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Erster Teil


Der Morgen ging über dem Japanischen Meere auf – ein strahlender wolkenloser Morgen, mit einem Hauch heißen, feuchten Windes von Osten her – eines Windes, geschwängert mit allen Blütendüften der Provinz Hondo.

Die letzten Spuren des Frühnebels waren verschwunden, und steuerbords lag deutlich sichtbar die japanische Küste – Flachland und tausend kleine Hügel, und dahinter die Asama-Sama-Berge mit ihrem Saum aus Gold und Feuer.

Auf der Kommandobrücke des »Präsident Girling« stand der Kapitän Benedikt Grondaal zusammen mit dem ersten Kabelingenieur Pall Jakob Briem. Ohne ein Wort zu sprechen, sahen sie zur Küste hinüber, auf den Glast der wie von einem Heiligenschein umgebenen Berge, und auf die trägen, weißen Möwen, die mit heiserem Gekreisch nach Fischen ins Meer tauchten. Das Geschrei der Vögel war der einzige Laut in dieser Welt aus Meer und Sonnenaufgang.

Der »Präsident Girling« gehörte der Franco-Dänische Telegrafen-Gesellschaft. Die Besatzung war vor sieben Monaten in Kopenhagen angemustert worden, und seitdem hatte sie in Ausübung ihres Berufes – Auslegen und Reparieren von Hochseekabeln – über zehntausend Seemeilen zurückgelegt und die seltsamsten Orte berührt.

Die Werke der Franco-Dänischen Telegrafen-Gesellschaft in Kopenhagen fabrizieren Hochseekabel, wasserdichte Regenmäntel, sie stellen fast alles her, was aus Kautschuk überhaupt hergestellt werden kann. Mit französischem Geld und der nautischen Erfahrung der Dänen haben sie sich einen bedeutenden Platz in der Hochseekabel-Industrie geschaffen, wobei sie allerdings nicht hoffen dürfen, jemals den Engländern den Rang in diesem so ungeheuer schwierigen und verwickelten Geschäft abzulaufen.

Der »Präsident Girling« hatte in Portugiesisch-Timor ein gerissenes Kabel geflickt; dann war er nach Tonking gedampft, um dort für die französische Regierung ein kurzes Flußkabel zu legen; und während er noch dort lag, hatte er einen Ruf von Japan bekommen, ein Kabel zwischen der Halbinsel von Noto und einer Insel auszubessern, die als japanische Flottenbasis dient.

Nun hatte der »Präsident Girling« dieses Kabel vor sieben Jahren selbst gelegt; und wenn ein Kabel gelegt wird, so machen die Hydrographen des betreffenden Schiffes eine Seekarte, auf der der Verlauf des Kabels eingezeichnet wird. Falls es durch irgendeinen Zufall reißt, so können die Elektrotechniker an Land die Bruchstelle genau feststellen. So brauchte also, als das Telegramm in Tonking eintraf, Amundsen, der Hydrograph des »Präsident Girling«, nur seine Seekarte nachzusehen, um sofort bestimmen zu können, an welchem Punkt des Meeres das Kabel aufgeholt und repariert werden müsse.

Sie näherten sich jetzt diesem Punkt und lagen schräg zum Lande hin.

Der Wind trug leichte Küchendüfte mit sich, ein Zeichen, daß die Kabelmannschaft frühstückte. Rot angestrichene Bojen, jede mit einer Nummer und einem Rohransatz für Lampe und Flaggenstange versehen, gaben dem Deck etwas Farbe. Während Kapitän Grondaal und der erste Kabelingenieur ein Auge auf die ständig sich nähernde Küste hatten, sahen sie Johannsen, den Werkführer der Kabelmannschaft, über Deck gehen; er kam vom Frühstück und wischte sich den Mund mit dem Rockärmel ab.

Er war ein riesengroßer Mensch, ein Meter fünfundneunzig lang, mit angegrautem, lockigem Haar, das im Winde wehte, während er auf den Bugplanken stand, zur Küste hinübersah und sich dann umdrehte, um sein Auge über die Maschinen, Dregganker und Bojen hinwandern zu lassen.

Das Ufer lag jetzt in einer Entfernung von nur drei Meilen vor ihnen. Das Meer war glatt wie Öl, aber eine lange Grunddünung hob es und brach sich in weißem Schaum an den Klippen der fernen Küste.

Briem hielt ein Fernglas vor die Augen und gab es dann an Grondaal weiter. Er hatte die Kabelhütte entdeckt, wo, etwa zwei Meilen voraus, das Küstenende des Kabels auf einem sandigen Sandstreifen einlief.

Dann stieg er die Leiter zum Hauptdeck hinunter und ging zum Kabeldeck hinüber. Das Kabeldeck war ein Raum, so groß und luftig wie ein Ballsaal, mit großen, weitgeöffneten Pfortklinken, durch die der Wind hindurchfegte, ohne jedoch den Geruch von Teer, Tau und Kabel vertreiben zu können. Die Kabelarbeiter, zwölf an der Zahl, waren eifrig damit beschäftigt, die hundert Einzelheiten nachzusehen, von denen jede wichtig und unzertrennlich ist von diesem schwierigsten und kühnsten Gewerbe der Welt.

Die Kabelarbeiter hatten mit der übrigen Schiffsbesatzung nicht das geringste zu tun – selbst zum Schlafen waren sie in getrennten Räumen untergebracht. Es waren durchweg Dänen und Isländer, alle erfahrene Bootsführer, die meisten von ihnen Fischer.

Nach Johannsen, dem Vormann, war der Oberste unter ihnen der Isländer Erik Ericsson, ein Meter fünfundachtzig groß, ein schöner, blonder Mensch, dessen Auge die Schärfe des Habichts hatte, wenn er es über die Weiten des Meeres schweifen ließ, das aber blau und menschlich blickte, wenn es auf einem Weibe ruhte. Nach Ericsson kam Magnus, mittelgroß, dunkel, mit dem Gesichtsausdruck des Fanatikers und, wie die meisten Isländer, der Politik und Dichtkunst ergeben. Er und Ericsson waren dicke Freunde; ein seltsames Paar: sie stritten sich häufig, waren einander aber unentbehrlich. Das Schicksal hatte hier, wie so oft, zwei vollkommen entgegengesetzte Naturen miteinander verknüpft. Selbst in ihren Lastern waren sie verschieden – Ericssons Hauptlaster waren die Mädchen, Magnusens der Alkohol.

Kaum war Briem auf seinem Inspektionsgang an ihnen vorübergekommen, als aus dem Maschinenraum der schwache Ton der Telegrafenglocke herüberklang; die Schiffsmaschine verlangsamte ihren Gang und blieb schließlich ganz stehen.

Die beiden Männer traten an eine der offenen Steuerbord-Pfortluken und blickten über das rotglühende Meer zur Küste hinüber.

»Hier ist es«, sagte Magnus. »Ich war vor sieben Jahren dabei, als wir das Kabel ausgelegt haben; da ist das Ufer, wo das Küstenende einläuft; dort hinten zwischen den kleinen Hügeln liegen Dörfer, und unten an der Küste liegt ein Dorf, wo die Männer alle Weiberarbeit verrichten, und die Weiber alle Männerarbeit.« Er beugte sich vor und spuckte durch die Pfortluke ins Meer.

Ein Dritter, Helgi Olssen, ebenfalls Isländer, hatte sich zu ihnen gesellt, denn da vorbereitende Lotungen vorgenommen wurden, gab es im Augenblick nichts zu tun.

»Die Männer bleiben zu Hause, passen auf die Kinder auf, kochen und waschen, und die Frauen besorgen den Fischfang; hauptsächlich tauchen sie nach Schaltieren. Die schönsten und kräftigsten Weiber, die ich je gesehen habe. Und wenn die Männer sich schlecht benehmen, dann kriegen sie Prügel«, berichtete Magnus.

»Erzähl' das deiner Großmutter!«

Magnus wurde hitzig.

»Ich lüge nicht! Glaubst du, ein Mensch könnte sich so eine Geschichte aus den Fingern saugen? Du hast nicht mehr Verstand als ein Stockfisch. Ich habe sie selbst gesehen, und ich sage dir, sie sind anders als alle anderen Weiber.«

»Hübsche Mädels, sagst du?« warf der leicht entflammte Ericsson dazwischen.

»Beim Himmel, ja!«

»Ich werde hier an Land gehen«, erklärte Ericsson.

»Nimm dich nur in acht, daß sie dich nicht verhauen«, sagte Helgi Olssen.

»Im Gegenteil; die erste, die ich treffe, werde ich verhauen, jawohl. Wer hält die Wette?«

»Ich«, erwiderte Helgi Olssen. »Ich wette mit dir um ein Pfund Tabak und ein Paar neue Stiefel – die besten, die man in Reykjavik zu kaufen bekommt.«

»Gemacht!« sagte Ericsson.

Magnus grinste höhnisch. Ericssons hübsches Gesicht, seine stattliche Gestalt und sein Glück bei Frauen waren Magnus schon immer ein Dorn im Auge gewesen.

»Es wird keinen Landurlaub geben; jedenfalls nicht, bevor wir nach Nagasaki kommen«, meinte er.

Ein junger Elektriker kam jetzt aus dem Meßraum, kletterte zur Brücke und machte Kapitän Grondaal eine Meldung. Dann wurde Briem auf die Kommandobrücke gerufen, und die Kabelarbeiter, die den Vorgang beobachteten, überlegten, was wohl los sein könne. Bald gab Briems dröhnende Stimme ihnen Aufklärung:

»Eine Boje für das Kabel und ein Boot zum Landen fertigmachen; Spaten und alles Notwendige, um das Küstenende auszugraben. Es ist da etwas nicht in Ordnung, irgendein Fehler. Hallo! Ericsson! Nehmen Sie vier von Ihren Leuten und kommen Sie mit ins Boot.«

Ericsson lief nach vorn und schlug mit der Hand auf eine der Bojen.

»Bißchen dalli mit der Lampe«, rief er, »und dann alles zum Heißen klarmachen.«

»Brennt die Lampe ordentlich?« rief Briem.

»Jawohl, Herr Ingenieur«, antwortete Ericsson.

Briem kam von der Brücke herunter und ging zu der Stelle, wo das Walboot hing. Das Boot befand sich auf gleicher Höhe mit der Reling, und die Rudermannschaft saß schon darin. Jetzt stiegen auch Ericsson und seine Leute ein, Briem folgte ihnen und nahm seinen Platz im Heck ein, und das Boot, vom Dampfkran hinuntergewunden, sank sanft auf die Oberfläche des Wassers hinab.

