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Als die alte Trine mit dem Bericht auf den Berghang zurückkam, daß Wiselis Mutter gestorben und das Kind soeben von seinem Patenonkel geholt worden sei, entstand ein großer Aufruhr im Haus. Die Mutter klagte, daß sie den Besuch bei der Kranken nicht mehr gemacht hatte, den sie zu machen sich schon seit einigen Tagen bestimmt vorgenommen hatte. Aber sie hatte keine Ahnung gehabt, daß das Ende der armen Frau so nahe sein konnte.
Otto lief aufgeregt im Zimmer auf und ab und rief immer wieder: »Es ist eine Ungerechtigkeit! Es ist eine Ungerechtigkeit! Aber wenn er ihm etwas zuleide tut, dann kann er nachher nur seine Rippen zählen, wie manche davon noch ganz ist!«
»Wen meinst du denn eigentlich, Otto, von wem sprichst du?« unterbrach die Mutter den Sohn.
»Vom Chäppi«, erwiderte er. »Was kann er dem Wiseli alles tun, wenn es mit ihm zusammen wohnen muß! Das ist eine Ungerechtigkeit! Aber er soll es nur probieren...« Hier wurde Otto wieder unterbrochen, denn ein wiederholtes, heftiges Stampfen übertönte seine Stimme.
»Was machst du für ein hirnerschütterndes Gerumpel, du Miez hinter dem Ofen!« rief er aus, indem sich seine Aufregung nun nach dieser Seite wandte. Miezchen kam hinter dem Ofen hervor und stampfte noch einmal mit großer Gewalt auf den Boden, denn es war bemüht, seine Füße wieder in die völlig nassen Stiefel hinein zu zwingen, die ihm die alte Trine vor kurzer Zeit mit der größten Mühe ausgezogen hatte.
Die Arbeit war sehr schwierig, und feuerrot vor Anstrengung keuchte Miezchen hervor: »Kein Mensch kann in diese Stiefel hineinkommen ohne Stampfen.«
»Und warum müssen denn die Stiefel wieder an die Füße, da ich sie gerade eben heruntergezogen habe, damit sie nicht mehr dran sind?« rief die Trine, die noch im Zimmer stand.
»Ich gehe zum Buchenrain und hole auf der Stelle das Wiseli zu uns, es kann mein Bett haben«, erklärte das Miezchen entschlossen.
Ebenso entschlossen kam jetzt die alte Trine auf das Miezchen zugeschritten, hob es in die Höhe, setzte es fest auf einen Stuhl und zog mit einem Ruck den halb angezwängten Stiefel wieder weg. Aber sie beschwichtigte das zappelnde Kind, indem sie zustimmend sagte: »Schon recht! Schon recht! Aber ich will's schon für dich besorgen, du brauchst nicht zwei Paar Strümpfe und zwei Paar Schuhe dafür naßzumachen. Dein Bett kannst du schon hergeben, du kannst dann in die Rumpelkammer hinaufziehen zum Schlafen, da ist Platz genug.«
Aber das Miezchen hatte ganz andere Gedanken. Es hatte entdeckt, daß es sich plötzlich von einem großen und täglich wiederkehrenden Ungemach befreien könne, und nahm sich fest vor, es zu tun. Jeden Abend nämlich, gerade wenn Miezchen im besten Zug der Unterhaltung war, erklang auf einmal der Befehl, ins Bett zu gehen. Hierauf erfolgten jedesmal große innere, häufig auch äußere Kämpfe, die waren peinlich und dazu noch nutzlos. Wenn es nun sein Bett an das Wiseli verschenkt hatte, so war mit einemmal allem abgeholfen, denn da war keins mehr vorhanden, und Miezchen konnte für immer aufbleiben.
Diese Aussicht beglückte das Miezchen so sehr, daß alle seine Gedanken darauf gerichtet waren und es erst gar nicht bemerkte, wie die schlaue Trine nur darauf bedacht war, ohne Kampf der nassen Stiefel habhaft zu werden, ihr aber gar nicht einfiel, das Wiseli zu holen. Als sie nun befriedigt mit ihren Stiefeln davonging und Miezchen die Täuschung entdeckte, fing es so mörderisch zu schreien an, daß Otto sich beide Ohren zuhalten und die Mutter ernstlich einschreiten mußte.
