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Vierzehntes Kapitel.
Die Brüder

Sangarelle wohnte in der Rivolistraße und sein Bruder Julius, der Kapellmeister der »Folies Dramatiques« war, teilte seine Wohnung. Trotz des häufigen Personalwechsels, wofür die Folies Dramatiques bekannt sind, hatte dieser Bruder, ein trübselig dreinschauender Mann von fünfzig Jahren, der ganz in seiner Kunst aufging, den Kapellmeisterposten schon länger als zehn Jahre inne.

Er führte den Namen Bergmann, wie Sangarelle den Namen Sangarelle führte, wie beide aber ursprünglich hießen, ist mir nie kund geworden. Die Brüder sahen sich mitunter wochenlang nicht. Jeden Abend um halb sieben Uhr, wenn das Orchester in der Bondystraße seine Instrumente stimmte, trat Sangarelle durch den Eingang für Bühnenmitglieder ins Trokaderotheater, und wenn Bergmann nach Mitternacht, voll von Musik und Bier, trällernd die Treppe heraufkam, begrüßten ihn schon die schnarchenden Atemzüge seines Bruders Sangarelle.

Sangarelle trank nicht, er rauchte auch nicht. Anscheinend hatte er weder Ansichten, noch Wünsche, noch Ehrgeiz; er kleidete sich wie ein Leichenbesorger und führte tatsächlich außerhalb der Bühne ein Leben wie ein Leichnam, aber auf der Bühne war er der spaßhafteste Mensch von Paris. Kein andrer Clown reichte an Sangarelle heran. Jeder Teilnahme für die Menschheit bar, war er vollständig unfähig, eine komische Rolle im Schauspiel darzustellen, aber als Hanswurst war er unvergleichlich.

Sein düsteres Gesicht, sein leidenschaftlicher Pessimismus, seine gänzliche Nichtbeachtung des Publikums, verbunden mit einer ungewöhnlichen Fähigkeit, in Bewegung und Ton Komik zu gestalten, machten ihn zu einer ganz eigenartigen Erscheinung in seinem Fach.

Im Jahre 1868 war Sangarelle, mit einem Empfehlungsbrief an den Leiter eines untergeordneten Vorstadttheaters ausgerüstet, nach Paris gekommen. Sein Ehrgeiz schien auf die Tragödie zu zielen, aber er hatte als Schauspieler keinen Erfolg. Er tat einen tiefen Fall und lernte bei der Gelegenheit den Bodensatz der Pariser Untiefen kennen. Ihm kam der Krieg als gottgesandte Hilfe. In der allgemeinen Verwirrung stieg er aus der Tiefe nach oben und wurde in den Zeiten der Kommune eine Art von Machthaber. Er entkam dem Aufstand mit dem Leben, einem neuen Anzug, neuen Stiefeln und etwas Kleingeld. Sein Bruder Bergmann, der um diese Zeit im Sommer-Alcazar Violine spielte, stellte ihn eines Tages dem Direktor des Zirkus Fernando vor, der ihm einen Posten als Türsteher mit fünfzehn Franken Wochenlohn anbot. Hier entdeckte Sangarelle seinen wahren Beruf; sechs Monate später fand im Kasino von Paris sein erstes Auftreten statt und damit war der Grundstein zu seinem Glück gelegt.

Karl Frisson hatte eines Tages eine glückliche Eingebung; er setzte sich hin, schrieb einen kurzen Artikel über Sangarelles Genie und schickte ihn an den Figaro, der ihn aufnahm. Sangarelle las den Artikel, erfragte Frissons Adresse und machte ihm einen Besuch.

Frisson war der erste gewesen, der den Begriff der Genialität auf Sangarelles Kunst angewendet hatte, und die Dankbarkeit des schwermütigen Clowns, dessen Seele viel heimlichen Ehrgeiz, erstickte Feinfühligkeit bergen mochte, äußerte sich von Zeit zu Zeit durch einen Besuch in der Rollinstraße. Frisson, dessen Pläne immer zu Schanden wurden, dem es mit der Medizin nicht geglückt war, nicht mit der Zeitungsschreiberei, denn jener Artikel über Sangarelle war der erste und letzte, den ein anständiges Blatt aufgenommen hatte, nicht mit der Dichtkunst, insofern ein Band Gedichte von ihm von sieben verschiedenen Verlegern zurückgewiesen wurde, dieser Frisson mit seinen eingebildeten Krankheiten, seinem fürchterlichen Hin- und Herschwanken zwischen Lust und Qual hatte für diesen Sangarelle etwas merkwürdig Anziehendes.

»Der einzige Tor, der kein Feigling ist,« pflegte er von ihm zu sagen.

Etwa acht Tage, nachdem Frisson Herrn Prud'homme versetzt und die Unzertrennlichen gekauft hatte, rief Sangarelle in aller Morgenfrühe nach seinem Diener, um ihm zu sagen: »Gehen Sie sofort nach Numero … der Rollinstraße.«

»Jawohl, Herr Sangarelle.«

»Sagen Sie dem Hausmeister, Sie hätten etwas zu bestellen an Herrn Lacenaire.«

»Jawohl, Herr Sangarelle.«

»Sagen Sie, Sie kämen von der Sternwarte. Dann gehen Sie hinauf ins oberste Stockwerk. Dort ist eine Türe ohne Klinke, da klopfen Sie an. Man wird herausrufen: ›Wer ist da?‹ vielleicht auch: ›Ich bin nicht zu Hause.‹ Dann antworten Sie sofort: ›Ich bin nicht Herr Grognard, der Hausbesitzer, ich komme von der Sternwarte und habe Ihnen etwas zu bestellen.‹ So, und nun merken Sie auf. Dieser Herr Lacenaire ist ein junger Mann mit dunklem Haar, blasser Gesichtsfarbe und schäbigem Anzug. Wenn er allein ist, so sagen Sie ihm: ›Ich komme nicht von der Sternwarte, sondern von Herrn Sangarelle, der Sie sofort sprechen will,‹ und geben Sie ihm diese fünf Franken für eine Droschke. Ist aber irgend ein Freund bei ihm, so sagen Sie: ›Der Direktor der Sternwarte will Sie sofort sprechen,‹ begleiten ihn auf die Straße, stecken ihn in eine Droschke und bringen ihn hierher. Verstehen Sie mich wohl – niemand soll erfahren, daß ich nach ihm geschickt habe.«

»Jawohl, Herr Sangarelle.«


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