Im nächsten Augenblick hielten sie auf das Ufer zu. Sie waren in Tonking nicht an Land gegangen, hatten keinen Fuß auf festen Boden gesetzt, seit sie Dilli in Portugiesisch-Timor verlassen hatten, und sie schwatzten und lachten wie die Kinder.

Sie näherten sich jetzt der Küste: große Habichte kamen ihnen entgegen, wie um sie zu begrüßen, segelten und kreisten in dem tiefen Blau über ihnen und erfüllten die Luft mit ihren kläglichen Schreien – Haan, Haan, Haan! Jetzt klang auch der Lärm der gegen die Felsklippen anschlagenden Brandung zu ihnen herüber, und Ericsson, der neben Briem saß, konnte deutlich die seltsame Gestaltung des Landes, das hinter dem Küstenstrich lag, erkennen.

Seinen Blick fesselte vor allem die Menschenmenge am Strande. Die japanischen Telegrafenbeamten und außerdem die übliche, aus der Landbevölkerung zusammengesetzte Menge, die bei jedem Besuch eines fremden Schiffes herbeiströmt. Frauen konnte Ericsson nirgends entdecken – übrigens hatte er auch keine Zeit, sich nach ihnen umzublicken. Das Landen nahm seine ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch.

Dieser Mensch, der nichts auf der Welt fürchtete, hatte eine einzige, seltsame Scheu, die sich fast bis zur Angst steigerte – vor dem Gischt des Meeres. Als kleines Kind hatte er an bösen Träumen gelitten, wie sie Kinder manchmal haben; und in einer fürchterlichen Vision hatte er sich von Meerschaum umgeben gesehen, der die Form weißer Rosse annahm, bösartiger, weißer Rosse, die auf ihn lossprangen, um ihn mit ihren Zähnen zu zerreißen und mit ihren Hufen zu zertrampeln. Isländische Ponys und der Schaum des Meeres mochten dazu beigetragen haben, diesen Nachtmahr zu bilden; oder war es ein Tod durch Ertrinken, den er vor seiner Wiedergeburt erlitten hatte? Wer kann es wissen! Jedenfalls aber verfolgte dieser Traum ihn durch sein ganzes Leben, immer wieder von Zeit zu Zeit auftauchend, und fast jedesmal als Vorbote eines Unglücks.

Das Boot lag einen Augenblick still, um die günstigste Gelegenheit zum Landen abzupassen – dann schoß es auf dem Rücken einer prächtig rollenden Sturzsee auf den Strand. Mit einem Ruck wurden die Ruder eingezogen, die Männer sprangen über Bord und zogen, fast bis an die Hüften im Wasser, das Boot auf den Strand.

Die Telegrafenbeamten und Dorfbewohner umringten das Boot und die Ankömmlinge. Die Telegrafisten sprachen Französisch, und Briem vertiefte sich sofort mit ihnen in eine angelegentliche Beratung über die vorzunehmenden Arbeiten.

Etwa zehn Meter vom Strande entfernt stand eine Gruppe Frauen, die von den gewöhnlichen Japanerinnen so verschieden waren, wie die englische Eiche sich von der verkrüppelten japanischen Kiefer unterscheidet. Groß für ihre Rasse, hübsch, braun und gesund, standen sie da, betrachteten die fremden Seeleute und machten sich augenscheinlich über sie lustig.

»Das sind die Frauen, von denen ich euch erzählt habe, die Frauen, die ihren Männern alle Arbeit aufhalsen und sie prügeln, wenn sie sich sträuben. Sie wohnen in dem Dorf da drüben, dessen Dächer über die Sandhügel gucken.«

»Wie ist es mit dem Pfund Tabak und den neuen Stiefeln?« fragte Helgi Olssen, der auch mit dem Boot an Land gekommen war.

»Kommt mit«, sagte Ericsson, »dann werdet ihr sehen.«

Von Olssen und Magnus gefolgt, schlenderte er gemächlich auf die Gruppe Frauen zu, die beim Näherkommen der drei Männer noch lauter lachten und schwatzten. Sie schienen sich über die Ankömmlinge lustig zu machen. Ericssons Blut geriet in Wallung, er brannte darauf, diesen Mädels eine Lektion zu erteilen. Er konnte sich Magnusens Geschichte von den geduckten Ehemännern und ihrer schmachvollen Behandlung jetzt ganz gut vorstellen.

Die Vorderste und dabei Hübscheste der Schar, ein bronzebraunes Mädchen mit kühnem Gesichtsausdruck, in einem blauen Kimono, senkte die Augen auch nicht um Haaresbreite, als er sich ihr näherte; als sie aber den Kopf wandte, um ihren Gefährtinnen ein Scherzwort zuzurufen, fühlte sie sich plötzlich an der Hand gepackt und von einem lachenden Riesen herumgewirbelt, der ihr mit der flachen Hand ein paar kräftige Klapse auf den Hintern versetzte. Dann hob er sie in die Höhe und gab ihr einen Kuß.

Im selben Augenblick hatte sie ihn ins Kinn gebissen und jagte davon, von dem Gelächter und den Spottrufen ihrer Gefährtinnen verfolgt, und verschwand in der Richtung des Dorfes zwischen den Sandhügeln.

»Sie hat mich gebissen!« lachte Ericsson und griff an die Stellen, wo ihre Zähne eine blutende Spur hinterlassen hatten.

»Diese Frauen haben irgend etwas Unheimliches«, sagte Magnus, der für okkulte Einflüsse und Ideen empfänglich war. »Ich muß immer an die Weiber von Grimstadir denken, die einem Menschen lachend winken, ihnen zu folgen, und plötzlich verschwunden sind, während der Mensch im schwarzen Schlamm zappelt.«

»Sie war wirklich genug«, meinte Ericsson, der sich noch immer sein Kinn rieb. »Zum Teufel, sie ist das hübscheste Mädel, das ich je in den Armen gehalten habe, und sie soll mich noch freiwillig küssen, bevor wir hier wegfahren – oder ich will nicht länger Ericsson heißen. Wer wettet mit mir?«

»Ich wette um eine Buddel Schnaps, daß du's nicht erreichst«, sagte Magnus. »Und der Schnaps soll gekauft und bezahlt werden, wenn wir nach Reykjavik zurückkommen.«

»Gemacht!« sagte Ericsson.

Sie gingen zum Boot zurück. Briem hatte den Zwischenfall mit dem Mädchen beobachtet und darüber gelacht, wie auch die japanischen Telegrafisten; aber die japanischen Arbeiter, die von den Telegrafenbeamten herbeigeholt worden waren, um beim Aufgraben des Ufers zu helfen, standen mit dummen, unbeweglichen Gesichtern daneben.

Während das Kabel ausgegraben wurde, setzten Ericsson und seine Kameraden sich in den Sand und verspeisten ihren mitgebrachten Proviant. Während sie aßen, unterhielten sie sich mit den Japanern. Einer drückte lachend sein Erstaunen darüber aus, daß Ericsson den Weibern entgangen war nach der Schmach, die er dem Mädchen angetan hatte.

»Es sind seltsame Frauen«, sagte er, »ganz anders als die eigentlichen Japanerinnen. Sie arbeiten hart, tauchen nach Schaltieren zwischen den Felsen; sie werden jetzt bei der zurückgehenden Flut gleich mit dem Fang beginnen. Sehen Sie nur –«

Er zeigte auf die Felsen im Süden, und sie sahen, wie die Frauen sich zwischen den Klippen hin und her bewegten, der zurückweichenden Flut folgten und in Spalten und Felstümpeln nach Beute suchten.

»Wenn Sie Lust haben, könnten wir die Gelegenheit, da sie alle zum Fischfang draußen sind, benutzen, um ihr Dorf zu besehen«, sagte der Japaner.

Nachdem Ericsson von Briem die Erlaubnis eingeholt hatte, folgte er mit Magnus und Olssen dem Japaner über den Strand und durch die Sanddünen, bis sie zu dem ersten Haus des Dorfes kamen, einem winzigen, gebrechlichen Holzbau, dessen offenstehende Tür einen einzigen Raum zeigte. Der Boden war mit Matten belegt; irgendwelche Möbelstücke gab es nicht, außer einem Hibachi Japanisches Kohlenbecken. der auf der Matte stand, und einer zusammengerollten Matratze in der Ecke. Außerdem hing in der Nähe der Tür ein winziger Käfig aus Weidengeflecht, in dem ein Heimchen sang, mit dünnem, schrillem Ton die Luft zerreißend.

Das Zimmer war sehr sauber gehalten.

»Es ist das Haus des Mädchens, das Sie geküßt haben«, sagte der Japaner. »Seit dem Tod ihrer Mutter wohnt sie hier ganz allein.«

Sie gingen zum nächsten Haus, das etwa fünfzehn Meter entfernt lag, und hier sahen sie den ersten Mann des Dorfes. Er stand an einem Waschfaß und nibbelte an ein paar Wäschestücken herum – ein ziemlich jämmerliches Individuum in kurzem, blauem Rock, mit nackten Armen und einem verwirrt nachdenklichen Gesichtsausdruck, etwa so, als versuche er, sich auf irgend etwas zu besinnen, was er eigentlich hätte tun sollen, aber vergessen hatte.

Der japanische Telegrafenbeamte sprach ihn an, und er antwortete, indem er die Augen nur flüchtig hob, als schäme er sich seiner selbst und seiner Stellung im Leben.

Als sie zum nächsten Haus kamen, hatte der Mann die Tür von innen verriegelt. Und tatsächlich hatte die ganze männliche Bevölkerung des Dorfes dasselbe getan; sämtliche Türen waren geschlossen, aber man konnte in den Häusern das Geräusch von Schritten und das Wimmern kleiner Kinder hören, die von den widernatürlichen Kinderfrauen beruhigt wurden.

Ericsson brach in lautes Lachen aus.

»Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, würde ich es nicht glauben!« rief er.

»Die Männer sind so geworden, weil sie nicht schwimmen können«, erklärte der Japaner. »Die Weiber dagegen leben geradezu im Meer und sind imstande, acht Faden tief nach Schaltieren zu tauchen.«

»Hier kommt aber eine Frau, die nicht aussieht, als ob sie eine tüchtige Taucherin wäre«, meinte Magnus und wies auf eine Gestalt, die vorüberging.

Der Japaner warf einen Blick auf die Frau.

»Ladresse«, sagte er.

Magnus kannte das Wort nicht, doch wurde ihm seine Bedeutung klar, als er einen Blick auf das Gesicht der Frau warf, das von einer Kapuze zur Hälfte verborgen wurde.