Sie versprach dann dem Miezchen, die Sache mit dem Papa besprechen zu wollen, sobald er erst wieder zuhause sein würde. Denn er war an dem Morgen dieses Tages mit Onkel Max abgereist, um einen lange verabredeten Besuch bei einem alten Freund zu machen. So wurden denn endlich die Ruhe und der Friede im Haus wiederhergestellt.
Erst nach vier Tagen kamen die Herren von ihrem Ausflug zurück, und die Mutter hielt Wort. Noch am Abend seiner Rückkehr besprach sie mit dem Vater den Tod von Wiselis Mutter und seine neue Unterkunft. Und es wurde gleich beschlossen, der Vater sollte am folgenden Tag hingehen, um sich mit dem Herrn Pfarrer zu beraten, was für Wiseli getan werden könnte.
Dies wurde ausgeführt, und der Oberst brachte die Nachricht, daß am vergangenen Sonntag, zwei Tage vorher, der Gemeindevorstand die Sache schon geordnet hatte, wie sie nun bleiben würde. Wiseli sollte ein Unterkommen haben, und da seine Mutter nichts hinterlassen hatte, mußte die Gemeinde für das Kind sorgen, bis es selbst sein Brot verdienen konnte. Nun hatte der Patenonkel sich gleich angeboten, das Kind für eine geringe Summe bei sich zu behalten. Er war als rechtschaffener Mensch bekannt, und da seine Forderung so billig war, wurde ihm das Kind vom Vorstand sehr bereitwillig zuerkannt. Und so war es denn fest und unabänderlich, daß Wiselis neue Heimat das Haus des Onkels geworden war.
»Es ist eigentlich gut so«, sagte der Oberst zu seiner Frau. »Das Kind ist wohlversorgt. Was hätte man auch mit ihm machen wollen ? Es ist ja noch viel zu klein, um irgendwo angestellt zu werden, und alle elternlosen Kinder kannst du doch nicht ins Haus nehmen. Da müßtest du ein Waisenhaus gründen.«
Seine Frau war ein wenig bestürzt über die Nachricht, daß schon alles festgesetzt sei. Sie hatte gehofft, es würde sich noch eine andere Unterkunft für das Kind finden. Denn das zarte Wiseli in dem Haus zu wissen, wo es viel Roheit hören und fühlen mußte, tat ihr sehr leid. Doch hätte auch sie keinen Rat gewußt, und nun war auch weiter nichts mehr zu tun, als die Sache hinzunehmen und sich ab und zu um das Kind zu kümmern.
Als am Morgen darauf Otto und Miezchen hörten, wie es mit Wiseli stehe, da brach freilich noch einmal ein Sturm los. Otto erklärte, Wiseli ginge es nun so wie Daniel in der Löwengrube, und probierte dabei seine Faust auf dem Tisch – offenbar mit dem heimlichen Wunsch, sie so auf Chäppis Rücken niedersausen zu lassen. Das Miezchen lärmte und heulte ein wenig, teils aus Mitleid für Wiseli, teils für sich selbst und seine vereitelten Hoffnungen auf ein glückliches Entrinnen aus der täglichen Betthaft. Aber auch diese Aufregung legte sich wie jede andere, und die Tage gingen wieder ihren gewohnten Gang.
Inzwischen hatte Wiseli nach und nach sich ein wenig eingelebt im Haus des Onkels. Sein Bett war angekommen. Es schlief nicht mehr auf der Ofenbank, sondern, wie der Onkel gesagt hatte, in einem Verschlag in dem schmalen Gang zwischen der Kammer des Ehepaars und derjenigen der Buben. In dem Verschlag hatten gerade sein Bett Platz und eine kleine Kiste, worin seine Kleider lagen und auf die es steigen mußte, um in sein Bett zu kommen, denn da war sonst gar kein Raum mehr. Um sich morgens zu waschen, mußte es an den Brunnen gehen, und wenn es kalt war, so sagte die Tante, das könne es bleiben lassen und sich dann an einem anderen Tag waschen, wenn es wärmer sei. Aber daran war Wiseli nicht gewöhnt. Seine Mutter hatte es gelehrt, sich recht sauber zu halten, und Wiseli wollte lieber frieren als so ausschauen, wie es die Mutter ungern sehen würde.
