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14. Kapitel.

Sechs Jahre waren dahingegangen, seit Sina in die Schule eingetreten war. Sie hatte die Vorschrift der Vorsteherin strikte befolgt und war in ihren Klassen ausschließlich bei ihrer Sprachlehre geblieben, mit jeder neuen Klasse immer wieder dasselbe durchmachend, was sie eben mit der vorhergehenden durchgemacht hatte.

Der Mai war wieder gekommen und drüben am hohen Hause schien blendend die Abendsonne auf die weißen Mauern. Die letzte Unterrichtsstunde des Tages war vorüber und Sina schickte sich an, die eben vollendeten Arbeiten noch durchzugehen, bevor sie in ihre Wohnung zurückkehren würde. Sie öffnete erst ein Fenster. Die milde, sonnige Abendluft strömte ihr entgegen. Sie war so lieblich, warum zog sich ihr bei dem Hauch das Herz noch mehr zusammen? Den ganzen Tag schon war ihr das Weinen nahe gewesen, das war doch sonst ihre Art nicht. Sie hatte sich die Nacht vorher im Traum fortwährend mit der Großmutter beschäftigt. Noch im Erwachen hörte sie deutlich der Großmutter freundliche Stimme, wie sie fragte: »Weißt du noch, wie es ist: Vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein?« Da waren ihr die Thränen gekommen. Nein, sie wußte es nicht mehr. Das Fromm – und Fröhlichsein kannte sie schon lange nicht mehr. Aus weiter Ferne klang die Erinnerung daran zu ihr herüber, sowie der Großmutter Stimme. Aber Sina hatte nicht Zeit gehabt, diese Gedanken recht aufkommen zu lassen, es galt, an die tägliche Arbeit zu gehen. Nun war diese vorüber. Drüben hatte man einen Vogelkäfig auf den Balkon hinausgestellt. Es saß eine Drossel drin, die sang ihre langgezogenen, sehnsüchtigen Töne in den Abend hinaus. So hatten die Amseln auf den Bäumen im Garten am Frühlingsabend daheim gesungen. Sina hielt ihre Hand vor die müden Augen. Ihr war, als kämen die Töne von dem hohen Apfelbaum drüben herunter, der an der Gartenecke stand. Jetzt mußte er von hellroten Blüten bedeckt sein. Sina sah sie so deutlich vor sich. Und unten lag die grüne Wiese, voll goldner Butterblumen und blauer Vergißmeinnicht. Nun hörte sie ganz deutlich die Amseln des heimatlichen Gartens jauchzen und jubilieren in den neuerwachten Frühling hinaus und zwischendurch klangen die Töne der Drossel herüber, so traurig, so krank, wie Klagetöne, daß sie keinen Anteil hatte an dem neuen Frühlingsleben.

Sina sprang auf. Sie packte die Reihen der Hefte zusammen, schichtete sie alle auf ihren Arm und lief zu Fräulein Halm hinüber.

»Ich kann nicht mehr,« sagte sie, ihre Last auf den Tisch legend, »ich kann unmöglich mehr. Ich habe fortgemacht, bis mir die Seele völlig ausgetrocknet ist. Ich habe drüben eine Drossel schlagen hören und die Töne haben alle jene Tage in mir aufgeweckt, da ich aus allen Lebensquellen trank, da das Herz in mir lebte und von Liebe und Teilnahme für alle erfüllt war, die um mich waren und ihr Leben zu seinem Leben machte. Was habe ich nun seit Jahren gethan? Konjugieren, Deklinieren, Korrigieren fort und fort und immer wieder von vorn, und die Kinder mit den lebendigen Menschenseelen vor mir konnte und durfte ich nicht anders berühren als durch Regeln und Übungen, und bei dem seelenlosen Exerzieren bin ich völlig vertrocknet, wie verdorrt und um alles Leben in meinem Innern gekommen, so daß ich kaum weiß, wie mir ein solches wieder aufgehen könnte, auch wenn ich an die Quellen zurückkäme, aus denen es mir einmal so reich zufloß. Ich habe einen Entschluß gefaßt, Fräulein Halm, für Sie und für mich, denn es kann Ihnen hier nicht viel besser ergangen sein als mir. Wollen Sie meinen Plan hören?«

