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Fünftes Kapitel.
Wolken am Himmel

Jörli merkte recht wohl, daß der Müller von Tag zu Tag freundlicher zu ihm wurde und ihm immer mehr Arbeit anvertraute. Schon mehrmals, wenn etwas aus der Ordnung gekommen war, das einer der viel ältern Burschen unter seiner Aufsicht hatte, war Jörli von dem Müller herbeigerufen und gefragt worden, was seine Meinung sei, wie da am besten zu helfen wäre. Dieses Zutrauen und die Freundlichkeit des Meisters freuten den Jörli so sehr, gaben ihm solchen Mut zur Arbeit und waren ihm ein solcher Sporn, alles zu erfahren und aufs genaueste so auszuführen, wie der Müller es haben wollte, daß er in kurzer Zeit im kleinen wie im großen so gut Bescheid wußte, wie mancher der Müllerburschen in Jahren nicht. Der Meister machte auch gar kein Hehl daraus, daß er sich auf den Buben besser verlassen könne als auf die erwachsenen Burschen, die schon seit langer Zeit die Arbeit kannten oder doch darin gestanden hatten. Das verdroß diese nun aber sehr, und ein solcher Grimm erfüllte sie allesamt gegen den Jörli, daß keiner mehr ein Wort mit ihm sprach und alle ihn wie einen Feind anblickten, sobald er in die Mühle eintrat. Das ging dem Buben sehr zu Herzen. Er zerdrückte manchmal heimlich eine Thräne, wenn er gewagt hatte, ein freundliches Wort zu einem der Burschen zu sagen und dieser ihm mit verächtlichem Blick den Rücken gekehrt oder ihm gar ein Schimpfwort zurückgegeben hatte. Am feindlichsten begegnete ihm der lange Kaspar, der noch einen besonderen Groll auf ihn hatte. Ging Jörli an ihm vorüber, so sagte er mit höhnischer Stimme: »Landstreicher, Vagabund!« Das war dem Jörli das bitterste, was er hören konnte. Er hatte ja wirklich keine Heimat, er war nur so hergelaufen und mußte vielleicht aufs neue so umherirren wie die Heimatlosen, wenn er aus der Mühle fort mußte. War er aber darum ein Landstreicher und Vagabund? Das tönte ihm so schrecklich in die Ohren, wie etwas Schandbares und gab ihm jedesmal einen Stich ins Herz. Nun fing auch das junge Mädchen in der Küche gerade so zu reden an, wie der lange Kaspar; jedesmal wenn sie ihm nahe kam, sagte sie voller Hohn: »Landstreicher, Vagabund!« Denn die Mägde hielten es mit den Müllerburschen, und die junge hatte gerade so wie der Kaspar noch einen besonderen Zorn auf ihn. Sie hatte nicht vergessen, was ihr die Meisterin um seinetwillen vorgeworfen hatte. Die alte Magd sagte nie etwas, aber sie warf ihm böse Blicke zu, sobald er sich sehen ließ. Auch sie konnte es nicht ertragen, daß ein hergelaufener Bube zu solchem Recht bei den Meistersleuten kommen sollte. Eben hatte sie die Küchenthür hinter ihm zugeschlagen. Er hatte fröhlich ein Körbchen voll schöner, frischer Eier aus seinem Hof hereingebracht; die Meisterin war aber nicht da, wie er gehofft hatte. Nun hatte niemand seine Freude an den schönen Eiern mit ihm geteilt, und die Magd ihm ihren Widerwillen mehr als je gezeigt. Er ging langsam den Gang hinaus. Vielleicht kam die Müllerin doch noch herbei und er konnte ihr die schönen Eier noch zeigen. Da kam die junge Magd hereingelaufen, rannte gegen ihn an und sagte scharf: »So mach' doch Platz, du Landstreicher!«

Jörli ging hinaus, der Mühle zu. Der lange Kaspar kam eben heraus. Er schob den Buben auf die Seite.

