergriffen zu sein schien; er lachte und scherzte mit Sursson, als seien sie auf einer Vergnügungsfahrt. Hätte Magnus aber in Ericssons Herz hineinsehen können, er wäre zufrieden gewesen. Es war eine kalte Bitterkeit in ihm erwacht, die sich nicht anders Luft zu machen wußte als in Spaßen und Gelächter. Sie holten den Anker ein und stachen in See.
Nun gibt es am Breidifjord und an der ganzen isländischen Küste einen bösen Geist, der, solange seine Herrschaft dauert, alles, was ihm in den Weg kommt, vernichtet – das ist der Nebel.
Der isländische Nebel kommt von nirgendwoher, verdüstert die Sonne, haucht über dich hin, verschwindet und kehrt wieder. Er kann tagelang anhalten oder auch nur stundenlang; manchmal hängt er eine volle Woche in der Luft. Verursacht wird er durch das Zusammentreffen des Golfstromes mit den kalten Strömungen von Norden her.
Während sie mit den Handleinen fischten – die großen Leinen konnten erst in fünf bis sechs Stunden eingeholt werden –, war plötzlich Breidavik Point wie vom Erdboden vertilgt; der Nebel war über ihnen und fegte in dicken Schwaden über sie hin.
»Dachte ich mir's doch, daß er kommen würde«, sagte Sursson. »Ich habe es die ganze Zeit in den Knochen gespürt. Na, wir liegen hier ja sicher vor Anker, und wenn der Nebel andauert, haben wir den Kompaß, um uns zurückzufinden.«
»Er wird nicht lange andauern«, meinte Magnus. »Ich kenne das Wetter hier von Kind an. Du bist an der Ostküste geboren, dort bist du mir über.«
Das gab Sursson zu. Er stammte von der Ostküste. Aber er war auch ein Mann mit einer gewissen Weltkenntnis, da er mehrere Hochseefahrten auf einem der großen Segelschiffe, die von Hamburg auslaufen, mitgemacht hatte, und so stand er immerhin in der Unterhaltung mit den beiden aus dem Kabeldienst seinen Mann.
Der Fang war schlecht; bei klarem Wetter würden sie einen anderen Platz aufgesucht haben; aber vom Nebel eingeschlossen, blieb ihnen nichts übrig, als sich mit der Tatsache abzufinden, zu rauchen und zu schwatzen.
Magnus erzählte grade vom Seeforellen-Fang, den er als Junge betrieben hatte, und gab Größen und Gewichte an, um zu beweisen, daß die Forellen in den letzten Jahren zurückgegangen seien, als er plötzlich mitten im Satz abbrach und lauschend den Kopf hob.
Der Wind, der vom Breidifjord herwehte, war so schwach, daß man die Bewegung der Luft eigentlich nur an dem Fließen der Nebelschwaden spürte.
Und dieser Wind trug den Klang von Ruderschlägen an ihr Ohr. Auch Ericsson und Sursson hörten sie jetzt. Dem Tone nach mußte es ein Acht-Ruderer sein.
»Das ist kein Skarsstöder Boot«, sagte Magnus; »und Stykkisholmur ist zu weit, als daß es von dort kommen könnte; die Ruder sind größer als die, die wir hierzulande benutzen« – er meinte die kleinen, streichholzförmigen Ruder, die an der Küste im Gebrauch sind –, »es klingt eigentlich wie eine Schiffsgaleere.«
Er hatte den Satz kaum beendet, als ein Anruf durch den Nebel an ihr Ohr drang – dünn und schrill, wie der Ruf eines Seevogels.
»Nicht antworten!« schrie Magnus.
Es war zu spät. Ericssons Stimme zerriß den Nebel mit dem Anruf der dänischen Marine, und aus der Ferne kam wie eine Antwort spöttisches Gelächter und der Ton von Rudern, die ins Wasser tauchten. Und während das Boot, das augenscheinlich seinen Kurs geändert hatte, davonfuhr, kam noch einmal ein schwacher, in der Ferne ersterbender Anruf – »Skule – Skule – Skule –« immer schwächer und schwächer, wie der Schrei der Seemöwe.
»Es war ein Gespensterschiff! Und du hast ihm geantwortet! Konntest du dir nicht selbst sagen, daß das keine wirklichen Ruder waren?« schalt Magnus heftig. »Hör' doch nur ihr Gelächter! Mein Gott, wir werden alle ertrinken! Narr, der ich war, mit einem Narren auf den Breidifjord zu fahren!«
»Unsinn!« gab Ericsson ebenso heftig zurück. »Es war ein Boot von der französischen Fischerflottille, und wenn ich nicht geantwortet hätte, wäre es glatt in uns hineingefahren. Hast du noch niemals Franzosen rudern hören, du Esel?«
»Natürlich«, unterstützte ihn Sursson, »es muß ein französisches Boot gewesen sein – nach der Art, wie es gerudert wurde, kann es nur von der Flottille kommen. Wahrscheinlich wollten sie Branntwein schmuggeln. Es soll jetzt überhaupt eine Menge geschmuggelt werden, seit das neue Gesetz heraus ist, und soviel ich weiß, hat Gudmundsson seine Hand dabei im Spiele.«
»Ihr habt alle beide weder Ohren noch Verstand«, erklärte Magnus. »Das war kein Boot aus Holz, das von Menschenhand gerudert wird! Es war ein Gespensterschiff, und es ist nicht das erstemal, daß es sich auf dem Breidifjord gezeigt hat; es wagt sich nur her, wenn es neblig ist – wenn ihr hier geboren und aufgewachsen wäret wie ich, würdet ihr es wissen.«
»Zum Teufel mit deinem Gespensterschiff«, sagte Ericsson. »Was kümmert das mich?«
»Es bringt dir Unglück, und wer weiß, vielleicht fällt dein Unglück auch auf uns zurück.«
»Ich glaube nicht, daß Schiffe wiederkehren können«, erklärte Sursson. »Menschen, ja – aber keine Schiffe. Es ist kein Sinn und Verstand darin, daß Holz und Eisen einen Geist besitzen sollen; ich bin Spiritist, und was ich gesehen habe, habe ich gesehen; immer aber handelte es sich um Menschen. Aber daß Schiffe und Ruder wiederkehren können – nein, das glaube ich nicht.«
»Ich glaube überhaupt nicht daran«, sagte Ericsson, »weder bei Menschen noch bei Schiffen. Ich habe nicht das geringste Verständnis für solche Dinge.«
Sursson holte seine Angelleine ein, machte einen winzigen Kabeljau vom Haken los und warf die Leine, nachdem er sie neu bestickt hatte, wieder aus.
»Da gibt's gar keinen Zweifel, daß Menschen wiederkehren können, und zwar nicht nur als Geister, wenn man sie ruft. Der Mensch wird viele Male wiedergeboren. Es ist mir alles offenbart worden – der Mensch wird immer von neuem wiedergeboren, um durch Kummer und Leid geläutert zu werden. Es ist alles ganz einfach, so daß auch ein armer Mensch es verstehen kann. Ihr wißt, ich bin in Thorshofen an der Ostküste geboren, so hoch oben im Norden, daß der Winter dort eine einzige Nacht ist. Ich erinnere mich aus meiner frühesten Kindheit an Träume, in denen ich Robben auf dem Eise tötete, Branntwein soff und Menschen – Männer und Frauen – mit den bloßen Fäusten verprügelte. Vielleicht rührten diese Träume von Dingen her, die die Erwachsenen erzählten, eher aber glaube ich, daß es Dinge waren, die ich getan habe, bevor ich noch ein anderer war.
Jedenfalls wuchs ich zu einem richtigen Taugenichts heran, so von innen heraus böse, und ich war gradeswegs in die Hölle gefahren, hätte nicht mein Weib mich gerettet. Sie war die Tochter von Olafur Jonsson, der den Laden in Thorshafen hat – eine kleine, stille Frau, ihr kennt sie ja, mit Augen wie eine Robbe; und wenn ich trank, sah ich manchmal ihr Bild vor mir, wie sie mich mit ihren Robbenaugen betrachtete. Sie hatte mich gegen den Willen ihrer Familie geheiratet, und obgleich ich sie liebte, hielt der Suff mich doch immer noch in seinen Klauen. Ich litt darunter, und sie, da sie wußte, daß der Teufel der Sünde Gewalt über mich hatte, beklagte sich nie, noch verließ sie mich.
Und dann kam eine Zeit, als die Scham über ihre Geduld und meine eigene Schlechtigkeit mich zu Boden warf; ich wies den Teufel von mir und erkannte, daß die Menschen stets aufs neue vom Weibe wiedergeboren werden – nicht nur im Fleisch, sondern auch im Blute. Es gibt nur eines, was die lebendige Seele des Menschen retten kann – und das ist das Weib.
Aber ich glaube nicht, daß ein Schiff leben kann, wenn es einmal tot ist, oder daß es zurückkehren kann wie der Mensch.«
Weder Magnus noch Ericsson erwidern etwas. Schweigend fischten sie, und als eine halbe Stunde vergangen war, begann es über dem Wasser heller zu werden, so daß sie ein paar Kabellängen freie Sicht hatten, und hinter dem klaren Wasser erschien ein Schleier aus blauem Flor, der hob sich und zerriß, und fern hinter dem klaren Wasser tauchte die Spitze von Breidavik Point auf.
Und dann, als wäre er von einem unsichtbaren Besen weggefegt worden, war der Nebel auch nach Süden hin plötzlich verschwunden. Zipfel und Fahnen aus dünnem Nebel, die noch um die kleinen Inseln hingen, rauchten einen Augenblick, bevor sie in der diamantklaren Luft zergingen – und von seiner nördlichsten Spitze bis zum wolkenumhangenen Snaefel lag der ganze Breidifjord funkelnd im Licht der Sonne.
»Na, wo ist jetzt euer französisches Fischerboot?« fragte Magnus mit grimmigem Triumph in der Stimme.
Ericsson und Sursson suchten mit den Augen den Fjord ab. Nirgends war ein Schiff zu sehen!
*
Nachdem Schwalla Ericsson und ihrem Vetter begegnet war, war sie schnell weitergegangen. Sie schämte sich, Ericsson ins Gesicht zu sehen, ja, sie hatte Angst vor seiner bloßen Gegenwart. Wie zwei bösartige Gespenster, die sich ihre Unerfahrenheit zunutze machten, verfolgten Scham und Furcht sie, so daß sie abwechselnd rot und blaß wurde.
Sie war mit Gudmundsson verlobt; all ihre bisherigen Begriffe von Liebe und Ehe waren den Worten ihres Vaters und ihrer Freundinnen entnommen – trocken wie jene einst frischen Blumen, die wir zwischen den Blättern eines alten Buches finden. Und auf einmal träumte sie von einem Mann, als habe Gudmundsson niemals existiert.
Sie hatte sich Ericsson zugewandt, wie die Blume sich der Sonne zuwendet, einem höheren Gesetz folgend. Das aber wußte sie nicht, sie wußte nur, daß sie ein Unrecht an Gudmundsson beging, indem sie an einen fremden Mann dachte.
Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, das Band, das sie an Gudmundsson knüpfte, zu lösen; sie hatte ihm ihr Wort gegeben, und damit war die Sache ein für allemal erledigt. Ihr Versprechen war ihr heilig; und so war auch Gudmundsson schon fast zu etwas Heiligem für sie geworden.
Sie mußte das neue Bild aus ihrer Vorstellung verbannen! Sie trieb es aus, und siehe da, an seiner Stelle erschien Gudmundssons Bild.
Aber es war nicht länger das Bild des Mannes, dem sie ihr Wort gegeben hatte; der Heilige hatte auf seltsame Weise seine Heiligkeit verloren; mehr als das, er war ihr plötzlich hassenswert geworden. Nie hätte sie sich einer solchen feindlichen Regung einem anderen menschlichen Wesen gegenüber für fähig gehalten! Bisher war sie aller Welt freundlich gesinnt gewesen; Übelwollen und Haß waren ihrer Natur völlig fremd gewesen. Ihre Liebe zu Ericsson war in einer Nacht geboren worden – aber ihr Haß gegen Gudmundsson war Millionen von Jahren alt; ihr selbst unbewußt, hatte er tief verborgen in ihrem Innern gelegen. Es war der Haß der Jugend gegen das Alter.
An jenem Tage ging sie ihren häuslichen Verrichtungen nach wie stets, und ihr Vater, der immer noch seine Lachsfalle im Kopf hatte, nahm keine Veränderung an ihr wahr; als aber Gudmundsson am Abend zu Besuch kam, hatte sie Kopfweh und kam nicht herunter. Gudmundsson pflegte sich jeden Sommer vier bis sechs Wochen Ferien zu nehmen und nach Kopenhagen, ja, manchmal sogar bis nach England zu reisen, und da er am nächsten Morgen zu seiner diesjährigen Reise aufbrechen wollte, war er einigermaßen verstimmt, daß er seine Braut vor seiner Abreise nicht mehr zu sehen bekommen sollte.
Am nächsten Morgen jedoch, als er, seine Reisetasche in der Hand, zum Landungssteg hinunterging, erwartete Schwalla ihn an der Brücke, um ihn zum Schiff zu begleiten.
Nebeneinander gingen sie die Straße hinunter. Die »Ceres« lag draußen im Fjord, bereits unter Dampf, und vom Strande fuhren die letzten Boote zu ihr hinüber.
Schwalla hatte während des ganzen Weges von gleichgültigen Dingen geschwatzt, ohne zu wissen, was sie sprach; ein einziger Gedanke erfüllte sie:
»Wird er mich küssen wollen?«
Sie wußte ganz genau, daß er es tun würde; es war ja sein gutes Recht – trotzdem erschien ihr der Gedanke unerträglich.
Um den letzten Augenblick solange wie möglich hinauszuschieben, fuhr sie noch mit an Bord.
Und hier, in dem Durcheinander von Eierkörben und Käfigen mit gackernden Hennen, von Fischkörben und Ballen von Schaffellen, kam der gefürchtete Augenblick.
Gudmundsson, die dicken Lippen gespitzt, beugte sich herab, um sie zu küssen – und küßte in die Luft.
»Ich kann nicht«, keuchte Schwalla, während sie sich zurückbog und ihn auf Armeslänge von sich abhielt. »Ich wollte dir sagen – ich muß dir sagen – ich kann dich nicht heiraten – ich weiß, es ist schlecht von mir – aber ich kann nicht anders – ich werde dir schreiben.«
Bis zu diesem Augenblick war ihr überhaupt nicht der Gedanke gekommen, ihre Verlobung zu lösen. Es war, als sei es eine andere Schwalla, die diese Worte wie im Fieber, halb unbewußt, hervorgestoßen hatte. Dann wurde die Ankerkette in die Höhe gewunden, Olssen, der Bootsmann, rief nach ihr, und während das Boot sich vom Dampfer entfernte, sah sie undeutlich über sich Gudmundssons Gesicht, das über die Brüstung gebeugt, zu ihr herunterstarrte. Das Schiff, der riesige, rote Schornstein, die Rettungsboote, das alles schrumpfte zu nichts zusammen vor diesem großen Gesicht, dem halb ungläubig verdutzten und dabei in ohnmächtiger Wut erstarrten Gesicht des Wassermanns, dem seine Beute entrissen worden war.
Trotzdem sie einem schlimmeren Schicksal als dem Tode entronnen war, fühlte sie doch keine Erleichterung, denn es war ihr selbst nicht klar, was ihr erspart geblieben. Sie wußte nur, daß sie ihre Verlobung gelöst, ihr Wort gebrochen und Kummer über ihren Vater gebracht hatte.
Glücklicherweise merkte Olssen nichts von ihrer Erregung, sondern schob ihre geröteten Wangen und das Zittern ihrer Hände auf den Schmerz des Abschieds von Gudmundsson. Am Kai angelangt, bedankte sie sich bei Olssen und rannte nach Hause.
Gunnarsson war ausgegangen; sie lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer und setzte sich ans offene Fenster. Da saß sie und wartete auf seine Rückkehr, und von Zeit zu Zeit preßte sie, noch halb wie betäubt, die Hand aufs Herz und versuchte sich über das klar zu werden, was sie getan hatte. Ericsson, auf den doch im Grunde diese ganze dramatische Wandlung zurückzuführen war, fand für den Augenblick nicht den mindesten Raum in ihren Gedanken. Gudmundssons großes Gesicht und der Eindruck, den es zur Schau getragen hatte, verdrängte alles andere.
Da sah sie ihren Vater durch das Tal kommen. Einmal blieb er stehen, um mit ein paar Männern, die ihm entgegenkamen, zu sprechen, und die leichte Brise trug ihr durch das offene Fenster einzelne Worte zu. Dann verabschiedete er sich und ging auf das Haus zu. Er sah sie am Fenster sitzen und winkte ihr mit der Hand; dann trat er ins Haus, und sie ging nach unten.
Es war eine Stunde vor ihrer Essenszeit und der Tisch noch nicht gedeckt; Gunnarsson hatte seinen Hut auf den Tisch geworfen und nahm gerade seine Pfeife und den Tabaksbeutel vom Schreibtisch, als Schwalla ins Zimmer trat.
»Vater«, begann Schwalla fieberhaft, »ich muß dir etwas sagen: Ich habe –«
»Nun?« Gunnarsson blickte von seiner Pfeife auf. »Was ist denn mit dir los?«
»Ich habe Gudmundsson gesagt, daß ich ihn nicht heiraten kann.«
Sie stand am Tisch, den Kopf gesenkt; während sie sprach, hob sie die Augen, um sie gleich darauf wieder niederzuschlagen. Gunnarsson, die inzwischen fertiggestopfte Pfeife in der Hand, starrte sie ungläubig an.
»Ja, aber um Gottes willen, bist du denn verrückt geworden? Was hat Gudmundsson getan, daß du ihn nicht heiraten kannst?«
»Er hat gar nichts getan, aber ich kann ihn nicht heiraten.«
Gunnarsson hatte alle möglichen verworrenen Begriffe von den Frauen – ein aus Verehrung und Geringschätzung seltsam gemischtes Gefühl.
»Er hat nichts getan – aber du kannst ihn nicht heiraten? Wo bleibt da die Vernunft? Gott im Himmel! Hast du vollkommen den Verstand verloren, daß du mir so etwas zu sagen wagst? Gudmundsson ist die beste Partie in ganz Skarsstöd, ja in Reykjavik; du hast versprochen, ihn zu heiraten, und jetzt auf einmal kommst du daher und erklärst einfach: ›ich kann ihn nicht heiraten‹. Das ist ja gerade, als wollte ich zu Pastor Olsen an einem Tage sagen: ›ich zahle Ihnen für Ihr Heu fünf Kronen die Fuhre‹, und dann am nächsten Tag: ›nein, danke schön, ich nehme Ihr Heu nicht und zu keinem Preis‹. Wäre das richtig und gerecht? Und wenn das Heu auch durch Gottes Heimsuchung verdürbe, wäre es dennoch nicht recht, wollte ich den einmal geschlossenen Handel wieder rückgängig machen. Und was ist mit Olafur Gudmundsson geschehen? Gar nichts! Er ist noch genau so, wie er war, als ihr euren Handel abgeschlossen habt.«
»Aber ich habe doch gar keinen Handel mit ihm abgeschlossen«, sagte Schwalla kläglich. »Das ist doch etwas ganz anderes. Ich kannte mich selbst nicht, als ich ihm mein Jawort gab, und mein Herz hat sich gegen ihn gekehrt, so daß ich ihn nicht heiraten kann.«
Ihre Stimme brach in einem Schluchzen, aber Gunnarsson achtete nicht darauf.
»Dein Herz hat sich gegen ihn gekehrt – aber warum denn, in drei Teufels Namen?«
»Ich weiß es nicht.«
Gunnarsson lachte – es war kein fröhliches Lachen.
»Du kennst dein eigenes Herz nicht, das ist das Ganze. Du weist diesen braven Mann ab und brichst dein Versprechen und meines dazu, denn auch ich habe ihm mein Wort gegeben – und alles, was du dazu zu sagen hast, ist, daß dein Herz sich gegen ihn gekehrt hat. Das ist eine echte Weiberantwort, und ich nehme sie nicht an. Du mußt deinem Herzen eben Vernunft beibringen.«
»Niemals! Niemals!« rief Schwalla heftig, während eine dunkle Röte ihr Gesicht und ihren Nacken überflog. »Ich will nicht! Niemals werde ich ihn heiraten! Und ich will auch nie wieder von ihm hören!«
Damit drehte sie sich um und lief aus dem Zimmer.
Gunnarsson schlug mit dem Kopf der Pfeife, die er immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Dann verließ auch er das Zimmer und setzte sich auf die kleine Bank neben der Haustür.
Gunnarsson war nicht der Mann, sich seine Pläne so ohne weiteres durchkreuzen zu lassen, und er besaß eine Hartnäckigkeit, die genügt hätte, um auf die Dauer den Widerstand der Berge selbst zu brechen.
Sein Beschluß, daß Schwalla Gudmundsson heiraten sollte, war durch ihre Worte nicht im mindesten erschüttert worden. Aber während er so dasaß, seine Pfeife rauchte und die Sache hin und her überlegte, kam ihm plötzlich ein unangenehmer Gedanke. War Schwalla womöglich in einen anderen verliebt? Hatte ein Nebenbuhler Gudmundssons Weg gekreuzt?
Eigentlich gab es niemanden in ganz Skarsstöd, der in dieser Beziehung in Betracht kommen konnte. Da aber fiel ihm plötzlich Ericsson ein und die Tatsache, daß die beiden vor zwei Tagen zusammen zum Eisberg hinausgerudert waren. Und er erinnerte sich an das, was Magnus an jenem ersten Abend, als er zum Essen bei ihnen war, von Ericsson gesagt hatte – daß er ein großer Mädchenheld sei.
Einem plötzlichen Antrieb folgend, stand er auf, legte die Pfeife auf das Brett neben der Bank und ging ins Haus. Vom Fuß der Treppe aus rief er nach Schwalla, die auch sofort herunterkam. Er winkte sie ins Wohnzimmer, wo die kleine Magd grade dabei war, den Tisch zum Mittagessen zu decken. Er schickte sie hinaus, schloß die Tür hinter ihr und wandte sich Schwalla zu.
»Ich habe über die Sache nachgedacht und kann mir dein Benehmen nur dadurch erklären, daß du dich in einen anderen Mann verliebt hast. Ist das der Fall?«
Schwalla gab keine Antwort.
»Aha, dann habe ich also das Richtige getroffen! Leider hast du keine Mutter, die mit dir über diese Dinge sprechen und dir raten kann, damit du dein Herz nicht einem Unwürdigen schenkst. Aber ich bin dein Vater und habe als solcher die Pflicht, dich vor dir selbst zu schützen. Ist es Erik Ericsson?«
Die Frage wirkte auf Schwalla wie ein Schlag ins Gesicht.
Ericsson hatte ihr nie gezeigt, daß er in ihr etwas anderes als einen guten Kameraden sah, und darum empfand ihre empfindliche Seele die Frage ihres Vaters als besonders taktlos.
Flammende Wut erfüllte sie. Es war ihr, als hätte ein Wegelagerer sie beim Baden ertappt und wäre rücksichtslos stehengeblieben, um sie zu betrachten.
Sie wurde totenbleich und stand regungslos da, ohne einen Ton hervorbringen zu können.
Gunnarsson schlug seine Hände heftig gegeneinander, als wolle er eine zwischen ihnen gefangene Fliege töten.
»Das ist es also?! Ich verbiete dir, je wieder ein Wort mit dem Menschen zu sprechen, verstanden?!«
Er ging zur Tür, indem er wütend an seinem Bart zerrte. Dann drehte er sich plötzlich noch einmal um.
»Ich verbiete es dir – und damit basta!«
Und damit verließ er das Zimmer. Noch nie hatte Schwalla erlebt, daß ihr Vater böse auf sie war, und noch nie hatte sie eine solche Wut gefühlt wie in diesem Augenblick, eine Wut, die wie ein großes, weißes Flammentuch Menschen und Dinge einzuhüllen schien.
Es war, als habe die Liebe ihr eine neue Seele gegeben, eine Seele, fähig zu Leidenschaft und Haß, die ihr früheres, unentwickeltes Ich nicht gekannt hatte.
Und die Kränkung, die der polternde Mann, der eben aus dem Zimmer gegangen war, ihr angetan hatte, schien nicht nur von ihm, sondern von der ganzen Welt auszugehen. Es war, als habe ihre liebesuchende Seele, die zögernd den ersten Schritt in die Welt hinaus getan, einen tödlichen Schlag empfangen.