Daheim war es anders gewesen, wenn es am Morgen bei der Mutter in der Stube sich hatte fertig machen können und sie dabei immer so freundliche Worte mit ihm geredet hatte, dann den Kaffee auf den Tisch stellte und sie beide nebeneinander saßen, wenn es fröhlich sein Brot aß, ehe es zur Schule gehen mußte. Das war jetzt ganz anders, und alles war so anders, sein ganzes Leben vom Morgen bis zum Abend so anders, daß oft beim Erinnern an die Mutter und an die Tage, die es bei ihr verbracht hatte, dem Wiseli das Wasser in die Augen schoß. Und es schnürte ihm so das Herz zusammen, daß es meinte, es könne nicht mehr weiterleben.
Aber es wehrte sich tapfer, denn der Onkel sah es ungern, wenn es weinte, oder traurig war. Und die Tante schimpfte dann mehr als je, sie konnte es gar nicht leiden.
Am liebsten war Wiseli der Augenblick, da es von allen weg allein in seinen Verschlag steigen und so recht an die Mutter denken und sein Lied sagen konnte. Da kam ein großer Trost in sein Herz. Es dachte dann an seinen schönen Traum und war ganz sicher, daß der liebe Gott ihm einen Weg suche, so wie ihn die Mutter gezeigt hatte. Manchmal überlegte es auch, wie viele Menschen auf der Welt leben, für die der liebe Gott zu sorgen und Wege bereit zu machen hat. Und dann stieg ihm der Zweifel auf, ob er es vielleicht vergesse über all den vielen. Aber da kam ihm gleich der gute Trost ins Herz, daß ja die Mutter droben im Himmel sei und gewiß den lieben Gott bitten würde, seinen Weg nicht zu vergessen.
Das machte das Wiseli dann ganz zuversichtlich und froh, und es wurde nie mehr so unglücklich wie am ersten Abend auf der Ofenbank. Jeden Abend schlief es mit der frohen Zuversicht im Herzen ein:
»Er wird auch Wege finden
Wo dein Fuß gehen kann.«
So verging der Winter, und der sonnige Frühling kam. Die Bäume wurden grün, und alle Wiesen standen voller Schlüsselblumen und weißer Anemonen. Und im Wald rief lustig der Kuckuck, und schöne, warme Lüfte zogen durch das Land und machten alle Herzen fröhlich, so daß jeder wieder gern leben mochte.
Auch Wiselis Herz erfreuten die Blumen und der Sonnenschein, wenn es am Morgen in die Schule ging und nachher wieder zum Buchenrain zurückkehrte. Sonst blieb ihm keine Zeit, sich daran zu erfreuen, denn es mußte nun hart arbeiten. Jeder Augenblick, der neben der Schule übrigblieb, mußte zu irgendeiner Arbeit benutzt werden. Und manchen halben Tag der Woche mußte es daheim bleiben und durfte nicht zur Schule gehen, weil da viel Nötigeres zu tun war, wie der Onkel und hauptsächlich die Tante sagten.
Die Frühlingsarbeiten hatten im Feld begonnen, und im Garten war allerhand zu tun. Da mußte es mithelfen, und wenn die Tante draußen war, mußte es kochen und nachher das Geschirr abwaschen, den Trog für die Schweinchen zurecht machen und in die Scheune hinübertragen. Neben alledem mußten die Hemden und Hosen der Buben geflickt werden, und noch so vieles war zu tun, daß Wiseli nie wußte, wie es fertig werden sollte. Den ganzen Tag durch hieß es an allen Ecken, wo es Arbeit gab: »Das kann das Kind machen, es hat ja sonst nichts zu tun.« Dem Wiseli wurde es manchmal ganz schwindlig, weil es gar nicht wußte, wo anfangen und wie alles zu Ende bringen. Es wußte auch, wenn es mit dem Kartoffelsamen zum Acker rannte, wo der Onkel schaufelte, würde die Tante sicher schimpfen, daß es nicht zuvor in der Küche Feuer fürs Abendessen gemacht hatte. Und machte Wiseli zuvor das Feuer an, so zankte wieder der Chäppi, daß es nicht zuerst das Loch in seinem Jackenärmel hatte flicken können. Er hatte es ihm ja schon lang gesagt, und jedes rief ihm zu: »Warum machst du denn das nicht? Du hast ja sonst nichts zu tun!«
So war Wiseli ganz froh, wenn es in die Schule gehen konnte, da hatte es doch eine Zeitlang Ruhe und wußte, was es tun mußte. Und dazu war das auch der Ort, wo es noch freundliche Worte hörte. Denn in jeder Pause oder nach dem Unterricht kam der Otto zu Wiseli, redete freundlich mit ihm und brachte immer wieder eine Einladung von seiner Mutter, daß es etwa am Sonntagabend zu ihnen komme. Sie wollten dann zusammen spielen. Das konnte nun Wiseli nie ausführen, denn am Sonntag mußte es den Kaffee machen, und die Tante erlaubte ihm nicht, fortzugehen an dem einzigen Tag, da es ihr etwas helfen könne, wie sie sagte. Aber es tat doch dem Wiseli sehr wohl, daß Otto es immer wieder einlud, und allein schon, daß er freundlich mit ihm sprach wie sonst niemand.