»Geh, zeig dem Meister wieder, daß nur einer etwas kann, nur der Landstreicher, der Vagabund!« Kaspar hatte die Worte leise gesagt, denn der Meister stand drinnen, aber der Hohn tönte dem Jörli laut genug in die Ohren. Er lief weg, er rannte über den Hof bis zu hinterst, wo der Ententeich und seine Hühner waren. Hier setzte er sich auf den Stein am Teich und ließ seinen Thränen freien Lauf. Schon oft hatte er zur Meisterin gehen und sie alle bei ihr verklagen wollen, sie würde ihn wohl beschützt haben. Aber dann würden sie alle noch feindlicher sich gegen ihn stellen, und das konnte er nicht ertragen. Er hatte immer gehofft, wenn er nichts sage und ganz freundlich bleibe, würden die andern es nach und nach auch werden; aber sie wurden nur immer höhnischer und verächtlicher. Er wußte wohl den Grund; sie hatten alle eine Familie und eine Heimat; sie wußten, wohin sie gehörten und er – ja er! – Jörli mußte wieder seine Thränen wegwischen. Sogar seine Hühner drüben hatten ihr Haus, wohin sie gehörten, nicht einmal zu denen konnte man Landstreicher und Vagabund sagen, nur zu ihm allein; nur er gehörte nirgends hin. – Jetzt fiel ihm auf einmal der Großvater ein. So lange es dem Jörli so gut gegangen, war ihm sein Großvater ein wenig aus dem Sinn gekommen. Jetzt sah er ihn auf einmal so lebendig vor sich, als wollte er zu ihm reden. »O Großvater, du weißt auch nicht wohin?« rief der Jörli plötzlich schluchzend, denn auf einmal war ihm deutlich vor Augen getreten, daß der Großvater nun vom Häuschen am Berg fort mußte und vielleicht schon umherirrte, wie er selbst an jenem Tage, da er nach Arbeit ausgezogen war. Und der alte Großvater konnte ja nicht mehr arbeiten, wo mußte er denn hin? »O Großvater, ich komme schon und will dir helfen!« rief Jörli noch voller Jammer aus. Dann sprang er auf und rannte dem Hause zu.

»Wo ist die Meisterin?« rief er der alten Magd entgegen, die heraustrat.

»Wo brennt's?« gab sie dem aufgeregten Buben trocken zurück und ging weiter.

Er lief hinein, die Stubenthür stand offen, hier saß die Müllerin vergnüglich in der sonnenbeschienenen Stube und schnitt ihre schönen roten Aepfel zu einem Kuchen zurecht. Die graue Katze zu ihren Füßen schnurrte so behaglich, als gäbe es nichts als sonnige Stuben in heimatlichen Müllerhäusern. Jörli schaute auf die Katze, als wollte er sagen: Du hast es wohl gut in deiner schönen Stube, wo du daheim bist.

»Nun, Jörli, was bringst du Gutes? Komm, nimm den Apfel,« sagte die Müllerin, ihm mit großer Freundlichkeit den schönsten der Aepfel reichend. Jörli nahm dankend den Apfel, biß aber nicht hinein.

»Ich muß gewiß zum Großvater zurück, gleich jetzt, ich komme schon noch hinauf heute, wenn ich recht laufe.«

Jörli stieß seine Worte so schnell und aufgeregt heraus, wie noch gar nie. Die Frau hatte ihr Messer weggelegt. In höchstem Erstaunen schaute sie auf den Buben.

»Jörli, was hast du, was hat's gegeben?« fragte sie endlich, »hast du etwas vom Großvater vernommen?«

»Nein, aber ich weiß, daß er jetzt fort muß, oder schon fort ist, und er weiß ja nicht, wohin. Ich muß gewiß gehen, ich muß ihm helfen!« sagte Jörli in immer ängstlicherem Ton.