»Eine Aussätzige«, sagte er. Es war nicht der erste Fall, den er sah.

»Ja«, sagte der Japaner, »es gibt ungefähr zwanzig bis dreißig Aussätzige hier – sie leben abgesondert in einem Dorf dort drüben.«

Ericsson wandte sich ab. Der Anblick der kranken Frau machte ihn schaudern.

»Wohin gehst du?« rief Magnus ihm nach.

»Zu den Klippen hinunter«, erwiderte Ericsson.

»Dann nimm dich nur vor den Weibern in acht, daß sie dich nicht untertauchen!«

Ericsson ging weiter, ohne zu antworten, kam zu den Klippen und begann darüber wegzuklettern.

Von den Frauen konnte Ericsson nichts entdecken, bis er zu einer Stelle kam, wo die vorspringenden Felsen einen Deich bildeten. Mit der Ebbe war die Dünung gefallen, und das Wasser lag jetzt seidenglatt und saphirblau da.

Es war geradezu ein Paradies für Schaltiere; denn obgleich der Teich durch hundert Öffnungen mit dem Meer in Verbindung stand, war er doch vor Wirbeln und Strömungen geschützt. Kugelförmige Quallen, wie Melonen geteilt, schwammen heran, fingen den Blick für eine Sekunde und schwammen wieder davon, als hätten sie sich aufgelöst. Manchmal floß tief unten eine silbrige Wolke vorbei, wie von einem unterseeischen Wind getrieben – ein Schwarm winziger Fischchen; Büschel von schwimmendem Blasentang blitzten wie Juwelen in der Sonne.

Aber Ericsson sah nichts von all diesen Dingen; seine Augen waren fest auf das Felseneiland in der Mitte des Teiches geheftet. Die Insel bildete augenscheinlich die Operationsbasis für die Taucherinnen. Er konnte ihre Köpfe sehen, während sie wie Seehunde herumschwammen, und wie ein Seehundsjäger stand er da und beobachtete sie.

Dann plötzlich, während er so zu ihnen hinüberblickte, hörte er einen Lärm wie das Gekreisch der Seemöwen. Aha – sie hatten ihn entdeckt!

Er drehte sich auf dem Absatz um und tat, als kümmere er sich überhaupt nicht mehr um sie. Jetzt hatte er den vollen Überblick über die Küste bis zum Kap Noto und der Meeresenge, die es von der Insel Sado trennt.

Es war kurz nach zwölf Uhr, und in dem heißen, blauen Mittag lag das Meer weitgestreckt da, ohne Horizont – irgendwo ganz fern verlor es sich in einer aus Wasser und Himmel geborenen, dunstigen Bläue. Nah dem Ufer hielt der »Präsident Girling« mit einem gelegentlichen Schlag der Schraube seinen Kurs gegen die Strömung. Am Strande arbeiteten die Bemannung des Küstenbootes und die einheimischen Arbeiter.

Ericsson wandte sich wieder dem Teich zu. Das Wasser war wie besät mit den Köpfen der Schwimmerinnen, die mit aller Kraft auf ihn zuhielten. Sie gaben nicht einen Laut von sich – eine bedrohliche Tatsache, die ihm die Unbehaglichkeit seiner Situation klarmachte.

Wenn sie ihn wirklich ins Wasser zerren und tauchen würden!

Dann, als sie ihm bis auf eine Ruderlänge nah gekommen waren, begann der Radau. Er konnte nicht ein Wort von dem verstehen, was sie sagten, aber was sie meinten, verstand er nur zu genau. Während sie kreischten, peitschten sie das Wasser um sich herum zu Schaum, so daß es ihre Körper verhüllte. Und im selben Augenblick begriff Ericsson, daß er nichts zu befürchten hatte. Denn sie trauten sich nicht, das Wasser zu verlassen, weil sie nackt waren! Die sanft lächelnde Japanerin der alten Schule findet nicht das geringste dabei, sich nackt zu zeigen, aber diese kühnen Frauen hatten seltsamerweise Hemmungen, sie klammerten sich an verhüllende Drapierungen, Ericsson erkannte es an der Art, wie sie das Wasser schlugen.

Er mußte lachen. Das Mädchen, das er geküßt hatte, befand sich nicht unter seinen Angreiferinnen; sie schwamm abseits, etwas weiter draußen, mit sanften Stößen wie ein Seehund; ihre Augen waren fest auf ihn geheftet – große, braune Augen, die auch genau so blickten wie Seehundsaugen. Beinah hätte er den lärmenden Schwarm zu seinen Füßen ganz vergessen. Er hatte Feuer gefangen. Es war, als hätte Amor, auf den Klippen sitzend, seinen Pfeil auf ihn abgeschossen.

Schnell trat er einen Schritt zurück; eine der Frauen hatte seine Geistesabwesenheit benutzt, um ganz nah heranzuschwimmen – und beinah hätte sie ihn am Fuß erwischt. Dann begab er sich auf den Rückzug, blieb aber immer von Zeit zu Zeit stehen, um sich nach dem Mädchen umzusehen.

Zwischen zwei Häusern des Dorfes wuchs ein großer Busch wilder Sternblumen, wie Margueriten, nur größer.

Er pflückte einen Strauß, und als er an dem Haus des Mädchens vorbeiging, legte er ihn neben dem Hibachi auf den Boden.

Dann kehrte er zu der Arbeitskolonne zurück.

Die Leute hatten das Kabel ausgegraben, und jetzt hatten die Kabelarbeiter die feinere Arbeit zu verrichten. Trotz aller angewandten Vorsichtsmaßregeln war es einem Krebs gelungen, die äußeren Umhüllungen des Kabels zu durchbeißen. Thordursson mußte das beschädigte Stück herausschneiden und ein neues Stück einspleißen. Das dauerte zwei Stunden und das Wiedereingraben weitere zwei.

Erst nach Sonnenuntergang waren sie fertig und kehrten, nachdem sie dem japanischen Telegrafisten zum Abschied die Hand geschüttelt hatten, zum Schiff zurück.

Bevor Ericsson ins Boot stieg, drehte er sich noch einmal um, ob er nicht irgendwo eine Spur von seinem Mädchen entdecken könne – aber der Strand lag leer und verlassen da, und von dem Dorf war nichts zu sehen als die Dächer und hier und da eine Rauchsäule, die davon zeugte, daß die Dorfbewohner dabei waren, ihre Abendmahlzeit zu bereiten.

Er nahm den kleinen Japaner, der ihnen das Dorf gezeigt hatte, beiseite.

»Wenn Sie das Mädel sehen, sagen Sie ihr, ich hätte sie nicht vergessen.«

Der andere lachte.

»Ich werd's ihr sagen. Aber lassen Sie sich raten, denken Sie nicht mehr an sie. Die Frauen werden Ihnen sonst irgendeinen Schabernack spielen. Sie haben selbst gesehen, wie sie ihre Männer behandeln, und ich weiß, was für Streiche sie Fremden schon gespielt haben.«

»Oh, davor fürchte ich mich nicht«, meinte Ericsson.

Er besaß eine alte, isländische Tabaksdose aus Kupfer. Der Japaner hatte sie am Nachmittag bewundert; jetzt zog Ericsson sie aus der Tasche und drängte sie seinem neuen Freunde auf. Er hatte dabei nicht etwa die Absicht, dadurch den anderen günstig zu stimmen – es war eine reine Freundschaftsgabe und wurde als solche verstanden und angenommen.

Ericsson verstand es, sich die Männer ebenso zu Freunden zu machen, wie er sich die Frauen zu Liebsten gewann; und die Güte und Freundlichkeit, die er anderen gegenüber zum Ausdruck brachte, kam ihm wirklich von Herzen. Allerdings war er geneigt, seine Freunde zu vergessen, sobald sie aus seinem Gesichtskreis entschwanden; aber man muß zugeben, daß er immer froh war, sie wiederzusehen.

Der Sonnenuntergang hielt eine Wolke, rot wie das Gefieder des Flamingos, über Korea; und während sie zum Schiff zurückruderten, senkte sich die Dämmerung auf die Welt herab, und die ersten, schwach leuchtenden Sterne zeigten sich am Himmel. Als sie zum Dampfer zurückgekehrt waren, stand Ericsson noch lange auf Deck und blickte zum Lande hinüber.

Es war nach dem Abendessen, und ein Teil der Kabelarbeiter saß auf den Bugplanken; sie rauchten und spannen ein Garn mit zwei Matrosen der Besatzung. Vom Deck aus konnte man die Lichter am Strande sehen. Einige standen still, andere bewegten sich wie Glühwürmchen. Die Nacht war heiß und windstill, so still, daß man in den Pausen des Gesprächs das Kielwasser des langsam vorausdampfenden Schiffes rauschen hören konnte.

Magnus war, wie viele andere seines Standes, ein Dichter und besaß eine sehr genaue Kenntnis der isländischen Sagas. Er hatte selbst Verse geschrieben und war besonders stolz auf ein Machwerk, das man sowohl vorwärts wie rückwärts lesen konnte. Er trug es immer vor, wenn er betrunken war.

Magnus war ein Mensch von höchst seltsamer, schwer zu beschreibender Art. In kleinen Dingen war er engherzig, um dann wieder in irgendeiner großen Sache eine ganz überraschende Großherzigkeit zu zeigen. Es hing ganz davon ab, ob gerade der Dichter oder der Fischer in ihm die Oberhand hatte. Der Dichter war großer Gedanken und Taten fähig, der Fischer niedriger und gemeiner. Außerdem besaß er die Fähigkeit, auf sich und sein Schicksal zu blicken, als ob es sich um die Persönlichkeit und das Schicksal eines anderen Menschen handelte. Diese Fähigkeit trat allerdings nur in Zeiten des Unglücks zutage.

Einmal, bei einem Schiffbruch, ging er aus den fürchterlichsten Erlebnissen anscheinend ganz unberührt hervor. Es war, als beobachtete er die Tragödie eines anderen Menschen; er nahm jede Einzelheit in sich auf, fühlte jedes Grauen in seiner ganzen Schärfe, war aber dabei so interessiert, als sähe er sich ein Schauspiel an.

Dem tiefen Egoismus seines Wesens wurde durch einen ebenso tiefen Fatalismus die Waage gehalten. Vielleicht war es dieser Fatalismus, zu dem auch ein wenig Hellseherei kam, der ihn an Ericsson band, mit dem sicheren Bewußtsein, daß ihrer beider Schicksale unzertrennlich miteinander verknüpft seien. Er saß auf einem Vertäuungspoller, während Ericsson und die anderen auf den Deckplanken herumlagen; sie schwatzten über Kabel und Wetter, zwei unerschöpfliche Themen.