Noch einen Grund hatte Wiseli, warum es gern zur Schule ging. Es mußte jedesmal an dem sauberen Gärtchen vom Schreiner Andres vorbeigehen, da schaute es so gern hinein und paßte da an der niederen Hecke immer und immer wieder die Gelegenheit ab, den Schreiner Andres zu sehen. Denn es hatte ihm ja noch etwas von der Mutter auszurichten, das hatte es nicht vergessen. Aber in das Haus hineinzugehen, dazu war Wiseli zu schüchtern. Es kannte den Mann auch zu wenig, um einen solchen Schritt zu tun. Auch hatte es eine eigene Art von Scheu vor ihm, weil er so still war und es nur immer, wo es ihn traf, freundlich angesehen, aber fast nie etwas zu ihm gesagt hatte. Seit dem Tod der Mutter hatte Wiseli den Schreiner Andres nie mehr gesehen, wie oft es auch an der Hecke gestanden und nach ihm ausgeschaut hatte.
Mai und Juni waren vorbei, und die langen Sommertage waren gekommen, da es auf dem Feld immer mehr Arbeit gibt. Es war heiß geworden. Das merkte auch das Wiseli, wenn es vom Onkel hinausgerufen wurde und mit einem großen, schweren Rechen das Heu zusammenbringen oder mit der breiten Holzgabel wieder auseinanderwerfen mußte, damit es an der Sonne trockne.
Oft mußte es so den ganzen Tag draußen helfen, und am Abend war es dann so müde, daß es seine Arme kaum mehr bewegen konnte. Das hätte es aber nicht geachtet, denn es dachte, das müsse so sein. Aber wenn es dann etwa am Abend einen Augenblick still saß, dann rief ihm der Chäppi gleich zu: »Du wirst so gut Rechnungen zu machen haben wie ich. Du meinst, du müssest nichts tun, und in der Schule kannst du ja nie etwas.«
Das tat dem Wiseli weh, denn es hätte gern fleißig alles gelernt und wäre gern regelmäßig zur Schule gegangen, damit es alles gut begreifen und erlernen könnte. Und es wußte recht gut, daß es fast überall zurück war. Es mußte ja so oft unterbrechen und hatte dann gar keinen Zusammenhang, wußte auch gar nicht, was für Aufgaben zu machen waren.
Wenn es dann ohne Hausarbeiten in die Schule kam und dazu ungeschickt antwortete und vieles gar nicht wußte, schämte es sich sehr – besonders, wenn der Lehrer ihm dann vor allen Kindern sagte: »Das hätte ich von dir nicht erwartet, Wiseli, du warst immer am klügsten.« Dann meinte es oft, es müsse in den Boden sinken vor Scham, und nachher weinte es auf dem ganzen Heimweg.
Aber dem Chäppi durfte es nicht antworten, es wisse ja nicht, was zu machen sei. Sonst schimpfte und lärmte er so lange, bis die Tante hereinkam und auf Chäppis Anklagen hin dem Wiseli erst recht seine Nachlässigkeit vorwarf. Dann unterdrückte das Kind manchmal seine Tränen, und erst nachher auf seinem Kissen durfte es ihnen freien Lauf lassen. Und sie kamen dann auch recht heiß und schwer, denn es war ihm so, als hätten der liebe Gott und die Mutter es ganz vergessen und kein Mensch auf der Welt kümmere sich um sein Leben.
