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Um die gleiche Zeit, da die Kinder des Obersten nach Hause gingen, rannte das kleine Wiseli aus allen Kräften den Berg hinunter. Denn es wußte, daß es länger fortgeblieben war, als die Mutter erwartete, und das tat es sonst nicht. Aber heute war sein Glück so groß gewesen, daß es einen Augenblick das Heimgehen vergessen hatte. Jetzt lief es um so schneller und wäre fast in einen Mann hineingerannt, der eben aus der Tür des Häuschens trat, als es hineinstürmen wollte. Er ging ihm aber ganz leise aus dem Weg, und das Wiseli sprang vorwärts in die Stube hinein und auf die Mutter zu, die auf einem kleinen Stuhl am Fenster saß und zu Wiselis Erstaunen noch kein Licht angezündet hatte.
»Mutter, bist du böse, daß ich so lang ausgeblieben bin?« rief es und umarmte sie.
»Nein, nein, Wiseli«, antwortete sie freundlich. »Aber ich bin froh, daß du da bist.«
Jetzt fing das Wiseli der Mutter von seinem großen Erlebnis zu erzählen an, wie gut der Otto zu ihm gewesen war und wie es zweimal mit dem allerschönsten Schlitten hatte den Berg hinunterfahren können. Als es dann mit seiner Erzählung fertig war und die Mutter noch immer so still dasaß, fiel ihm erst ein, daß sie das sonst nicht tat. Es fragte verwundert: »Aber warum hast du noch kein Licht, Mutter?«
»Ich bin so müde heute abend, Wiseli«, antwortete sie. »Ich konnte nicht aufstehen und Licht machen. Hol das Lämpchen herein und bring mir einen Schluck Wasser mit, ich habe so großen Durst.«
Wiseli lief in die Küche und kam bald zurück, in der einen Hand das Licht und in der andern eine Flasche, in der ein roter Saft schimmerte, so hell und einladend, daß die durstende Kranke erfreut ausrief: »Was bringst du mir Schönes, Wiseli?«
»Ich weiß nicht«, sagte das Kind, »es stand auf dem Küchentisch, sieh, wie es funkelt.«
Die Mutter nahm die Flasche in die Hand und roch daran. »Oh«, sagte sie, »wie frische Himbeeren aus dem Wald, gib mir schnell ein wenig Wasser dazu, Wiseli.«
Das Kind goß roten Saft in ein Glas und füllte es mit Wasser, und mit durstigen Zügen trank die Mutter den erquickenden Beerensaft. »Oh, wie das erfrischte« sagte sie und übergab das leere Glas dem Kind. »Stell es weg, Wiseli, aber nicht weit. Mir ist, ich könnte alles austrinken, so durstig bin ich. Wer hat mir denn diese Flasche gebracht? Gewiß die Trine, es kommt von der Frau Oberst.«
»War denn die Trine bei dir in der Stube, Mutter?« fragte das Kind.
»Nein.«
»Dann ist es nicht die Trine, das weiß ich«, sagte das Wiseli bestimmt. »Sie geht jedesmal in die Stube, wenn sie etwas bringt. Aber der Schreiner Andres war ja bei dir, hat er dies nicht mitgebracht?«
»Ach was, Wiseli«, fiel die Mutter ganz lebhaft ein. »Was sagst du denn. Der Schreiner Andres war nie bei mir, was fällt dir denn ein?«
»Er war sicher, sicher, ganz bestimmt hier drinnen«, beteuerte Wiseli. »Gerade, als ich hereinkam, trat er so schnell aus der Tür, daß ich fast gegen ihn rannte. Hast du denn nichts gehört?«
Die Mutter war eine Zeit lang ganz still, dann sagte sie: »Ich habe schon gehört, daß jemand leise die Küchentür aufmachte. Erst meinte ich, du seist es, und – es ist wahr, erst nachher hörte ich dich hereinrennen. Bist du sicher, Wiseli, daß es der Schreiner Andres war, der zu unserer Tür herauskam?«
Wiseli war seiner Sache sicher. Es konnte so genau der Mutter sagen, wie der Rock und die Kappe vom Schreiner Andres aussahen und wie er erschrocken war, als es so mit einemmal an ihn heranrannte, daß die Mutter auch davon überzeugt wurde. Sie sagte wie für sich: »Dann war es der Andres, er hat gewußt, was mir so gut tun könnte.«
»Jetzt fällt mir noch etwas ein, Mutter«, rief auf einmal das Wiseli ganz erregt aus. »Jetzt weiß ich gewiß, wer einmal den großen Topf Honig in die Küche gestellt hat, von dem du so gern gegessen hast, und vor ein paar Tagen die Apfelkuchen. Weißt du, Mutter, du wolltest durch die Trine danken lassen, als sie dir etwas Suppe brachte, und sie sagte, sie wisse von all dem nichts. Das hat sicher alles der Schreiner Andres heimlich in die Küche gestellt.«
»Das glaube ich auch«, sagte die Mutter und wischte sich über die Augen.