Am nächsten Morgen begegnete sie Ericsson auf der Straße. Ericsson war, seit sie ihn vor zwei Tagen so kühl behandelt hatte, mürrisch und reizbar gewesen, und das hübsche Bild, das Schwalla bot, wie sie mit wehenden Röcken daherkam, trug nicht dazu bei, seine Laune zu verbessern. Als sie näher kam, war er fest entschlossen, die Augen auch nicht um Haaresbreite zu senken und sie mit der Gleichgültigkeit seines Blickes zu durchkälten. Aber sie ging an ihm vorüber, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Er drehte sich um und sah ihr nach. Auch der Fuchs hatte ihn geschnitten – ihn überhaupt nicht angesehen.
Eine halbe Minute beobachtete er sie, während sie weiterging, und sein Herz, das die letzten achtundvierzig Stunden wie erstarrt gewesen war, hüpfte in seiner Brust.
Sie war böse – wegen irgendeiner Kleinigkeit wahrscheinlich, er war ihr nicht gleichgültig! Magnus an seiner Stelle wäre durch Schwallas Unhöflichkeit dem Trunk und der Verzweiflung in die Arme getrieben worden. Ericsson aber kannte die Frauen besser. Die Röte auf den Wangen des Mädchens hatte deutlicher als Worte zu ihm gesprochen. Nur tiefe Wasser können zu hohen Wogen aufgerührt werden; und wenn sie aufgerührt werden, ohne daß eine erkennbare Ursache vorhanden ist, so deutet das mit Sicherheit auf einen Aufruhr in dem unendlichen Meer tief unter der Oberfläche.
Unten an der Helling waren Magnus und Sursson dabei, die letzten Vorbereitungen für den Aufbruch zum Fischfang zu treffen; Surssons Sohn fuhr mit hinaus.
»Du kommst nicht mit?« fragte Magnus.
»Nein«, erwiderte Ericsson, »ich will Möweneier suchen.«
Magnus erwiderte nichts. Trotzdem Ericsson seinen Teil an der Arbeit tat und seine Gefährten in allen Dingen als Gleichgestellte behandelte, gab er doch niemals seine Stellung als Chef auf. Er fuhr mit zum Fischfang hinaus, wenn er Lust hatte, und blieb an Land, wenn er keine Lust hatte – und mit der Fischräucherei hatte er überhaupt nichts zu tun, die wurde von Sursson mit Hilfe seines Sohnes, seiner Frau und anderer Mitglieder der Familie besorgt. Die Stockfische, die zur Zeit auf den Lavablöcken trockneten und bald zur Verpackung und Verschiffung nach Reykjavik reif sein würden, verkörperten einen ganz hübschen Wert, und die frischen Fische, Heilbutt usw., die bereits per Schiff nach Reykjavik gegangen waren, hatten ein rundes Stück Geld eingebracht. Das ganze Unternehmen ließ sich gut an, und Magnus wie auch die anderen waren sich vollkommen klar darüber, daß sie ihre Erfolge nicht weniger Ericssons Kopf als seinem Geld zu verdanken hatten.
Er sah ihnen zu, wie sie an Bord der »Helga« gingen und vom Land abstießen; eine steife Brise kräuselte die Wasser des Fjords und erfüllte die Luft mit einem Hauch von Frühling, trotzdem es schon spät im Juni war.
Dann drehte Ericsson sich um und ging den Strand entlang in der Richtung auf den Hafen zu.
Aber er war nicht auf der Suche nach Möweneiern, wie er gesagt hatte, sondern nach Mohnblumen.
Er wußte ein Fleckchen auf den Klippen oberhalb des Hafens, wo isländischer Mohn wuchs, wie man ihn sonst nirgends findet.
Schwalla hatte ihm an dem Tage, als sie zusammen am Hafen waren, den leuchtenden Farbfleck gezeigt. Um hin zu gelangen, mußte man von der Landungsstelle aus in schräger Richtung steil am Felsen hinaufklettern.
Nachdem er ein halbes dutzendmal fast abgestürzt wäre und sich dabei den Hals gebrochen hätte, kam er mit einem großen Strauß der roten Blumen wieder herunter, die er mit den Stielen nach abwärts in seinem Rock verbarg. Zur Nachtzeit wollte er zu Schwallas Haus gehen und sie ihr ins Fenster legen. Er kannte das Fenster ihres Zimmers, denn sie hatte es ihm selbst eines Tages gezeigt. Es war nur etwa fünf Fuß vom Erdboden entfernt; und falls es nicht offen war, oder er es nicht öffnen konnte, wollte er die Blumen einfach auf das Fenstersims legen.
Nachdem er die Blumen in Wasser gestellt hatte, ging er hinaus, um im Garten zu arbeiten.
Nach kurzer Zeit aber richtete er sich von seiner Arbeit auf und schien mit gekreuzten Armen in die Betrachtung seines Werkes versunken.
Aber er sah nichts von dem, was vor seinen Augen lag. Seine Gedanken waren weit weg, Tausende von Meilen weit, wo die Sonne auf die Sanddünen der japanischen Küste schien. Er sah sich selbst, wie er die weißen Blüten pflückte und auf die Matte in dem Hause des japanischen Mädchens legte; und von Japan aus wanderten seine Gedanken mit einem einzigen Flügelschlag der Erinnerung über sein ganzes Leben, zu all den Mädchen, die er umworben und verlassen hatte, zu all jenen, die ihn umworben und zum Narren gehalten hatten – leichtsinnige Dirnen und brave Mädchen.
Er hatte ihnen Geschenke gemacht, billige Geschenke, aber immerhin die besten, die ihm seine Mittel erlaubten, und vielen von ihnen hatte er Blumen geschenkt. Bedeutete Schwalla ihm dasselbe wie jene anderen, und war dies nicht ein Rückfall in sein altes Leben, dem er entfliehen wollte?
Einen Augenblick lang stand er mit verschränkten Armen regungslos da, dann wandte er sich und ging ins Haus. Er nahm die Blumen aus dem Wasser und warf sie auf den Müll. –
Gudmundsson war von Schwallas Worten so überrascht worden, daß er nicht einmal die Hand ausgestreckt hatte, um sie zu halten. Er beugte sich über die Reling und sah sie in Olsens Boot verschwinden. Es hätte ihm auch nichts genützt, wenn er Krach gemacht hätte, denn der Anker war inzwischen gelichtet worden, und die »Ceres« dampfte in südlicher Richtung davon.
Schwalla, die die Unschuld selber war, für die sein geringster Wunsch Gesetz gewesen, die er als seinen wertvollsten Besitz betrachtete – Schwalla hatte diese Worte gesprochen, hatte ihren eigenen Willen entdeckt und diesen Willen dem seinen entgegengestellt – unmöglich!
Und doch war es so.
War sie verrückt geworden? O nein, sie war bei vollem Verstand – sie hatte einfach die ganze Zeit mit ihm gespielt – mit ihm, Olafur Gudmundsson.
Er war ein Mensch, der nicht leicht in Wut zu bringen war; er verlor seine Selbstbeherrschung nie, und diese Tatsache hatte wesentlich zu seinen Erfolgen im Leben beigetragen.
Aber jetzt war er zornig; alles Harte und Brutale in seiner Natur richtete sich gegen das Mädchen, das es gewagt hatte, ihn zum besten zu halten!
Doch gelang es ihm, sich zu beherrschen und seinen Reisegefährten, von denen die meisten ihm bekannt waren, eine fröhliche Miene vorzutäuschen.
Am nächsten Morgen in Reykjavik suchte er den Rechtsanwalt Stefansson in seinem Büro auf.
Stefansson war sein alter Freund und wußte über alles, was sein Verlöbnis mit Schwalla betraf, genau Bescheid; außerdem war er ein vertrauenswürdiger Mann, und vor allem hatte Gudmundsson großen Respekt vor seiner Menschenkenntnis.
»Nun«, sagte Stefansson, nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, »wie stehen die Dinge draußen bei euch am Breidifjord?«
Die Frage gab Gudmundsson den erwünschten Anlaß, die Geschichte seines Kummers zu erzählen.
»Nicht ein Wort hat sie gesagt, bis wir an Bord der ›Ceres‹ waren und der Anker aufgeholt wurde, und dann sagt sie mir solche Dinge, wartet, bis sie mich in der Falle hat.«
»Tja«, meinte Stefansson, »bei den Weibern weiß man nie, woran man ist; aber immerhin ist es seltsam – habt ihr vielleicht einen Streit miteinander gehabt?«
»Einen Streit – aber nein; worüber hätten wir uns streiten sollen!«
»Tja«, sagte Stefansson, »wenn ihr keinen Streit gehabt habt und sie dir plötzlich so kam, dann kannst du Gift darauf nehmen, daß ein anderer Mann im Spiel ist.«
»Ein anderer Mann?«
»Ja, ein anderer, der hinter ihr her ist. Und jetzt will ich dir mal als dein Freund etwas anvertrauen. Jonas Magnus war doch bei mir, als er zurückkam; und als ich ihm von Schwallas Verlobung mit dir erzählte, schien ihm das sehr nahe zu gehen, das konnte ich ihm ansehen; mir scheint, er hätte sie selber gern gehabt.«
»Dieser Fischer!«
»Schließlich ist er doch ihr Vetter.«
»Der ist es nicht«, sagte Gudmundsson, dem plötzlich ein Gedanke aufdämmerte.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, meinte Stefansson. »Wer sollte es sonst sein?«
Gudmundsson, den bisher die Wut über Schwallas Schlechtigkeit, wie er es nannte, so vollkommen erfüllt hatte, daß ihm der Gedanke an einen möglichen Nebenbuhler überhaupt noch nicht gekommen war, begann plötzlich die Wahrheit zu ahnen.
Ericsson, der Mann, der sich ihm entgegengestellt, der ihn durch List dazu gebracht hatte, ihm sein Haus zu vermieten, der Mann, der sich Surssons Boot und Dienste gesichert hatte, der seinen – Gudmundssons – Versuch, das Petroleum aufzukaufen, vereitelt, der bis jetzt so erstaunliches Glück beim Fischfang gehabt hatte – Ericsson hatte ihm Schwalla gestohlen. Er wußte, daß die beiden zusammen zum Eisberg hinausgerudert waren, er wußte, daß sie auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen, und zum erstenmal machte er sich klar, daß Ericsson schon durch sein Aussehen für jede Frau etwas Bezwingendes haben mußte.
Bis zu diesem Augenblick hatte er in Ericsson lediglich den Fischer gesehen, das heißt, einen Menschen, der sich durch seiner Hände Arbeit ernährte. Der Gedanke, Schwalla könnte ihre Augen auf einen Fischer werfen, wäre ihm nie im Traum gekommen. Jetzt aber stieg das Bild dieses Mannes vor ihm auf, der ihm wie vom Schicksal selbst in den Weg gestellt worden war.
Je länger er über die Sache nachdachte, desto fester war er davon überzeugt, daß Stefanssons Vermutung, es müsse ein anderer Mann im Spiel sein, auf Wahrheit beruhte, und um so fester wurde auch seine Überzeugung, daß dieser andere Mann nur Ericsson sein könne.
Er verabschiedete sich von Stefansson und ging ins Hotel zurück.
Gudmundsson war ein Isländer, das heißt, ein Mensch, dem Aberglaube, der Glaube an den bösen Blick, an das Schicksal und an die Macht der Geister angeboren waren. Äußerlich war er ein durchaus moderner Mensch, der Zeitungen las, sich für europäische Politik interessierte – er hatte London, Paris und Kopenhagen besucht –, aber im Inneren war er hinter seiner Zeit weit zurück. Er glaubte an den Nix der Floka, wie Schwalla an ihn glaubte; hätte man ihm davon gesprochen, so würde er sich allerdings über den Gedanken lustig gemacht haben. Er glaubte an das zweite Gesicht und an die Zauberkraft der Hexen; und im geheimen nahm er an Zusammenkünften der Spiritisten teil.
Während er jetzt durch die Straßen von Reykjavik ging, beschäftigte er sich in Gedanken weit weniger mit Schwalla als mit Ericsson.
Ericsson stand plötzlich vor seinem geistigen Auge als eine ihm feindliche und darum böse Macht.
Er ging in die Bar des Hotels und ließ sich einen Schnaps geben; und während er allein an einem Tisch saß und an seinem Likör nippte, betrachtete er die Angelegenheit immer wieder und wieder von allen Seiten.
Er fühlte, daß er sich mit Ericsson auf gleichen Fuß stellen müsse, sollte der Kampf nicht von vornherein zugunsten der Gegenpartei entschieden werden. Wurde Ericsson von den Mächten der Finsternis unterstützt, so mußte eben auch er, Gudmundsson, Beistand bei jenen suchen, die am besten imstande sein würden, ihm zu helfen.
Zwar kannte er in Reykjavik selbst verschiedene Leute, die ihm Zaubermittel gegen den bösen Bück hätten verschaffen können; aber er suchte stärkeren Beistand und wußte auch, wo er ihn finden konnte. Allerdings würde es ihn eine Reise von zwei Tagen kosten. Nachdem er seinen Schnaps ausgetrunken hatte, verließ er die Bar und gab dem Hotelportier Auftrag, ihm ein Reitpony zu bestellen.
Die »Stirling«, auf der er einen Platz für die Überfahrt nach Kopenhagen belegt hatte, würde erst am kommenden Sonnabend abfahren, und da heut Mittwoch war, so hatte er drei volle Tage vor sich, mehr als genug für seine Zwecke.
Es war halb zwölf, als er aufbrach. Er nahm den Weg, der an den kochenden Quellen vorbei nach Thingveller führt.
Er kreuzte die Brücke über den Ellithar, der Hochwasser hatte, und folgte der Straße, bis er zu dem letzten Bauernhofe des Reykjaviker Bezirks kam. Hier stieg er ab, um dem Pony eine kurze Rast zu gönnen. Er selbst ließ sich einen Kaffee geben und schwatzte ein wenig mit dem Besitzer und seiner Frau über die Heuernte und den Fremdenverkehr.
Dahn bestieg er sein Pony wieder und ritt in der Richtung auf Thingveller weiter.
Die Straße war, seit sie von Ellithar abbog, ständig gestiegen und führte jetzt über eine riesige, steinige und mit Moos bewachsene Hochebene, auf der kein Zeichen irgendwelchen Lebens zu sehen war, außer hin und wieder einmal ein Rabe. Alle Viertelmeile waren Steinhügel aufgeschichtet, um im Schnee des Winters den Weg zu weisen, und der lange Zug dieser Steinhügel, die alle von einem einzelnen Stein gekrönt wurden, wirkte nicht unähnlich einer Prozession düsterer Bettelmönche, die stumm und regungslos sich hinzog, soweit das Auge reichte.
Die Straße von Reykjavik nach Thingveller ist für jemanden, der allein reist, die einsamste und trostloseste Straße der Welt, und die Gesellschaft der schweigenden, verwischten Steingestalten trägt nicht dazu bei, ihr von dieser Trostlosigkeit etwas zu nehmen. Der Wind, der über die Hochebene strich, trug von Zeit zu Zeit den Schrei eines Brachvogels herüber, einen Ruf voll schicksalshafter Melancholie; aber Gudmundsson achtete, während er so dahinritt, weder auf die Brachvögel noch auf die Raben und die Trostlosigkeit der Landschaft rings; so abergläubisch er war und so befangen in allen möglichen dunklen Vorstellungen, so unempfänglich war sein Geist für die leisen und geheimnisvollen Einflüsterungen von Wetter und Landschaft.
Am Rathaus, einer Holzbaracke dicht am Wege, in der die Reisenden nur allzugern vor den Schneestürmen Zuflucht suchen, machte er noch einmal eine halbe Stunde halt. Dann ritt er weiter und kam gegen sieben Uhr zum Rande des Plateaus, von dem aus man die Ebene von Thingveller überblickt.
In den Tagen des Feuers und der Verwüstung, als alles Land ringsum kochte und brodelte, als die Schwefelwolken schwarze Nacht über eine Welt warfen, deren Hügel aus Asche und deren Ströme aus flüssigem Felsgestein bestanden, hob eine riesige Blase in der Lava sich himmelwärts und fiel, ohne zu platzen, in sich zusammen – und so entstand die Ebene von Thingveller, eine drei Meilen weite Ebene, deren südwestliche Grenze von dem Ufer eines großen Sees gebildet wird.
See und Ebene liegen heute noch, von den vulkanischen Hügeln umgeben, genau so da wie damals, als das Kochen, Brüllen und Rauchen der Schöpfung erstarb und die Sonne durch die Schwefelwolken brach, um einen See und eine Ebene vorzufinden.
Heute schmücken die Hügel das Smaragdgrün des Grases und wilde Blumen, die oft gerade an den trostlosesten und unerwartetsten Stellen erblühen, aber immer noch hängt die Düsterkeit der frühesten Tage über dem gigantischen Amphitheater, dessen Boden die Ebene von Thingveller ist. Und grade diese Düsterkeit, die wie der Rauch einer längst erloschenen Feuersbrunst über der Landschaft schwebt, gibt ihr die Eigenart.
Gudmundsson zog einen Augenblick die Zügel an und ließ sein Auge über die weite Landschaft schweifen, die vor ihm ausgebreitet lag. Er kannte die Gegend gut, hatte er doch oft genug Saiblinge im See gefangen und Forellen im Sögg, dem Fluß, der in den See mündet.
Dann wandte er das Pony und ritt bergab durch die große Basaltschlucht, die zur Ebene hinunterführt.
Er kam an die Brücke, die über den Oxara-Fluß führt. Die alte Steinbrücke, in deren Geländer der Blutstein eingelassen war, auf dem man in alten Zeiten den Verbrechern die Köpfe abschlug, hatte einem modernen Holzbau Platz machen müssen; aber der Teich, in dem die ungetreuen Frauen ertränkt wurden, liegt noch heute da, genau so tief und düster wie ehemals.
Gudmundsson warf im Vorbeireiten einen Blick hinüber. In dem kleinen Gasthaus, das mitten in der Ebene lag, machte er noch einmal Rast, ließ sich etwas zu essen geben und tauschte sein müdes Pony gegen ein frisches ein. Dann machte er sich von neuem auf den Weg.
Wenn Gudmundsson irgend etwas Besonderes vorhatte, fühlte er so gut wie überhaupt kein Schlafbedürfnis. Mitternacht war längst vorüber, aber es war fast so hell wie in Skarsstöd, trotzdem diese Gegend viel weiter nördlich lag. Nachdem Gudmundsson etwa eine halbe Stunde gradeaus geritten war, kam er an einen kleinen Fluß, dessen Lauf er verfolgte, indem er vom Wege links abbog.
Der kleine Fluß sang und gluckste und hüpfte auf seinem Wege zu Tal, und die Landschaft war grün und heiter mit ihrem leuchtend smaragdenen Gras und Moos und den seltsamen Pflanzen, die nur dort gedeihen, wo es Wasser im Überfluß gibt. Aber die Unschuld des Flusses ist die trügerische Unschuld eines bösen Kindes, und das Lächeln des Tales verbirgt den Tod, denn ringsum ist der Boden durchsetzt von fließendem Morast und Schlammlöchern, die den Menschen mit einem einzigen Ruck verschlingen.
Das Pony roch die Gefahr; es streckte den Hals und blähte die Nüstern, während es vorsichtig Fuß um Fuß setzte; aber Gudmundsson hatte keine Angst – er war nicht zum erstenmal an diesem Ort und kannte den sicheren Pfad.
Er hielt sich die ganze Zeit dicht neben dem Flüßchen, das immer dünner und dünner wurde, bis es schließlich ganz verschwand, als habe der Morast es verschluckt; dann ritt er auf einem schmalen Pfad weiter, der zu beiden Seiten durch Leitsteine bezeichnet wurde, bis er endlich eine Hütte vor sich sah, die wie ein großer, brauner Maulwurfshügel mitten in der Landschaft lag und auf die die Reihe der Leitsteine zuführte, wie ein weisender Finger.
Während er sich der Hütte näherte, hörte er einen Laut, das Summen eines Spinnrades vermischte sich mit einer Frauenstimme, es klang seltsam und fast unheimlich durch die Stille. Als Gudmundsson näher kam, sah er, wie ein schmaler Lichtstreifen durch eine Ritze der Hüttentür drang und gegen das helle Licht des Tages ankämpfte. Ein paar Meter vor der Hütte stieg er ab, ließ das Pony grasen und ging zu Fuß weiter. Die Spinnerin in der Hütte ließ die Arbeit ruhen, als sie den Mann in der Tür erblickte.
Es war eine große, starke Frau mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das aber trotzdem abstoßend wirkte. Es sah aus, als ob sie sich von der Trostlosigkeit ringsum nährte und dadurch so fett geworden war, und ihre Heiterkeit schien nicht aus menschlichen Quellen zu stammen.
Die Hütte war ärmlich, aber sauber, hier und da an den Wänden waren Pflanzenbüschel zum Trocknen aufgehängt. Die Frau trug die isländische Nationaltracht, und als sie sich umdrehte, blitzten die silbernen Fransen, die von ihrer Mütze herunterhingen, im Schein der Öllampe, die auf einem Bänkchen neben dem Spinnrad stand.
»Das ist ja Olafur Gudmundsson«, sagte sie, als das Lampenlicht ihr die Züge des Ankömmlings zeigte.
»Ja«, sagte Gudmundsson, »ich bin es. Ich wollte Euch einmal wieder besuchen. Aber Ihr seid ja so spät noch bei der Arbeit.«
Die Frau lachte, während sie ihr Spinnrad zur Seite stellte.
»Und Ihr kommt spät für einen Besuch«, erwiderte sie. »Was kann ich für Euch tun?«
Gudmundsson lehnte den angebotenen Stuhl ab und begann sofort von der Angelegenheit zu sprechen, die ihm am Herzen lag.
Es war das drittemal, daß er kam, um sich Rat zu holen und die Zukunft voraussagen zu lassen, denn die Frau hatte einen großen Ruf als Hellseherin; es ging sogar das Gerücht, sie sei eine Hexe, das heißt eine Person, die mit Hilfe des Bösen in Menschenschicksale eingreifen könne.
Das war natürlich Unsinn; immerhin zog sie Vorteil aus ihrem Ruf, indem sie den Unwissenden Zaubersprüche und Wundertränke verkaufte.
Gudmundsson glaubte nicht an den Teufel und hätte keinen Pfennig für Rattenschwänze, die einen Fluch auf einen Feind herabbeschwören sollten, oder für Krötensteine als sicherstes Mittel gegen den bösen Blick ausgegeben; aber er glaubte an die Macht des zweiten Gesichts und an die Gabe des Hellsehens, die diese Frau besitzen sollte, und vor allem glaubte er an die Klugheit ihres Rates.
Er erzählte ihr seine ganze Geschichte mit der Offenheit eines Patienten dem Arzt gegenüber, nur daß er keine Namen nannte und von Ericsson als von »dem Mann, der nach Skarsstöd gekommen ist, um mich zu ärgern,« sprach, und von Schwalla als »dem Mädchen, von dem ich Euch erzählt habe.«
Sie fügte die einzelnen Züge seiner Erzählung zusammen, wie ein Buchhalter die einzelnen Posten einer Rechnung addiert, dann nahm sie seine beiden Hände und begann in den Handflächen zu lesen, als seien sie die Blätter eines Buches.
Eine ganze Weile lang sprach sie kein Wort. Es machte den Eindruck, als wisse sie selbst nicht, was sie sagen sollte – oder als hätte sie etwas gefunden, was sie nicht sagen wollte.
Dann begann sie plötzlich zu sprechen.
»Ihr habt Erfolg gehabt, seit Ihr zum letztenmal hier gewesen seid, aber es ist jemand gekommen, der sich Euch entgegenstellt.«
»Das ist der Mann, von dem ich sprach«, sagte Gudmundsson.