In seinem Kummer konnte es oft lange sein Trostlied nicht sagen. Es kam aber zu keiner Ruhe und konnte nie einschlafen, bis es die Worte wieder recht zusammengefunden und sie mit Andacht hatte sagen können, wenn ihm auch die frohe Zuversicht nicht recht im Herzen aufgehen wollte.
So war das Wiseli auch eingeschlafen an einem schönen Juliabend, und am Morgen darauf stand es zaghaft unten am Tisch, als die Buben zur Schule aufbrachen. Es wagte nicht zu fragen, ob es auch gehen dürfe, denn die Tante schien keine Zeit zu einer Antwort zu haben und der Onkel hatte das Haus schon verlassen.
Jetzt liefen die Buben davon. Wiseli schaute ihnen nach durch das offene Fenster, wo sie zwischen den hohen Wiesenblumen hinsprangen und über ihren Köpfen die weißen Schmetterlinge in der Morgensonne umherflogen. Die Tante hatte eine große Wäsche vorbereitet. Mußte es wohl diese Woche am Waschtrog zubringen? Richtig, sie rief schon nach ihm aus der Küche. Jetzt rief auch der Onkel nach Wiseli. Er stand am Brunnen und sah es am Fenster. »Mach, mach, Wiseli, es ist Zeit, die Buben sind ja weit voraus. Das Heu ist drinnen, mach, daß du in die Schule kommst!«
Das ließ sich Wiseli nicht zweimal sagen. Wie ein Blitz erfaßte es seinen Schulsack und lief zur Tür hinaus.
»Sag dem Lehrer«, rief der Onkel ihm nach, »du wurdest jetzt eine Zeitlang nicht fehlen. Er soll's nicht so genau nehmen, wir haben viel mit dem Heu zu tun gehabt.«
Wiseli lief glücklich davon. So mußte es sich nicht an den Waschtrog stellen, es durfte die ganze Woche in die Schule gehen. Wie war es schön ringsum! Von allen Bäumen pfiffen die Vögel, und das Gras duftete, und in der Sonne leuchteten die roten Margeriten und die gelben Butterblumen. Wiseli konnte nicht stehenbleiben, es war keine Zeit dazu. Aber es fühlte, wie schön die Landschaft war, und lief voller Freuden mittendurch.
Am selben Abend, als eben alle Kinder aus der dumpfen Schulstube in den sonnigen Abendschein hinausstürmen wollten, rief der Lehrer in den Tumult hinein: »Wer hat in dieser Woche Ordnungsdienst?«
»Der Otto, der Otto!« rief die ganze Schar und stürmte davon.
»Otto«, sagte der Lehrer in ernstem Ton, »gestern ist hier nicht aufgeräumt worden. Einmal will ich dir verzeihen. Aber laß mich das nicht zweimal sehen, sonst müßte ich dich bestrafen.
Otto schaute einen Augenblick auf all die Nußschalen und Papierfetzen und Apfelschnitze, die am Boden herumlagen und aufgelesen sein sollten. Dann wandte er eilig den Kopf weg und lief ebenfalls hinaus, denn der Lehrer war auch schon durch seine Tür verschwunden. Draußen stand Otto auf dem sonnigen Platz, schaute in den goldenen Abend hinaus und dachte: Jetzt könnte ich heimgehen, und dann kriegte ich die Kappe voll Kirschen. Und dann könnte ich auf dem Braunen ins Feld hinausreiten, wenn der Knecht das Heu holt, und nun soll ich drinnen auf dem Boden Papierfetzen zusammenlesen?
Und Otto wurde durch seine Gedanken so aufgeregt, daß er ganz grimmig vor sich hin sagte: »Ich wollte, es käme gerade jetzt der jüngste Tag, und das Schulhaus und alles miteinander flöge in tausend Stücken in die Luft.« Es blieb aber ringsum still und ruhig, und von dem alles beendenden Erdbeben waren keine Anzeichen da. Da kehrte sich endlich Otto wieder der Schultür zu, mit zornigem Gesicht, denn er wußte ja, in den sauren Apfel mußte nun gebissen werden. Oder morgen folgte die erniedrigende Strafe des Nachsitzens.
Er trat ein, aber beim ersten Schritt blieb er verwundert stehen. Völlig aufgeräumt lag die Schulstube vor ihm, keine Fetzchen und kein Stäubchen nirgends mehr zu sehen. Die Fenster standen offen, und die Abendluft strömte in die geputzte Stube hinein.