Der Mond war über den Hügeln von Hondo aufgegangen – ein riesiger, langsam in die Höhe steigender Ballon, über den sich quer ein leichter Wolkenstreifen zog, und der so einer großen, japanischen Laterne nicht unähnlich war.

Die heiße Nacht und der Gedanke an Korea, das dort drüben lag, und an Island, das so viele tausend Meilen fern war, lösten plötzlich einen Anfall von Heimweh bei Magnus aus.

»Ach«, sagte er, »ich würde die Löhnung eines Monats und meine Aussicht auf Gratifikation hingeben, wenn ich nur ein einziges Mal Vik und Westmannaejar und Fuglasker sehen könnte, wie sie so einsam aus dem Meere ragen. Dies soll aber auch meine letzte Fahrt sein. Für mich gibt's kein Kabellegen mehr. Ich geh zu meinem Onkel und beteilige mich an seiner Fischräucherei.«

»Wo bist du eigentlich zu Hause?« erkundigte sich einer von den dänischen Fockmatrosen.

»In der Nähe von Skarsstöd an der Westküste, da wo die Floka ins Meer mündet«, antwortete Magnus.

»Ich bin in Skarsstöd gewesen«, sagte Thordursson, »vor vier Jahren mit der ›Ceres‹, um ein paar Arbeiten für die Telefonleute zu machen. Es ist ein schöner Ort, und die Floka ist ein feiner Fluß zum Lachsfischen.«

»Wenn du in Skarsstöd gewesen bist, hast du vielleicht meinen Onkel, Stefan Gunnarsson, getroffen? Er besitzt die Fischereigerechtsame an der Floka, und sein Haus gilt für das beste in Skarsstöd«, meinte Magnus.

»Gunnarsson – natürlich kenne ich den. Ein großer Mann mit einer hübschen Tochter.«

»Schwalla«, sagte Magnus geschmeichelt, »meine Kusine.«

»Sie ist das hübscheste Mädel in ganz Island – oder versprach es wenigstens zu werden. Und er hat also das Fischereirecht? Ist der Lachs gut dort?«

»Der allerbeste, wenn er nicht ausbleibt, und das ist selten kaum einmal in zehn Jahren. Wenn ich genug Geld gespart habe, laß ich mich dort nieder.«

»Ich werde mich an deinem Geschäft beteiligen«, sagte Ericsson in halb scherzendem Ton. Er hatte auf den Decksplanken gelegen, zur Küste hinübergesehen und dem Gespräch der anderen zugehört, ohne groß darauf zu achten. »Wir machen die Sache zusammen. Guter Kabeljau dort?«

»Seeforellen und Haie und Kabeljau – die besten in ganz Island. Und wenn der Hering kommt, ist es wie ein Sturmwind unter dem Wasser. Zwei tüchtige Kerle mit ein bißchen Geld können sich aus dem Breidifjord einen ganz hübschen Verdienst herausfischen.«

Thordursson stand auf.

»Na«, sagte er, »ich muß an die Arbeit.«

Er ging nach achtern und nahm die Kabelarbeiter mit. Magnus und Ericsson blieben allein.

»Hast du das im Ernst gemeint?« fragte Magnus.

»Was?« fragte Ericsson.

»Daß wir Partner werden wollen.«

»Ach, so! – Ich weiß nicht. Ich hab es so hingesagt.«

»Es wäre noch lange nicht das Schlechteste, wenn du Geld hättest; aber du schmeißt ja alles für die Mädels raus.«

»Ich – na, wenigstens schmeiße ich es nicht für Rum raus wie du – du alte Schnapsbuddel.« Magnus kicherte.

»Rum ist billig, wenn man nur weiß, wo man ihn zu holen hat. Ich und Geld ausgeben! O nein. Ich bin ein sparsamer Mensch, bin es immer gewesen. Weißt du, wieviel Geld ich auf der Landesbank in Reykjavik habe? Dreitausend Kronen!«

»Du?!« fragte Ericsson erstaunt.

»Jawohl, ich. Ich habe immer zurückgelegt, seit ich ein Junge war, und der Kabeldienst bringt gutes Geld ein, mit den Gratifikationen und allem, was drum und dran hängt; und Geld heckt Geld. Eine Krone, die du mit fünfzehn Jahren zurücklegst, bedeutet zwei Kronen, wenn du dreißig bist.«

»Und drei, wenn du tot bist«, sagte Ericsson.

»Na, immerhin ist es besser, mit drei Kronen zu sterben als mit gar nichts.

Ericsson pfiff eine Melodie vor sich hin; er dachte an das Mädel dort drüben am Lande und versuchte, das Problem zu lösen, wie er sie wiedersehen könnte.

Jetzt sahen sie einen Kopf über der Backhütte auftauchen. Es war der seeländische Steuermann. Er war an Deck gekommen, um Atem zu schöpfen.

Als er auf sie zukam, ließ sich Magnus mit einem verächtlichen Grunzen von seinem Platz hinuntergleiten und ging davon.

Der andere stellte sich an die Reling und spuckte ins Wasser.

»Der Lärm von Neilssons Fiedel spaltet mir immer den Kopf entzwei, so daß die Dinge drin herumtanzen wie Fliegen in einem Zimmer«, sagte er.

»Sag mal«, fragte Ericsson, »ist es wahr, daß du einen Zauber über Menschen aussprechen kannst?«

»Nein, nur über Dinge.«

»Was für Dinge?«

»Alles, was aus Holz oder einer lebenden Pflanze gemacht, oder was mit Seewasser in Berührung gekommen ist.«

»Könntest du einen Zauber über das Kabel aussprechen, so daß ich noch einmal an Land kommen könnte?«

»So sicher wie ich meine Hand auf deinen Arm lege.«

»Ich will dir mal was sagen«, meinte Ericsson lachend. »Wenn du mit deinem Unfug das Kabel bezauberst, so daß ich noch einmal an Land muß, schenke ich dir im ersten Hafen, den wir anlaufen, eine Flasche Rum – ich werde sie für dich an Bord schmuggeln.«

»Und wenn du es vergißt – – – he?«

»Ich vergesse nie ein Versprechen.«

»Das ist wahr – – – das sagen alle von dir.«

»Also willst du?«

»Es ist geschehen.«

»Was, schon?«

»Es gibt kein schon. Morgen ist gestern und gestern ist heute.«

Ericsson lachte wieder.

»Und heute?«

»Heute ist immer heute.«

Der Mann bat um einen Bissen Kautabak und bekam ihn. Dann ging er fort, zur Kambüse hinüber, wo der Bäcker das Brot für den nächsten Tag vorbereitete.

Ericsson warf noch einen Blick zum Ufer hinüber, bevor er in seine Kabine hinunterstieg.

*

Kaum begann der Morgenhimmel hinter den Asama-Sama-Hügeln sich grau zu färben, als auf dem »Präsident Girling« die Arbeit des kommenden Tages begann. Man mußte ein neues Stück Kabel zwischen die beiden gerissenen Enden einspleißen.

Die Sonne ging eben hinter den Hügeln auf, als sie die Bojen an Bord hatten, und die Kabelmannschaft bekam ihr Frühstück, während das Schiff zu der neuen Position, zwei Meilen weiter vom Ufer entfernt, vorausdampfte.

Magnus und Ericsson unterhielten sich, während sie Schulter an Schulter gegen die Reling gelehnt standen.

»Heute nacht ist die erste Nacht des Bomatsuri«, sagte Magnus; »und wenn wir ein bißchen Glück haben, werden wir das ganze Ufer drüben von Freudenfeuern erleuchtet sehen.«

»Was ist Bomatsuri?«

»Das Fest der Toten, und da zünden die Japaner immer Laternen an und brennen Feuer zu Ehren der Verstorbenen.«

»Dann wird das Mädchen ein Feuer für seine Mutter anzünden«, sagte Ericsson halb zu sich selbst.

»Warum denkst du an die?«

»Warum denkt man an ein Mädchen? Hast du nie an ein Mädchen gedacht?«

»Ich denke nur an das Mädchen, das ich einmal heiraten werde.«

»Wer ist das?«

»Schwalla.«

So eng befreundet die beiden auch waren, so hatte Magnus doch nie zuvor von seiner Liebsten gesprochen. Männer tun das in der Regel nicht. Aber es gibt Stimmungen, und Magnus litt furchtbar unter Heimweh. Die Tatsache, daß Thordursson seinen Onkel und Schwalla kannte, hatte ihm Island und den Breidifjord in geheimnisvoller Weise nahegerückt.

»Und du willst sie heiraten?« fragte Ericsson, »Hat sie dir ihr Jawort gegeben?«

»Sie ist ein vernünftiges Mädel, das einen tüchtigen Arbeiter zu schätzen weiß, und Stefan Gunnarsson, ihr Vater, ist zufrieden.«

»Aber Menschenskind«, sagte Ericsson, »das ist doch nicht der Weg, ein Mädel in sich verliebt zu machen!«

»Wie meinst du das?«

»Na, indem man darauf pocht, daß man ein tüchtiger Arbeiter ist und den Vater auf seiner Seite hat. Ein Mädel, das einen Mann heiratet, weil er ein tüchtiger Arbeiter ist, ist wie jemand, der sich einen Kaufladen einrichtet; zum Schluß wird sie ihren Mann für bares Geld oder für einen Kuß über den Ladentisch verkaufen.«

Es war bezeichnend für das Band, das die beiden Männer verknüpfte, daß Magnus nur mit einem kurzen Lachen antwortete, anstatt in Wut zu geraten.

»Das verstehst du nicht. Du hast niemals ein Mädel dieser Art kennengelernt; sie ist nicht eine von den Trullen, wie man sie in den Häfen trifft. Aber vielleicht wirst du sie selbst eines Tages sehen, wenn wir nach Island zurückkommen.«

Um zwei Uhr hob Ericsson, der unten auf dem Kabeldeck beschäftigt war, den Kopf. Die Schiffsmaschinen hatten aufgehört zu arbeiten, und von vorne kam das Schnaufen des ausströmenden Dampfes und das Klirren des Aufhole-Getriebes.

Endlich hatten sie also das Kabel gefaßt. Er beendete seine Arbeit, stieg an Deck und ging nach vorne.

Driem stand auf den Bugplanken und leitete das Manöver.

»Es kommt fein in die Höhe«, sagte Magnus. »Diesmal haben wir's, und wenn es nicht abgleitet, können wir bis morgen mit der ganzen Geschichte fertig sein.«

Aber plötzlich durchschnitt ein Knall wie ein Gewehrschuß die Luft.

Die Drahtseiltrosse war gerissen.