»Nun, Ihr habt von diesem Manne nichts zu fürchten.«
»Er wird Skarsstöd verlassen?«
»Das weiß ich nicht; aber Euren Pfad wird er nicht kreuzen.«
»Und das Mädchen?«
»Ihr werdet das Mädchen niemals heiraten.«
»Und sie – wird sie ihn heiraten?«
»Sie wird ihn heiraten, aber es wird kein Kind aus dieser Ehe entsprießen.«
»Der Mann wird meinen Weg nicht kreuzen – werde ich ihn forttreiben – könnt Ihr mir sagen, was ich tun soll?«
»Ihr könnt gar nichts tun, Olafur Gudmundsson, Ihr geht auf eine weite Reise.«
»Das ist wahr«, meinte er, »ich gehe nach Leith.«
»Oh, viel weiter.«
»Das stimmt auch, denn wenn ich mit meinen Geschäften in Leith fertig bin, gehe ich nach Kopenhagen.«
»Ihr werdet weiter reisen als bis Kopenhagen.«
»Wer weiß«, sagte Gudmundsson. »Vielleicht gehe ich auch noch nach England oder Frankreich. Und Ihr könnt mir sagen, wogegen ich mich auf meiner Reise schützen muß?«
»Kein Mensch kann sich vor Gefahr schützen.«
»So seht Ihr Gefahr auf meinem Weg?«
»Große Gefahr.«
»Woher droht mir diese Gefahr?«
»Vom Wasser.«
»Ich werde Schiffbruch erleiden?«
»Nein, Ihr werdet fern vom Meere sterben.«
»Sterben!« schrie Gudmundsson entsetzt auf. »So seht Ihr meinen Tod!«
Die Frau ließ seine Hände fallen.
»Ich sehe nichts mehr – den Tod zu sehen ist keinem Menschen gegeben. Aber die Wellen werden Euch nicht verschlingen, noch salziges Wasser.«
»Dann verstehe ich nicht, wie mir Gefahr vom Wasser drohen kann«, meinte Gudmundsson.
»Ich weiß nichts weiter, als was ich Euch gesagt habe.«
Sie zog ihr Spinnrad wieder heran, und Gudmundsson legte zwanzig Kronen neben die Lampe und wandte sich zur Tür.
»Lebt wohl«, sagte er. »Ich werde auf das Wasser achtgeben.«
»Lebt auch Ihr wohl!« sagte die Frau.
Das Pony knabberte an dem spärlichen Gras, das neben der Hütte wuchs. Gudmundsson stieg auf und ritt davon.
Trotz seines mutigen Geredes war er innerlich aus der Ruhe gebracht; er hatte eine lange Reise gemacht und zwanzig Kronen bezahlt und eigentlich wenig genug dafür erhalten. Es war allerdings eine kleine Genugtuung, zu wissen, daß Ericsson seinen Weg nicht mehr kreuzen würde, aber der Gedanke, daß Schwalla diesen Nebenbuhler heiraten würde, war nichts weniger als erfreulich, selbst wenn die geheimnisvolle Voraussage eintreffen und die Ehe kinderlos bleiben sollte. So versunken war er in seine Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie die Luft des Tales plötzlich vom Nebel trüb geworden war, und als er nur wenige Meter von der Hütte entfernt von dem durch die Steine markierten Weg aufblickte, sah er plötzlich eine dicke Wand aus weißem Nebel vor sich, die mit unheimlicher Schnelligkeit das Tal heraufzog. Trotzdem ritt er weiter, da er nicht zur Hütte zurückkehren wollte und außerdem sicher war, selbst im dichtesten Nebel die Leitsteine erkennen zu können.
Plötzlich aber war er vom Nebel vollkommen eingeschlossen, Erdboden und Leitsteine waren zu einer einzigen Masse zusammengeschmolzen, das Pony drehte sich halb um, schnob heftig und blieb stehen.
Gudmundsson stieg ab, faßte das Pony am Zügel und ging, vorsichtig einen Fuß um den anderen setzend und mit jedem Schritt den Boden abtastend, weiter. Er war noch keine zehn Meter gegangen, als plötzlich sein Fuß einsank; es war, als versuche ein zahnloser Mund ihn einzusaugen.
Er schrie um Hilfe, doch obgleich er wußte, daß die Hütte sich in Rufweite befand, drang keine Antwort an sein Ohr.
Da merkte er, daß er vom Wege abgekommen, daß er ringsum von Sumpf und Tod umgeben war, eingeschlossen von dem eisigen Nebel, der ihm das Mark in den Knochen gefrieren ließ.
Er wußte, daß die Frau außer ihrer Lampe noch eine Laterne besaß, denn er hatte sie an einem Haken neben der Tür an der Wand hängen sehen; mit Hilfe dieser Laterne und bei ihrer Ortskenntnis hätte es ein leichtes sein müssen, ihm zu Hilfe zu kommen.
Noch einmal rief er, aber keine Antwort erfolgte.
Und während sein Ohr sich anstrengte, hörte er schwach und fern den summenden Ton des Spinnrades und den monotonen Singsang der Frau.
Bei diesem Klang sträubten sich ihm die Haare, und kalter Schweiß brach ihm aus den Poren. Er wußte, daß seine Hilferufe sie erreicht haben mußten. Er rief wieder und wieder, und nach jedem Ruf lauschte er angespannt, der emsige Ton des Spinnrades aber riß nicht ab.
Plötzlich begann das Pony hinter ihm einzusinken. Es hatte sich ein wenig bewegt und war dabei mit dem einen Hinterhuf in eine Sumpfstelle geraten; während es den Huf herauszog, sank es mit dem anderen ein, und bei dem Versuch, das Pony zu befreien, merkte Gudmundsson, daß der anscheinend feste Grund unter seinen Füßen anfing, nachzugeben und einzubrechen, wie die Kruste einer Pastete. In diesem Augenblick verlor er jede Selbstbeherrschung – alle seine Gedanken gingen unter in dem einen leidenschaftlichen Wunsch, dem Ort, an dem er sich befand, zu entfliehen und in Sicherheit zu gelangen.
*
Drei Tage lang sah Ericsson nichts von Schwalla; er fuhr frühmorgens mit dem Boot hinaus und kam erst spät am Abend zurück.
Am vierten Tag sah er sie von weitem die Straße hinunterkommen. Er trat rasch in den Pfarrgarten ein, an dem er gerade vorüberging, um einer Begegnung auszuweichen. Pastor Olsen war in dem kleinen Hof hinter dem Haus damit beschäftigt, alte Fischkisten zu zerschlagen, um einen Kaninchenstall daraus zu bauen; Ericsson stellte sich neben ihn und sah ihm bei der Arbeit zu, während sie sich unterhielten. Von draußen hörte er Schwallas Stimme nach Helgi rufen, der am Gartenzaun der Pfarre herumschnupperte.
»Ah, da ist Schwalla Gunnarsson«, sagte Pastor Olsen und ließ einen Augenblick den Hammer ruhen, um zu lauschen. »Sie ruft ihren Fuchs.«
Er nahm seine Arbeit wieder auf, hielt aber von neuem inne, als hoffte er, die Stimme noch einmal zu hören; dann begann er von dem Mädchen zu sprechen, wobei er die einzelnen Sätze mit Schlägen seines Hammers unterstrich und dazwischen immer wieder pausierte, um mit schief auf die Seite gelegtem Kopf seine Arbeit zu begutachten.
Olsen war über sechzig Jahre alt; er hatte fast sein ganzes Leben in Skarsstöd verbracht und die meisten Einwohner des Ortes getauft. Wenn er von irgend jemandem sprach, so fing er mit dem Anfang an und hörte mit dem Ende auf, das heißt, er erzählte alles, was es von dem Betreffenden überhaupt zu erzählen gab. Er kannte jeden Menschen in Skarsstöd in- und auswendig, mit allen guten und schlechten Eigenschaften, und außer Frau Sturlusson war er der einzige, der Schwallas Verlöbnis mit Gudmundsson nicht billigte, obwohl er nie auch nur ein Wort über die Angelegenheit verloren hatte.
Ericsson hörte ihm zu, während er so erzählte, verabschiedete sich dann und ging weiter, da die Gefahr, das Mädchen zu treffen, augenscheinlich vorüber war.
Grade die Tatsache, daß er während der letzten paar Tage jede Begegnung mit Schwalla vermieden hatte, trieb die Dinge bei ihm einer Krisis zu. Die Liebe, mit der er sein ganzes Leben lang nur gespielt hatte, fing plötzlich an, sich an ihm zu rächen. Diesmal war es keine flüchtige Leidenschaft, die man auskostete, um sie dann beiseite zu werfen – Herz und Sinne waren gleichermaßen gefangen.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf; und als ihm endlich doch die Augen zufielen, verfolgten ihn die fürchterlichsten Träume; Berge, Lava-Kuppen und Klippen aus Eis lagen vor ihm – und all diese Hindernisse mußte er überwinden, um zu Schwalla zu gelangen.
Am nächsten Morgen schickte er Magnus und Sursson allein zum Fischfang hinaus; er selbst blieb zu Hause, flickte Angelleinen und schärfte die Haken.
Es war strahlend schönes Wetter; und während er bei seiner Arbeit saß, konnte er durch die halb offenstehende Tür die Stimme des Flusses und die Geräusche des Ortes hören.
Plötzlich, als sei ein Entschluß, der schon lange in ihm geschlummert hatte, zur Reife gelangt, legte er seine Arbeit fort, stand auf und verließ das Haus.
Auf irgendeine Weise mußte er die Angelegenheit zu Ende bringen, und zwar jetzt gleich; er würde einfach zu Schwalla gehen und ihr sagen, was er für sie fühlte.
Vielleicht würde sie ihn abweisen – vielleicht – aber daran dachte er nicht. Es war genau wie damals, als er die Boje einfing, die sich losgerissen hatte. Die Boje hatte versucht, ihn abzuwerfen, ihn zu ertränken, und doch war es ihm gelungen, sie zu meistern, indem er seine Augen vor der Gefahr verschloß. Denn das Wesen der Tollkühnheit liegt ja gerade darin, daß man sich den möglichen Folgen einer Gefahr gegenüber blind stellt.
Ericsson ging die Straße hinauf bis zu Gunnarssons Haus. Er drückte den Riegel der Gartenpforte hinunter und trat ein.
Sein Herz schlug heftig, als die Tür sich öffnete – dann wurde es ganz still. Das Schlimmste war vorüber, so schien es ihm. Jetzt war er einmal im Hause, und es gab kein Zurück mehr. Er klopfte an die Haustür, und die kleine Magd öffnete ihm.
Schwalla war ausgegangen.
Auch Gunnarsson war nicht zu Hause, nach ihm aber hatte er gar nicht gefragt.
Er drehte sich kurz um und verließ das Haus; er ging das Tal hinauf, ohne in seiner Enttäuschung darauf zu achten, wohin seine Füße ihn trugen.
Er war geneigt, ihre Abwesenheit als eine sorgfältig in Szene gesetzte Beleidigung aufzufassen; er erinnerte sich, wie sie an ihm vorbeigegangen war, ohne zu grüßen, und plötzlich packte ihn ein Gefühl nörgelnder Wut. Nein, er ging nicht noch einmal hin, mochte sie denken, was sie wollte. Er würde überhaupt von Skarsstöd fortgehen, das Boot verkaufen und wieder in den Kabeldienst zurückkehren.
Als er um die Talkehre bog, fiel sein Blick auf Gudmundssons Haus.
Während der letzten paar Tage hatte er die Beziehung, in der Schwalla zu Gudmundsson stand, tatsächlich vollkommen vergessen. Er hatte die Sache überhaupt nie sehr ernst genommen, einfach weil er innerlich fest davon überzeugt war, daß das Mädchen sich aus dem fetten Gudmundsson als Liebhaber nichts machte.
Der Anblick von Gudmundssons Haus aber führte ihm plötzlich die Tatsache vor Augen, daß er in aller Öffentlichkeit hingegangen war, um der Verlobten eines anderen einen Antrag zu machen, während dieser andere verreist war.
Er hatte Gudmundsson vollständig vergessen, und der Humor der Angelegenheit kitzelte ihn so stark, daß er lachen mußte. Seine schlechte Laune war plötzlich wie verflogen. Übrigens trugen auch die körperliche Bewegung und vor allem die Stimmung des Floka-Tales dazu bei, ihn zu beruhigen.
Ericsson ging an dem Haus vorüber, immer weiter talaufwärts, bis er zu einer Stelle kam, wo der rauhe, steinige Boden einem großen, mit Moos bewachsenen Fleck Platz gemacht hatte.
Dieses Moos, das die alten Lava-Betten von Island bedeckt, ist von graugrüner Farbe, dick und elastisch wie eine Matratze; auf ganzen Quadratmeilen ist der Boden des Floka-Tales davon bedeckt. Am Rande dieses Moosbettes blieb Ericsson stehen. Vor ihm, zwischen dem Fluß und dem Basaltriff zur Rechten, lag ein riesiger Felsblock, und dicht daneben hüpfte und tollte ein kleines, schwarzes Wesen über das Moos.
Es war Helgi.
Da wußte Ericsson, daß Schwalla in der Nähe sein mußte, aber er konnte sie nirgends entdecken, der Felsblock schien sie vor seinen Blicken zu verbergen. Ein paar Minuten sah er dem Fuchs zu, bis dieser hinter dem Felsblock verschwand; dann erst wagte er sich vor. Der dicke Moosteppich erstickte den Laut seiner Schritte; er bog um die Ecke des Felsblocks, und richtig, da lag Schwalla, in tiefem Schlaf wie ein Kätzchen zusammengerollt, und der Fuchs kuschelte sich an sie an.
Ihren Hut hatte sie abgenommen und lag, den Arm unter den Kopf geschoben, auf der Seite; der Fuchs, der sich wie ein Hündchen an ihren Schoß geschmiegt hatte, hob, als er den Mann näherkommen sah, den Kopf und zeigte die Zähne.
Fast im gleichen Moment öffnete das Mädchen die Augen.
Noch halb im Traum sah sie die riesigen Basaltklippen und vor ihnen die Gestalt des Mannes, dessen Bild sie seit Tagen verfolgte, seit jenem Augenblick, als sie auf der Straße an ihm vorübergegangen war, ohne ihn zu grüßen.
Ihrem einfachen Gemüt schien es, als habe sie in ihrer Wut auf die ganze Welt eine nicht wieder gutzumachende Handlung begangen. Gunnarsson hatte ihr verboten, irgend etwas mit Ericsson zu tun zu haben; aber nicht aus Gehorsam gegen ihren Vater hatte sie ihn nicht gegrüßt. Sie hatte einfach ihre Wut auf Gunnarsson im besonderen und die Welt im allgemeinen an Ericsson ausgelassen und hatte so in einem einzigen Augenblick etwas getan, was nie wieder rückgängig gemacht werden konnte. So rechnete sie mit sich selbst.
Und doch stand Ericsson hier vor ihr, als sei nicht das mindeste geschehen, und bevor sie sich aufrichten konnte, war Helgi davongesprungen, und Ericsson saß neben ihr auf dem Moosteppich; ihre Hand lag in der seinen, und ehe sie nur ein Wort hervorbringen konnte, fand sie sich in seinen Armen, und er küßte ihren Mund, ihre Haare und ihre Augen – alles ohne zu sprechen.
Dann saßen sie nebeneinander auf dem Moos, und zwischen ihnen saß Helgi. Der Fuchs schien erkannt zu haben, daß Ericsson kein Fremder mehr sei, und ließ sich von ihm streicheln und am Fell zupfen, ohne die Zähne zu zeigen; und sie unterhielten sich wie zwei Menschen, die einander von Geburt an gekannt haben, aber viele, viele Jahre getrennt gewesen sind.
Aber das war nun alles vorbei; sie gehörten einander, jetzt und für alle Zeit.
Es war fast seltsam, diese stille Zufriedenheit ihres Glückes; nach den ersten paar Minuten hätte man meinen können, sie seien nicht Liebende, sondern zwei gute Kameraden, wie sie so zusammensaßen mit dem Fuchs in der Mitte und einander alle möglichen Dinge erzählten, Kleinigkeiten und unbedeutende Begebenheiten aus den letzten paar Tagen. Wie sie an ihm vorübergegangen sei, ohne zu grüßen, weil – weil – ja, sie konnte nicht recht sagen, weshalb eigentlich; und wie er gedacht hatte, sie müsse böse auf ihn sein, ohne daß er sich im geringsten hatte vorstellen können, aus welchem Grunde sie eigentlich böse sei.
Sie erzählte ihm von Gudmundsson, die ganze Geschichte, einfach, ohne irgend etwas auszuschmücken, und dann legten sie Gudmundsson für immer beiseite und sprachen von Skarsstöd und der Zukunft.
Die ganze Zukunft gehörte ihnen.
Die Zukunft ist eine der reizendsten Gaben der Liebe, wenn sie auch eine der trügerischsten ist; die beiden wandten sie hin und her, betrachteten sie von allen Seiten, bis sie fast zu etwas Wirklichem geworden war.
Dann kam Schwalla plötzlich der Gedanke an ihren Vater, und sie sagte, daß er sich ihrer Vereinigung aufs äußerste widersetzen würde.
»Ich werde heute abend noch zu ihm gehen und mit ihm sprechen«, sagte Ericsson. »Nein, ich werde jetzt gleich zu ihm gehen, und ich bin überzeugt, daß er nichts gegen mich einzuwenden haben wird, wenn er mich angehört hat.«
»Du kennst ihn nicht«, sagte Schwalla mit einem Seufzer.
Ericsson lachte.
»Ich kenne ihn doch. Er ist ein guter Mann, aber eigensinnig. Das macht nichts. Er ist auch ein gerechter Mann, und wenn er sieht, daß ich kein unehrlicher Mensch bin, wird er schon auf das hören, was ich ihm zu sagen habe.«
Helgi hatte seinen Platz zwischen ihnen aufgegeben und lief unruhig hin und her. Mittag war längst vorüber, und er war hungrig.
Schwalla stand hastig auf, und nebeneinander gingen sie das Tal hinunter, fast ohne ein Wort zu sprechen. In der Nähe des Hauses blieben sie stehen.
»Wenn du jetzt mit ihm reden willst, dann komme ich gar nicht mit hinein«, sagte Schwalla. »Ich gehe ums Haus herum, um Helgi zu füttern. Du kannst vorn hineingehen, er ist sicher zu Hause.«
Im nächsten Augenblick läutete Ericsson an der Haustür. Das kleine Dienstmädchen öffnete. Sie schien erstaunt, Ericsson wiederzusehen, und war gerade im Begriff ihm mitzuteilen, daß Schwalla immer noch nicht heimgekommen sei, als der Besucher sie mit der Frage unterbrach, ob er ihren Herrn sprechen könne.
Ja, Gunnarsson war zu Hause; sie ließ Ericsson eintreten und ging voran, um die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen.
Gunnarsson hatte allein zu Mittag gegessen, etwas beunruhigt, weil Schwalla nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war. Er erhob sich halb von seinem Stuhl, um den Besucher zu begrüßen, von dem er annahm, daß er in irgendeiner mit der Fischerei zusammenhängenden Angelegenheit gekommen sei.
Er sollte nicht lange in diesem Irrtum bleiben.
Ericsson sah sich um, ob die Tür geschlossen sei – dann ging er zum Angriff über.
»Stefan Gunnarsson«, sagte er, »ich bin hergekommen, Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten. Sie liebt mich, und wir sind uns einig, für mich aber ist die Sache nicht abgemacht, solange ich nicht die Einwilligung ihres Vaters habe.«
Gunnarsson machte eine heftige Bewegung, wie um von seinem Stuhl aufzuspringen, beherrschte sich aber und blieb sitzen. Ericssons Worte hatten ihn völlig überrumpelt. Hätte Ericsson vorsichtig auf den Busch geklopft, so würde Gunnarsson wie ein bissiger Hund auf ihn losgefahren sein; aber dieser kühne Angriff, der halb und halb eine Art Huldigung für ihn selbst bedeutete, erstickte seine Wut. So saß er nur da und starrte den Riesen ihm gegenüber an. Er hätte an sich nicht das mindeste gegen Ericsson einzuwenden gehabt; im Gegenteil, Ericsson hatte sich als fleißiger und geschäftlich erfolgreicher Mann erwiesen, er hatte Geld hinter sich, stammte aus einer angesehenen Reykjaviker Familie und stand tatsächlich gesellschaftlich auf der gleichen Stufe wie Schwalla. Aber schließlich war doch er es gewesen, der die Angelegenheit zwischen Schwalla und Gudmundsson befürwortet und nach jeder Richtung hin begünstigt hatte; diese Verlobung war ganz eigentlich sein Werk gewesen, und er hatte keine Lust, sich dieses Werk so ohne weiteres zerstören zu lassen.
Er wies auf einen Stuhl.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich habe zwar an sich wenig Lust, über diese Angelegenheit zu reden, aber da Sie mich hier sozusagen damit überfallen, bin ich ja dazu gezwungen. Vor allen Dingen muß ich Ihnen sagen, daß meine Tochter kein Recht hat, sich wegzugeben, genau so wenig wie ich ein Recht habe, sie Ihnen zu geben. Das wäre genau so, als würde ich zu Ihrem Partner Magnus gehen und ihm sagen: ›Gib mir Erik Ericssons Boot.‹ Was würde er mir wohl darauf antworten? ›Ich kann es dir nicht geben, denn es gehört nicht mir.‹ Und grade so ist es mit Schwalla; sie hat sich einem Manne anverlobt und kann sich nicht an einen anderen vergeben.«
»Ich will Ihnen mal etwas sagen«, erwiderte Ericsson. »Verlobt oder nicht, Schwalla wird Gudmundsson niemals heiraten. Ich spreche ganz offen und ehrlich mit Ihnen, als Mann zu Mann, und es ist die volle Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihrer Tochter nicht etwa nachgelaufen bin, um sie Gudmundsson abspenstig zu machen, ebensowenig wie sie sich in unrechter Absicht mir zugewandt hat. Die Natur selbst hat uns zwei zusammengeführt, und Menschengewalt ist nicht imstande, uns voneinander zu trennen.«
»Warum kommen Sie dann überhaupt her und fragen mich?« sagte Gunnarsson.
»Weil ohne Ihre Einwilligung die Sache nicht ihre Richtigkeit hat; Schwalla würde ohne sie nicht glücklich sein können, und ich im übrigen auch nicht. Sie sind ihr natürlicher Beschützer, Sie haben sie aufgezogen, und es ist nicht meine Absicht, mich zwischen Sie beide zu drängen. Nein, eher würde ich selbst hier den Anker lichten und mich nach einem anderen Platz umsehen. Aber das würde bedeuten, daß ich Schwalla verlassen muß, und wenn ich Schwalla verlassen müßte« – er brach ab, um nach einem Augenblick fortzufahren: »Nein, ich kann sie nicht verlassen, auch wenn ich es wollte. Das liegt außerhalb meines Willens. Ich habe in dieser ganzen Sache keinen anderen Willen als den, Schwalla glücklich zu machen.«
Gunnarsson zerbrach sich den Kopf, um eine Entgegnung zu finden, wußte aber schließlich nichts weiter zu sagen als:
»Das ändert alles nichts an der Tatsache, daß sie mit Gudmundsson verlobt ist.«
Da aber brach Ericsson los, nicht in Wut, sondern in heiligem Zorn:
»Gudmundsson! Ich will Ihnen etwas sagen, Stefan Gunnarsson. Sie wollen das Mädchen an Gudmundsson binden, einen alten Mann, und sie ist noch keine zwanzig Jahre alt! Und wenn weitere zwanzig Jahre vergangen sind, wo steht sie dann? Sie haben nicht den Verstand, um für das Mädchen einzustehen, das sage ich Ihnen ins Gesicht; Sie können nicht weiter sehen als bis zu Ihrer Nasenspitze; Sie wollen Ihre eigene Tochter an einen Mann binden, der alt genug ist, ihr Vater zu sein; Sie nörgeln und wimmern, wenn ein Mann daherkommt, der im Alter zu ihr paßt, ein Mann, der sie liebt und, was mehr ist, ein Mann, der sie heiraten will. Nichts für ungut – und jetzt möchte ich von Ihnen wissen: was haben Sie eigentlich gegen mich?«
Gunnarsson war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab.
Ericssons Ausbruch hatte eine seltsame Ähnlichkeit mit Ausbrüchen der seligen Frau Gunnarsson, und hätte sie aus dem Grabe auferstehen können, so würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach ungefähr in derselben Art mit ihm umgesprungen sein. Er war nicht etwa wütend, dazu war Ericssons Wärme zu aufrichtig, und eben die Wärme hatte seine starre Selbstsicherheit zum Auftauen gebracht.