»Es ist seltsam, wie die Dinge zusammentreffen,« sagte Fräulein Halm, die mit Spannung Sinas Worten gefolgt war; »eben las ich in einem Brief, der dieselben Gedanken in mir wachrief, die Sie soeben ausgesprochen haben, und ganz bestimmt sagte ich in meinem Herzen: »Nun ist's genug! Ich will fort, ich will einmal für jemand leben, für den ich wirklich etwas thun und sein kann. Ich will einmal das Gefühl im Leben haben, daß ich irgendwo nötig bin, daß ich in eine Lücke treten kann. Hier kann ich heute noch ersetzt werden und so, daß die Mädchen nur gewinnen dadurch. Sie werden eine Lücke machen hier, die kaum ausgefüllt werden kann, das wird Ihnen unsere Vorsteherin schon noch begreiflich machen, Fräulein Normann, so leicht kommen Sie nicht fort.«

»Fort muß ich, das steht fest,« sagte Sina bestimmt. »Mein Plan, den ich rasch, aber unumstößlich gefaßt habe, ist der: Gleich morgen erkläre ich der Vorsteherin, daß ich noch bis zum Schluß des halben Jahres, also bis zu den großen Ferien hier an meiner Stelle bleiben werde, dann verlasse ich sie. Arbeiten will ich zwar weiter, denn unsere Arbeit könnte ganz erfreulich sein, wäre sie nicht ein lebloses Gerippe, so wie wir sie jetzt treiben müssen. Aber ich gedenke Seele und Leben in das Gerippe zu bringen durch ein volles Zusammenleben mit den Kindern. Wir müßten alles mit ihnen teilen, was sie bewegt und erfüllt, und in ihnen alles Schöne und Gute zu entfalten suchen, das ja in jedem Menschenherzen liegt und so oft zerdrückt wird oder nie zur Entfaltung kommt. Darauf freue ich mich und ich dachte, Sie sollten mir helfen. Wir würden Mädchen zur Erziehung ins Haus nehmen, ich will vielmehr mit ihrem Wesen und ihrer ganzen geistigen Entwicklung, als mit dem Unterricht mich abgeben. Vor allem aber will ich meine Heimat einmal wiedersehen, mich zieht ein unnennbares Verlangen heim, wie noch nie. Die großen Ferien werde ich daheim zubringen und dann wiederkehren. Nun dachte ich, Sie würden mit aller Freude in meinen Plan eingehen, haben Sie aber einen andern, so lassen Sie sich nicht abhalten, ich werde den meinen jedenfalls ausführen.«

»Mein Plan steht lange nicht so fest wie der Ihrige, es liegt auch gar nicht nur an meinem Wollen, ihn auszuführen,« entgegnete Fräulein Halm. »Ich muß auf die Zeit zurückgreifen, da wir zusammen die Universität besuchten, um Ihnen den rechten Zusammenhang der Dinge zu geben. Wenn es Sie nicht langweilt, erzähle ich Ihnen alles.«

Sina wollte gern alles hören und Fräulein Halm fuhr fort: »Sie erinnern sich, daß ich damals ein Dachzimmerchen bei einer Wittwe bewohnte, die in sehr beschränkten Verhältnissen lebte, aber eine so brave, fromme Frau ist, daß ich lieber bei ihr war, als wenn ich anderswo ein viel bequemeres Zimmer unter denselben Bedingungen hätte haben können. In meiner langen Krankheit hat sie mich mit einer Aufopferung gepflegt, die ich ihr in meinem Leben nicht vergessen will. Und doch hatte sie neben mir noch eine Kranke. Ihr damals achtzehnjähriges, einziges Kind, ein Mädchen, lag schon seit Jahren an einem Hüftleiden darnieder und mußte von Zeit zu Zeit schmerzhafte Operationen bestehen. Ihr Arzt war Professor Clementi. Sie erinnern sich wohl des Namens des Professors an unserer chirurgischen Klinik, vielleicht kannten Sie ihn auch?«

Fräulein Halm hielt einen Augenblick inne.

»Nein – ja doch, – so was man kennen nennt,« Sina warf die Worte hin, als wüßte sie selbst nicht, was sie sagte.