Wenn ein mit Drahtseil durchflochtenes Tau unter einem Zug von vielen Tons reißt, so schießt es mit ungeheurer Gewalt in die Höhe und schlägt im Zurückfliegen alles, was sich hinter ihm befindet, in Stücke.

Driem, dessen Augen gerade in dem Augenblick auf das Seil gerichtet waren, als es in einer Entfernung von sechs Fuß von seiner Verbindungsstelle riß, sah etwas, das aussah wie ein kreisrunder Regenbogen.

Dann sah er Neilsson, einen der Matrosen, auf dem Deck liegen; kein anderer Mann war getroffen worden.

Der Dampf wurde abgestellt, und die Trommel mit dem abgerissenen Tauende, das wie das Ende eines Besens davon abstand, hatte aufgehört, sich zu drehen.

Neilsson hätte ebensogut tot sein können, glücklicherweise aber beschränkte sich die Verletzung auf den linken Arm. Sie trugen ihn nach unten, zogen ihn aus, und Doktor Petit, der Schiffsarzt, untersuchte die Wunde.

Der Arm sah aus, als hätte ein Tiger ihn von der Schulter bis zum Ellbogen zerfetzt; die Duchten des Taus hatten ihn aufgerissen, wie die neunschwänzige Katze den Rücken eines Menschen aufreißt, der gegeißelt wird.

Neilsson, der vor Schreck ohnmächtig geworden war, sich aber bereits wieder erholt hatte, schien sich aus der ganzen Sache nicht allzuviel zu machen. Er lachte dem Doktor ins Gesicht und benutzte die Wunde als Vorwand, um ein Glas Rum zu erbitten. Doktor Petit gab ihm den Rum, verband die Wunde und ging mit dem Kapitän wieder an Deck.

»Der Arm wird vielleicht abgenommen werden müssen«, meinte er; »und in diesem Fall wird er eine sehr sorgfältige Pflege brauchen, wie er sie hier nicht haben kann. Wir täten am besten, ihn an Land zu bringen. Drüben in Nanao, auf der anderen Seite der Halbinsel, gibt es ein Krankenhaus; es sind nur etwa fünfzehn Meilen bis dorthin. Toyama ist zu weit, aber eine Rickschah kann ihn mit Leichtigkeit nach Nanao bringen. Man kann von der Kabelhütte aus telegrafieren. Lassen Sie ihn in die Dampfbarkasse tragen; er hat vorläufig zwar wenig Schmerzen, aber die Nacht wird bös werden. Wir können nach Toyama wegen eines zweiten Arztes telegrafieren – auf Kosten der Gesellschaft.«

»Werden Sie bei ihm bleiben?«

»Ja, bis der andere Arzt kommt. Natürlich muß ich hierher zurück; aber er ist bei den Japanern gut aufgehoben. Sie sind die besten Wundärzte der Welt, und es gelingt ihnen oft, ein Glied zu retten, wo wir es nicht können.«

Der Kapitän pfiff einem Steuermannsmaat, gab den Befehl, und im nächsten Augenblick schrillte die Bootsmannspfeife. Die Barkasse wurde klar gemacht, die Maschine begann zu arbeiten, und die Besatzung ging an Bord.

Dann kam Neilsson nach oben, »unter eigenem Dampf«, wie er sagte; weiß im Gesicht, aber ganz vertrauensvoll dreinschauend, und warm vom Rum.

»Sie nehmen besser noch einen Mann mit, der Französisch kann«, sagte Grondaal mit einem Rundblick. Er war viel aufgeregter über den Unfall als Neilsson, der Hauptleidtragende. Es war der erste ernsthafte Unfall unter seinem Kommando.

Er blickte sich um, sah Ericsson und rief ihn an.

»Hallo! Sie, Ericsson! Schnell rein in die Barkasse! Vor morgen brauchen wir Sie bei den Bojen doch nicht. Sehen Sie zu, daß Sie, wenn möglich, heute abend noch zurückkommen«, schloß er zu Doktor Petit gewandt.

Ericsson war über den Unfall seines Kameraden so bestürzt gewesen, daß er an nichts anderes gedacht hatte; in dem Augenblick aber, als Kapitän Grondaal ihm den Befehl gab, mit an Land zu gehen, erinnerte er sich plötzlich an das Gesicht des Seeländers und sein Versprechen, das Kabel zu bezaubern. Falls es wirklich sein Werk war, hatte er die Sache gut gemacht; aber dieser Gedanke war so absurd, daß Ericsson ihn weit von sich wies. Dann ließ der Dampfkran die Barkasse zu Wasser, und im nächsten Augenblick hielten sie auf das Ufer zu.

Ericsson war genau so abergläubisch wie Magnus oder irgendein anderer Matrose der Besatzung. Aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß die ganze Sache verrückt sei. Trotzdem wollte ihm der Gedanke an den Seeländer nicht aus dem Kopf, und er wurde das Gefühl nicht los, sich dem Teufel verschrieben zu haben.

Er versuchte, seine Gedanken auf das Mädchen zu richten, das er infolge dieses unglücklichen Zwischenfalls vielleicht wiedersehen würde; aber auch dieser Gedanke war seltsamerweise nicht mehr so erfreulich wie früher. Die schwache Atmosphäre von Geheimnis und Grauen, die die Meerfrauen von Noto umgab, schien durch die Ereignisse des Morgens in ihrer Wirklichkeit gestärkt. Das Mädchen zog ihn immer noch an, aber daneben hatte ein gewisser abstoßender Einfluß eingesetzt.

Sie waren jetzt dem Ufer bereits ganz nah gekommen, und die japanischen Telegrafisten warteten am Strande, um sie zu begrüßen, froh über die Unterbrechung ihres eintönigen Lebens. Neilsson, Doktor Petit und Ericsson wurden an Land gesetzt, die Barkasse drehte bei und fuhr zum Schiff zurück, nachdem man die Signale verabredet hatte, die sie rufen sollten, wenn sie gebraucht würde.

Drei Rickschahs wurden fertig gemacht, und ein Bote wurde weggeschickt, um Läufer zu holen. Während sie warteten, nahm Ericssons japanischer Freund ihn beiseite.

»Das Mädel läßt Ihnen sagen, daß sie jede Nacht nach Dunkelwerden bereit ist, in ihrem Haus mit Ihnen zu sprechen«, sagte er. »Aber ich an Ihrer Stelle würde nicht hingehen. Ich glaube, es handelt sich um irgendeinen Streich, den die Weiber Ihnen spielen wollen.«

Ericsson lachte.

»Ich sollte Ihnen auch ausrichten, daß sie Ihre Blumen gefunden hätte.«

»Glauben Sie, daß sie mir ebenso feindlich gesinnt ist wie die anderen?«

»Ich glaube schon. Sie tat zwar sehr freundlich, aber grade dann sind diese Weiber am schlimmsten.«

Es war ein Weg von anderthalb Stunden bis Nanao. Der Ort lag in einem von Kiefern durchdufteten Tal, von dem aus man gerade noch ein Stückchen der Bucht sehen konnte.

Das während des chinesischen Krieges erbaute Krankenhaus war ein sauberes, luftiges Gebäude, in dem ein Regierungsarzt stationiert war, der Neilsson in Empfang nahm und sofort an seinen Chef in Toyama telefonierte, um ihn zu einer Untersuchung herüberzubitten. Ericsson ließ Doktor Petit bei seinem Kollegen, verließ das Krankenhaus und ging langsam die Dorfstraße hinunter.

Die Häuser mit ihren mit Moos und purpurnen Dachblumen bewachsenen Dächern, die sonderbaren Läden, der Hintergrund schwarzblauer Kiefern und ganz in der Ferne der Streifen blauen Meeres – all diese Dinge berührten Ericsson sehr seltsam. Es war ihm, als habe er sich ins Spielzeugland verirrt. Die Straße war voll von Menschen, denn es ging gegen Abend, und aus der ganzen Gegend war die Bevölkerung zusammengeströmt, um an dem Fest teilzunehmen, das bei Mondaufgang in dem Hof des Buddha-Tempels abgehalten werden sollte.

Ericsson ließ sich von der Menge treiben und sah sich die Läden an, in denen Laternen zum Schmuck der Gräber, Papier-Chrysanthemen und Nahrungsmittel verkauft wurden, die die Japaner als Opfergaben für die Seelen der Abgeschiedenen darbringen. Er wandte sich gerade von einem kleinen Laden ab, in dem man singende Insekten in winzigen Käfigen feilhielt, als er sich plötzlich der gesamten Weiberhorde aus dem Fischerdorf gegenüberfand.

Sie kamen in einem Trupp daher, in bescheidener, seltsam ruhiger Haltung, und alle mit leeren Händen. Alle anderen Leute trugen Laternen, die sie gekauft hatten, und Papierblumen. Diese hier trugen nichts. Irgendwie schienen sie von all den anderen abgesondert, und ihre bronzefarbenen Gesichter und kraftvollen Körper standen in scharfem Gegensatz zu denen der anderen Frauen.

Sie sahen Ericsson, und er wußte, daß sie ihn erkannt hatten; aber sie ließen sich nichts merken und gingen ruhig weiter, während sie in leisem Ton miteinander schwatzten. Das Mädchen war unter ihnen, und Ericsson glaubte zu bemerken, daß sie ihm im Vorübergehen unter ihren langen Wimpern hervor einen Blick zuwarf – aber ganz sicher war er nicht.

Erst nach einer Weile drehte er sich nach ihnen um, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Sie waren in einen der Seitenpfade eingebogen, die zwischen den Blöcken kleiner Häuser und Gärten hindurchführten. Er ging die Straße zurück, aber soviel er auch suchte, sie waren nirgends zu erblicken. Schließlich ging er zum Krankenhaus zurück, während er sich vorzustellen versuchte, was diese geheimnisvollen Frauen wohl von ihm sagen und denken mochten.

Das Mädchen sah in dem neuen Rahmen nicht so reizvoll aus wie gegen den Hintergrund von Sand und Meer, dennoch hatte ihr Anblick seine früheren Gefühle wieder wachgerufen. Die Worte des Japaners, die ihn hatten warnen sollen, brachten die Flamme nur zu hellerem Lodern; gerade die Feindseligkeit der Frauen lockte ihn fast ebenso mächtig wie das Mädchen selbst.

Der Doktor aus Toyama, ein ältlicher, bebrillter Mann, kam erst nach Sonnenuntergang; er untersuchte den Verletzten und erklärte, der Arm könne gerettet werden. Sie verabschiedeten sich von Neilsson. Dann gingen sie hinaus, wo ihre Rickschahs auf sie warteten.