In dem Augenblick trat der Lehrer aus seinem Zimmer und schaute überrascht um sich und auf den Otto, der mit großen Augen dastand. Dann ging er zu dem Jungen und sagte ermunternd: »Du darfst wirklich dein Werk anstaunen, das hätte ich dir nicht zugetraut. Du bist ein guter Schüler, aber im Aufräumen hat du heute alle übertroffen, was sonst bei dir nicht der Fall war.« Damit ging der Lehrer fort, und als sich Otto noch mit einem letzten Blick überzeugt hatte, daß er die Wirklichkeit vor sich sah, sprang er vor Freude in zwei Sätzen die Treppe hinunter und über den Platz weg. Er stürmte den Berghang hinauf, und erst als er der Mutter das wunderbare Ereignis mitteilte, fing er an zu überlegen, wie es sich zugetragen haben könnte.
»Aus Versehen wird wohl keiner für dich aufgeräumt haben«, sagte die Mutter. »Hast du etwa einen guten Freund, der sich so edelmütig für dich aufopfert? Denk doch einmal nach, wie es sein könnte.«
»Ich weiß es«, sagte Miezchen entschieden, das eifrig zugehört hatte.
»Wer war es denn?« rief Otto, teils neugierig, teils ungläubig.
»Der Mauserhans«, erklärte Miezchen mit voller Überzeugung, »weil du ihm vor einem Jahr einen Apfel gegeben hast.«
»Ja, oder der Wilhelm Tell, weil ich ihm den seinigen nicht genommen habe vor ein paar Jahren. Das wäre wohl ebenso wahrscheinlich, du Wunder von einem Miez.« Damit rannte Otto davon, denn jetzt war's höchste Zeit, wenn er den Ritt ins Heu nicht versäumen wollte.
Inzwischen sprang das Wiseli mit vergnügtem Herzen den Berg hinunter, vorbei an Schreiner Andres' Gärtchen. Dann machte es aber plötzlich kehrt und lief wieder zurück, denn es hatte im Vorbeilaufen so schöne, rote Nelken gesehen in dem Garten, die mußte es noch einmal ansehen, wenn es auch schon ein wenig spät war. Es dachte: Den Buben komme ich doch nach, die machen erst auf allen Wegen noch Kugelschieben.
Die Nelken leuchteten in der Abendsonne so schön und dufteten so herrlich über die niedere Hecke herüber dem Wiseli zu, daß es fast nicht mehr von der Stelle fort wollte, so gut gefiel es ihm da. Da trat auf einmal der Schreiner Andres aus seiner Tür heraus in das Gärtchen und kam auf das Wiseli zu. Er gab ihm die Hand über die Hecke und er sagte freundlich. »Willst du eine Nelke, Wiseli?«
»Ja, gern«, antwortete es, »und dann sollte ich Ihnen auch noch etwas ausrichten von der Mutter.«
»Von der Mutter?« fragte der Schreiner Andres erstaunt und ließ die Nelken aus der Hand fallen, die er eben abgebrochen hatte.
Wiseli sprang um die Hecke herum und las sie auf. Dann sah es zu dem Mann auf, der ganz still dastand, und sagte: »Ja, noch zu allerletzte als die Mutter sonst nichts mehr mochte, hat sie von dem guten Saft getrunken, den Sie in die Küche gestellt haben. Und er hat ihr so gut geschmeckt, und dann hat sie mir aufgetragen, ich soll Ihnen sagen, sie danke Ihnen vielmal dafür und auch noch für alles Gute. Und sie sagte noch: ›Er hat es gut mit mir gemeint‹.« Jetzt sah Wiseli, wie dem Schreiner Andres große Tränen über die Wangen hinunterliefen. Er wollte etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Dann drückte er dem Wiseli fest die Hand, wandte sich ab und ging ins Haus hinein.
Das Wiseli stand ganz verwundert da. Kein Mensch hatte um seine Mutter geweint, und es selbst hatte nur weinen dürfen, wenn es niemand sah. Denn der Onkel wollte ja kein Geschrei, hatte er gesagt, und vor der Tante durfte es noch weniger weinen. Und nun war auf einmal jemand da, dem kamen die Tränen, weil es etwas von der Mutter gesagt hatte. Dem Wiseli wurde es so zumute, als wäre der Schreiner Andres sein liebster Freund auf der Welt, und es faßte eine große Liebe zu ihm. Jetzt rannte es mit seinen Nelken davon und war wie der Blitz am Buchenrain angelangt. Und das war gut, denn eben sah es, wie die beiden Buben dem Haus zuliefen, und es durfte um alles nicht nach ihnen daheim ankommen.