Sie hatte sich abgewandt, sie meinte, Martha Halm müßte ihr durch die Augen tief ins Herz sehen und entdecken können, was sie sich selbst mit solcher Mühe seit so langer Zeit zu verbergen und zu verleugnen suchte.

»Ich sehe wohl, daß Sie ihn nicht kennen, sonst würden Sie sich nicht so gleichgültig abwenden bei dem Namen,« bemerkte Fräulein Halm. »Kein Mensch, der diesen Mann kennen gelernt hat, könnte das thun. Was er für das arme Mädchen, die kranke Lena that, müßte ihm das Herz jedes Menschen gewinnen, der das mit angesehen hätte. Ich habe es täglich sehen können. Keine Zeit war ihm zu spät, noch in die Dachwohnung hinauf zu klettern. Oft erzählte die gerührte Mutter mir mit Thränen, wie sie nach einer der schweren Operationen versuchen wollte, endlich dem Manne, der so für sie arbeitete, eine Erkenntlichkeit bieten zu dürfen. Ganz leise, aber bestimmt wies er alles zurück, nur eine ungeheure Freude bezeugte er über ein paar Strümpfe, welche die Kranke für ihn in ihrem Bette gestrickt hatte. Lena selbst konnte mir Stunden lang erzählen, wie sie es immer neu erfahre, was für eine Güte der liebe Gott ihr erzeige, daß er ihr diesen Arzt gegeben, der ihr schon die Schmerzen erleichtere, wenn er nur erscheine und der mit seinen guten Worten dem Messer, das er mitbringe, den Schrecken wegnehmen könne.

Er war auch von einer Sorgfalt und zarten Aufmerksamkeit für das arme Mädchen, als hätte er es mit einer Fürstin zu thun. Ich war mehrmals dabei, wenn er nach den Operationen wieder zum Verbinden kam. Ich werde wohl zu weitläufig, Fräulein Normann, ich glaube, Ihre Aufmerksamkeit ist drauf gerichtet, was draußen vorgeht, nicht auf meine Worte. Ich kann nicht anders, es geht so, wenn ich auf den Mann zu sprechen komme. Ich habe noch nicht den hundertsten Teil von all dem Guten gesagt, das ich von ihm weiß.«

»Fahren Sie doch nur fort, ich höre wirklich zu,« sagte Sina, ohne sich umzuwenden.

»Ich weiß wohl,« fuhr Fräulein Halm fort, »viele Leute hielten ihn für kurzangebunden, für wenig freundlich, viele hatten, glaube ich, Furcht vor ihm, aber gewiß, wo es wirkliche Leiden galt, da war er nie zu kurz und nie zu fürchten. Wie freundlich und voll warmer Teilnahme habe ich ihn gesehen! Einmal nun, als er die kranke Lena besuchte, sagte er halb scherzend, wenn er doch in seiner Kunst etwas tüchtiger wäre und seine Patientin endlich auf die Füße brächte. Er wünsche es aus Egoismus, denn er hätte sie gern in seinem Hause, wo es ganz unwohnlich aussehe, seit seine Mutter ihn verlassen habe. Eine alte Frau, die er, wie wir merkten, um ihrer langjährigen Zugehörigkeit zur Familie willen bei sich behielt, führte die Wirtschaft, konnte aber nicht mehr damit fertig werden und nun wollte er ihr gern eine junge Kraft an die Seite geben. Darum möchte er so gern Lena gesund machen, damit sie komme und ihm sein Haus wohnlich mache. Lena wußte sehr wohl, daß ihr Professor nicht nur darum sie gern gesund gemacht hätte, aber daß er sie in feinem Hause haben wollte, wenn es sein könnte und daß er ihr zutraute, sie würde ihm dieses wohnlich machen, das machte die arme Lena so glücklich, daß sie völlig strahlte vor Freude, als sie es mir erzählte. Wie ich nun sagte, es müßte aber auch eine Freude sein, einem solchen Mann eine Heimat zu bereiten, wo er sich wohl fühlte nach seinem schweren Tagewerk, da kommt ihr plötzlich der Gedanke, die Stelle sollte ich annehmen, sofort wollte sie ihrem Professor von mir sprechen. Sie meinte, ich wäre die rechte Persönlichkeit dazu und mir müßte diese Thätigkeit doch eine ganz andere Befriedigung gewähren, als ich bei meinem erzwungenen studieren finden könne.«

»Warum sind Sie denn nicht hingegangen?« rief Sina in so leidenschaftlicher Erregtheit von ihrem Fenster herüber, daß Fräulein Halm erstaunt nach ihr blickte; sie hatte sich schon wieder abgewandt.