»Was ich auch tat, es war gut gemeint«, sagte er wie zu sich selbst. »Olafur Gudmundsson ist ein guter Mann und ein wohlhabender Mann, mit einer schönen Stellung in der Welt. Er ist älter als sie, schließlich aber kann man ja auch nicht alles verlangen.«
Darauf wandte er sich an Ericsson:
»Und was haben Sie ihr zu bieten, daß Sie so einfach daherkommen und eine Verlobung lösen, die ihr ein schönes Haus, Geld und Land sichert?«
Hier hatte Ericsson Gelegenheit einzuhaken; und er fing an, von seinen Aussichten zu sprechen, von dem, was er getan und was er zu tun vorhatte.
Nun hatte Ericsson, obwohl er erst so kurze Zeit in Skarsstöd war, bereits alle Möglichkeiten, die der Ort bot, ergründet. Er wies nach, daß Gudmundsson mit seinen veralteten geschäftlichen Methoden und durch ausbeuterisches und dabei unrationelles Arbeiten über kurz oder lang seinen Betrieb ruinieren müsse, und daß er, Ericsson, innerhalb weniger Wochen und mit nur ein paar tausend Kronen ein Geschäft begründet hatte, das Aussicht bot, so groß zu werden wie der Fjord selbst. Er würde eine Fischkonservenfabrik einrichten (ein Gedanke, mit dem Gunnarsson schon oft gespielt hatte); der ganze Fischereibetrieb sollte richtig organisiert, die Verbindung mit Reykjavik verbessert und dort eine Vertretung eingerichtet werden, um die Dampfschiffahrtsgesellschaften zu versorgen und den Transport nach Leith und Kopenhagen zu erleichtern.
Er hatte das Spiel gewonnen, bevor er überhaupt noch von seinen unmittelbaren Plänen und Aussichten zu sprechen begonnen hatte; aber wenn auch Gunnarsson innerlich bereits völlig umgestimmt und durchaus bereit war, seine Einwilligung zu geben, so hütete er sich doch, dieser Sinnesänderung nach außen klaren und unzweideutigen Ausdruck zu geben.
Er scharrte mit den Füßen und brummte vor sich hin und sagte, er würde die ganze Sache noch einmal überdenken, und Ericsson, der über den endgültigen Ausgang, den die Angelegenheit nehmen würde, nicht mehr im Zweifel war, verließ ihn leichten Herzens und ging nach Haus.
Es wurde neun Uhr abends, ehe Magnus vom Fischfang zurückkam.
Ericsson hatte noch nicht gegessen, und die beiden Männer setzten sich einander gegenüber an den Tisch.
Magnus war schlechter Laune. Er nörgelte überhaupt gern an dem Essen herum. Nun sind in Island die Kartoffeln wirklich nicht viel wert, Gemüse gibt es wenig, der Hammel ist zäh, und man bekommt keine Kuh-, sondern nur Schaf- und Ziegenmilch. Aber der Fisch ist so ausgezeichnet, daß er alles andere wieder wettmacht, denn auf der ganzen Welt gibt es keine Fische wie die, die an der isländischen Küste gefangen werden.
Aber an diesem Abend war Magnus so verärgert, daß er sogar von den Kabeljausteaks behauptete, sie seien ungenießbar.
Ericsson hörte überhaupt nicht auf sein Geschwätz. Ihn beschäftigte der Gedanke, wie Magnus die Neuigkeit, die er ihm mitzuteilen hatte, wohl aufnehmen würde, und er beschloß, sie ihm sofort zu erzählen. Er wartete, bis sein Freund mit Essen fertig war, dann stand er auf, zündete sich eine Pfeife an und warf sich aufs Bett.
»Magnus«, sagte er, »ich habe mit Schwalla gesprochen.«
Magnus saß noch am Tisch und trank gerade den Rest seines Kaffees. Die Tasse in der Hand, fuhr er herum und starrte seinen Freund an.
»Du hast mit Schwalla gesprochen? Was meinst du damit?«
»Ich habe sie gebeten, meine Frau zu werden.«
Er hatte einen Ausbruch erwartet, aber Magnus saß einen Augenblick ganz still da. Dann sagte er:
»Du hast Schwalla gebeten, deine Frau zu werden?«
»Ja, und sie hat eingewilligt.«
Wieder blieb Magnus stumm.
Hätte jemand ihn vor ein paar Stunden gefragt: »Was würdest du tun, wenn Ericsson Schwalla heiraten würde?«, er hätte geantwortet: »Ich würde ihn töten!« Jetzt aber, da Ericsson ihm die Sache mitteilte, blieb er ganz ruhig. Er empfand nicht das mindeste Gefühl der Wut oder des Ärgers. Die Verlobung war eine vollendete Tatsache und hatte als solche nichts mehr mit seiner Phantasie zu tun; es war eine Tatsache, so wirklich wie der Tisch, an dem er saß – und was das Seltsamste war, sie erschien ihm nicht einmal mehr als etwas Neues oder Überraschendes.
In einem einzigen Gedankenblitz erkannte er, daß dieses sich schon lange vorbereitet hatte, und mehr als das – er erkannte, daß es hatte kommen müssen, daß es unausbleiblich war. Es war ebenso unausbleiblich, daß Schwalla und Ericsson sich hatten finden müssen, wie daß zwei Schwäne sich in einem Entenhof zusammenfinden müssen.
Er stand auf und griff nach seiner Mütze. Auch Ericsson stand auf.
Magnus ging auf die Tür zu, als der andere ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Hast du mir nichts zu sagen, Magnus?« fragte er. »Du mußt nicht etwa glauben, daß ich ihr nachgestellt hätte – es kam eben so über uns beide. Ich weiß, du hast sie selbst einmal liebgehabt; aber schließlich habe ich sie ja nicht dir weggenommen. Laß diese Sache sich nicht zwischen uns stellen.«
»Laß mich gehen«, sagte Magnus. »Ich muß nachdenken. Es hat mich hart getroffen – ich muß allein sein.«
Er ging hinaus.
Draußen blieb er einen Augenblick stehen, als wisse er nicht, welchen Weg er einschlagen solle, dann ging er zum Meer hinunter.
Der unglückselige Magnus befand sich etwa in der Lage eines Ohrwurms, den man sorgfältig in zwei Teile zerschnitten hat; das vordere Ende ist springlebendig und nur verwundert, was um Himmels willen aus seinem Stachel geworden sein mag. Im Grunde hatte er ja auf Schwalla Verzicht geleistet, eigentlich schon von dem Augenblick an, als er an Bord der »Botnia« entdeckte, daß die Schwalla von früher sich in einen ganz anderen Menschen verwandelt hatte. Aber seine Phantasie hatte sich dem Gedanken verschlossen, irgend jemand anderes könne einen Einbruch in Bezirke wagen, über die er selbst keine Rechte mehr besaß.
Er setzte sich auf einen Steinblock und sah aufs Meer hinaus. Dann zündete er sich seine Pfeife an und rauchte.
Er wollte von Skarsstöd fortgehen; er konnte Ericsson nicht hindern, Schwalla zu heiraten – aber hierbleiben und das mit ansehen – nein, das war mehr, als man von ihm verlangen konnte. Er versuchte, eine gewisse Genugtuung in dem Gedanken zu finden, daß sein Fortgehen Ericsson geschäftlich schädigen würde – aber das Vergnügen wollte sich nicht einstellen. Lange Zeit saß er so da, rauchte und sah aufs Meer hinaus. Dann begann er zu begreifen, daß er eigentlich keine Wut in seinem Herzen empfand, und leise, ganz leise merkte er, daß er jetzt, da Ericsson und Schwalla zusammengekommen waren, sie in Gedanken als eine Einheit zu betrachten begann; ihre beiden Persönlichkeiten schmolzen in seiner Phantasie zu einer einzigen zusammen.
Als er nach Hause zurückkam, lag Ericsson immer noch rauchend auf dem Bett, aber Helga hatte inzwischen das Geschirr abgeräumt. Magnus holte sich eine Angel, an der ein Senkblei befestigt werden mußte, und gab sich den Anschein, als sei er von seiner Arbeit vollkommen in Anspruch genommen.
Ericsson beobachtete ihn eine Weile, ohne etwas zu sagen, und lächelte vor sich hin. Er wußte, daß Magnus sich mit der neuen Situation abgefunden hatte, sonst wäre er nicht nach Hause gekommen; jetzt wartete er, ob Magnus etwas sagen würde; aber er blieb stumm.
Nach einer Weile brach Ericsson das Eis.
»Habt ihr einen guten Tag gehabt?« fragte er.
Magnus brummte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Tja«, fuhr Ericsson fort, als spräche er nur so im allgemeinen und nicht etwa zu Magnus persönlich, »es ist schon wahr, daß der Breidifjord der beste Fischgrund weit und breit ist; der Faxafjord kann sich nicht mit ihm messen.«
Wieder brummte Magnus etwas Unverständliches, was sowohl Ablehnung als auch Zustimmung bedeuten konnte.
»Und dann der Fluß«, fuhr Ericsson fort. »Zwischen dem Fluß und dem Fjord müßte Skarsstöd vor Arbeit surren wie eine Turbine – und das wird es auch, dafür laß mich nur sorgen. Ich sage dir, Island muß nur aus dem Schlaf aufgerüttelt werden, hier genau so wie in Reykjavik. Ich will dir sagen, wie es in zwei Jahren hier aussehen wird: wir werden eine Konservenfabrik für den Lachs haben; die Fischerflottille wird richtig organisiert sein, und es wird nicht vorkommen, daß die Leute irgendeine Landarbeit verrichten, während der Kabeljau beißt. Jede Woche zweimal werden eigens zu diesem Zweck angeschaffte Dampfer die frischen Fische und Heilbutten nach Reykjavik bringen – und Gudmundsson wird unser Geschäftsteilhaber sein.«
Magnus grunzte dreimal schnell hintereinander, als wollte er auf diese Weise seinem spöttischen Unglauben in Ericssons letzte Behauptung Ausdruck geben.
»Jetzt, da ich Gunnarsson auf unserer Seite habe, muß Gudmundsson abtreten«, sagte Ericsson. »Aber er wird schon nachgeben, wenn er sieht, wie die Dinge laufen, darauf kannst du dich verlassen. Ich leugne ja nicht, daß ich ihn ein bißchen beschwindelt habe, um sein Haus zu bekommen, von da an aber war es offener, ehrlicher Kampf ohne irgendwelche Winkelzüge. Dabei ist er ja im Grunde kein schlechter Mensch, und wenn er sieht, daß er gegen uns nichts machen kann, wird er schon wissen, was er zu tun hat.«
Magnus sagte nichts weiter, aber Ericsson wußte, er hatte ihn »herumgekriegt«. Er mochte brummen und schmollen, soviel er wollte, Ericsson hatte ihn an der Leine, genau wie er Gunnarsson an der Leine hatte und Gudmundsson und Sursson. Und wie er sehr bald ganz Skarsstöd an der Leine haben würde.
Ericssons Idee, Gudmundssons Machtstellung zu brechen, ihm sein Mädchen wegzunehmen und ihn doch zu seinem Partner zu machen, zeugte von der tiefgründigen Menschenkenntnis des ehemaligen Kabelmatrosen. Gudmundsson und er würden die beiden Männer in Skarsstöd sein, denn der Ort bot nicht genug Raum, um sich zu bekämpfen. Die gewaltigen Zukunftspläne, die sich, bisher nur von Ericssons Phantasie vorausgeahnt, in dem Tal zu entwickeln begannen, ließen nicht Platz für einen Kampf. Der Verlust Schwallas als Weib mochte Gudmundsson kränken, aber Ericsson schloß ganz richtig, daß er sich dadurch in seinen geschäftlichen« Absichten nicht beeinflussen lassen würde.
Plötzlich fühlte Ericsson, während er rauchend und Pläne für die Zukunft schmiedend auf dem Bett lag, daß eine seltsame Unruhe von ihm Besitz zu ergreifen begann. Er richtete sich auf dem Ellbogen auf und lauschte auf den Wind, der etwas aufgefrischt hatte und in Böen von Nordwesten blies. Dann stand er auf und sah nach dem Wetterglas, das neben der Tür an der Wand hing. Das Quecksilber war ein wenig gefallen. Er öffnete die Tür und warf einen Blick zum Himmel hinauf.
»Ich weiß nicht«, sagte Ericsson, »aber mir scheint, daß ein Sturm aufkommt. Ich bin so voll von Elektrizität wie eine Dynamomaschine; ich glaube, wenn du mich anrührst, sprühe ich Funken.«
Magnus lachte.
»Du mit deinem Sturm!« sagte er. »Du kennst das Wetter am Breidifjord nicht. Aber ich kenne es, denn ich bin hier geboren und aufgewachsen. Es kommt eine kleine Brise auf, das ist alles.«
»Na, jedenfalls werde ich das Boot in den Hafen bringen.«
»Und ich sage dir, es gibt nichts als ein bißchen Wind«, erklärte Magnus brummig. »Das Boot liegt vollkommen sicher, es hat gar keinen Sinn, es mitten in der Nacht wegzubringen.«
Ericsson wurde schwankend. Er wußte, daß Magnus kein Dummkopf war und daß er sich mit dem Wetter an der Westküste auskannte. Wenn er, Ericsson, zu dieser Stunde das Boot in den Hafen bringen würde, und es stellte sich später heraus, daß die ganze Sache unnötig gewesen war, so würde Magnus ihn im ganzen Ort lächerlich machen – das wußte er auch.
Aber dabei spürte er doch in allen seinen Nerven, daß sich irgend etwas vorbereitete; seine Haut war trocken und prickelig, und die Ruhelosigkeit, die ihn gepackt hatte, war schlimmer als ein körperlicher Schmerz.
Er sah noch einmal auf das Wetterglas; in der kurzen Zeit war das Quecksilber schon wieder gefallen. Fast unmerklich allerdings, aber jedenfalls stand es niedriger als vorhin.
»Ich tu es doch«, sagte er. »Sturm oder nicht, das Boot ist jedenfalls im Hafen am sichersten.«
Er verließ das Haus.
Im Vorbeigehen trat er ins Wirtshaus ein, wo Sursson und ein halb Dutzend andere Fischer bei Ingwerbier und politischen Gesprächen zusammensaßen.
»Ich gehe hinunter, das Boot in den Hafen bringen«, sagte er.
»Warum? Was ist denn mit dem Boot los?« erkundigte sich Sursson.
»Nichts, aber das Wetter gefällt mir nicht.«
Das war ja gerade so, als hätte er der Versammlung erklärt, er, ein Fremder, verstünde mehr von dem Wetter von Skarsstöd als sämtliche Eingeborenen. Seine Bemerkung wurde denn auch mit tödlichem Schweigen aufgenommen. Nur Sursson sagte:
»Wenn du willst, aber das Boot ist ganz sicher, wo es liegt.« Er stand auf und ging mit Ericsson zur Helling hinunter.
Der Wind blies in scharfen Böen, aber der Himmel war diamantklar. Außer der »Helga« waren noch zwei andere Motorboote in der Nähe der Helling vertäut; die übrige Fischerflottille von Skarsstöd lag im Hafen.
»Vielleicht irre ich mich«, sagte Ericsson; »aber ich habe das bestimmte Gefühl, daß es besser ist, das Boot in Sicherheit zu bringen. Ich habe keine Angst, mich auslachen zu lassen. Magnus sagt, daß er die Küste hier besser kennt als irgendein anderer; mag sein, aber eins kannst du mir glauben: die schlimmsten Stürme kommen oft von nirgendher, und erst wenn sie da sind, fängt das Glas an zu purzeln.«
»Weiß Gott, das ist wahr«, sagte Sursson.
Sie ruderten zur »Helga« hinüber, holten den Anker ein, ließen die Maschine an und fuhren, das Ruderboot im Schlepptau, zum Hafen hinüber.
Hier legten sie das Boot sicher vor Anker und ruderten wieder zurück. Der Himmel war noch immer diamantklar, aber der Wind hatte plötzlich vollständig abgeflaut, und weit draußen hinter Flatey, wo Meer und Himmel in eins verschmolzen, zeigte sich ein dunkler Streifen am Horizont.
Als Ericsson nach Hause zurückkam, war Magnus bereits zu Bett gegangen. Er sah nach dem Wetterglas. Das Quecksilber war um einen vollen Zoll gefallen. Einen Augenblick dachte er daran, die beiden Fischer, denen die Motorboote gehörten, die noch draußen lagen, zu warnen; aber die Erinnerung an das Gesicht, das sie ihm im Gasthaus gezeigt hatten, hielt ihn davon zurück. Im übrigen gehörten diese Motorboote letzten Endes doch Gudmundsson, und er hatte keinen Grund, sich zugunsten von Gudmundssons Geldbeutel womöglich verhöhnen zu lassen.
Er legte sich völlig angekleidet aufs Bett und schlief sofort ein.
Zwei Stunden später wurden Ericsson und Magnus durch das Toben des Sturmes aus dem Schlaf geweckt. Hätten sie nicht so fest geschlafen, so hätten sie ihn schon von weit hinter Breidavik Point kommen hören – Wind, Hagel und Regen, die wie eine Mauer über den Fjord daher getrieben wurden – bis mit dem ersten Donnerschlag der Sturm über das Floka-Tal hereinbrach.
Das ganze Tal war in einem einzigen, wilden Aufruhr. Klippe schien mit Klippe zu kämpfen und Wolke mit Wolke. Der Blitz fuhr von einem Riff zum anderen, und die Raben wirbelten wie riesige schwarze Blätter kreischend und schreiend, vom Sturm getrieben, durch die Luft; die Möwen flackerten blendend weiß, der Schaum des Meeres mischte sich mit Hagel und Regen, und das Brüllen der See war bis nach Folknaes und den Höfen von Bjarnarnaes hinauf zu hören.
Als Ericsson und Magnus, die schnell ihr Ölzeug übergeworfen hatten, vor die Tür traten, wären sie von der Gewalt des Sturmes fast gegen die Mauer geworfen worden.
Einen Augenblick blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen, dann kämpften sie sich langsam gegen den Sturm zum Strande hinunter, wo in dem grauen Zwielicht, das von den unaufhörlich einander folgenden Blitzen erhellt wurde, die gesamte Fischerbevölkerung von Skarsstöd versammelt war.
Die beiden Petroleumboote waren von ihren Vertäuungen losgerissen und gegeneinander geschleudert worden, so daß sie in tausend Stücke zersplittert waren. Man sah bald hier eine Spiere, bald dort ein Stück Kiel, bald ein Ruder auftauchen, sah es einen Augenblick auf dem Kamm einer Welle dem Strand zutreiben – um im nächsten Augenblick von der Unterströmung verschluckt zu werden.
»Na«, meinte Magnus, »da sind so acht- bis zehntausend Kronen in weniger als einer Stunde hops gegangen! Das hab ich überhaupt noch nie gesehen, daß ein derartiger Sturm in dieser Weise auf dem Breidifjord aufgekommen ist. Jedenfalls hast du recht behalten, und es ist nur ein Glück, daß die ›Helga‹ sicher im Hafen liegt.«
Während sie dann nach Hause zurückgingen, war Ericsson innerlich schon wieder mit einem neuen Problem beschäftigt, das der Sturm in ihm angeregt hatte.
Während Magnus auf dem kleinen Paraffinkochherd frischen Kaffee kochte, zündete Ericsson seine Pfeife an.
»Ich denke darüber nach, daß durch den Sturm zwei Fischer – und zwar zwei tüchtige Fischer – Briem und Bjarnsson, arbeitslos geworden sind. Und jeder von ihnen hat einen Sohn, der ebenso tüchtig ist wie der Vater; und die Frauen können die Räucherei besorgen. Außerdem hat jeder sein eigenes Haus und seinen eigenen Trockenplatz. Und die Fangzeit ist noch nicht zur Hälfte vorbei.«
»Na und?« sagte Magnus.
»Ich werde sie aufnehmen.«
»Was heißt das?«
»Ich werde ein neues Boot kaufen und jetzt sofort unseren Betrieb verdoppeln.«
Magnus war wie vor den Kopf geschlagen.
»Ein zweites Boot! Aber dazu haben wir doch das Geld nicht. Großer Gott, was bist du für ein Mensch! Ein zweites Boot! Wo willst du das überhaupt herkriegen?«
»Aus Reykjavik. Ich weiß sogar, daß ich dort eines bekommen kann, denn ich habe erst vor ein paar Tagen mit Stefansson telefoniert und ihm von meinen Plänen erzählt, daß ich hier im Winter ein neues Boot bauen wollte. Und er hat mir gesagt, es käme billiger, wenn ich eines kaufen würde, denn um zu bauen, müßten wir uns hier erst eine Werkstatt einrichten. Er sagte mir auch, daß Thordusson zwei neue Boote im Bau hat, von denen eines so gut wie fertig ist.«
»Aber das Geld?« sagte Magnus.
»Dazu komme ich schon noch. Thordusson wird fünf- bis sechstausend Kronen verlangen – das könnten wir natürlich nicht bezahlen, weil wir sonst zu knapp werden; aber dreitausend könnte ich ihm ohne weiteres zahlen, und den Rest kriegt er am Ende der Fangzeit. Oder ich lasse mir das Geld von Gunnarsson vorstrecken.«
Ericsson lachte, als ihm dieser Gedanke kam. Es war ein ungewöhnlich guter Gedanke. Gunnarsson konnte sich ein Pfandrecht auf die »Helga« geben lassen, so daß er bei der Sache nicht mehr riskierte als bei jedem Geschäft; und um Schwallas willen würde er keine hohen Zinsen verlangen. Ericsson sah sich für die nächste Fangzeit auf diese Weise bereits im Besitz von drei bis vier Booten; Boote hecken Boote, und zwei gekaufte und bezahlte Boote würden genügende Sicherheit bieten, um zwei neue anschaffen zu können. So hatte selbst der Sturm ihm Glück gebracht; nicht nur, daß er zwei von Gudmundssons Booten außer Betrieb gesetzt hatte, sondern er hatte ihm – was er als weitblickender Geschäftsmann viel höher wertete – zwei weitere Trockenplätze, zwei Haushalte, die für ihn arbeiten konnten, und in Briem und Bjarnsson und ihren Söhnen vier erstklassige Fischer geliefert.
Magnus jedoch erkannte nichts von all diesem, weil er nicht imstande war, irgend etwas zu verstehen, was über den Durchschnitt hinausgeht. Ein einziges Fischerboot genügte ihm vollkommen.
Während er den Kaffee einschenkte, gab er all seine Einwände zum besten, ließ sich über die Gefahren aus, die es mit sich brächte, wenn man über seine Mittel hinausginge; Einwände, denen Ericsson gänzlich ungerührt zuhörte.
»Außerdem«, so schloß Magnus, »ist Stefan Gunnarsson mein Onkel, und ohne mich würdest du ihn überhaupt nicht kennengelernt haben; und ich mag nicht, daß er an der Sache Geld verliert.«
»Er wird nichts verlieren.«
»Das sagst du so. Ich kann dir nur sagen, du spannst das Seil zu straff. Du willst zu schnell voran.«
»Besser zu schnell voran als rückwärts. Überlaß die Sache nur ruhig mir. Vorsicht! Ich sage dir, ich bin so vorsichtig, wie man nur sein kann. Es steht zu viel für mich auf dem Spiel.«
Magnus sagte nichts mehr.
*
Am nächsten Morgen hatte der Sturm sich beruhigt, aber das Wetter war noch unsicher.
Skarsstöd war dabei, die Trümmer der dem Sturm zum Opfer gefallenen Motorboote zu sammeln. Im übrigen war außer ein paar heruntergewehten Hausdächern und einer beschädigten Kirchturmspitze kein weiterer Schaden angerichtet worden.
Die gesamte Bevölkerung befand sich unten am Strand, wo der Breidifjord grün und mit weißen Schaumköpfen, abwechselnd im Sonnenlicht aufblitzend und von fliegenden Wolkenschatten verdunkelt, donnernd gegen die Felsen schlug.
Ericsson war schon früh am Morgen zu Gunnarsson gegangen, um sich endgültigen Bescheid zu holen – und hatte ihn auch bekommen. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten die Angelegenheit zu seinen Gunsten entschieden. Die Vorsicht und Voraussicht, die er bewiesen hatte, indem er sein Boot in Sicherheit brachte, hatten den für die Dinge des Herzens so unempfänglichen Gunnarsson im Innersten berührt. Er sagte sich, daß ein Mann, der imstande war, in dieser Weise für sein Eigentum Sorge zu tragen, auch imstande sein würde, für eine Frau zu sorgen.