Straße und Ort hatten sich in wunderbarer Weise verändert. Mit der Dunkelheit war der Mond aufgegangen und warf seinen Schein über das ferne Meer. Das Stückchen Strand, das man gerade noch wie einen rosigen Faden vor den Wassern der silbernen Bucht sehen konnte, erglühte von den Flammen der Freudenfeuer. Die ganze Straße entlang, soweit das Auge reichte, brannten Fackeln vor den Türen der Häuser, um die Geister der Abgeschiedenen bei ihrer Rückkehr willkommen zu heißen.

Nicht eine Menschenseele war zu sehen.

»Die Einwohner«, sagte der japanische Doktor, der sie hinausbegleitet hatte, »sind alle im Hof des Tempels, wo der Tanz stattfindet. Sie haben das nie gesehen? Falls Sie noch eine halbe Stunde Zeit haben, werde ich Sie mit Vergnügen hinführen – es ist nicht weit.«

Die ganze Gesellschaft ging die Straße hinunter zum Eingang des großen Buddha-Tempels. Sie bogen um eine Ecke und traten durch ein schweres Balkentor in einen großen, offenen Raum, der vom Mondlicht erhellt und von einer regungslos dastehenden Menge umsäumt wurde.

Plötzlich ertönte das tiefe Dröhnen einer Trommel durch die Stille. Unmittelbar darauf strömte der lange Zug der Tänzerinnen aus dem geöffneten Tempeltor; es waren alles junge Mädchen und Frauen – in dem Licht des Mondes und dem unirdischen Schweigen erschienen sie selbst wie Geister.

Der uralte Tanz hielt Herz und Sinne der Zuschauer gepackt. Dies sanfte Zusammenschlagen der Hände – das von Zeit zu Zeit von dem ganzen Kreis der Tanzenden ausgeführt wurde, besaß eine seltsame Eindringlichkeit. Es war der Ruf der Lebenden an die Toten, der nicht weniger von Petit, dem französischen Arzt, und Ericsson, dem isländischen Kabelmatrosen, wie von den einheimischen Zuschauern und den geheimnisvollen Tänzerinnen verstanden wurde.

Plötzlich schwanden Tanz und Tänzerinnen, Hof und Tempel aus Ericssons Vorstellung. Irgend jemand hatte sich im Gewühl an ihn herangedrängt, so daß er sich umgedreht hatte. Es war das Mädchen vom Strande. Die anderen Frauen waren mit ihr, waren plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht! Sie hatten zweifellos die hohe Gestalt des Isländers über die anderen emporragen sehen und sich einen Weg durch die Menge zu ihm gebahnt, vielleicht auch waren sie zufällig dorthin getrieben worden.

Das Mädchen beobachtete die Tänzerinnen und schien sich seiner Gegenwart gar nicht bewußt zu sein. Er fühlte ihren warmen Körper, der sich an ihn drängte, er fühlte, wie ihr Atem kam und ging. Er suchte nach ihrer Hand und fand sie. Sie ließ sich willig fangen.

Zuerst hatte er das Gefühl, als habe er die Hand einer Ertrunkenen gefaßt, die noch warm war. Er fühlte die Linien der Handfläche und das weiche Kissen der Daumenmuskeln; das Hautgewebe zwischen den Fingern war ausgeprägter als bei der gewöhnlichen Frauenhand, so, als habe die Eigentümerin dieser Hand unter ihren Vorfahren irgendeine entzückende Amphibienart gehabt. Die Finger waren an den Wurzeln stark und liefen spitz zu; die Nägel waren glatt und weich wie polierter Achat.

Die Hand einer Frau ist das entzückendste kleine Forschungsgebiet auf der Welt, besonders wenn die Erforschung im Dunkeln vor sich geht, und man dabei der Eigentümerin von all den Orten erzählt, die man gerade besucht.

»Das ist die Handfläche, und hier ist die Kopflinie, und was für eine entzückende Linie muß es sein, wenn sie nur zur Hälfte hält, was sie verspricht; und dies hier ist die Linie des härtesten Herzens der Welt. Nein? Nun, wir werden später sehen. Die Schicksalslinie ist doppelt, denn die meine schlingt sich um sie herum, und hier ist der Venusberg, der einzige Berg auf der ganzen Welt, den zu besteigen es sich lohnt.«

Die Hand lag in der seinen, kühl und glatt, ohne sich zu bewegen; dann aber, wie plötzlich zum Reden erweckt, schlössen ihre Finger sich zu fester Umarmung um die seinen.

Der heißeste Kuß hätte nicht mehr sagen können.

Dann ließ Ericsson die Hand fahren, um die Taille zu umfassen; und in diesem Augenblick verlor er sie; sie war ihm in der Menge entschlüpft. Eine Sekunde noch sah er ihren Kopf und versuchte zu folgen; aber die anderen Frauen drängten sich dazwischen und verhinderten ihn am Vorwärtskommen. Augenscheinlich hatten sie erraten, was die Flucht des Mädchens zu bedeuten hatte.

Er drängte sich zum Tempeltor durch, ging zurück, warf suchende Blicke nach links und rechts – aber sie war nirgends zu sehen.

Da wurde er von Doktor Petit aufgegriffen, der von der ganzen Sache natürlich nichts wußte und von dem Tanz genug hatte.

Durch das Traumland einer japanischen Sommernacht begab er sich zum Schiff zurück. Große Fledermäuse und Eulen, die aus den Wäldern zu den Reisfeldern hinüberflatterten, flogen an ihnen vorüber. In dem Amazonendorf leuchtete eine Reihe halb herabgebrannter Fackeln, eine vor jedem Haus. Die Männer, die zu Hause geblieben waren, um auf die Kinder aufzupassen, hatten auf diese Weise das Fest gefeiert. Auch vor dem kleinen Haus des Mädchens brannte eine Fackel, und Ericsson dachte, ob wohl ein Liebhaber unter der männlichen Bevölkerung sie ihr angezündet hatte. Im übrigen machte er sich deswegen keine Gedanken. Er fühlte, daß sie sein war, und daß sie sich wiedertreffen würden. Wie die Sache enden sollte, darüber dachte er nicht nach, ebensowenig wie der Berauschte darüber nachdenkt, was das Ende seines Rausches sein wird.

Bei der Kabelhütte angekommen, schossen sie eine Rakete ab und entzündeten ein blaues, bengalisches Licht; und einen Augenblick später stieg weit draußen über dem mondbeschienenen Meer ein Feuerfaden in die Luft und zerbarst in einen Regen winziger, roter Sterne – das Antwortsignal des Schiffes.

Als die Barkasse angekommen war, nahm Ericsson seinen japanischen Freund beiseite, um ihm zu erzählen, daß er das Mädchen getroffen habe.

»Sie ist nicht wie die anderen«, sagte er.

Der Japaner lachte.

»Das Wetter ist umgeschlagen.« Es waren die ersten Worte, die Ericsson am nächsten Morgen hörte, als er aus seiner Koje taumelte.

Unter gewöhnlichen Umständen hätte Briem ihn längst vor Tagesanbruch herausholen lassen, aber bei rauhem Wetter konnte man keine Kabelarbeit vornehmen.

»Der Wind wird nicht länger als zwölf Stunden anhalten«, meinte Johannsson, der Kabelvormann. »Aber es ist ein verlorener Tag, und wenn das Kabel sich von der Boje losreißt, gibt es eine Teufelsarbeit.«

»Es wird sich nicht losreißen«, sagte Ericsson. »Ich habe es vertäut.«

Das ganze Selbstvertrauen des Mannes sprach aus diesen Worten. Er verließ die Messe und ging an Deck, um einen Blick auf das Meer zu werfen. Während er neben dem Tiefsee-Loter stand, rief ihn vom Vordeck her eine Stimme an. Es war Johannssons dröhnender Baß.

»He! Ericsson! Markierungsboje Nr. 5 ist treibend!«

Ericsson eilte auf die Kommandobrücke und stellte sich neben Briem. Der Oberingenieur beschattete die Augen mit der Hand, während er zu dem roten Farbfleck auf dem Wasser hinüberblickte.

Ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Boje sich nicht an ihrem richtigen Platz befand, erkannte Ericsson auf den ersten Blick, daß sie treiben mußte. Befreit vom Gewicht der Vertäuungstalje. Leicht und lustig schaukelte sie auf den Wellen, bald hob sie sich hoch zum Himmel empor, bald peitschte sie das Meer um sich herum zu weißem Schaut^.

»Verflucht!« sagte Briem und schlug mit der Faust auf die Reling.

»Jetzt nimmt die Flut sie mit zu den Oki-Inseln, und ich habe nicht die Absicht, ein Boot voll Menschen für sie zu riskieren.« Es hieße den Tod herausfordern, wenn ein Boot in solcher See versucht hätte, an dieses hin und her taumelnde Acht-Tonnen-Gewicht aus Metall heranzukommen und es zu vertäuen.

Plötzlich drehte sich Ericsson, der ebenfalls, die Hand vor den Augen, zu der Boje hinübergesehen hatte, zu Briem um.

»Ich werde sie holen.«

»Sie?«

»Ja. Geben Sie mir ein Boot und Leute.«

»Damit ihr alle versauft!«

»Ich werde sie vertäuen, ohne das Boot in ihre Nähe zu bringen. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Briem hatte volles Vertrauen zu Ericsson; er beugte sich über das Brückengeländer und rief Johannsson zu:

»Macht das Walboot mit Rudermannschaft zum Niederlassen klar!«

»Und hundert Faden Tau!« brüllte Ericsson. Dann lief er von der Brücke hinunter und folgte Johannsson nach achtern. Briem sah zu, wie das Boot bemannt und niedergelassen wurde und über die rollenden Wellen dahinschoß. Die Boje trieb mit der Strömung, die sie in einer Entfernung von etwa acht Kabellängen steuerbords an dem Schiff vorbeitragen mußte; und das Boot hielt seinen Kurs rechtwinklig zu dem der sich nähernden Boje. Briem, sein Glas vor den Augen, sah, wie Ericsson die Kleider abstreifte und sich das eine Ende des Taus um den Körper schlang.

Als das Boot sich genau im Kurs des immer näherkommenden Ungetüms befand, sprang Ericsson ins Wasser, während das Boot weiterruderte und das Tau nachgelassen wurde.

Ericsson wurde von einer Welle hochgehoben und sah, wie die Ausreißerin sich näherte; er schwamm mit starken Stößen auf sie zu, doch schien es ihm, als würde er sie nie erreichen; plötzlich aber war sie bei ihm.