»Mich freut es recht, daß Sie solchen Anteil an der Sache nehmen,« fuhr Martha Halm wieder fort, »ich wußte wohl, daß Ihr Interesse für diesen Mann erwachen mußte, sobald Sie nur ein wenig wüßten, wer er ist. Ich hatte damals auch einen rechten Kampf zu bestehen. Der Vorschlag war mir so lockend, daß ich sofort an meine Tante schrieb und ihr meinen Wunsch vorlegte. Ihre Antwort war so, daß ich nicht zweifeln konnte, was ich zu thun hatte. Sie schrieb mir, meine ordinäre Natur, die kein höheres Streben kenne, lasse einmal wieder einen Wunsch in mir aufkommen, der bei keinem andern Glied ihrer Familie je möglich gewesen wäre. Nach der Stelle einer Unterhaushälterin zu streben, sei nur mir möglich. Dazu habe sie mich aber nicht zwei Jahre lang in einer höhern Lehranstalt unterrichten lassen und die großen Ausgaben nicht gescheut. Wenn ich noch das leiseste Gefühl davon habe, daß ich ihr einige Rücksicht schuldig sei, so stehe ich sofort von meinem Gedanken ab.«

»Das hätten Sie nie thun sollen. Sie konnten etwas Gutes thun und an der Tante hätten Sie kein Unrecht gethan, Sie hätten ja nur ein wenig ihren Hochmut verletzt,« warf Sina ein.

»Ich bin ganz froh, daß Sie so denken,« gab Fräulein Halm zurück. »Damals war ich aber noch jung, es sind ja mehr als sechs Jahre seither. Ich empfing ja auch noch jeden Tag die Wohlthaten der Tante, sie bezahlte alles für mich, ich konnte nicht anders thun als gleich nachgeben und alles fallen lassen. Aber heute steht es anders. In den sechs Jahren habe ich nie mehr die Tante in Anspruch nehmen müssen und gedenke auch, es nie mehr zu thun. So meine ich, dürfte ich endlich eine Thätigkeit, die nach meinem Herzen wäre, wählen, wenn sie mir noch einmal angeboten wird.«

»Wovon sprechen Sie jetzt?« fragte Sina rasch.