So willigte er denn ein, oder richtiger, er widersetzte sich Ericssons Bewerbung nicht länger. Aber sie dürften keinesfalls vor Ablauf eines Jahres heiraten; und Schwalla sollte mit Gudmundsson – von dem übrigens bisher weder schriftlich noch telefonisch irgendeine Nachricht gekommen war – reden und ihr Verhalten rechtfertigen; sie sollte ihm erklären, wie sie dazu kam, einem so braven Manne den Laufpaß zu geben, einem Mann, der noch dazu sein, Gunnarssons, Freund war, und dessen Behandlung durch seine Tochter ihn mehr schmerze, als irgend etwas ihn geschmerzt habe, seit seine liebe Frau von ihm gegangen sei.
Dann wurde Schwalla heruntergerufen, und die Liebenden küßten einander, während Gunnarsson ihnen den Rücken drehte und eifrig damit beschäftigt war, seine Pfeife zu stopfen.
Während der nächsten zwei Tage war Ericsson von der Vorbereitung seiner neuen Pläne vollständig in Anspruch genommen.
Er telefonierte nach Reykjavik an Stefansson wegen des neuen Motorbootes und verabredete mit ihm, daß er mit dem »Ingolfjur«, dem kleinen Küstendampfer, der in den nächsten Tagen fällig war, selbst herüberkommen sollte, um das Geschäft zum Abschluß zu bringen. Briem und Bjarnsson hatten eingewilligt, in seine Dienste zu treten und ihm das Nutzrecht ihrer Trockenplätze zu geben; es war für sie ein Gottesgeschenk, jetzt überhaupt noch Arbeit zu finden.
Ericsson hatte, seit er nach Skarsstöd gekommen war, nicht ein einziges Mal auf seine Vergangenheit zurückgeschaut; sein ganzes Leben schien ein einziger, glanzvoller Aufstieg; es war, als hätten Himmel, Erde und Wasser sich vereinigt, um zu seinem Erfolg und Glück beizutragen.
*
Als Magnus einige Tage später zum Essen nach Hause kam, war Ericsson nicht da.
Das Mädchen, das damit beschäftigt war, den Tisch zu decken, erzählte, die Haustür habe offengestanden, als es gekommen wäre; außerdem hätte das blecherne Waschgeschirr, das auf einem Bort draußen neben der Tür stand, am Boden gelegen, als hätte jemand es umgeworfen; überall hätten Sachen herumgelegen, es sei eine schreckliche Unordnung gewesen, und sie hätte gute zehn Minuten gebraucht, um einigermaßen wieder Ordnung zu schaffen.
»Er muß über irgend etwas wütend gewesen sein«, meinte Magnus.
Während er zu Mittag aß, überlegte er hin und her, was wohl Ericsson, der nicht leicht in Zorn geriet, so außer Rand und Band gebracht habe.
Obgleich Ericsson auch während des Nachmittags nicht nach Hause kam, machte Magnus sich noch keine Gedanken, denn er nahm an, daß er bei Gunnarssons sei. An diesem Tage wurde nicht zum Fischen ausgefahren, und Magnus setzte sich zum Flicken der Netze und Leinen. Etwa um vier Uhr nachmittags kam Pastor Olsen vorbei und trat ein.
»Ist Ericsson schon zurück?« erkundigte er sich.
»Nein«, erwiderte Magnus. »Woher wissen Sie, daß er nicht zu Hause ist?«
»Weil ich ihn um Mittag oben im Tal hinter Bjarnanaes getroffen habe. Ich ritt meinen Pony, und er war zu Fuß. Er lief ganz verstört an mir vorbei, ohne mich anzusprechen, ja ich glaube, er hat mich überhaupt nicht gesehen. Hat er sich vielleicht mit Schwalla gezankt, daß er so außer sich war?«
»Ich weiß nicht«, sagte Magnus.
»Irgend etwas muß vorgefallen sein«, meinte Olsen, »denn er sah ganz verändert aus. Es war, als sei er plötzlich ein alter Mann geworden. Und dabei habe ich doch erst gestern mit ihm gesprochen und ihm zu seiner Verlobung gratuliert.«
»Dann werden sie sich doch wohl gezankt haben«, meinte Magnus. »Er ist in voller Wut aus dem Haus gelaufen. Wahrscheinlich rennt er sich jetzt seinen Ärger herunter, dann wird er schon wieder zurückkommen.«
»Ich freue mich, daß Sie es so auffassen«, sagte Olsen, »denn ich muß sagen, sein Aussehen hat mich erschreckt.«
Er verabschiedete sich, und Magnus fuhr in seiner Arbeit fort. Er hatte sich merkwürdig rasch an den neuen Stand der Dinge gewöhnt und die ihm ja doch unerreichbare Schwalla bereits so weit vergessen, daß er anfing, seine Augen auf Helga, das Mädchen, das ihnen die Wirtschaft besorgte, zu werfen. Hätte irgendeine wirkliche Gefahr Ericsson und Schwalla bedroht, würde er ihnen, ohne zu zögern, beigesprungen sein, um ein Unglück von ihnen abzuwenden; dennoch aber konnte er ein unbestimmtes Gefühl der Befriedigung bei dem Gedanken, daß die Liebenden sich gezankt hatten, nicht ganz unterdrücken.
Er war gerade dabei, sich auszumalen, um was es sich bei einem solchen Zank wohl gehandelt haben könnte, als ein leises Klopfen an der Tür ertönte und auf sein »Herein« Schwallas reizendes Gesichtchen im Türrahmen erschien.
Er sprang auf, um sie zu begrüßen.
Sie ließ einen raschen Blick über das Zimmer gleiten und errötete; sie hatte erwartet, ihren Liebsten vorzufinden, und genierte sich jetzt, nach ihm zu fragen; aber Magnus half ihr aus der Verlegenheit.
»Er ist nicht da«, sagte er. »Er war auch zu Tisch nicht hier. Er ist heute morgen fortgegangen und seitdem noch nicht wieder nach Hause gekommen.«
»Ich wollte nur im Vorbeigehen mal guten Tag sagen«, erklärte Schwalla, die ihre Sicherheit wiedergefunden hatte; Magnus hielt es ja anscheinend für ganz natürlich, daß sie Ericsson besuchen wollte. »Ich wollte mich erkundigen, wie die Angelegenheit mit dem neuen Boot vorangeht. Für Bjarnsson und Briem ist es ja eine große Sache, wenn sie wieder Arbeit haben – und für Skarsstöd auch.«
Sie stand in der offenen Tür. Magnus wagte nicht, sie zum Sitzen aufzufordern. Übrigens würde es sich auch durchaus nicht für sie schicken, mit ihm allein in einem Hause zu verweilen. Magnus hatte seine ganz feststehenden Ansichten über das, was sich schickte, ziemlich altjüngferliche Ansichten.
»Hast du Erik denn heute nicht gesehen?« fragte er.
»Nein«, antwortete Schwalla. »Aber vielleicht kommt er am Abend ein bißchen zu uns. Du natürlich auch«, fügte sie hinzu, während sie sich zum Gehen wandte. »Du weißt, wir freuen uns immer, dich zu sehen, Vetter Magnus.«
Sie war fort, und Magnus setzte sich wieder, ohne jedoch in seiner Arbeit fortzufahren. Ganz plötzlich hatte ihn ein Gefühl der Sorge und Beunruhigung überfallen.
Ericsson hatte sich augenscheinlich nicht mit Schwalla gezankt. Warum also war er plötzlich in dieser Weise auf und davon gegangen? Und warum quälte ihn, Magnus, auf einmal dieses sonderbare Gefühl? Was ihn am meisten erschreckte, war nicht Ericssons seltsames Benehmen, sondern mehr dieses Gefühl einer unbestimmten Angst, die er nicht loswerden konnte, diese Kälte am Herzen, als lauere eine Gefahr vor der Tür – unsichtbar, unhörbar, und doch von einem sechsten Sinn in geheimnisvoller Weise gespürt.
Ericsson war ja tatsächlich der einzige Mensch, mit dem sein ganzes Leben eng verbunden war.
Nach einer Weile nahm Magnus seine Arbeit wieder auf, aber ihre Eintönigkeit trug nicht dazu bei, seine grüblerische Sorge zu zerstreuen. Und vor seinem abergläubischen Geist erschien der Zwischenfall neulich im Nebel: der Anruf, Ericssons Antwort, das Gelächter und der dünne, in der Ferne ersterbende Ruf: »Skule – Skule – Skule!«
»Sollten sie recht behalten?« murmelte er vor sich hin. »Franzosen! Das war im Leben kein französischer Anruf!«
Nach einer Weile legte er seine Arbeit hin und ging zum Strand hinunter, wo Sursson damit beschäftigt war, das Angelgerät nachzusehen. Sie hatten um fünf Uhr hinausfahren wollen, und Magnus teilte Sursson jetzt mit, daß er nicht mitkommen würde.
»Ich gehe ins Tal hinauf«, sagte er, »um Ericsson zu suchen und zu sehen, was mit ihm los ist.«
»Wieso, was ist denn?« erkundigte sich Sursson.
Magnus schwieg einen Augenblick, dann stieß er hervor:
»Ich weiß es auch nicht. Er ist seit heute morgen fort, und der Pastor hat ihn oben bei den Höfen getroffen. Die Sache gefällt mir nicht. Frag mich nicht, warum. Ich weiß es nicht. Er kann nur einen einzigen Weg gegangen sein. Wenn ich immer gradeaus gehe, muß ich ihn treffen.«
»Dann fahre ich mit dem Boot hinaus«, sagte Sursson. »Hilfe kann ich ja genug haben, seit die anderen mit uns arbeiten. Ich hoffe nur, daß Erik Ericsson nichts Schlimmes zugestoßen ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Magnus scharf, seine eigenen düsteren Worte von eben vollständig vergessend.
»Ich meine nur, weil es so 'ne Sache ist, es mit Gudmundsson aufzunehmen. Ich habe mehr als einen Mann durch Gudmundsson zugrunde gehen sehen, und es gibt Leute, die behaupten, Ericsson hätte mehr auf sich genommen, als er meistern kann. Man sagt, zuletzt würde Gudmundssons Glück doch die Oberhand behalten. Es ist eine böse Sache, sich gegen das Glück zur Wehr zu setzen. Der Mensch selbst ist nichts, das Glück, das mit ihm ist, ist alles.«
In diesem Augenblick trat Briem zu ihnen; er hatte Surssons letzte Worte gehört.
»Was hast du gesagt von Glück?« fragte er.
»Ich sagte nur, daß das Glück eines Menschen mehr wert ist als der Mensch selbst.«
»Dann redest du Unsinn«, sagte Briem. »Das Glück eines Menschen, das ist er selbst. Er hält sich selbst zum Narren, und später, wenn er ein bißchen gescheiter geworden ist und der Narr sich gegen ihn erhebt, dann geht er hin und nennt es Unglück. Aber das gibt es nicht. Es gibt kein Unglück. Es gibt nur schlechte Steuerung.«
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Magnus. Er ging zum Haus zurück, steckte sich ein paar Stücke Zwieback in die Tasche, schloß die Tür, ohne sie zu verriegeln, und machte sich auf den Weg.
Er ging talaufwärts bis über die Kehre. Das Wetter war warm und windstill, ein sommerblauer Himmel spannte sich über dem Tal. Das tiefe Schweigen ringsum wurde nur durch das Rauschen des Flusses und von Zeit zu Zeit durch den Flügelschlag eines Raben unterbrochen, der von den Basaltfelsen aufflog.
Trotzdem war die felsenumgürtete Landschaft nicht jedes Lebens bar. Die grausige Fata Morgana war am Werk, und die Hetzhunde der Luft rannten in wilder Jagd die schütternden Riffe entlang.
Magnus ging an Gudmundssons Haus vorbei, über moosbewachsene Lavabetten und weite Ebenen, wo der Boden von Steinen bedeckt war.
Hier oben, vier Meilen hinter der Kehre, bot das Tal für eine kurze Strecke einen etwas freundlicheren Anblick; hier lagen die paar Gehöfte, die den kleinen Ort Bjarnarnaes bildeten, und seine von smaragdgrünem Gras leuchtenden Weideplätze. Hinter dieser kleinen, fruchtbaren Oase wurde die Landstraße zu einem bloßen Saumpfad, der langsam und stetig bis zu einem zerklüfteten Gipfel anstieg. Hier blieb Magnus stehen, um sich nach allen Seiten umzuschauen.
Seewärts lag das Floka-Tal. Skarsstöd war durch die Talkehre dem Blick entzogen, aber jenseits der Klippen war ein kleiner Streifen des Meeres zu sehen.
Landeinwärts lag ganz Island, wie ein versteinerter Sturm; Berge, Täler, Klippen und über alles hinausragend der gefrorene glitzernde Buckel des Lang Jokull. Dahinter zeigte sich eine Spitze des Hoffs Jokull, und in noch weiterer Ferne ahnte man den Vatna Jokull, eine Bergwelt aus Eis, die sich vom Tungnasels bis zum Hornafjordur an der östlichen See erstreckte.
Die Farben der Berge von Island wechseln ständig, verschwimmend und zart; eisengrau und thymiangrün, unbestimmte Purpurtöne und dunstiges Lila; alle diese Farben findet man hier, und noch eine Farbe, die keines Künstlers Palette hergibt – die Farbe der trostlosen Verlassenheit.
So sehr Magnus seine Augen anstrengte, nirgends in dem weiten Land, das vor ihm hingebreitet lag, konnte er auch nur eine Spur menschlichen Lebens entdecken. Vielleicht lagen ein paar Gehöfte in jenen Tälern eingebettet; zu sehen aber war nichts von ihnen.
Weit nach Süden zu, in einer Senkung zwischen den Bergen stieg eine kleine Rauchsäule wie eine Feder in die stille Luft; es war der Rauch eines kochenden Schlammloches. Von fern, wo der Saumpfad sich ins Tal hinabsenkte, kam der melancholische Schrei eines Brachvogels.
Magnus folgte dem Saumpfad bis ins jenseitige Tal hinunter, das wie von einem Riesen der Vorzeit mit einer Axt aus dem Basalt herausgehauen schien. Das Tal war wie eine verkleinerte Ausgabe des Floka-Tals, nur daß ihm keine Stimme eines Flusses Leben und Fröhlichkeit gab. Auch wurde es nicht von beiden Seiten von Klippen eingeschlossen, sondern nur zur Rechten erhob sich eine Felswand, während zur Linken ein Abhang aus Schlacke schräg abfiel, Schlacke aus dem Innern der Erde, die einst vor Tausenden von Jahren als eine glühende, flammende Masse ausgeworfen worden, jetzt aber längst zu einer festen Wand erkaltet war.
Diese Schlackenwände sind das Traurigste an der isländischen Landschaft, der Gipfel der Trostlosigkeit und Öde.
Während Magnus durch das Tal schritt, verfolgte ihn immer hartnäckiger der Gedanke: Was hat Ericsson fortgetrieben? Warum ist er nicht zurückgekehrt? Bei jeder Wegbiegung erwartete er seinem Freund endlich zu begegnen.
Jenseits des Tales führte der Pfad über eine riesige, moosbewachsene Lavaebene, wo der Weg durch eine Reihe von Steinhügeln bezeichnet wurde, die wie steinerne Zwerge dastanden. Wie auf dem Wege nach Thingvelle, trug auch hier jeder Hügel als Krönung einen einzelnen Stein, und es machte den Eindruck, als strecke jeder dieser Steinmänner dem Wanderer, der vorüberging, eine düster weisende Hand entgegen.
Dicht neben den Steinhügeln und parallel zu ihnen lief ein großer Riß in der Lava quer über die ganze Ebene hin, genau wie ein Riß in einer riesigen Eisfläche.
Magnus trat an den Rand des Spaltes und blickte in das Wasser, das sich darin gesammelt hatte, als wollte er es fragen, ob es irgend etwas von seinem Freund gesehen habe. Es war inzwischen nach acht Uhr geworden, aber das Tageslicht leuchtete fast ebenso hell wie am Mittag in den Spalt hinab.
Nein, der Spalt wußte nichts von Ericsson; und wenn er etwas wußte, so hütete er sich wohl, sein Geheimnis preiszugeben.
Magnus setzte seinen Weg fort. Er ging jetzt schneller, während die Brachvögel ihn mit ihren schrillen Schreien verfolgten; und von Zeit zu Zeit löste sich ein schwarzer Knopf von einem der Steinhügel, und ein Rabe, von den menschlichen Schritten erschreckt, flog davon.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis er die Ebene hinter sich hatte; dann führte der Pfad wieder einen steinigen Abhang hinan.
*
Es war Mitternacht, als Magnus zu Jan kam. Jan ist ein Geiser, der ganz für sich allein in einer kleinen Ebene lebt, wo kegelförmige Schlackenhügel seine einzige Gesellschaft bilden. Er liegt abseits von der üblichen Touristenstraße, und selbst von den Eingeborenen der Küste kennen ihn nur wenige. Warum er Jan heißt und nicht einen bodenbeständigeren Namen trägt, ist ein Geheimnis. Um ihn in seiner vollen Schönheit zu genießen, muß man ihm allein einen Besuch abstatten, und zwar um die Mitternacht eines schönen Mittsommertags, wenn die Sonne noch die Welt und die kegelförmigen Schlackenhügel bestrahlt.
Ungefähr alle vier Stunden bricht er aus, und jede Eruption kündigt sich wie bei dem »Großen Geiser« durch drei oder vier dumpfdröhnende Töne an, als wenn man mit einem Klöppel gegen einen riesigen Gong schlägt.
Obgleich Magnus auf der Insel geboren und aufgewachsen war, hatte er diesen Geiser noch nie gesehen. Er sah jetzt einen dampfenden Teich dicht neben dem Weg, hörte die Gongschläge unter der Lava, und dann sah er, wie der Teich zu arbeiten begann, wie ein kochender Wasserkegel. Das Wasser hob sich in der Mitte zu einer Kuppel, zerbarst, und heraus sprang Jan, zwanzig Fuß hoch und sich gebärdend wie ein Irrer in der Zwangsjacke.
Zwei Minuten lang schwankte er von einer Seite zur anderen, kämpfte und zuckte; dann begann er kleiner zu werden und einzuschrumpfen, machte noch einen Versuch, zu entrinnen, und war – bums! – in einem Schauer sprühender Tropfen verschwunden, eingesogen in die Hölle, aus der er entsprungen war, während die Wasser des Teiches ein paarmal mit leisem Glucksen gegen die Lava-Ufer schlugen, um dann ebenfalls in die frühere Stille zurückzusinken.
Magnus fuhr sich mit dem Rockärmel über die Stirn. Müde und erschöpft von seiner erfolglosen Wanderung, war er nicht in der Stimmung, Jan gebührend zu würdigen. Der ganze Ort erfüllte seine leicht erregbare Phantasie mit Vorahnungen künftigen Unheils. Er beeilte sich, an dem Geiser vorbeizukommen. Der Pfad verließ jetzt die Ebene und führte zu der Spitze eines jenseits des Tales gelegenen Hügels hinauf. Magnus wußte, daß er auf diesem Wege schließlich in die Nähe eines Gehöftes kommen würde. Vor sich, in einer geschützten Senkung, lag eine Hütte, eines jener aus Torf und Stroh gebauten isländischen Bauernhäuser, die wohl die traurigsten Bauten sind, die man auf der ganzen weiten Welt finden kann.
Dieser Anblick und das Bewußtsein, daß er am nächsten Morgen dort etwas zu essen bekommen würde, genügten ihm. Schwer von Müdigkeit und Erschöpfung, so daß er den Zweck seiner Wanderung fast vergessen hatte, warf er sich auf ein Moosbett im Schutze des Felsens und schlief ein.
Um sechs Uhr war er wieder wach und richtete sich auf seinem Moosbett auf. Es war ein windiger, wolkenloser Morgen, und durch die stille Bläue des Himmels flog ein Volk wilder Schwäne wie eine weiße Wolke über seinen Kopf hin.
Magnus stand auf und ging auf das Gehöft zu. Es war ihm, als könne er nun nicht mehr weiter; er verzweifelte daran, Ericsson zu finden und das Geheimnis seines Verschwindens zu lösen. Er versuchte sich einzureden, daß Ericsson inzwischen längst nach Skarsstöd zurückgekehrt wäre. Damit hätte er gern die unvernünftige Stimme in sich zum Schweigen gebracht, die ihn den ganzen gestrigen Tag vorwärtsgetrieben hatte und die auch heute noch zu ihm sprach: »Du mußt weitergehen, bis du Ericsson gefunden hast; du kannst nicht ohne ihn nach Skarsstöd zurückkehren!«
Er wußte, daß Ericsson, falls er nicht vollkommen verrückt geworden war, sich auf dem Saumpfad halten mußte; ja, auch falls er davon abgebogen und irgendwo die Hügel hinaufgestiegen war, war doch eines gegen zehn zu wetten, daß Magnussens scharfes Auge ihn entdeckt haben würde.
In dem Gehöft traf er nur eine Frau an; alle anderen Bewohner waren zur Arbeit draußen. Sie gab ihm zu essen, und von ihr erfuhr er, daß ein Mann, auf den Ericssons Beschreibung paßte, die Nacht dort verbracht hatte; allerdings nicht im Hause selbst, sondern im Kuhstall. Sie hatten ihm ein Bett angeboten, aber er wollte lieber im Freien übernachten und hatte auf einem Heubündel geschlafen. Vor zwei Stunden erst war er in südwestlicher Richtung fortgegangen. Bis wohin der Saumpfad führte? Oh, wenn man lange genug ging, bis zum »Großen Geiser«, und von dort aus weiter nach Reykjavik.
Magnus gab der Frau ein paar Münzen für das Essen und setzte dann seinen Weg fort. Er war also doch auf der richtigen Spur, und Ericsson hatte nur mehr einen Vorsprung von zwei Stunden. Er rechnete damit, daß Ericsson unterwegs eine Rast machen würde, wahrscheinlich um Mittag herum; aber es sollte sich schon früher zeigen, daß Magnussens Vermutung richtig war.
Vier Stunden, nachdem er das Gehöft verlassen hatte, erreichte er die westlichen Ausläufer der Bergkette, deren höchste Erhebung der Lang Jokull war, und plötzlich sah er etwas höher am Berghang eine menschliche Gestalt auf einem Felsblock sitzen. Es war Ericsson. Mit einem Ruck blieb Magnus stehen und legte die Hand über die Augen zum Schutz gegen das blendende Sonnenlicht Dann kletterte er den Berghang hinauf.
Auf halbem Weg hob er die Augen. Die Gestalt saß immer noch auf dem Felsen. Magnus blieb, erschöpft vom schnellen Klettern, einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, und hob den Arm.
Auch Ericsson hob als Antwort die Hand, und fünf Minuten später waren sie einander so nah, daß sie sich verständigen konnten.
Von weitem sah Ericsson genau so aus wie immer; als aber Magnus näherkam, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Auf Ericssons Gesicht lag kein Zeichen des Erkennens, und seine Augen hatten einen blinden, verstörten Ausdruck, als sähen sie nichts von der wirklichen Welt ringsum.
»Seit gestern nachmittag bin ich dir nachgegangen«, keuchte Magnus. »Warum bist du davongelaufen? Was ist dir geschehen?«
Er ging mit ausgestreckter Hand auf Ericsson zu; da plötzlich zuckte jener, wie aus einem Traum erwachend, zusammen, sprang auf und trat ein paar Schritte zurück.
»Rühr mich nicht an«, sagte er.
Einen Augenblick dachte Magnus, Ericsson sei aus irgendeinem Grunde böse auf ihn, und sein Stolz flammte auf.
»Ich wollte dich gar nicht anrühren! Aber darf ich fragen, warum du plötzlich so großartig geworden bist, daß man dich nicht anrühren darf?«
»Was mit mir geschehen ist? – Ich habe den Aussatz.«
*
Magnus stand da, ohne ein Wort hervorzubringen. Ericsson zog seinen Rock aus und schob den rechten Hemdärmel zurück. Auf der Außenseite des Armes, dicht über dem Ellenbogen, zeigten sich drei graue Flecken, als hätten drei graue Finger ihn dort berührt und ihre unverwischbare Spur hinterlassen.
Unwillkürlich trat Magnus einen Schritt zurück, und Ericsson, der die Bewegung gesehen hatte, lachte.
»Da siehst du selbst«, sagte er. »Kein Mensch darf mich anrühren. Niemand darf mir nahekommen. Mir ist es gleich. Ich habe es seit gestern durchgekämpft.«
»Aber – aber – aber«, stammelte Magnus erschreckt, und dabei versuchte er sich die ganze Zeit einzureden, daß es nicht wahr sei – seine Augen mußten ihn täuschen –, Ericsson mußte sich irren. Er setzte zum Sprechen an, aber seine Zunge war trocken wie eine Papageienzunge, und seine Lippen fühlten sich an wie Bimsstein.