»Es ist ja nichts Trauriges«, sagte Wiseli ein wenig erschrocken, als sie die Mutter immer wieder über die Augen wischen sah.
»Du mußt ihm einmal danken, Wiseli, ich kann es nicht mehr. Sag es ihm einmal, ich lasse ihm danken für alles Gute. Er hat es so gut mit mir gemeint. Komm, setz dich ein wenig zu mir«, fuhr sie leise fort. »Gib mir auch noch einmal zu trinken, und dann komm und sag mir das Verslein, was ich dich gelehrt habe.«
Wiseli holte noch einmal Wasser und goß von dem frischen Saft hinein, und die Mutter trank noch einmal begierig davon. Dann legte sie müde ihren Kopf auf das niedere Gesims am Fenster und winkte das Wiseli zu sich. Es fand aber, da liege die Mutter zu hart, holte ein Kissen aus ihrem Bett herbei und legte es sorgfältig unter den Kopf. Dann setzte es sich dicht neben sie auf den Schemel und hielt ihre Hand fest in den seinigen. Und wie sie gewünscht hatte, sagte es nun andächtig sein Verslein auf.
»Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.«
Als Wiseli zu Ende war, sah es, daß die Mutter am Einschlafen war. Sie sagte nur noch leise: »Denk daran, Wiseli! Und wenn du einmal keinen Weg mehr vor dir siehst und es dir ganz schwer wird, dann denk in deinem Herzen:
›Er wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.‹«
Nun legte die Mutter sich müde hin und schlief ein, und Wiseli wollte sie nicht wecken. Es legte sich mäuschenstill an sie heran, und bald schlief es auch ganz fest. So brannte die kleine, matte Lampe in dem stillen Stübchen fort, immer matter, bis sie von selbst erlosch und das Häuschen dunkel dastand auf dem hellen Mondscheinplatz.
Als am folgenden Morgen die Nachbarin um das Haus herum zum Brunnen ging, schaute sie durch das niedere Fenster in das Stübchen hinein, wie sie immer im Vorbeigehen tat. Da sah sie, wie Wiselis Mutter auf dem Kissen schlief und wie das Kind daneben stand und weinte. Das kam ihr so sonderbar vor, sie mußte nachsehen, was da geschehen sei. Sie machte ein wenig die Tür auf und fragte: »Was hast du, Wiseli? Ist die Mutter kränker geworden?«
Wiseli schluchzte zum Erbarmen und stammelte: »Ich – weiß nicht, was die Mutter hat.«
Das arme Kind ahnte, was mit der Mutter war, aber es konnte ja nicht begreifen, daß es sie verloren hatte. Sie war ja noch da, aber sie war entschlafen für das ganze Erdenleben. Sie hörte nicht mehr, wie ihr Wiseli nach ihr rief. Die Nachbarin trat zu dem Kissen am Fenster und schaute die schlafende Frau an. Dann trat sie erschrocken zurück und sagte: »Geh schnell, Wiseli, lauf und hol deinen Onkel, er soll auf der Stelle herkommen. Du hast ja sonst niemanden, und es muß sich jemand um alles kümmern. Lauf, ich will warten, bis du wieder kommst.«
Das Kind lief davon, aber es konnte nicht lange so weiter laufen. Sein Herz war so schwer und alle seine Glieder zitterten so sehr, daß Wiseli sich plötzlich mitten auf dem Weg hinsetzen und laut weinen mußte. Denn jetzt wurde es ihm immer deutlicher bewußt, daß die Mutter nicht mehr erwachen werde. Es stand dann wieder auf und lief weiter, aber zu weinen konnte es nicht mehr aufhören, denn in seinem Herzen wurde der Jammer immer größer.
Am Buchenrain, eine Viertelstunde von der Kirche entfernt, stand das Haus des Onkels, wo Wiseli jetzt eben ankam und weinend unter die Tür trat. Die Tante stand in der Küche und fragte kurz: »Was ist mit dir?«
Wiseli sagte halblaut unter Schluchzen, die Nachbarin habe es geschickt, der Onkel möge schnell zur Mutter kommen.