Er schwamm in einem Wellental und sie oben auf dem Kamm des Wellenberges – es sah aus, als würde sie im nächsten Augenblick auf ihn herunterkrachen. Die Illusion war so vollständig, daß Ericsson einen Schrei ausstieß wie ein Mensch, über dem der Tod ist; die Welle aber glitt unter der Boje durch und hob ihn empor, während die Boje im Tal blieb. Ericsson stieß ein paarmal kräftig aus, und im Tal der nächsten Welle trafen sie zusammen.

Über acht Tons schwer, mit immer noch brennenden Lampen und triumphierend flatternder Flagge begegnete sie ihm in einem Wirbel tosenden Schaums, während die grünen Wogen in kleinen Wasserfällen von ihrer leuchtenden Farbe abliefen. Glücklicherweise traf er fast von vorn auf sie, packte einen der am Mittelgürtel befestigten Ringe und hielt sich fest.

Durch sein Gewicht beschwert, legte die Boje sich schief, während die grünen Wogen ihm über den Kopf schlugen. Dann aber richtete sie sich wieder auf und hob ihn mit sich in die Höhe. Einen Fuß auf dem Mittelgürtel, mit einer Hand den Ring umklammernd, gelang es ihm, den Ring an der Flaggenstange zu fassen; dann zog er auch den zweiten Fuß auf den Mittelgürtel und kletterte auf die große Kuppel aus Eisen hinauf, wo er, Flaggenstange und Lampe mit seinen nackten Schenkeln umschließend, sitzen blieb.

Für den Augenblick war er sicher; und die Boje schwamm wie gezähmt leicht und sicher dahin, während er Atem schöpfte und sich umsah. Er ritt sie wie ein Pferd, und wie ein Reiter die Landschaft überblickt, so ließ er seinen Blick über das Meer schweifen.

Die Küste war hinter den grünen Wogenkämmen kaum zu sehen; das Schiff, so nahe es war, schien in weiter Ferne zu liegen. Er rief es an, lachend und mit der Hand winkend; dann begab er sich an die Arbeit. Die Beine um Lampe und Ansatzrohr der Flaggenstange geklammert, löste er das Tau von seinem Körper und befestigte das Ende am Vertäuungsring; dann zog er Lampe und Flaggenstock aus ihren Behältern und warf sie ins Wasser; nachdem er alles entfernt hatte, wodurch sich die Leine verwirren konnte, brauchte er nur zum Boot zurückzuschwimmen.

Zusammengehockt wartete er auf den Augenblick, wo die Boje ruhig schwimmen und ihm Gelegenheit zum Absprung geben würde; dann stand er aufrecht, wippte ein wenig, schoß ins Wasser und schwamm auf das Boot zu. Er wurde an Bord genommen, und das Boot ruderte, das Tau hinter sich herziehend, zum Schiff zurück. Markierungsboje Nr. 5 schwamm triumphierend ihren Kurs weiter, bückte verächtlich auf jede Welle, die ihr entgegenkam, nickte höhnisch, als sie das Heck des »Präsident Girling« passierte, und schrie: »Hoiho, seht mich nur an, wie ich ganz allein nach Tottori fahre!«

Sie war jedoch noch keine Kabellänge achteraus gesackt, als ein Ruck am Vertäuungsring sie zur Vernunft brachte.

Es war das Tau, an dem Ericsson sie befestigt hatte. An Bord hochgewunden zu werden, sich auf die Planken des Schiffes niederkrachen zu lassen und im Aufschlagen ein menschliches Wesen zu Brei zu zerquetschen – das hätte wahrscheinlich ihrem schwarzen Herzen Freude gemacht.

Es war ihre Strafe, daß sie sich an einem Tau wie ein Beiboot nachschleppen lassen mußte, bis die See ruhig geworden war.

Magnus kam erst an Deck, als das Boot schon fort war, und fand die gesamte Besatzung über die Reling hängend. Als er die Ursache der allgemeinen Aufregung erfuhr, suchte er sich einen Platz und sah mit den anderen zu. Zweifelnd beobachtete er das Boot, während es der Boje entgegenruderte. Was zum Teufel hatte Ericsson vor? Wollte er sie durch Pfeifen locken? Dann, als er den Schwimmer seinem Ziel zustreben sah, schauderte er und stimmte in den allgemeinen Schrei mit ein, den Ericsson nicht hörte, weil er Wasser in die Ohren bekommen hatte. Dann, als alle Gefahr vorüber war und das Boot sich dem Schiff wieder näherte, bekam Magnus plötzlich einen Anfall von Eifersucht.

Als Ericsson an Bord kam, schlug ihm Briem auf die Schulter und lobte ihn. Darauf schlüpfte Ericsson in den Maschinenraum hinunter, um sich etwas zu erwärmen, und damit war der Zwischenfall für den Augenblick erledigt.

Die Offiziere speisten um halb sieben, und um halb acht kam der Befehl aus der Offiziersmesse, Kapitän Grondaal wünschte Ericsson zu sprechen. Nun gab es nichts auf der Welt, was Ericsson mehr haßte als öffentlichen Dank oder Lob in irgendwelcher Form.

»Ich möchte bloß wissen, was der Alte jetzt schon wieder will?« sagte er, während er in seine Jacke schlüpfte.

Die Offiziere hatten ihre Mahlzeit beendet, und der Raum hing dick voll Zigarrenrauch. Grondaal saß am Kopfende des Tisches, und Ericsson mußte, um zu ihm zu gelangen, an der ganzen Tafel entlanggehen, zu deren beiden Seiten der erste und zweite Offizier, die drei Elektriker, der erste Kabelingenieur, der Oberingenieur, der Hydrograph Amundsen und der Proviantmeister saßen.

Während er vorbeiging, riefen sie ihm anerkennende Worte zu. Bei Grondaals Platz angekommen, stand er still und salutierte.

Grondaal gehörte zu den Menschen, die jede Art von Rekord lieben. Während seines ganzen Kommandos auf dem »Präsident Girling« hatte er niemals eine Boje oder ein Boot verloren. Markierungsboje Nr. 5 hätte ihn beinahe um seinen Rekord gebracht, ja, ohne Ericsson würde sie es sicher getan haben. Außerdem verkörperte die Boje einen Wert von zwei- bis dreitausend Kronen, und ihre Bergung war ein so glänzendes und kühnes Stück Arbeit, wie er es seit Jahren nicht gesehen hatte. Er goß ein Glas Champagner für den Helden ein, dankte ihm vor der ganzen Tafelrunde, trank auf sein Wohl und sagte:

»Wünschen Sie sich etwas, mein Junge, und wenn ich es erfüllen kann, so sollen Sie's bekommen.«

Ohne einen Augenblick zu zögern, bat Ericsson um einen zwölfstündigen Landurlaub.

»Sobald wir in Nagasaki sind.«

»Nein, Herr Kapitän, hier!«

»Hier? Was wollen Sie um Gottes willen in diesem gottverlassenen Nest mit zwölf Stunden Landurlaub?«

»Wo es weder Kneipen noch Mädels gibt«, warf der erste Offizier ein.

»Aber Sie sollen ihn haben, wenn es irgend möglich ist«, sagte Grondaal. »Und wenn nicht hier, dann in Nagasaki.«

Ericsson salutierte und trottete davon, die halbe Kiste Zigarren, die Briem ihm im Vorübergehen zugesteckt hatte, unter dem Arm.

Unten auf dem Kabeldeck verteilte er die Zigarren, und während sie rauchten, berichtete Johannsson, daß der Wind im Abflauen sei, so daß sie wahrscheinlich mit Tagesanbruch die Kabelarbeit wieder aufnehmen könnten.

»Na, was hat der Alte gesagt?« erkundigte sich Magnus, als er und Ericsson aufs Hauptdeck hinaufgegangen waren.

»Nichts Besonders. Ich dürfte mir wünschen …«

»Und was hast du dir gewünscht?«

»Landurlaub.«

»Wozu brauchst du Landurlaub?« fragte Magnus nach einer Weile des Schweigens. »Du hättest Beförderung bekommen können, aber du verdirbst dir jede Chance – und weswegen? Um einem Mädel nachzulaufen!«

Ericsson flammte auf.

»Beförderung! Wofür hältst du mich eigentlich? Ich tue meine Pflicht und lasse mich nicht dafür bezahlen!«

»Du hättest überhaupt um nichts bitten sollen, dann hätte Briem schon dafür gesorgt, daß du befördert worden wärest oder eine Gratifikation bekommen hättest. Jetzt wird er sich natürlich sagen, ›Ericsson hat seinen Lohn schon weg‹, und die ganze Sache wird vergessen werden – und alles dieses Mädels wegen! Oh, ich kenne dich!«

»Welches Mädel?«

Magnus lachte.

»Die, hinter der du hergehst – mir kannst du nichts weismachen.«

»Will ich ja auch gar nicht. Ja, ich bin hinter einem Mädel her, und ich will dir was sagen – wenn ich nicht auf normale Weise an Land kommen kann, dann schwimme ich rüber. So, und jetzt kannst du dein Maul halten. Du hast selbst ein Mädel, kümmere dich um das und laß mir meines.«

»Welches von deinen vielen?« fragte Magnus spöttisch.

Anstatt ärgerlich zu werden, lachte Ericsson nur und schlug seinem Freund auf die Schulter.

»Man lebt ja nur so kurze Zeit und ist so lange tot! Ich lebe mein Leben, du deins. Es hat keinen Sinn, in das Leben eines anderen Menschen einzugreifen. Und wenn man nicht fähig ist, sein Schiff selbst zu steuern, dann mag es ruhig an den Klippen zerschellen.«

»Gerade die Klippen sind es ja, die ich fürchte«, sagte Magnus, drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.

Ericsson lehnte sich wieder gegen die Reling, spuckte ins Wasser und betrachtete die Boje.

Magnussens Doppelnatur setzte ihn immer wieder heftig in Erstaunen. Er wußte sehr wohl, daß Magnus eifersüchtig auf ihn war – eifersüchtig auf seine Kühnheit und sein Glück, eifersüchtig auf das Mädel, eifersüchtig auf das Lob, das der Kapitän ihm erteilt hatte. Aber er wußte auch, daß Magnussens Rat und Warnung aufrichtig gemeint waren. Nichts würde Magnus mehr Freude machen, als wenn er, Ericsson, vorwärtskommen und Geld verdienen würde.

Dann dachte er an das Mädchen und an die Möglichkeit, sie am nächsten Tag wiederzusehen. Wieder fühlte er, wie ihre Finger sich um seine Hand schlossen, ein stummes Bekenntnis, dessen Erinnerung ihn erregte.