Ericsson zog seinen Rock an und setzte sich wieder auf den Felsblock, während Magnus nach einem Augenblick des Zögerns sich dicht neben ihm auf den Erdboden warf.
»Ich merkte es gestern beim Waschen. Vorher hatte ich es nicht gesehen, weil es auf der Rückseite des Armes ist. Wenn du ausgezogen bist, um mich zu suchen, so ist das Zeitverschwendung, denn den Mann, den du kanntest, wirst du nie wieder finden. Er ist tot. Für mich ist alles aus. Zuerst dachte ich, ich müßte verrückt werden, aber mein Verstand ist wieder in Ordnung. Siehst du, ich war auf dem Wege, alles zu erreichen, was ich wollte, ich hatte alles, was ein Mann sich nur wünschen kann – Glück, Vermögen, Gesundheit, Liebe. Und nun ist alles fort!«
Es war, als spräche er nicht von sich selbst, sondern als berichte er von dem unglücklichen Schicksal eines anderen, während er die ganze Zeit den kranken Arm strich, als schmerzte er ihm.
Der leicht erregbare Magnus aber war nicht imstande, dieses Schreckliche so ruhig hinzunehmen. Er schrie:
»Du redest ja, daß einem das Mark in den Knochen gefriert! Woher willst du denn überhaupt wissen, daß es der Aussatz ist? Du hast keinen Doktor gefragt. Wie kannst du einen so erschrecken? Ich sage dir, es ist unmöglich. Es gibt gar keinen Aussatz in Island mehr, außer nur die paar Fälle im Hospital in Reykjavik. Du mußt einen Doktor fragen. Wir werden nach Stykkisholmur gehen und dort den Regierungsarzt aufsuchen.«
»Ich habe mir den Aussatz auch nicht in Island geholt«, sagte Ericsson ruhig.
»Wo denn?«
»In Japan.«
»In Japan?«
»Ja, an der Küste von Noto. Erinnerst du dich noch an die Nacht, als ich an Land ging, um das Mädchen zu besuchen? Diese Meerfrauen haben mir einen bösen Streich gespielt. Das Mädchen war überhaupt nicht da; sie haben mir an ihrer Stelle eine Aussätzige untergeschoben. Sie war ganz jung und hatte den Aussatz nur im Gesicht, und da hatte sie einen Schal drüber gebunden.«
In wenigen Worten erzählte er die Geschichte jener Nacht. Magnus hörte zu, und plötzlich fielen ihm die Worte wieder ein, die Briem am Tage zuvor gesprochen hatte: »Es gibt kein Unglück; es gibt nur schlechte Steuerung.«
Angesichts dieser Tragödie war es Magnus gelungen, seine Natur so weit zu überwinden, daß er trockenen Auges und ganz ruhig dasaß. Nie zuvor war ihm ein solcher Fall begegnet. Hier saß dieser Mensch, den er beneidet hatte, der Überlegene und Erfolgreiche, und wand sich in den Klauen eines grauenhaften Geschickes, grauenhafter als jenes, das einst Ödipus betroffen. Denn Ödipus hatten die Götter geblendet aber Ericsson, hatten sie seine Sehkraft gelassen. Hier saß dieser Mensch voller Energie und Tatkraft, der Mann, der Gudmundssons Herrschaft über Skarsstöd gebrochen hatte, der Mann, dem selbst der Sturm Glück bringen mußte, der Mann, der die Liebe auf seine Seite hinübergezwungen hatte, hier saß er, plötzlich festgebannt, als habe sich eine Hand aus der Vergangenheit nach ihm ausgestreckt und auf seinen Arm gelegt, eine unsichtbare Hand, die fest zugepackt hatte, und ihren Griff nicht lockern würde, ehe nicht das Opfer tot war.
Obgleich Magnus Ericsson widersprochen hatte, wußte er im Herzen doch, daß seine Ansicht richtig war. Zu oft in seinem Leben hatte er den Aussatz gesehen, um zweifeln zu können.
In früheren Zeiten war der Aussätzige in Island eine ganz alltägliche Erscheinung, so alltäglich, daß in einem Schauspiel sogar ein Aussätziger vorkommt, der mit den anderen Dörflern zusammen zecht, ja mit ihnen aus derselben Flasche trinkt. Im heutigen Island aber ist der Aussätzige aus dem öffentlichen Leben verbannt, und die Duldsamkeit von früher hat einem unaussprechlichen Grauen und Abscheu Platz gemacht. Und vor Magnussens innerem Auge erschien, wie er so dasaß und auf die trostlose Landschaft ringsum starrte, ohne sie zu sehen, das Bild des Hospitals in Reykjavik. Dorthin würde Ericsson gehen müssen – wenn nicht – wenn nicht – ja, was? Wo konnte er sich verbergen? Was konnte er tun? Hätte er ein Verbrechen begangen, so hätte er in irgendein fernes Land fliehen können, aber der Aussatz war ein Verbrechen, vor dem es keine Flucht gab.
Er stand auf, und auch Ericsson erhob sich. Ohne ein Wort zu sprechen, stiegen sie den Hügel hinunter, bis sie wieder zu dem Saumpfad kamen.
»Gehst du nach Skarsstöd zurück?« fragte Ericsson.
»Nach Skarsstöd?« wiederholte Magnus wie geistesabwesend. »Ich weiß nicht. Ich habe dort nichts mehr zu suchen – all das hat keinen Sinn mehr für mich!«
»Schwatz keinen Unsinn«, sagte Ericsson. »Wäre ich neulich von den Klippen heruntergefallen und hätte mir das Genick gebrochen, hättest du deine Arbeit ruhig fortgesetzt. Das mußt du jetzt auch tun. Schließlich sind doch noch Sursson und die anderen da, an die man denken muß. Das Boot gehört von jetzt ab dir, wie alles, was ich besitze. Das Geld liegt unter dem Fußboden an der Stelle, die du kennst. Dann wirst du nach Reykjavik fahren, zu Stefansson gehen und ihm sagen, er solle ein Dokument für mich zum Unterzeichnen ausfertigen, in dem ich dir alles übertrage –«
»Und wohin wirst du gehen?« unterbrach ihn Magnus.
»Alles, was ich brauche, ist das Meer. Ich gehe jetzt mit dir zurück und werde bis Mitternacht im Floka-Tal warten. Du nimmst das Boot, packst es voll und ruderst mich nach dem Ort, wo ich mich vorläufig verborgen halten will.«
»Und wo ist dieser Ort?«
»Der Fulmar.«
»Dort kannst du dich wohl eine Weile verbergen«, sagte Magnus trübe. »Alles, alles, was du willst –«
»Ich will nur eines – ans Meer. Während ich dort bin, wirst du zu Stefansson fahren. Ihm kannst du alles erzählen. Er ist vertrauenswürdig.«
Magnus seufzte schwer. Sie gingen schweigend nebeneinander dem Floka-Tal zu. Wie auf Verabredung wurde von der Tragödie nicht mehr gesprochen. Schwallas Name war nicht ein einziges Mal genannt worden, obgleich der Gedanke an sie Magnus jetzt am meisten beschäftigte.
Zwei Stunden vor Mitternacht erreichten sie das Floka-Tal, und Ericsson setzte sich auf einen Felsblock am Flußufer, während Magnus weiterging, um das Boot fertigzumachen und alle Vorbereitungen zu treffen.
»Ich komme dir in einer Stunde nach«, sagte Ericsson, »so daß ich kurz nach zwölf in Skarsstöd bin; dann ist bestimmt niemand mehr draußen.«
Ericsson hatte eine alte silberne Uhr bei sich, die ihm die Zeit angeben würde.
Er sah Magnus nach, bis er ihn aus den Augen verloren hatte. Dann saß er unbeweglich auf seinem Felsblock und lauschte dem Wasser, das glucksend über die Kieselsteine hüpfte.
Sein Gehirn, durch die Katastrophe wie gelähmt, war keines klaren Gedankens fähig. Kaum daß er den gegenwärtigen Augenblick recht erfassen konnte. Eine einzige Sehnsucht erfüllte ihn – die Sehnsucht nach dem Meere.
Er fühlte eigentlich nicht einmal ein Grauen vor dem, was ihm zugestoßen war. Es ist ja überhaupt seltsam, daß die meisten Kranken sich rasch auch mit dem schwersten Leiden abfinden.
Kurz nach elf Uhr stand er auf, um seinen Weg fortzusetzen. Beim Anblick von Gudmundssons Haus rührten sich leise all jene Gefühle, die in seinem Herzen erstorben waren, aber erst als hinter der Talkehre Skarsstöd vor ihm lag, mit dem Glanz der Mitternachtssonne über seinen schlummernden Dächern, da erst erwachten sie zu lautem, schreiendem Leben.
Er folgte dem Pfad neben dem Fluß, und als er sich Gunnarssons Hause näherte, da war es ihm, als bliese ihm von dort ein heftiger Wind entgegen, um ihn zurückzutreiben. Weiß bis in die Lippen und mit schleichenden Schritten wie ein Dieb kam er näher, die Augen auf das Fenster von Schwallas Zimmer geheftet. Das Fenster stand halb offen, er sah die weißen Vorhänge, die sich leise im Wind bewegten, als winkten sie ihm. An dem Gitter vor dem Hause blieb er stehen, die Blicke immer noch starr auf das Fenster gerichtet.
Nie im Leben würde er sie wiedersehen – und da lag sie nun in friedlichem Schlaf und wußte nichts von seinen Leiden.
Er tat einen tiefen, fast schluchzenden Atemzug. Dort, zum Greifen nahe, lag sein Paradies – und hier draußen stand er – ausgestoßen – zugrunde gerichtet – tot.
Er strich leise mit der Hand über den weißgestrichenen Zaun, dann wandte er sich ab und ging weiter.
Er ging an der Kirche vorbei und an der Pfarre, an seinem eigenen Hause und an dem Gasthof, wo er damals mit Magnus abgestiegen war. Er kam an Gudmundssons Kontor vorbei, über dem in großen Buchstaben Gudmundssons Name stand. Es war der Triumph Gudmundssons, aber Ericsson bemerkte es nicht. Er sah nichts und kümmerte sich um nichts, bis er Magnus erblickte, der am Landungssteg auf ihn wartete.
Magnus hatte herbeigeschafft, was Ericsson wohl würde brauchen können; Bettücher, den kleinen Paraffin-Kochherd und alles, was sich an Eßvorräten im Hause gefunden hatte, und hatte die Sachen in dem Boot, das am Landungssteg festgemacht war, verstaut. Ericsson nahm vorn Platz, während Magnus abstieß, den Mast setzte und nach der Ruderpinne griff.
In dem märchenhaften Licht des Himmels lag der Fjord tiefblau da. Nicht der leiseste Dunst verschleierte den Horizont und die Hügel. Von dem schlafenden Skarsstöd und dem leuchtenden Tal bis zu dem fernen Breidavik Point ruhte die ganze Welt in tiefem Schweigen, das nur durch den fadendünnen Ton der an den Strand schlagenden Brandung unterbrochen wurde.
Sie näherten sich dem Fulmar, auf dessen Purpurfarbe die schlafenden Möwen wie weiße Flecken schimmerten.
Beim Näherkommen des Bootes wachten die Möwen auf, schlugen mit den Flügeln und falteten sie wieder zusammen, während, dünn wie der Ruf unseliger Geister, der Schrei der Lummen an das Ohr der Freunde drang.
Magnus hielt auf die kleine Bucht an der Südseite des Fulmar zu, ließ das Boot auf den Strand laufen und zog es mit Ericssons Hilfe etwas höher hinauf.
Dies kleine Stückchen Strand, das nur etwa dreißig Fuß breit war, bildete den Eingang zu der einzigen Höhle, die oberhalb der Hochflutgrenze lag. Vom Strande aus führte ein bequemer Pfad zu dem darüber liegenden, mit smaragdgrünem Gras bewachsenen Plateau. Der Sandboden der Höhle war so hart, als wäre er festgestampft.
Sie trugen die Sachen in die Höhle. Magnus hatte nichts vergessen: Zündhölzer, Öl für den Kochherd, Zwieback für einen Monat, ein paar Büchsen mit Konserven, Angelleinen, ja sogar ein Fäßchen mit Wasser hatte er mitgebracht, trotzdem sich in dem Felsen oben eine natürliche Zisterne befand, in der immer außer zu Zeiten ungewöhnlicher Dürre, Regenwasser stand.
Nachdem sie alles verstaut hatten, verließen sie die Höhle wieder und kehrten zum Strand zurück.
»Du wirst morgen mit der Ingolfjur nach Reykjavik fahren«, sagte Ericsson. »Ich will die ganze Angelegenheit mit Stefansson so schnell wie möglich erledigt haben. Ich habe keine Familie, niemanden, um den ich mich zu kümmern brauche; es geht alles um dich. Ich weiß nicht, wie man das am besten einrichtet, aber da du ja mein Teilhaber bist, wüßte ich nicht, wer Einspruch dagegen erheben sollte, daß du alles bekommst. Stefansson wird das am besten wissen.«
»Ich will nichts haben«, sagte Magnus. »Ich denke nur daran, was aus dir wird.«
»Alles, was einem Menschen geschehen kann, ist; mir bereits geschehen«, sagte Ericsson. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen.«
Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Magnus:
»Finde ich dich wieder hier, wenn ich aus Reykjavik zurückkehre?«
»Du findest mich hier, sonst würde ich dir jetzt Lebewohl sagen. Und, Magnus –«
»Ja?«
»Du mußt es ihr sagen.«
Magnus trat an das Boot und schlug mit der Faust auf die Planken. Dann wandte er sich zu seinem Freund um.
»Das kann ich nicht. Das ist mehr als man von einem Menschen verlangen kann.«
»Du bist mir immer ein guter Freund gewesen, tue auch das noch für mich. Sonst wird sie glauben, daß ich auf und davon gegangen bin und sie sitzen gelassen habe. Dieser Gedanke ist mir unerträglich. Ihretwillen bitte ich dich, daß du es ihr sagst, mir wäre es tausendmal lieber, sie würde nie etwas davon erfahren. Wäre ich eines anständigen Todes gestorben, würde sie mich betrauern, so aber muß sie mich ja verabscheuen. Und doch ist es besser für sie, als daß ihr das Herz bricht.«
»Ich möchte lieber meine rechte Hand verlieren, ehe ich ihr das sage«, klagte Magnus. »Du weißt, ich liebe sie nicht mehr mit der Liebe eines Mannes zum Weibe. Sie steht über mir und ist nicht mehr das Mädchen, das ich kannte, als ich zuletzt hier war. Ich war nicht mehr eifersüchtig auf dich, denn ich sah, daß ihr beide füreinander geschaffen wäret. Ich war schließlich sogar so weit, daß ich mich über eure Liebe gefreut habe. Ich sagte mir, ich werde sehen, wie sie zusammenleben, und ich werde ihre Kinder aufwachsen sehen. Ich sagte mir, wir werden alle zusammen hier in Skarsstöd alt werden, und ich sah meine eigenen Kinder mit den deinen zusammen heranwachsen, im Frieden glücklicher und schöner Tage. Und nun ist alles aus! Und ich soll es ihr sagen!«
Schließlich stand Magnus auf – mit den langsamen, schwerfälligen Bewegungen eines alten Mannes.
»Ich werde es ihr sagen«, erklärte er.
Ericsson half ihm das Boot ins Wasser schieben. Dann sprang Magnus ins Boot, griff nach dem Riemen, und die beiden Männer nickten einander ohne ein weiteres Wort traurig zu. Lange noch stand Ericsson am Ufer und sah dem davonrudernden Freunde nach.
Dann verließ er den Strand und kletterte den Pfad zum Plateau hinauf.
Die Sonne stieg jetzt am östlichen Himmel empor, und der Breidifjord erwachte zu einem neuen Tag. Die ganze Vogelwelt war in Bewegung; und dem Schrei der Stummelmöwen und Lummen antwortete der Schrei der Vögel, die um die südlichen Felsklippen flatterten. Er sah dem Boot nach, bis es zu einem winzigen Punkt zusammengeschrumpft war; er konnte den Einschnitt in den fernen Klippen sehen, der den Strand von Skarsstöd und den Anfang des Floka-Tales bezeichnete.
Er dachte an den Tag, als er mit Schwalla zum Eisberg hinausgerudert war, und wie sie die Möwen angerufen und die Vögel ihr geantwortet hatten. Es schien ihm, als läge dieser Tag Tausende von Jahren zurück – so fern schien er ihm, daß selbst die Erinnerung heute kaum noch schmerzte.
Wenn wir von Leiden sprechen, so denken wir dabei immer an den bewußten Geist. Aber die wirklichen Leiden sind die Leiden des Unterbewußtseins, und die wahren Tränen sind die Tränen, die wir in den dunklen Tiefen unseres Wesens vergießen.
Ein Mensch mag nach einem großen Unglücksfall äußerlich ganz unverändert erscheinen, aber wer kann sagen, wie es in seiner Seele aussieht? Nicht einmal er selbst!
Ericsson beobachtete die Vögel, folgte ihrem Flug mit seinen Blicken. Sie erinnerten ihn an Schwalla; ihre Bewegungen, die Grazie ihrer Formen, der unbestimmte Reiz, der nur den Vögeln eigen ist – Schwalla besaß etwas von all diesem. Sie liebte die Vögel, und selbst ihr Name war ein Vogelname. Er wiederholte ihn sich im Geist, aber seltsam, seine Erinnerung regte sich kaum. Die ganze Vergangenheit war wie ausgelöscht – wesenlos – etwas, das nicht mehr zu ihm gehörte.
Während er so dasaß und den Vögeln zusah, teilte sich plötzlich unten das Wasser, und der Kopf eines Seehundes tauchte auf. Er hatte einen jungen Kabeljau in der Schnauze. Schwerfällig wälzte er sich aus dem Wasser, schlug mit den Schaufeln die halbüberschwemmten Klippen und zog sich schließlich zu einem vorspringenden Basaltriff von der Breite eines Eßtisches herauf.
Kaum hatte er sich dort niedergelassen, als eine große Raubmöwe aus der Luft herunterstieß und den Kabeljau am Schwanz packte. Ericsson beobachtete den Kampf zwischen dem Seehund und dem Vogel. Seit der Katastrophe war es der erste Vorgang, der ein leises Interesse in ihm erweckte. Einen Augenblick schien es, als würde der Vogel Sieger bleiben; dann gelang es dem Seehund mit einer plötzlichen raschen Wendung des Kopfes, die Möwe gegen den Felsen zu schleudern. Laut kreischend flog der Vogel davon, und der Seehund konnte seinen Fisch in Ruhe und Frieden verzehren, um sich nachher in der Sonne zu wärmen.
Die Vögel kümmerten sich nicht um Ericsson. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise schienen sie zu wissen, daß er nicht hergekommen war, um ihnen etwas Böses zu tun. Sie gingen ruhig ihren eigenen Geschäften oder Vergnügungen nach, um sich plötzlich mit schrillem Geschrei gegen irgend etwas zu vereinen, was dem Beobachter gänzlich unverständlich blieb.
Nach einer Weile verließ Ericsson seinen Sitz und begann am östlichen Abhang zum Strand hinunterzuklettern. Der Westabhang des Felsens war vollkommen unbesteigbar, und auch hier auf der Ostseite war der Abstieg außerordentlich schwierig. Unter sorgfältiger Vermeidung der Nester der brütenden Vögel setzte Ericsson vorsichtig Fuß um Fuß; die Vögel beruhigten sich nach einem kurzen, aufgeregten Gekreisch und Flügelschlagen rasch wieder. Nur der Seehund nahm die Störung übel und tauchte mit einem Plumps ins Wasser. Einen Augenblick zeigte sich sein runder Kopf noch unter dem Wasserspiegel, dann war er verschwunden.
Ein paar Lummenkücken schwammen auf dem Wasser, von den leichten Wellen wie hüpfende Korken getragen. Ein Lummenkücken kann schwimmen und fischen, lange bevor es fliegen kann; Ericsson, der sich auf einen Felsvorsprung oberhalb der Hochwassergrenze gesetzt hatte, sah, wie eine Lummenmutter ihr Kücken auf dem Rücken zum Wasser trug. Das Junge klammerte sich mit dem Schnabel an das Rückengefieder der Mutter; als sie den Wasserspiegel berührte, tauchte sie unter, und das Kücken war auf diese Weise »in See gesetzt«.
Der kleine Vorgang beschäftigte Ericsson, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, als stünde er in tiefer Beziehung zu ihm selbst. Sein auf das Materielle gerichteter, geradlinig denkender Geist war wie verloren in dieser neuen Welt, in der er nicht mehr arbeiten oder Geschäfte machen, noch für den morgigen Tag vorausdenken konnte; diese Dinge, die einer Welt angehörten, die er bisher nur halb gesehen und gar nicht verstanden hatte, fesselten ihn.
Er war hierhergekommen, um sich zu verbergen, um allein zu sein mit seinem Kummer, und um zu sterben, wenn es so weit war, daß er seinem Leben ein Ende machen wollte. Aber hier auf dem Fulmar war er nicht allein. Vollkommen abgeschnitten von jeder menschlichen Gesellschaft befand er sich doch nicht in einem leeren Raum. Hier auf dem Fulmar, wo der Mensch sich in Gesellschaft der Natur befand, konnte er sich nicht weigern, ihr Walten zu erkennen;
*
Der Fulmar hatte hundert Stimmen. Wie der Eisberg war er dem äußeren Anschein nach viel massiver als in Wirklichkeit, und kein Mensch hatte je die Höhlen, die seinen Fuß durchsetzen, erforscht. Jeder Wechsel von Ebbe und Flut spielte eine neue Melodie, und jede Änderung des Wetters brachte einen neuen Ton. Das Summen der Höhlen gab dem Meer und den Winden Antwort, und bei hohem Flutstand dröhnte das in den unterirdischen Gängen eingeschlossene Wasser mit dem dumpfen Klang einer riesigen Pauke.
Ericsson konnte in der Höhle, in der er sich zum Schlafen niedergelegt hatte, die Stimmen der anstoßenden Höhlen hören. Es war halbe Flutzeit, und der Fulmar atmete und seufzte unter der Dünung wie ein Riese. Der große Felsen schien müde und dabei voll Unrast, und der Gischt, der sich an seinen Vorsprüngen brach, gab dem Atem seiner Höhlen Antwort.
Der weiße Gischt an der Küste von Noto hatte in Ericsson die Erinnerung an jenen Traum von den weißen Meerrossen geweckt, der ihn im Schlaf seiner Kindheit verfolgt hatte; und vielleicht war es auch jetzt der Laut des brechenden Wellenschaumes, der ihm im Schlaf diesen Traum wieder zurückbrachte. Er befand sich mitten unter den Rossen, und sie trampelten mit eisigen, weißen Hufen auf ihm herum; drohend schüttelten sie die schneeweißen Mähnen, bis sie schließlich verschwanden, sich zu schneeweißem Schaum auflösten, der ihn aufnahm, forttrug, an einer Insel vorüber, auf der ein Mädchen stand und die Arme nach ihm ausstreckte – und das Mädchen war Schwalla.
Da erwachte er.
Er mußte viel länger geschlafen haben, als er geglaubt hatte, denn als er aus der Höhle trat, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und weit draußen sah er ein paar weiße Segel – Skarsstöder Fischerboote, die zum Fang ausfuhren.
Er ging zu der Stelle hinüber, wo der schmale Weg zum Plateau hinaufführte, plötzlich aber, als habe er sich anders besonnen, machte er kehrt und ging zur Höhle zurück.
Das Plateau war der einzige Punkt, von dem aus man Skarsstöd in der Ferne liegen sehen konnte.
In der Höhle machte er sich ganz mechanisch daran, die Vorbereitungen für seine Morgenmahlzeit zu treffen.
Er zündete den kleinen Ölkochherd an und setzte Wasser für den Kaffee auf. Magnus als treuer Freund hatte wirklich an alles gedacht; und als Ericssons Augen auf eine kleine Papiertüte mit Salz fielen, hielt er plötzlich in seinen Vorbereitungen inne, und Tränen traten ihm in die Augen.
Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Magnus vor drei Jahren. Es war an Bord der »Funen«, eines kleinen Telegrafendampfers, der der Franco-Dänischen Telegrafen-Gesellschaft gehörte. Sie hatten gerade angemustert, und Magnus hatte sein Zeug in der Schlafkoje verstaut, die Ericsson für sich selbst ausgesucht hatte. Ericsson hatte die Sachen wieder hinausgeworfen, und die beiden würden sich regelrecht geprügelt haben, wäre nicht der Kabelvormann dazwischengetreten. Wochenlang hatten sie nicht ein einziges Wort miteinander gesprochen, dann aber hatten sie plötzlich, wie auf Verabredung, die Sache als erledigt angesehen und waren Freunde geworden. Diese geheimnisvolle, besorgte Liebe zwischen Mann und Mann, dieses Gefühl der Freundschaft, des Verständnisses und der Nachsicht, das vielleicht in Zukunft einmal die Völker untereinander verbinden wird, wie es heute einzelne Menschen verbindet, dieses Gefühl war, ihnen selbst unbewußt, zwischen Magnus und Ericsson aufgeblüht, hatte ihre Herzen lebendig erhalten, alles, was gut und menschlich in ihnen war, zum Wachsen und Blühen gebracht, bis jetzt diese letzte schwere Prüfung gekommen war, um ihre Freundschaft auf die Probe zu stellen.
Das kleine Päckchen mit Salz ließ Ericsson Magnussens sorgende Freundschaft deutlicher erkennen, als jede noch so große Tat der Selbstaufopferung es vermocht hätte. Große Dinge, die man für uns tut, lassen uns oft kalt; wir fühlen uns bedrückt durch das Gefühl der Verpflichtung, ja oft sind wir geneigt, bei anderen eine Großzügigkeit mißtrauisch zu betrachten, deren wir uns selbst nicht für fähig halten. Aber der liebende Gedanke in irgendeiner Kleinigkeit kann uns bis ins Innerste treffen.
So ging es Ericsson, während er dasaß und die Vergangenheit überdachte und Spreu vom Weizen schied. Es war ihm, als sähe er Magnus zum ersten Male richtig, als erkenne er zum ersten Male die Großzügigkeit dieser seltsamen Natur, so kleinlich in kleinen Dingen, so treu und zuverlässig im Unglück.
Nachdem er gefrühstückt hatte, ging er zum Strand hinunter. Wieder lockte das Plateau, aber Ericsson widerstand der Versuchung, denn er wußte, es war der Anblick des fernen Skarsstöd, der ihn rief. »Komm«, so rief es, »vom Plateau aus kannst du mich in der Ferne hegen sehen; nur ein Einschnitt zwischen den Felsen – aber dahinter liegt die Dorfstraße, wo du zum erstenmal dem Mädchen und dem kleinen Blaufuchs begegnet bist.«
Er drehte dem Pfad, der nach oben führte, den Rücken und blickte über das Meer. Es war Ebbezeit und der Wasserspiegel so niedrig, daß Ericsson zu den Felsen auf der Westseite des Fulmar hinübergehen konnte. Er holte eine Angelleine aus der Höhle und machte sich auf den Weg.
Die Vorderseite des Fulmar ist zur Ebbezeit von einer trostlosen Verlassenheit. Möwen gibt es nicht auf dem Klippenabhang, aber ein Echo fängt die Stimmen des Meeres auf und wirft sie in singendem Flüstern zurück. Auf der Ostseite des Felsens ist das Wasser voll von kleinen Fischen; sie finden dort Schutz und Nahrung und müssen selbst wieder den Möwen als Nahrung dienen; aber hier auf der Westseite fällt der Meeresboden zu einer Tiefe von fünfzig Faden ab, und man kann Heilbutt, Meeraale und Seehasen fangen.
Ericsson hatte noch keine zehn Minuten geangelt, als er schon genug Fische gefangen hatte, um eine Woche davon zu leben. Er rollte seine Angelleine zusammen und kletterte zur Nordseite des Felsens hinüber, um die von der Flut in den Felsen zurückgelassenen Teiche zu untersuchen.
Die Teiche selbst boten wenig Interessantes, aber der Fuß des Felsens zeigte auf der Nordseite eine Reihe von Höhleneingängen. Einige dieser Höhleneingänge waren bloße Löcher, nicht groß genug, daß ein Mensch sich hindurchzwängen konnte, andere waren so groß wie ein Torbogen, standen aber selbst bei diesem niedrigen Flutstand zur Hälfte unter Wasser. Die grüne Dämmerung verlor sich im Innern der Höhlen im Schweigen tiefer Finsternis; aber dann und wann verursachte ein größerer Rest von Meerwasser eine Störung des Gleichgewichts und wurde unter heftigem Verspritzen von Gischt und mit einem dröhnenden Laut wie ein Paukenschlag wieder ausgespien.
Nur bei einer einzigen Höhle lag der Boden oberhalb der Ebbegrenze; Ericsson legte seine Fische auf einen Felsvorsprung und kroch in die Höhle hinein
Ungleich den anderen Höhlen war diese nicht ganz dunkel, sondern von einem leuchtenden Dunst, einem unbestimmten Licht erfüllt.
Er war noch keine zehn Meter gegangen, als er den Ursprung dieses Lichts entdeckte; der Boden der Höhle wich plötzlich zurück, und Ericsson stand am Rand eines großen Teiches, dessen Wasser ein Leuchten ausstrahlte. Denn inmitten des Felsens bekam dieser Teich von unten auf geheimnisvolle Weise Licht. Ericsson legte sich flach auf den Boden, um über den Rand des Teiches in die Tiefe zu spähen, und er konnte die Fische erkennen, die in dem grünen Licht der Tiefe hin- und herschossen, und lange Bänder aus Seetang, die sich bewegten, wie von einem sanften Wind getrieben.
Während Ericsson noch in die Tiefe blickte, bewegte die Oberfläche des Teiches sich plötzlich, und das Wasser lief mit einem glucksenden Seufzer über den Rand. Die Flut hatte umgesetzt.
Ericsson stand auf und verließ die Höhle. Draußen entdeckte er, daß inzwischen die Möwen ihm seine Fische weggenommen hatten. Alken hatten sie ins Meer gezerrt; die Schnur, mit der er sie zusammengebunden hatte, war fort. Ein ganzer Schwärm schreiender Stummelmöwen zankte sich um die schwimmende Beute.
Ericsson sah dem Kampfe zu. Es war ihm gleichgültig, was aus seinen Fischen wurde, er hatte sie weniger gefangen, um sie zu essen, als um die Zeit herumzubringen; und als der letzte Fisch verschlungen und der Streit damit beendet war, nahm er seine Angelleine und ging um die Westseite des Felsens zu seiner Höhle zurück.
Wieder schien das Plateau ihm zu winken; aber obgleich er den ganzen Morgen daran gedacht hatte, daß man von dort oben Skarsstöd sehen konnte, widerstand er auch diesmal der Versuchung.
Langsam begann die Vergangenheit, von der er noch gestern geglaubt hatte, sie sei tot und begraben, wieder zum Leben zu erwachen. Gestern noch, als das Unglück, das ihm seine ganze Welt zerstört hatte, alles andere überschattete, war Schwalla ihm nur als ein Gespenst seiner toten Vergangenheit erschienen; heute aber nahm sie wieder Gestalt und Stimme an, und mit dieser Stimme sprach sie zu ihm: »Du liebst mich, und noch lebe ich, aber kein Boot ist da, um dich zu mir zu tragen, und wenn Magnus zurückkehrt, wird es zu spät sein, denn dann wird er mir alles erzählt haben.«
Er setzte sich in den Sand und sah zu, wie die kleinen Wellen sich am Strande brachen. Hatte Magnus es ihr schon gesagt? Er fragte es sich, ohne recht zu wissen, welche Antwort er auf diese Frage erhoffen, welche er sich wünschen sollte. Es war ein Kampf zwischen seiner Liebe zu Schwalla und seiner Liebe zu sich selbst.
Wenn sie die Wahrheit nicht erfuhr, so würde die Tatsache, daß er sie verlassen hatte, sie bis ins tiefste Herz treffen; sie würde auf seine Rückkehr warten, aber er würde nie zurückkehren; Wochen und Monate und Jahre würden vergehen, und das Geheimnis seiner Flucht würde nie gelüftet werden; und sie würde in ihr Grab steigen und nur das eine wissen, daß er sie verlassen hatte. Der Gedanke war zu furchtbar, um ausgedacht zu werden.
Wenn sie aber die Wahrheit erfuhr, würde sie ihn hassen; sie würde ihn wohl bemitleiden, aber trotzdem hassen. Es war nicht anders möglich.
Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn die Sache umgekehrt liegen würde. Wäre Schwalla die Betroffene gewesen, wie würde er ihr gegenüber gefühlt, wie würde er gehandelt haben?
Noch vor einer Woche würde er im Handumdrehen eine Antwort bereit gehabt haben. Jetzt aber, unter dem Druck des wirklichen Geschehens allein auf nacktem Felsen, mußte die Frage beantwortet werden, als beantworte er sie seinem Gotte; er mußte antworten, ohne auszuschmücken oder zu beschönigen, vom tiefsten Grunde seines Herzens aus. Gewaltsam versuchte er, seine Gedanken von der Frage abzuwenden; aber sie blieb auf dem Grunde seines Herzens liegen und wartete geduldig auf die Beantwortung.
Nach einer Weile stand er auf und fing an, Vorbereitungen für sein Mittagessen zu treffen; er zog sie so lange hinaus wie nur möglich, aber als das Essen fertig war, rührte er kaum einen Bissen an.
Alles, was man hier draußen tat, war zwecklos; man fing Fische, und die Vögel nahmen sie einem fort, und es war gleichgültig; man kochte sich Essen, nur um etwas zu tun zu haben, und wenn es fertig war, konnte man es nicht anrühren.
Gestern war die Vergangenheit ihm als ein bloßes Gespenst erschienen; heute schien nur die Vergangenheit lebendig, und die Gegenwart ein Traum.
Er ging zu den Felsklippen hinüber, die den kleinen Strand nach Osten zu abschlossen, und warf die Überbleibsel seiner Mahlzeit den Vögeln hin.
Während er zusah, wie sie sich um die Bissen zankten, bemerkte er weit draußen am Horizont den Rauch eines# Dampfers. Das mußte die »Ingolfjur« sein, die auf dem Wege nach Reykjavik aus Skarsstöd ausfuhr. Und sie hatte Magnus an Bord.
Die Sonne hing tief über dem abendlichen Meer, als Ericsson, der rauchend vor seiner Höhle gesessen hatte, plötzlich seine Pfeife neben sich auf einen Felsvorsprung legte und einen Augenblick mit gesenktem Kopf und wie blind vor sich hinstarrte.
Sein Geist hatte, ihm selbst unbewußt, weitergearbeitet und die Frage beantwortet, die er sich früher am Tage gestellt hatte: »Wie würdest du handeln, wenn Schwalla von diesem furchtbaren Schicksal befallen worden wäre?« Und die Antwort war: »Ich würde zu ihr stehen bis zum Tode. Mochte die Welt sie ausstoßen, ich würde mit ihr gehen. Das ist die heilige Wahrheit vor Gott.«
Er hatte versucht, Schwalla aus seinen Gedanken zu verbannen, er hatte der Versuchung widerstanden, auf das Plateau hinaufzusteigen, weil er den Anblick des fernen Skarsstöd fürchtete. Es war alles umsonst. Seit dem Morgen hatte der Gedanke an sie ihn keinen Augenblick verlassen, wie sehr er auch versucht hatte, seinen Geist davon abzulenken. Mochte er sich auch noch so oft sagen, daß sie für ihn ebenso tot sein mußte, wie er für sie, es nützte nichts.
Er stand auf und ging am Strande auf und ab; und plötzlich, unfähig länger zu widerstehen, begann er den Weg zum Plateau hinaufzusteigen.
Mit gekreuzten Armen stand er oben, den Blick dem fernen Lande zugewandt. Seine Augen wanderten über die Küste und die darunterliegenden Hügel, immer wieder aber kehrten sie zu demselben Fleck zurück, zu jenem Einschnitt in den Felsen, der den Eingang zum Floka-Tal bildete, und wo er Skarsstöd mehr ahnte als sah.
Lange, lange Zeit stand er so, regungslos, fast ohne zu atmen. Und plötzlich breitete er mit einer wilden Bewegung die Arme aus, als versuche er, das Weib und die Welt, die er verloren, in seine Arme zu reißen.
*
Magnus hatte nach seiner Rückkehr vom Fulmar das Boot an der Helling festgemacht und war dann geradeswegs nach Hause gegangen. Es war noch so zeitig am Morgen, daß kein Mensch im Dorf wach war.
Zu Hause angekommen, verschloß er die Tür und setzte sich an den Tisch; seine Gedanken, von den Ereignissen der letzten Stunden hin- und hergerissen, hefteten sich jetzt auf die Unordnung seiner Umgebung. Die Laken beider Betten, der Kochherd, sämtliche Eßvorräte – alles war fort. Wie sollte er Helga, wenn sie wie gewöhnlich um sechs Uhr morgens kam, diese Tatsache erklären?
Eine einzige Angst erfüllte ihn – daß die Behörden, wenn die Wahrheit bekannt wurde, darauf bestehen würden, Ericsson in jenes schreckliche Hospital nach Reykjavik zu bringen.
Er hatte die unbestimmte Idee, Ericsson vom Fulmar nach irgendeinem verlassenen Ort an der Küste zu bringen, ihm dort eine Art Hütte zu bauen und für ihn zu sorgen, bis zu dem unausbleiblichen Ende, auch auf die Gefahr hin, daß er sein Schicksal teilen mußte.
Hierin zeigte sich wieder der ganze Magnus. Magnus der Eifersüchtige, der noch an jenem Tage, als Schwalla Ericsson geschnitten hatte – dieser selbe Magnus war jetzt, da die große Prüfung über seinen Freund hereingebrochen war, ohne Zögern bereit, alles für ihn zu opfern.
Ericsson hatte die Scheine der Landesbank, die ihr gemeinsames Vermögen ausmachten, unter einer Diele des Fußbodens unter seinem Bett verborgen. Magnus rückte das Bett beiseite, holte die Banknoten aus ihrem Versteck und steckte sie in seine Tasche. Dann schob er das Bett wieder an seinen Platz, verließ das Haus und schloß hinter sich ab.
Es war jetzt fünf Uhr, und Skarsstöd begann zu erwachen. Sursson war auf seinem Trockenplatz damit beschäftigt, die am Vortage gefangenen Fische auszulegen. Als er Magnus erblickte, trat er an den Zaun und bot ihm guten Morgen.
»Was Neues von Ericsson?« fragte Sursson.
»Alles in Ordnung«, erwiderte Magnus. »Er hat sich nach Reykjavik begeben.«
»Nach Reykjavik? Aber wie ist denn das möglich? Der Dampfer geht doch erst morgen!«
»Er ist über Land gegangen«, erklärte Magnus.
»Über Land! Aber das ist ja eine Reise von fünf Tagen!«
»Nur vier, wenn man reitet, und er hat sich auf einem Hof ein Pony geben lassen. Aber vier Tage oder fünf, das macht ihm nichts aus. Du weißt, wenn er sich einmal eine Sache in den Kopf gesetzt hat, bringen ihn keine zehn Pferde davon ab.«
»Da hast du recht, der läßt sich nicht leicht von seinem Willen abbringen. Aber wie ist er denn so plötzlich darauf verfallen, nach Reykjavik aufzubrechen und noch dazu in solcher Eile?«
»Es handelt sich um das neue Boot, das er kaufen will. Was es eigentlich ist, konnte ich auch nicht so recht aus ihm herausbekommen, aber schließlich muß er ja mit seinen Angelegenheiten selbst am besten Bescheid wissen.«
»Tja, tja«, meinte Sursson, »er ist ein ordentlicher Mensch, und er wird seine Zeit schon nicht für nichts und wieder nichts vergeuden.«
Magnus war ein schlechter Lügner. Jedem aufmerksamen Beobachter würde seine aufgeregte Art und sein unsteter Blick aufgefallen sein, aber Sursson bemerkte solche Dinge nicht.
»Na«, sagte er, »wenn ich die Fische hier fertig ausgelegt und einen Happen gegessen habe, fahre ich raus. Kommst du mit?«
»Nein«, erwiderte Magnus, »ich kann heute nicht und morgen auch nicht. Ich will das Boot und das Angelgerät und überhaupt alles deiner Obhut übergeben, denn ich selbst gehe auch nach Reykjavik – mit dem Dampfer.«
»Was, du auch?«
»Ja, Ericsson will, daß ich ihn dort treffe.«
»Aha«, sagte Sursson, »er hat wohl irgendeine große Sache vor! Diese Heimlichtuerei –«
»Heimlichtuerei!« fuhr Magnus auf. »Was soll das heißen? Wir haben nichts zu verheimlichen!«
Sursson war gekränkt.
»Ich habe doch nichts Böses gemeint. Ich wollte nur sagen, daß Ericsson wahrscheinlich irgend etwas gegen Gudmundsson im Schilde führt. Aber da haben wir's wieder. Jedes Wort verdrehst du einem im Mund.«
Er wandte sich wieder seinen Fischen zu.
»Also du kümmerst dich um das Boot und den Fischfang?« rief ihm Magnus nach.
»Tja, tja«, brummte Sursson, »ich werd' mich schon kümmern.«
Magnus drehte sich um und ging die Straße hinunter. Er fühlte, daß er die Sache verpfuscht hatte. Wenn Sursson erst Zeit zum Nachdenken gehabt und mit seiner Frau gesprochen hatte, würden sie merken, daß die Sache einen Haken hatte. Ein Mensch mußte ja ein Narr sein, um bei den schlechten Wegen eine solche Wanderung über die Berge zu machen, auf der er zwei Flüsse durchwaten mußte.
Jonsson der Bäcker öffnete gerade seinen Laden, und Magnus trat ein, um sich etwas Brot zu kaufen, das er am Strande verzehren wollte.
»Nachrichten von Erik Ericsson?« erkundigte sich Jonsson, während er Magnus die Semmeln über den Ladentisch hinüberreichte.
»Nachrichten?« sagte Magnus. »Was brauchst du Nachrichten von Ericsson?«
»Weil gestern abend im Wirtshaus erzählt wurde, er wäre fortgegangen und noch nicht zurückgekommen.«
»Dann kannst du den Leuten sagen, sie möchten ein andermal ihre Mäuler halten«, sagte Magnus, wütend über den neuen Fragesteller. »Ericsson ist imstande, für sich selbst zu sorgen, und wenn et für ein paar Tage in seinen Angelegenheiten fortgeht, so weiß er, was er tut, und braucht niemandem davon Rechenschaft abzulegen.«
Er drehte sich um und verließ den Laden. Schon wieder eine neue Schwierigkeit! Wie war es nur möglich, den Augen und Zungen von Skarsstöd zu entgehen? In einer, höchstens zwei Wochen würde der ganze Ort über Ericssons Verschwinden in Aufruhr sein; und es würde nicht möglich sein, ihn vom Fulmar nach einem entfernteren Ort zu bringen, ohne daß dieser Bienenstock von Klatschmäulern etwas davon erfuhr. Und wenn erst einmal Skarsstöd über die Tatsache Bescheid wußte, würde sie auch dem Regierungsarzt in Stykkisholmur nicht mehr lange verborgen bleiben.
Als er, in diese beunruhigenden Gedanken versunken, die Straße entlang ging, kam ihm Helga Thordursson, die auf dem Weg zu seinem Hause war, entgegen.
Wenn Helga des Morgens kam, waren die beiden Männer gewöhnlich schon fort. Sie machte die Betten und räumte das Haus auf, zündete Feuer an und bereitete das Frühstück, alles für eine Krone die Woche; und für diesen Lohn kochte sie ihnen außerdem noch ihr Abendessen und wusch das Geschirr ab. Augenblicklich trug sie einen Besen in der einen Hand und einen Topf mit Milch in der anderen.
Sie gehörte zu jenen selbstlosen, ehrlichen, treuen und geduldigen Seelen, die vom lieben Gott selbst der übrigen Menschheit als Beispiel gesetzt zu sein scheinen – ein Beispiel, das kaum jemals verstanden, geschweige denn befolgt wird.
Magnus hatte sich von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt. Sie war wie ein guter Hausgeist; und als er ihr jetzt gegenüberstand, war es ihm, als sei damit die Lösung aller Schwierigkeiten gefunden. Daß er vorhin die Haustür verschlossen hatte, damit sie nicht hereinkommen und das ausgeräumte Zimmer sehen sollte, erschien ihm plötzlich außerordentlich töricht.
Er kehrte um, und zusammen traten sie in die Stube.
»Helga«, begann Magnus, bevor sie etwas sagen konnte, »Erik Ericsson hat Skarsstöd verlassen, und er kann nie wieder hierher zurückkehren. Er ist an einem Ort ganz in der Nähe, aber ich darf dir nicht sagen, wo. Es ist ihm ein großes Unglück zugestoßen. Ja, sieh dich nur um! Ich habe ihm das Bettzeug und den Kochherd und alle Eßvorräte gebracht.«
Das Mädchen sah sich in dem kahlen Raum um, in dem nichts zurückgeblieben war, außer den Bettstellen, den Stühlen, dem Tisch, dem Bild an der Wand und ein paar Kleidungsstücken und Angelzeug. Sie war blaß geworden, und ihre Lippen zitterten, als sie sich Magnus zuwandte.
»Erik Ericsson wird nicht zurückkommen? Nie wieder?«
»Siehst du«, sagte Magnus nach einem kurzen Schweigen, »niemand darf von der Sache erfahren, nur du und ich und Schwalla Gunnarsson. Selbst Gunnarsson darf nichts davon wissen.«
»Von mir soll niemand etwas erfahren«, versprach Helga. Sie glaubte, Ericsson habe sich in irgendeiner Weise gegen das Gesetz vergangen. Sie erinnerte sich, als sie noch ein kleines Mädchen war, wie Jon Sturlusson, ein böser, jähzorniger Mensch, der im Rausch einen Fischer erschlagen hatte, in die Berge entkommen war und sich wochenlang dort verborgen gehalten hatte.
Ihr ganzes Herz flog Magnus entgegen, wie er so elend dasaß. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie trat neben ihn und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Er fuhr zusammen; dann sah er zu ihr auf und zog sie an sich. An Liebe dachte er nicht; das Gefühl des Unglücks lastete zu schwer auf ihm, um für irgend etwas anderes Raum zu lassen. Aber einen Augenblick hielt er sie fest an sich gepreßt.
Ericsson hatte er verloren; aber es schien, als hätte der liebe Gott ihm Helga als Ersatz geschickt.
Helga sah sich prüfend im Zimmer um; dann verschwand sie, ohne ein Wort zu sagen, um nach kurzer Zeit mit einem Ölkochherd wiederzukommen, den sie sich bei einer Nachbarin geborgt hatte.
»Ich habe ihr gesagt, deiner wäre entzwei«, erklärte sie.
Er half ihr den Kocher anzünden, sie setzte Wasser auf und ging dann fort, um Kaffee, Zucker und Eier zu kaufen. Sie hatte keine Fragen gestellt, keine Beileidsbezeigungen geäußert; ihre gesamte Energie richtete sich darauf, für den betrübten Magnus zu tun, was in ihrer Macht lag.
Magnus hatte sich doch entschlossen, mit Sursson zum Fischfang hinauszufahren. Er würde ihm helfen, die Zeit hinzubringen, und außerdem würde er auf diese Weise ein Zusammentreffen mit Schwalla vermeiden.
Er hatte versprochen, es ihr zu sagen, und er würde es ihr sagen; aber er wollte die Unterredung bis möglichst kurz vor seiner Abreise nach Reykjavik hinausschieben.
Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus und ging die Straße zum Strand hinunter; und der erste Mensch, dem er begegnete, war Schwalla.
Schwalla hatte nicht geschlafen. Ericssons Abwesenheit und vor allem die Tatsache, daß er fortgegangen war, ohne ihr ein Wort zu sagen, ängstigte und beunruhigte sie. Von dem Geschwätz, das in Skarsstöd umlief, Pfarrer Olsen habe Ericsson oben bei den Gehöften getroffen, und Ericsson habe ihn nicht erkannt, hatte sie nichts gehört; sie wußte nur, daß Ericsson in einer geschäftlichen Angelegenheit fortgegangen war und ihr nichts davon gesagt hatte.
»Du siehst, ich bin schon früh draußen«, sagte sie. »Ich dachte, daß ich vielleicht dich oder Ericsson treffen würde. Ist er immer noch nicht zurück?«
»Nein, er ist noch nicht zurück«, erwiderte Magnus. Nie war ihm das, was er ihr zu sagen hatte, so furchtbar erschienen wie jetzt, wo er ihr in dem hellen Morgensonnenschein gegenüberstand.