»Jörli, es ist recht von dir, daß du etwas für den Großvater thun willst, aber so geht's nicht,« sagte die Müllerin bestimmt. »Bleib' du ruhig, wo du bist; ich will mich erkundigen, wo dein Großvater hingezogen ist, und dann können wir ihm von Zeit zu Zeit etwas zukommen lassen, und später kannst du ihn dann einmal besuchen, jetzt bist du ja kaum sechs Wochen fort von ihm. So schnell ändern, ist nicht gut.«

Jörli sah immer angstvoller aus. »Ich muß gehen, ich muß gewiß gehen,« wiederholte er jammernd. »Vielleicht ist der Großvater schon auf dem Weg und wird überall fortgeschickt. Er kann nicht mehr arbeiten und muß immer weiter, und die Leute schelten ihn Landstreicher und Vagabund, und er ist ja nicht schuld.«

Jetzt rannen die Thränen immer reichlicher Jörlis Wangen herunter und erstickten seine Stimme. So hatte die Müllerin den Buben noch nie gesehen. Er zitterte so, als könnte er das Warten fast nicht mehr aushalten, und doch mußte er ja gehorchen. Die Frau hatte Erbarmen mit ihm.

»Jörli, sieh, ich will thun, was ich kann, daß du morgen früh gehen kannst,« sagte sie mit großer Freundlichkeit, »aber heute geht es nicht; ich muß erst mit dem Meister reden; daß du ihm nur so daraus läufest, würde ihm gar nicht gefallen. Aber ich will für dich reden, daß du bald gehen darfst. Trockne nur deine Thränen, du sollst dem Großvater ein gutes Stück Geld bringen, so kann er eine Wohnung finden und du kommst dann wieder. Wir wollen den Großvater nicht verlassen, er hat auch für dich gesorgt und recht gut.« Jörli schwieg nun und ging.

Am Abend, als die Müllerin wieder allein bei ihrem Manne saß, teilte sie ihm Jörlis Vorhaben mit. Der Müller fuhr auf. »Was? Fängt's schon an?« schrie er die Frau an. »Hab' ich's nicht gleich gesagt? Er hat die gleiche Art wie der andere, der auch schärfer in alle Winkel sah, als ich selbst; er wird auch das Unstäte vom andern haben. Nein, nein, keine Rede, der bleibt da! Was? Du willst ihm helfen? Es hilft alles nichts, der kommt mir nicht fort! Schick' dem Alten Geld, er soll froh sein, daß der Bub hier ist und für ihn verdient; er soll etwas Rechtes haben!«

Aber die Müllerin mußte gegen den Wunsch des eigenen Herzens reden; immer wieder sah sie die flehenden Blicke vor sich, die Jörli zu ihr erhoben hatte, und fühlte seine innere Aufregung nach; sie mußte ihm helfen. Sie sagte, es sei ja doch nicht ihr eigener Bube, sie hätten nicht das Recht, ihn zurückzuhalten, wenn er den Großvater sehen wolle. Das Heimweh habe ihn überkommen, er werde ja gern wiederkommen, der Großvater werde ihn selber schicken. Man müsse ihn gehen lassen, es wäre unrecht, ihn zum Bleiben zu zwingen. So redete die Frau lange fort und wurde immer dringlicher und der Gedanke an Jörlis Vertrauen auf ihre Fürsprache machte sie immer wärmer und zwingender. Der Müller sagte kein Wort mehr, er blies nur immer dickere Wolken aus seiner Pfeife. Endlich stand er auf.

»So laß ihn gehen, wenn du's haben willst! Der kommt nicht wieder.«

Damit verließ der Müller die Stube. Die letzten Worte hatten der Frau eine schwere Erinnerung ins Herz gebracht. Schon einmal hatte ihr Mann dieselben Worte zu ihr gesprochen. Sie drückte den Kopf auf ihre Arme und weinte in bitterm Leid.

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