Die Tante sah das Kind an, sie mochte denken, es sei schlimm mit der Mutter. Denn weniger mürrisch, als sie sonst redete, erklärte sie: »Ich will es ihm sagen, geh nur wieder heim, er ist jetzt nicht da.«
Da kehrte Wiseli wieder um und lief zurück. Die Nachbarin stand vor der Tür, drinnen hatte sie nicht warten wollen, es war ihr zu unheimlich. Aber das Wiseli schlich hinein und setzte sich ganz nahe zur Mutter, so wie es nachts neben ihr gesessen hatte. Da saß es ganz still und weinte, und von Zeit zu Zeit sagte es halblaut: »Mutter!«
Sie gab keine Antwort mehr. Da beugte Wiseli sich zu ihr und sagte: »Mutter, du hörst mich, wenn du jetzt schon im Himmel bist und ich dich nicht mehr hören kann.«
So saß das Wiseli noch neben seiner Mutter und hielt sie fest, als schon die Mittagszeit vorüber war. Da trat der Onkel in das Stübchen, schaute sich ein wenig darin um und rief dann die Nachbarin herein. »Sie müssen die Frau hier zurecht machen, Sie wissen schon, wie ich meine«, sagte er, »so daß alles fertig ist zum Wegholen. Dann nehmen Sie den Schlüssel an sich, daß da nichts wegkommt.« Dann wandte er sich zu Wiseli und sagte: »Wo sind deine Kleider, Kleines? Such sie zusammen und pack sie in ein Bündelchen, dann gehen wir.«
»Wohin gehen wir denn?« fragte Wiseli zaghaft.
»Heim gehen wir«, war die Antwort, »an den Buchenrain, da kannst du bei uns sein. Du hast niemanden mehr auf der Welt als deinen Onkel.«
Das Wiseli erschrak. Zum Buchenrain sollte es gehen und da daheim sein. Es hatte von jeher eine große Furcht vor der Tante gehabt und jedesmal eine Zeitlang vor der Tür gewartet, wenn es dem Onkel etwas hatte berichten müssen, aus lauter Angst, die Tante würde mit ihm schimpfen. Dann war der älteste Sohn da, der gewalttätige Chäppi, und dann kamen noch der Hans und der Rudi, die warfen allen Kindern Steine nach. Bei denen sollte es nun daheim sein.
Das Wiseli stand bleich und unbeweglich vor Schrecken da. »Du mußt dich nicht fürchten, Kleines«, sagte der Onkel freundlich. »Es sind zwar mehr Leute bei uns im Haus als hier, aber das ist um so lustiger für dich.«
Wiseli legte still seine Sachen zusammen in ein Tuch und knöpfte je zwei Zipfel davon kreuzweis ineinander. Dann band es sein Tüchlein um den Kopf und stand fertig da.
»So«, sagte der Onkel, »nun gehen wir.« Er schritt zur Tür.
Auf einmal schluchzte Wiseli laut auf. »Dann muß ja die Mutter ganz allein sein.« Es war wieder zu ihr hingelaufen und hielt sie fest.
Der Onkel stand ein wenig verblüfft da. Er wußte nicht recht, wie er dem Kinde erklären sollte, wie es mit seiner Mutter sei, wenn es das nicht von selbst begriff. Denn Erklären war nicht seine Sache, das hatte er nie probiert. Er sagte also: »Komm jetzt, komm! Ein Kleines, wie du eins bist, muß folgen. Komm und mach nur kein Geschrei, das hilft gar nichts.«
Wiseli würgte sein Schluchzen hinunter und folgte lautlos dem Onkel zur Tür. Nur einmal sah es noch zurück und sagte ganz leise: »Behüte dich Gott, Mutter!«
Dann wanderte es mit seinem Bündelchen am Arm aus dem kleinen Haus, wo es daheim gewesen war. Eben als die beiden miteinander querfeldein gingen, kam von oben herunter die Trine, einen gedeckten Korb am Arm. Noch stand die Nachbarin unter der Tür und schaute dem Onkel und dem Kind nach. Die Trine trat auf sie zu und sagte: »Heute bringe ich der kranken Frau was Gutes, aber ein wenig spät. Wir haben den Herrn Onkel zum Besuch, da wird es immer spät.«
»Und wenn Sie auch am Morgen früh gekommen wären, so wären Sie zu spät gekommen heute. Sie ist in der Nacht gestorben.«
»Ist das wirklich wahr?« rief die Trine erschrocken aus. »Ach, du mein Gott, was wird meine Frau sagen.« Damit kehrte die Trine um und lief ihren Weg zurück.
Die Nachbarin trat in das stille Stübchen und machte Wiselis Mutter so zurecht, wie sie in ihrem letzten Bett liegen mußte.