Schwalla schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Er hat mir nicht gesagt, daß er fort wollte, und dir auch nicht, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Magnus, »aber er hat mir Nachricht geschickt, daß er in Geschäften fort mußte. Du weißt, es ist wegen des Bootes, das er in Reykjavik kaufen will.«
»Er hat dir Nachricht geschickt?«
»Ja«, sagte Magnus hastig und verwünschte sich selbst wegen seiner Feigheit.
Schwalla sagte nichts mehr. Sie ging weiter; Magnus sah ihr einen Augenblick nach, dann drehte er sich um und ging zum Strand hinunter, wo Sursson gerade die letzten Vorbereitungen zum Ausfahren traf.
Schwalla fühlte sich tief beunruhigt; wenn Ericsson Magnus eine Botschaft geschickt hatte, warum dann nicht auch ihr? Sie fühlte sich verletzt.
Beim Frühstück brachte ihr Vater die Sache zur Sprache. Gunnarsson war noch früher draußen, gewesen als Schwalla, und jemand, der die Neuigkeit von Sursson wußte, hatte sie ihm erzählt.
»Warum hast du mir denn nichts davon gesagt, daß Ericsson nach Reykjavik aufgebrochen ist?« fragte Gunnarsson. »Und was für eine Verrücktheit, die Reise über Land zu machen, obgleich er mit dem ›Ingolfjur‹ ebenso schnell dagewesen wäre. Aber so sind die jungen Leute von heute. Das denkt natürlich, es muß alles besser wissen, wir Alten sind Dummköpfe. Aber so dumm bin ich doch nicht, meine Zeit auf solche Weise zum Fenster hinauszuwerfen. So eine Verrücktheit!«
Schwalla erwiderte nichts. Also nach Reykjavik war Ericsson gegangen! Fortgegangen, ohne ein Wort zu sagen! Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sie, scharf wie ein Messerstich; die Erkenntnis kam ihr, daß dies keine gewöhnliche Reise war. Er war fort, hatte sie verlassen, würde nie zu ihr zurückkehren. Er war ihrer müde geworden, oder er liebte eine andere. Ja, das war die einzige Erklärung! Wie zu Stein erstarrt, saß sie unter dem Schlag dieser plötzlichen Erkenntnis.
Gunnarsson frühstückte ruhig weiter und merkte nichts.
Nach dem Frühstück verrichtete Schwalla ihre häuslichen Pflichten wie gewöhnlich. Während der letzten Tage schon hatte sie dann und wann das dunkle Gefühl gehabt, als sei ihr Glück zu groß, um von Dauer zu sein. Echte Isländerin von Vaters Seite her, war ihr ein gewisses Mißtrauen einer allzu freundlich lächelnden Welt gegenüber angeboren. Ihre Väter hatten Eisbrüche erlebt, Erdbeben und Sturmfluten. Sie hatten gewußt, daß allzu strahlender Sonnenschein immer der Vorbote schlechten Wetters war, und jetzt mußte sie an sich selbst die Wahrheit dieser jahrtausendalten Überlieferung erfahren. Und deshalb war sie imstande, ihrem Verlust ohne Wimpernzucken ins Auge zu sehen, ohne ein Wort, ohne eine Träne, mit der gleichen starren Ruhe, mit der Ericsson die Nachricht vom Tode seines Vaters und sein eigenes schreckliches Schicksal aufgenommen hatte.
Es war um zwei Uhr am nächsten Tage. Um vier Uhr sollte der ›Ingolfjur‹ in See stechen. Und Magnus ging hastig die Straße zu Gunnarssons Haus hinauf. Er wußte, daß Gunnarsson nicht zu Hause war.
Als er vor der Haustür stand, ging sein Atem schwer, und seine Lippen waren trocken, so daß er kaum sprechen konnte, als die kleine Dienstmagd auf sein Klingeln öffnete.
Ja, Schwalla war zu Hause. Magnus ging unruhig im Zimmer auf und ab. Waren seine Lippen trocken, so waren seine Hände feucht von Schweiß, so daß er sie fortwährend an seinem Rockärmel abtrocknen mußte.
Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und sah sich die Fotografien an den Wänden an. Er betrachtete sie so genau, als müsse er jede Einzelheit für immer seinem Gedächtnis einprägen. Als er bei dem letzten Bild angelangt war, öffnete sich die Tür, und Schwalla trat ins Zimmer.
Mechanisch zog sie die Tür hinter sich zu, ohne die Augen von Magnus abzuwenden, wußte sie doch instinktiv, daß er eine schicksalsschwere Nachricht brachte. Sie ging auf ihn zu, blaß bis in die Lippen, aber ohne zu zögern.
»Was ist geschehen?« fragte sie.
Magnus fuhr sich mit einem Finger zwischen Hals und Kragen, als wolle er eine erstickende Schlinge lockern; sein Gesicht war blaurot, er sprach hastig, die Worte überstürzten sich, stolperten übereinander und kamen doch dem furchtbaren Endziel immer näher.
»Ich hätte es dir schon gestern sagen sollen, aber ich konnte es nicht. Ericsson ist fort, du wirst ihn niemals wiedersehen.«
Er hatte beide Hände fest ineinander verkrampft und starrte auf die gegenüberliegende Wand, als sei dort etwas, das seinen Blick festhielte.
»Ist er tot?« fragte Schwalla mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
Magnus schüttelte den Kopf.
»Schlimmer.«
Und dann sagte er es ihr, und sie hörte ihm zu, aufrecht, die Hand schwer auf die Stuhllehne gestützt, mit halbgeschlossenen Augen, wie betäubt.
Nur ein einziges Wort sagte sie: »Das!« Und in diesem einzigen Wort war alles enthalten, das Schicksal, das ihren Liebsten betroffen hatte, und ihr eigenes Schicksal. Das. Das Eine, das Schlimmste im Leben, das, wovon sie wußte, aber wovon sie nie gedacht hatte, daß es je in Beziehung zu ihr treten könnte, und das doch von der Stunde ihrer Geburt an auf sie zugekrochen war wie ein weißer Panther, um ihr Leben zu zerstören und das Leben des Mannes, den sie liebte. Magnus, der einen Strom von Tränen, wildes Schluchzen und Geschrei erwartet hatte, fühlte sich durch die Art, wie sie die Nachricht aufnahm, erleichtert, obgleich er ihr ihre Ruhe allerdings beinahe übelnahm. Nachdem das Schlimmste überstanden war, legte er sich keine Zurückhaltung mehr auf. Er erzählte ihr alles, malte das Bild des Mannes, der dort draußen einsam am Fulmar hauste, allein mit dem Meer und den Vögeln.
Tränen rollten ihm über die Backen, während er sprach, halb zu sich selbst und halb zu Schwalla gewandt.
»Und jetzt soll ich nach Reykjavik fahren. Es ist sein Wunsch; trotz seines Kummers hat er noch an andere gedacht. Er sagte, daß der Fischereibetrieb Surssons und der anderen wegen weitergeführt werden müßte. Ich würde am liebsten nie wieder einen Fisch aus dem Meer holen, es ist ja alles gleich. Eine Welt, in der solche Dinge geschehen können, ist nichts wert. Aber was nützt das Reden! Kein Mensch darf erfahren, wo er ist.«
»Hat er von mir gesprochen?« fragte Schwalla mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne zu kommen schien.
»Er sagte, ich sollte es dir sagen. Ich wollte nicht, aber er sagte, es müßte sein. Nun fahre ich also nach Reykjavik – lebe wohl, denn wer weiß, was in dieser Welt noch alles geschehen kann! Aber was nützt das Reden!«
Sie brachte ihn bis zur Tür. Dann ging sie in ihr Zimmer hinauf, schloß sich ein und setzte sich ans Fenster.
Das also war es! Das furchtbarste Schicksal, das es auf Erden gab, hatte Ericsson betroffen, aber er hatte sie doch nicht verlassen! Wie Sonnenschein auf düsteren Bergen leuchtete dieser Gedanke in ihrem Innern. Die ganze Welt war für sie zu einer wüsten Einöde geworden, aber die Sonne war geblieben.
Sie stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen; ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen glänzten. Von Zeit zu Zeit blieb sie am Fenster stehen und sah zu den fernen Bergen hinüber und auf das nahe Tal. Ihre ganze Welt lag in Trümmern; die Zukunft, die sie geplant hatten, war zerstört.
Mit dieser Tatsache hatte sich Schwalla auseinanderzusetzen« – und mit dem schwierigsten und furchtbarsten Problem, das einer Frau gestellt werden konnte. Was sollte sie tun? Wie sollte sie handeln?
Nicht einen einzigen Augenblick war sie darüber im Zweifel. Die Liebe hatte diese Frage beantwortet, fast noch ehe sie sie sich selbst gestellt hatte.
Sie verließ das Haus und schlug den Weg talaufwärts ein. Sie mußte sich Bewegung verschaffen, bis der Augenblick gekommen war, wo sie handeln konnte.
Sie ging an Gudmundssons Haus vorüber und an den Lachsteichen. Sie kam zu der Mooswiese, wo Ericsson sie an jenem Tage schlafend gefunden hatte. Und wie an jenem Tage schrien die Brachvögel, und der Fluß hüpfte über die Steine, und die Felsenriffe blickten auf sie herab.
Sie blieb stehen, wie man an einem Grabe stehen bleibt. Dann ging sie weiter, immer weiter das Tal hinauf.
*
Gunnarsson bemerkte keine Veränderung an seiner Tochter, als er ihr beim Abendessen gegenübersaß. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sie schien etwas zerstreut und geistesabwesend, aber solche Kleinigkeiten fielen ihm nicht weiter auf. Er hatte schon wieder eine neue Sorge, die ihn beschäftigte, nachdem die Sache mit der Lachsfalle glücklich erledigt war. Die Frachtsätze waren in die Höhe gegangen, und die Ladung getrockneter und frischer Fische, die er an jenem Tage mit dem ›Ingolfjur‹ nach Reykjavik geschickt hatte, kostete ihn eine oder zwei Kronen mehr, als er gerechnet hatte.
Beim Gute-Nacht-Sagen gab sie ihm einen Kuß wie alle Tage; dann aber, schon an der Tür, drehte sie sich um und küßte ihn noch einmal, diesmal auf die Stirn. Am Abend, bevor sie nach Kopenhagen gefahren war, um ihre Tante zu besuchen, hatte sie das auch getan.
Draußen auf der Diele blieb sie einen Augenblick stehen, dann ging sie durch die kleine Küche in den Hinterhof. Helgi lag in seiner Hütte; sie holte ihn heraus und drückte ihn einen Augenblick fest an sich. Dann ging sie wieder ins Haus und in ihr Zimmer.
Es war neun Uhr. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, der neben dem geöffneten Fenster stand. Von unten drang das Gelächter der Fischerjungen, die auf der Straße spielten, zu ihr herauf, das Murmeln des Flusses, und dann und wann der Schrei einer Möwe. Sie öffnete die oberste Lade des Schreibtisches und nahm ein mit einem schmalen, roten Seidenbändchen verschnürtes Päckchen Briefe heraus. Es waren Briefe, die ihre Mutter einst an ihren Vater geschrieben hatte. Sie schob sie in den Ausschnitt ihrer Bluse, dann ging sie daran, den weiteren Inhalt der Schublade zu prüfen. Es war nichts von Bedeutung darunter: einige Briefe von ihrer Tante und von Kopenhagener Freundinnen.
Schwalla legte die Briefe wieder an ihren Platz und schloß die Schublade ab. Weitere Vorbereitungen hatte sie nicht zu treffen, und sie legte sich auf ihr Bett, um noch ein wenig zu ruhen und starrte mit weit geöffneten Augen in das Licht der Tischlampe und auf das Muster der Tapete an der Wand. Das Gelächter der Jungen auf der Straße verstummte, sie hörte, wie sie mit klatschenden Füßen nach Hause rannten.
Vor Mitternacht konnte sie wegen der Flut nicht an den Hafen kommen, um ihr Vorhaben auszuführen. Sie mußte noch über zwei Stunden warten, und von den Ereignissen des Tages erschöpft, versank sie in einen leichten Schlummer.
*
Es war nach Mitternacht, als sie erwachte.
Sie warf einen Blick auf die kleine Uhr auf dem Nachttisch, dann nahm sie ihren Hut, blickte sich um, als wollte sie diesen Raum, den sie von Kindheit an gekannt hatte, ein letztes Mal in sich aufnehmen, und verließ das Zimmer.
Leise öffnete sie die Haustür, zog sie ebenso leise hinter sich wieder zu, hob den Riegel der Gartentür und stand auf der Straße. Einen einzigen Blick warf sie auf das Haus zurück, das sie für immer verlassen hatte, dann wandte sie sich und ging zum Strand hinunter.
Ein leichter Südwind wehte vom Meere her, und im Schein der Mitternachtssonne lag der Fulmar fern und unwirklich da, wie eine Insel im Meer der Träume.
Einen Augenblick blieb Schwalla stehen und ließ ihre Augen über das Meer schweifen, dann ging sie den Strand entlang zum Hafen hinüber, wo zwischen verschiedenen anderen Fahrzeugen auch das kleine Beiboot der »Helga« lag. Schwalla löste die Vertäuung, zog das Boot näher an den Strand und stieg hinein. Mit Hilfe des einen Riemens stieß sie vom Ufer ab und ruderte dann so lange, bis sie im Winde lag; dann setzte sie das Segel und steuerte ins offene Meer hinaus, mit Kurs auf den Fulmar.
Der große Felsen hob sich scharf vom Horizont ab; und bald konnte Schwalla die langen Reihen der Möwen erkennen, die wie Streifen aus grauweißer Kreide auf dem Purpurrot des Basalts leuchteten. Als sie fast auf gleicher Höhe mit der südlichen Küste war, warf sie das Steuerruder herum, so daß das Boot vor dem Winde lief. Die leichte Brise trug es auf sanfter Dünung wie eine Möwe, die vor dem Winde flieht.
Das Boot lief leicht auf den Strand auf, und Schwalla sprang heraus. Außer dem Geräusch der Brandung und dem Sprudeln des aus den Höhlen überlaufenden Wassers war nirgends ein Laut zu vernehmen, und ein furchtbarer Gedanke schnürte Schwalla das Herz zusammen.
Aber sie kannte den Fulmar genau und wußte, daß ein Mensch, der weder am Strande noch auf dem Plateau zu sehen war, sich im Innern der Höhlen aufhalten konnte. So ließ sie das Boot liegen, wo es lag, ohne sich weiter darum zu kümmern, und ging, die Hand auf ihr wildklopfendes Herz gepreßt, mit leisen und furchtsamen Schritten den leicht ansteigenden Strand hinauf.
Sie blickte in die Höhle hinein.
Ericsson lag auf dem Boden und schlief, die rechte Hand zur Faust verkrampft auf der Brust. Es war hell genug, daß sie sein Gesicht erkennen konnte; er bewegte sich unruhig und murmelte unzusammenhängende Worte, wie jemand, der gegen einen Alptraum kämpft.
Es war zum zweitenmal, daß er überhaupt schlief, und beide Male hatten ihn die schrecklichsten Träume verfolgt.
Ihm träumte, er habe ein furchtbares Verbrechen begangen, vor dem es kein Entrinnen gab. Er ging die Straße von Skarsstöd entlang, und alle Fischer und Dörfler verfolgten ihn in tödlichem, haßerfülltem Schweigen. Gudmundsson blieb stehen, um ihn vorübergehen zu sehen, und seine Strafe bestand darin, daß er geradeswegs zu Gudmundssons Haus hinaufgehen mußte. Er war schon an seinem eigenen Haus vorüber, als er sich plötzlich seines Verbrechens bewußt wurde. Er war aussätzig. Seine Hände waren weiß, und jetzt sah er zwei Gestalten auf sich zukommen – Schwalla und Helgi.
Sie blieben stehen, und dann rannte Schwalla davon; er schrie laut auf, um sie zu halten, da brach das Gebäude des Traumes um ihn zusammen. Er erwachte, und neben ihm am Boden kniete Schwalla.
*
In Reykjavik angekommen, ging Magnus geradeswegs zu Stefansson. Die Art, wie der Anwalt seine Nachrichten über Ericsson aufnahm, erschreckte ihn tief.
Stefansson war entsetzt über die Tatsache von Ericssons Krankheit, mehr aber noch über die Art und Weise, wie die beiden das Geheimnis zu vertuschen gesucht hatten. Die Sache mußte unbedingt zur Kenntnis der Behörden gebracht werden.
»Damit sie ihn ins Hospital stecken?« fragte Magnus.
»Natürlich«, erwiderte der Anwalt, ohne die Bedeutung des Tones zu erfassen, in dem Magnus gesprochen hatte.
Sie saßen einander an dem runden Tisch in Stefanssons Arbeitszimmer gegenüber.
»Und ich sage Ihnen, er wird nicht ins Hospital gehen«, erklärte Magnus ruhig. »Vorläufig bleibt er, wo er ist, und später bringe ich ihn die Küste hinauf nach dem Arnafjordur. Ich habe mir schon alles ganz genau überlegt.«
»Aber bedenken Sie doch die Gefahr für sich selbst und andere.«
»Für mich selbst werde ich schon sorgen, und andere Menschen gibt es dort oben nicht.«
»Das ist ja alles ganz gut und schön«, sagte Stefansson, »aber meine Pflicht –«
»Wenn Sie irgend jemandem auch nur ein Wort von der Sache erzählen, töte ich Sie«, sagte Magnus, »das steht fest, und darüber brauchen wir kein Wort weiter zu verlieren. Und jetzt wollen wir zu den Geschäften kommen.«
Stefansson begann, um das Thema zu wechseln, von Gudmundsson zu sprechen, der vor ein paar Tagen von Reykjavik fortgeritten war, und von dem man seither nichts mehr gehört hatte; aber Magnus zeigte nur geringes Interesse für Gudmundssons Verschwinden.
Nachdem der »Ingolfjur« seine Ladung gelöscht hatte, blieb er noch einen Tag im Hafen von Reykjavik Hegen, um dann, mit Magnus an Bord, längs der Küste zurückzufahren.
Um neun Uhr morgens kamen sie in Skarsstöd an, und das erste, was Magnus dort hörte, war, daß Schwalla verschwunden sei. Kein Boot fuhr zum Fischfang hinaus – es wurde keine Arbeit getan –, seit vier Tagen war die gesamte Bevölkerung von Skarsstöd auf den Beinen, um die Umgebung, das Floka-Tal, die Hügel und die Küste nach der Verschwundenen abzusuchen.
Aber sie auf dem Fulmar zu suchen, daran hatte niemand gedacht – ebenso wie es keinem Menschen eingefallen war, nachzusehen, ob vielleicht eines der Boote fehlte. Helga allein ahnte, was sich zugetragen hatte, aber da sie Ericssons Versteck nicht kannte, und außerdem Magnus das Versprechen gegeben hatte, zu keinem Menschen ein Wort von der Angelegenheit zu sagen, schwieg sie. Magnus erriet die Wahrheit sofort und eilte zum Hafen hinunter.
Ja, das Boot war fort! Die »Helga« lag verankert, aber das Beiboot war fort. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß Schwalla etwas Derartiges tun könnte – sie war also seit vier Tagen auf dem Fulmar – allein mit Ericsson!
Er setzte sich allein auf dieselbe Klippe, auf der Schwalla und Ericsson damals gesessen hatten.
Sie war zu ihm gegangen, hatte alles von sich geworfen – ihr Leben, ihren guten Ruf, alles.
Magnus besaß unter seinen anderen absonderlichen Eigenschaften etwas von der Seele einer alten Jungfer, wenn es sich um »anständige Frauen« und ihre Beziehungen zu Männern handelte. Außerdem war Schwalla seine Kusine, und jeder Flecken auf ihrer Ehre bedeutete einen Flecken auf seiner eigenen.
Er mußte handeln, und zwar sofort. Er mußte irgend etwas tun, um sie zurückzuholen oder, falls das nicht ging, um die Schande zu vertuschen. Er sah das unausbleibliche Schicksal des Mannes vor sich, den er hatte pflegen und schützen wollen, selbst auf die Gefahr hin, sein Schicksal zu teilen.
Aber was konnte er tun?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Gunnarsson war noch fort, auf der Suche nach seiner Tochter; ebenso Sursson, Briem und die meisten anderen Männer. Gunnarsson bezahlte ihnen fünf Kronen täglich und hatte außerdem dem ersten, der ihm Nachricht von der Verschwundenen brächte, eine Extra-Belohnung von tausend Kronen versprochen.
Pfarrer Olsen allein, der schwächlich war, beteiligte sich nicht an dem allgemeinen Suchen – er steuerte nur seine Gebete bei, daß alles sich zum besten wenden möge.
Ein glücklicher Zufall wollte es, daß Pfarrer Olsen der erste Mensch war, dem Magnus auf seinem Wege begegnete. Er nahm den Pfarrer am Arm und führte ihn zum Landungssteg, der vollkommen menschenleer und verlassen dalag. Und hier erzählte Magnus dem Pfarrer die ganze traurige Geschichte.
»Und sie ist zu ihm gegangen!« sagte Olsen, als Magnus geendet hatte. Er war ein Mensch, der nicht leicht zu rühren war; jetzt aber hatte er Feuer gefangen – seine Augen glänzten, und er hatte sich hoch aufgerichtet, so daß er größer erschien als gewöhnlich. »Was für ein Weib!«
»Und jetzt fahre ich zu ihnen hinaus«, erklärte Magnus, »und Sie müssen mit mir kommen. Sie hat alles von sich geworfen, eines aber ist noch zu retten, und das müssen Sie retten.«
Olsen verstand.
»Ich komme mit«, sagte er.
Sie gingen zum Hafen, und Magnus machte eines der Boote segelfertig. Der Pfarrer stieg ein, und Magnus, der gleichzeitig Steuerruder und Segel bediente, nahm den gleichen Kurs, wie vor fünf Tagen mit Ericsson.
Es war inzwischen Mittag geworden. Der Wind, der während der letzten Tage aus Süden geweht hatte, war nach Südwesten umgeschlagen, und längs des Horizonts ließ eine Reihe weißer Wölkchen wie ein Volk weißer Schwäne das Blau des Meeres noch tiefer erscheinen.
Als sie sich dem Fulmar näherten, flogen ihnen Schwärme von Möwen entgegen, und Seeschwalben jagten sich um ihr Boot.
Magnus warf das Steuer herum und hielt geradeswegs auf den Strand zu. Sein Atem ging schwer. Wo war das Boot, in dem Schwalla gekommen war? Es hätte hier irgendwo am Strande hegen müssen – aber nirgends war eine Spur davon zu sehen.
Das Boot stieß auf Grund, die beiden Männer sprangen hinaus und zogen das leichte Fahrzeug auf den Strand. Dann eilten sie, Magnus voran, zur Höhle.
Die Höhle war leer.
Aber Schwalla war hier gewesen, denn auf den Bettüchern, die sorgfältig zusammengefaltet in einer Ecke lagen, leuchtete eine weiß und schwarz gefleckte Feder. Ericsson hatte sie eines Tages auf den Klippen aufgelesen und sie Schwalla gegeben, die seitdem die Feder stets an ihrem Hut getragen hatte.
Magnus nahm die Feder und hielt sie nachdenklich in der Hand. Dann eilte er, ohne ein Wort zu sagen, aus der Höhle, und kletterte, von seinem Gefährten gefolgt, zum Plateau hinauf.
Es war niemand dort.
Vom Plateau aus konnte man jedes Fleckchen des Fulmar, auf dem ein Mensch hätte Fuß fassen können, übersehen. Aber es war nichts zu sehen als die Möwen, die Felsklippen und Wellen, deren Stimmen wie ein Requiem zu ihnen herauftönten.
Magnus ließ seine Augen vom Fulmar über die ganze blaue Weite des Fjordes wandern, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo ein Segel oder sonst irgendein Zeichen der Verschwundenen zu entdecken. Aber es war nirgends etwas zu sehen.
Der Mittag hielt die ganze Welt in seinem Bann gefangen; selbst die Möwen ruhten. Nur weit oben in der klaren blauen Luft strebte ein Volk weißer Tölpel dem Süden, der Sonne entgegen.
Und das unendliche blaue Meer lag in friedlichem Schlummer unter dem unendlichen blauen Himmel.
*