Im Leben eines fast jeden Menschen gibt es einen kritischen Tag – einen Tag, um den wie um einen Angelpunkt sein ganzes künftiges Leben schwingt.

An diesem Morgen, dem 15. Juli, war Ericsson, ohne zu wissen, was die Götter ihm vorbehalten hatten, auf seinem Posten, ehe noch der erste Strahl der Morgendämmerung den Himmel färbte. Das Meer hob und senkte sich in sanfter Dünung, und Briem, der die japanische See und ihre Launen kannte, beschloß, die ganze Arbeit hintereinander fortzumachen, um sie, wenn möglich, an diesem Tage noch zu Ende zu bringen.

Am Nachmittag schon klatschte das geflickte Kabel aufs Wasser, zwei Hurras wurden ausgebracht, für den König von Dänemark und den Kaiser von Japan, die gesamte Kabelmannschaft bekam Grog, und der »Präsident Girling« dampfte davon, um die Markierungsbojen einzuholen.

Grondaal war in außerordentlich gehobener Stimmung. Briem hatte die ganze Arbeit getan, aber Grondaal würde die Hauptanerkennung einheimsen. Es war eine Botschaft nach Tongking durchgegeben worden, um bei dem Zweigbüro der Franco-Dänischen Telegrafen-Gesellschaft wegen neuer Aufträge anzufragen, und die Antwort war zurückgekommen: »Haben uns mit Kopenhagen in Verbindung gesetzt, erwarten morgen Antwort.«

Das Telegramm sollte bei der Kabelhütte am Ufer eingehen, und Grondaal gab den Befehl, ein Boot klarzumachen, um die japanischen Telegrafisten in der Hütte zu benachrichtigen. Dabei fiel ihm sein Versprechen an Ericsson ein, und er sagte ihm, daß er mit dem Boot an Land gehen könne.

»Aber wohlgemerkt, es ist nur ein zwölfstündiger Urlaub«, sagte Grondaal. »Um fünf Uhr früh schicke ich ein Boot hinüber, um die Antwort aus Kopenhagen abzuholen, seien Sie dann am Ufer, sonst fährt das Schiff ohne Sie ab.«

»Jawohl, Herr Kapitän«, sagte Ericsson.

Während sie zu Wasser gelassen wurden, mußte Ericsson ein wahres Geschützfeuer von Witzen über sich ergehen lassen.

»In welchem Hotel wirst du denn wohnen, Ericsson?«

»Er wohnt natürlich im ›Treuen Liebesknoten‹ –«

Es gab fast keine Brandung, so daß sie ohne Schwierigkeit landen konnten. Nachdem Briem die Telegrafisten von dem zu erwartenden Kabel aus Kopenhagen verständigt hatte, stieß das Boot wieder ab. Ericsson stand am Strand und winkte zum Abschied mit der Hand.

Er hatte gleich bei der Landung seinen japanischen Freund beiseite genommen und ihm von seinem Landurlaub erzählt.

»Dann bleiben Sie natürlich in der Hütte«, sagte der Japaner. »Sie essen mit uns, und wir machen uns einen vergnügten Abend.«

Ericsson nahm die Einladung an, faßte seinen Freund unter den Arm und ging mit ihm zum Fischerdorf hinüber. Alle Frauen waren auf Arbeit, und der Ort lag einsam und verlassen da.

Die Tür zum Hause des Mädchens stand offen, so daß der Seewind freien Eintritt fand. Das Kohlenbecken stand auf seinem gewöhnlichen Platz auf der Matte.

»Ich muß sie heute abend sehen und sprechen«, sagte Ericsson.

»Sind Sie wirklich immer noch auf sie versessen?«

Ericsson nickte.

»Dann lassen Sie ihr eine Botschaft da, wie das erstemal.«

»Blumen? Wird sie das verstehen? Sie weiß doch nicht, daß ich an Land gekommen bin.«

»Diese Meerfrauen wissen alles. Sie haben das Boot ankommen sehen und gesehen, daß Sie zurückgeblieben sind.«

Ericsson ging zu der Stelle, wo die Blumen wuchsen, pflückte ein Dutzend und legte sie, ohne die Stiele zusammenzubinden – diesen Rat hatte ihm der Japaner gegeben –, auf die Matte neben das Kohlenbecken.

»Sehen Sie dort«, sagte der Japaner, als Ericsson aus dem Hause trat, und zeigte auf einen Mann, der die Dorfstraße hinunterrannte und im Augenblick um die Ecke am Ende der Straße verschwand.

»Der läuft jetzt, um den Frauen mitzuteilen, daß Sie hier gewesen sind. Er hat uns die ganze Zeit beobachtet; er hat gesehen, daß Sie die Blumen gepflückt und ins Haus getragen haben. Wenn ich mich nicht sehr irre, so bewirbt sich dieser Mann um Ihr Mädchen. Ich habe die beiden öfter zusammengesehen.«

»Mann?« sagte Ericsson. »Sie wollen doch so etwas nicht einen Mann nennen?!«

»Über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Diese Frauen lieben schwache Männer, die zu. ihnen aufblicken, während die normale Frau den starken Mann liebt, zu dem sie aufsehen kann.«

»Sie ist anders als die anderen.«

»Wer weiß?«

Die Kabelhütte war ein recht geräumiges Gebäude. Möbel gab es fast nicht, nur Matten und zusammengerollte Matratzen und Moskitonetze. Gekocht wurde in einem Schuppen hinter der Hütte; als sie zurückkamen, wurde gerade das Abendessen bereitet.

Drei Elektriker wohnten in der Hütte und zwei Diener. Alle sprachen Französisch – sogar die Diener konnten ein paar Worte. Während Ericsson und seine Wirte mit gekreuzten Beinen am Boden saßen und das Abendessen aufgetragen wurde, erzählte Ericsson von der Boje, die sich während des Sturmes losgerissen, und wie man sie wieder geborgen hatte, ohne übrigens zu erwähnen, daß er derjenige gewesen war, der die Tat vollbracht hatte.

Das Essen war geradezu ein Wunder der Kochkunst, das Menu schien aus allem zu bestehen, was man im Meere finden konnte: Seetang-Suppe, Krustentiere, Tintenfische – ganz zu schweigen von in Zucker eingemachten Steingarnelen. Das Mahl schloß mit der üblichen großen Schüssel Reis, und dann wurden Zigaretten und Schnaps auf die kleine Plattform hinausgebracht, die als Veranda diente.

Die Japaner zeigten lebhaftes Interesse für Island, und die Unterhaltung spann sich fort, bis der Mond über den Hügeln aufgegangen war und seinen Glanz über das Meer warf, so daß die Lichter des »Präsident Girling« wie goldene Äpfel auf einem silbernen Band aussahen. Die Flut war im Steigen, man hörte ihr Dröhnen längs der ganzen Küste. Vom Lande her kam nicht ein Laut, außer dem nie endenden Zirpen der Zikaden.

Schließlich zogen die Japaner sich mit ergebenen Bitten um Entschuldigung einer nach dem anderen zurück. Ericssons Freund zeigte ihm eine Schlafstätte, die man in dem allgemeinen Wohnraum für ihn gerichtet hatte; dann ging auch er zu Bett, und Ericsson blieb auf der Veranda sitzen, allein mit Nacht und Meer.

Es war zehn Uhr vorbei, und der Dampfer in der Ferne zeigte nur die Ankerlichter und einen schwachen Lichtschimmer aus dem Kartenhaus.

Als Ericsson von der Veranda auf den weichen Sand des Strandes trat, war es ihm, als flüstere eine innere Stimme ihm zu, von dem Abenteuer abzustehen. Diese Meerfrauen waren anders als gewöhnliche Menschen; wenn sie über sein Eindringen in ihren Bereich erzürnt waren und sich an ihm rächen würden, indem sie ihn tauchten oder gar ertränkten?

Aber sogar diese Überlegung ließ ihn nicht einen Augenblick zögern. Er ging geradeswegs auf das Dorf zu. Am Anfang der Straße blieb er einen Augenblick lauschend stehen.

Nicht eine Menschenseele war zu sehen; die Häuser des Dorfes lagen vor ihm, auf der rechten Seite in Mondlicht gebadet, auf der linken in Schatten versunken, während die großen, weißen Sternblumen in den kleinen Gartenflecken gespenstisch leuchteten, von keinem Windhauch bewegt.

Das Haus des Mädchens lag im Schatten. Erst in einer Stunde würde der Mond voll darauf scheinen.

Er ging auf das Haus zu.

Die Schiebetür war geschlossen; nur ein kleiner Spalt stand offen; gerade groß genug, um einen Finger dazwischenzuschieben. Er klopfte leise an die Täfelung und lauschte. Nicht ein Ton. Er klopfte wieder, diesmal etwas lauter, und nun hörte er leise Fußtritte auf der Matte. Er steckte seinen Finger durch den Spalt und schob die Tür nur so weit zurück, daß er sich durch die Öffnung zwängen konnte, trat über die Schwelle – und im nächsten Augenblick hielt er sie in seinen Armen.

Er versuchte sie zu küssen, aber sie hatte einen Schal um Kopf und Gesicht gewunden, der mit einem Parfüm getränkt war, das er nie zuvor gerochen hatte; ein Parfüm, das den ganzen seltsamen Duft des Ostens enthielt, schwach und dabei durchdringend und überwältigend wie ein Zauber.

*

Schwaches Mondlicht drang durch die Türritze. Es war Zeit, zu gehen.

Er drehte sich um, und dabei berührte seine Hand die ihre; er fühlte ihren Unterarm, dann erhob er sich, suchte seine Jacke, zog sie an und nahm eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche.

Während er das brennende Streichholz in der Hand hielt, heftete er seine Augen auf das Gesicht des Mädchens, das in einer Haltung des Schreckens auf dem Boden hockte, als warte sie darauf, daß er sie töten würde. Einen entsetzlichen Augenblick lang starrte er sie an …

Dann ließ er das Streichholz zu Boden fallen und stürzte aufschreiend aus dem Haus, mitten durch die leichte Täfelung der Tür, die in Trümmern hinter ihm liegenblieb.

Er rannte zum Meer hinunter, wie um sich hineinzustürzen, fühlte sich plötzlich am Arm gepackt und drehte sich um.

Es war sein japanischer Freund, der seinen Schrei gehört hatte und ihn, der wie ein erschrecktes Kind zitterte, langsam zur Hütte zurückführte.

Der Mond stand tief über dem westlichen Meer und warf die Schatten der beiden Männer auf den weißen Sand. Nicht der leiseste Laut drang aus dem Dorf der Meerfrauen; die Nacht war still, die Wellen murmelten.


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