An diesem Abend betete Wiseli mit so frohem Herzen, daß es gar nicht begriff, wie es gestern so verzagt hatte sein können und gar keine Zuversicht und Freude gehabt hatte, sein Lied zu sagen. Der liebe Gott hatte es gewiß nicht vergessen, das wollte es nicht mehr denken. Heute hatte er ihm ja so viel Freude bereitet, und beim Einschlafen sah Wiseli noch das gute Gesicht des Schreiner Andres vor sich mit den Tränen darauf.
Am folgenden Tag, es war nun Mittwoch, erlebte Otto die gleiche Überraschung wie am Tag vorher, denn er hatte sich nicht enthalten können, mit den andern aus der Schulstube hinauszurennen im ersten Augenblick der Befreiung. Als er dann an seine Arbeit gehen wollte und die Tür aufmachte – da war schon alles getan und die Stube in bester Ordnung.
Nun fing aber die Sache an, seine Neugierde zu erregen. Auch war er dem unbekannten Wohltäter so dankbar, daß es ihn drängte, das auszusprechen. Am Donnerstag wollte er aufpassen, wie die Sache zugehe.
Als nun die Schulstunden zu Ende waren und alles fortlief, stand Otto einen Augenblick nachdenklich an seinem Platz. Er wußte nicht recht, wo er am besten dem Wohltäter auflauern konnte. Aber mit einemmal faßte ihn eine Schar rüstiger Kerle, seine Klassengenossen, an allen Ecken an, und die Stimmen riefen durcheinander: »Komm heraus! Heraus mit dir! Wir machen Räuber, du bist der Anführer.«
Otto wehrte sich ein wenig. »Ich muß ja diese Woche Ordnung machen«, rief er.
»Ach, was«, erwiderten sie, »wegen einer Viertelstunde. Komm!«
Otto ließ sich fortreißen, in der Stille verließ er sich schon ein wenig auf seinen unbekannten Freund, der ihn vor der Strafe schützen würde. Er fand es unbeschreiblich angenehm, eine solche Fürsorge im Rücken zu haben. Aus der Viertelstunde wurde auch mehr als eine Stunde, und Otto wäre verloren gewesen. Er lief keuchend zur Schulstube zurück, um sich seinem Schicksal zu stellen, und stieß dabei die Tür mit solchem Gepolter auf, daß der Lehrer augenblicklich aus seiner Stube ins Lehrzimmer trat.
»Was hast du gewollt, Otto?« fragte der Lehrer.
»Nur noch einmal nachsehen«, stotterte Otto, »ob auch sicher alles in Ordnung sei.«
»Musterhaft«, bemerkte der Lehrer. »Dein Eifer ist löblich, aber die Türen dabei halb einzuschlagen, ist nicht notwendig.«
Otto ging gutgelaunt davon. Am Freitag war er entschlossen, den Fleck nicht zu räumen, bis er im klaren war, denn da kam für ihn nur noch der Samstagmorgen. Da wurde freilich immer noch groß Ordnung gemacht.
»Otto«, rief der Lehrer, als am Freitag die Glocke vier Uhr schlug, »trag mir schnell das Zettelchen zum Herrn Pfarrer, er gibt dir Bücher zurück. In fünf Minuten bist du wieder da zum Aufräumen.«
Das war Otto nicht ganz recht, aber er mußte gehen. Außerdem konnte er ja gleich wieder da sein. In wenig Sprüngen war er im Pfarrhaus.
Der Herr Pfarrer unterhielt sich noch mit jemandem. Die Frau Pfarrerin rief Otto in den Garten hinaus, er mußte ihr berichten, wie es der Mama gehe und dem Papa und dem Miezchen und dem Onkel Max und den Verwandten in Deutschland. Und dann kam der Herr Pfarrer, und Otto mußte erklären, wie er zu dem Auftrag gekommen war und was ihm der Lehrer sonst noch gesagt habe. Endlich hatte dann Otto seine Bücher erhalten, und pfeilschnell war er drüben, riß die Tür der Schulstube auf – alles in Ordnung, alles still, kein menschliches Wesen zu sehen.