»Nun erst kommt die Hauptsache, das andere war alles nur die Einleitung,« entgegnete lächelnd Fräulein Halm. »Eben als Sie eintraten, las ich zum zweitenmale einen Brief durch, den die kranke Lena nach langer Pause an mich geschrieben hat. Elend ist sie noch immer und wird es bleiben, aber ihre Worte sind von einer Freude und Dankbarkeit erfüllt, als wäre sie eines der bevorzugten Geschöpfe dieser Erde. Natürlich kommt alles Beglückende durch ihren Professor. Nicht nur widmet er ihr von Jahr zu Jahr dieselbe sorgfältige Pflege ohne Ermüden, nun hat er auch einen Weg gefunden, ihre äußere Lage so zu heben, daß der guten Mutter alle bittern Sorgen abgenommen sind, die sie so oft quälten. Und das thut er noch in einer Weise, als wäre er derjenige, der zu Dank verpflichtet ist. Da hat er vor einigen Jahren einen kleinen, verkrüppelten Jungen in das Haus gebracht und Lena mitgeteilt, er bringe das Kind in ihre Pflege, weil er wünsche, daß es nach innen und nach außen gut besorgt werde. Er wolle seine Kunst an ihm versuchen, was da noch gut gemacht werden könne. Von dem Tag an bezahlte der Professor der Wittwe ein so großes Tischgeld für seinen Schützling, daß sie ihren ganzen Haushalt reichlich damit bestreiten konnte, und wollte sie sich einmal dagegen wehren, soll ihr der Professor immer ganz kurz gesagt haben, das wisse er besser, ein elendes Kind bedürfe guter Pflege und dabei blieb er. Der kleine Junge nun ist Lenas ganze Freude, ein völliges Glück für sie geworden. Verwachsen werde er bleiben, aber nun soll er so gesund und kräftig sein, daß selbst der Professor sich darüber wundere und alles auf die gute Pflege der Mutter und der sorgsamen Lena schiebt. Diese ist so beglückt und erfüllt von dem verständigen Wesen ihres Pflegekindes, seiner Dankbarkeit, seiner sorglichen Liebe und Anhänglichkeit für sie, daß der große Verlust, der ihr bevorsteht, sie lange nicht so angreift, wie das vorher gewesen wäre, das fühle ich ihr wohl ab. Professor Clementi hat einen sehr ehrenvollen Ruf hieher erhalten und so viel als angenommen; er wird zum Winter die Universität –r– verlassen. Zum Schluß kommt für mich die Hauptsache: Professor Clementi soll sich bis jetzt mit seiner alten Dame gelitten haben, nun aber sei er entschlossen, für den neuen Haushalt eine jüngere Kraft zu suchen. Lena hat von sich aus meinen Namen genannt und mich gewiß viel zu sehr empfohlen, sie meint, ich hätte nur ja zu sagen, sobald der Zeitpunkt komme. Ich denke zwar, Professor Clementi wird sich wohl noch umsehen und nicht gleich die Erste nehmen, die man ihm vorschlägt. Hat er aber Vertrauen zu mir, ja, Fräulein Normann, dann gehe ich. An meiner Hilfe verlieren Sie nichts, Sie haben mich durchaus nicht nötig. Zum Unterrichten fehlt mir auch alles, Lust und Mut und Geschick. Im Hause Clementi aber hoffe ich einmal jemand nötig zu sein und wäre es nur der alten Dame als gute Stütze und Nachhilfe.«

»Sie haben ganz recht, nehmen Sie die Stelle an, bereiten sie diesem Manne eine wohnliche Stätte, wo er gerne weilt und ausruht nach der Arbeit des Tages.«

Sinas Stimme hatte einen weichen Klang bekommen, den Martha Halm während all der Jahre, die sie mit der Gefährtin verlebt, nie gehört hatte. Es freute sie, daß Sina den warmen Anteil zeigte und so gut begriffen hatte, um welchen Menschen es sich handle.

Sina entfernte sich jetzt, ihren Berg von Heften forttragend. Nun saß sie in ihrem Zimmer in ihrer Sofaecke und starrte vor sich hin. Plötzlich waren alle die alten Gedanken mit der alten Macht wieder aufgestiegen und wogten wie Freude und Leid zugleich in ihr auf und nieder, ganz so wie vor Jahren. Rastlos, fieberhaft hatte sie alle die Jahre hindurch gearbeitet, um sich selbst zu entfliehen, um zu vergessen, um endlich zu genesen von dem krankenden Zuge, immer denselben Gedanken nachzuhängen, um endlich wieder froh und frei zu werden wie vor Alters. Und nun, da sie gemeint, sie müßte endlich so weit gekommen sein, nun Sina das eine Wort vernommen, daß Professor Clementi wieder in ihre Nähe kommen werde, war ihr ganzes Wesen erzittert, ob in Schrecken oder in Freude wußte sie selbst nicht, aber das wußte sie, in diesem Augenblick war sie völlig auf demselben Punkte, wo sie vor sechs Jahren war, machtlos den Gedanken hingegeben, die unaufhaltsam durch ihr Herz zogen. »Heim jetzt! Nur heim!« seufzte sie einmal ums andere in tiefstem Verlangen nach der Befreiung. »Da kann ich allein noch gesund werden!« Sie sah ihre Bäume vor sich, ihre alten Eschen über der kleinen Bank, die rauschenden Buchen am Waldsaum. Wie war sie dort so gesund gewesen. Wie war doch dort und wie mußte dort noch heute alles Leben um sie herum so erfrischend und wohlthuend sein. Dort mußte sie genesen. »Nur heim, nur heim!« widerholte sie verlangend, »aber noch sieben Wochen, sieben lange Wochen bis dahin!«


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