Nun habe ich mich die ganze Woche nicht ein einziges Mal nach den grausigen Fetzen bücken müssen, dachte Otto befriedigt. Aber wer hat die schreckliche Arbeit getan, ohne daß er mußte? Das wollte er nun um jeden Preis wissen.
Am Samstag waren die Schulstunden um elf Uhr zu Ende. Otto ließ alle Kinder hinausgehen, und als nun die Schulstube leer war, trat er vor die Tür hinaus, schloß sie zu und lehnte sich mit dem Rücken daran. So mußte er doch gewiß sehen, ob da jemand hineingehen würde, denn damit wollte er lieber beginnen als mit der schweren Arbeit. Er stand und stand – es kam niemand. Er hörte die Uhr halb zwölf schlagen – es kam niemand. Am Nachmittag stand aber ein Ausflug bevor, es sollte heute früh zu Mittag gegessen werden. Er sollte so schnell wie möglich zuhause sein. Er mußte also hinein an die Arbeit, es grauste ihm. Er öffnete die Tür – da – Otto riß noch mehr als das erstemal die Augen auf – wirklich, es war alles getan, schöner als je.
Dem Otto wurde es ganz eigentümlich zumute. Ob da irgendwelche Geister ihre Hände im Spiel hatten? Ganz leise, wie nie sonst, schlich er zur Tür hinaus. Gerade in diesem Augenblick kam ebenso leise etwas aus des Lehrers Küche geschlichen, und auf einmal stand das Wiseli ganz nahe vor ihm. Beide fuhren zusammen vor Schrecken, und das Wiseli wurde so rot, als hätte es der Otto bei einem Unrecht erwischt. Jetzt ging ihm ein Licht auf.
»Sicher hast du das für mich gemacht die ganze Woche lang, Wiseli«, rief er aus. »Das tut doch gewiß sonst kein Mensch, wenn er nicht muß.«
»Ich habe es aber so gern getan«, gab Wiseli zur Antwort.
»Nein, nein, das mußt du nicht sagen, Wiseli. So etwas kann kein Mensch auf der Welt gern tun«, sagte Otto überzeugt,
»Doch – gewiß«, versicherte Wiseli, »ich habe die ganze Zeitlang mich immer auf den Abend gefreut, wenn ich es wieder tun durfte, und während ich aufräumte, habe ich mich erst recht immerzu gefreut, weil ich immer gedacht habe: jetzt kommt der Otto und findet alles fertig und ist froh.«
»Aber wie bist du denn darauf gekommen, daß du das für mich tun wolltest?« fragte Otto verwundert.
»Ich wußte schon, daß du es nicht gern tust, und ich habe schon immer gedacht, wenn ich nur einmal dem Otto etwas geben könnte, wie du mir den Schlitten, weißt du noch? Aber ich hatte nie etwas.«
»Das ist viel mehr wert, als einen Schlitten leihen, was du für mich jetzt getan hast. Das will ich dir auch nicht vergessen, Wiseli.« Und Otto gab ihm ganz gerührt die Hand. Wiselis Augen leuchteten vor Freude wie lange nicht mehr. Aber nun wollte Otto noch wissen, wie es denn wieder in die Stube hineingekommen sei, da er doch gewartet hatte, bis alle Kinder draußen waren.
»Oh, ich bin gar nicht hinausgegangen«, sagte Wiseli. »Ich verbarg mich schnell hinter dem Kasten, ich dachte, du gehst schon noch ein wenig hinaus wie jeden Tag vorher.«
»Aber wie konntest du immer hinaus, ohne daß ich dich sah?« wollte Otto noch wissen.
»Wenn du mit den anderen herumliefst, konnte ich schon hinaus. Ich paßte schon auf. Und gestern und heute, als ich nicht sicher war, ging ich durch die Stube des Lehrers und fragte die Frau Lehrerin, ob sie etwas für mich zu tun habe Sie gibt mir manchmal einen Auftrag auszurichten, und dann ging ich durch die Küche fort. Gestern war ich gerade hinter der Küchentür, als du in die Schulstube ranntest.«
Jetzt kannte Otto die ganze Geistergeschichte. Er gab dem Wiseli noch einmal die Hand. »Danke, Wiseli«, sagte er herzlich. Und dann lief eins da hinaus, das andere dort hinaus, und beide waren froh und zufrieden.