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Wilhelm war angekommen. Er war ein sanfter, schmächtiger, sehr wohlerzogener Junge. Gleich den ersten Tag schloß er Freundschaft mit Marie. Die beiden hatten in ihrem Wesen so viel Ähnliches, daß sie sich gleich verwandt fühlen und ohne langes Zusammensein nahe bekannt werden mußten. Sie liebten dieselben Spiele, dieselben Bücher gefielen ihnen, sie fanden Gefallen an der gleichen stillen Art sich zu vergnügen. So als am zweiten Tag Sina zur Unterrichtsstunde erschien, kam ihr Marie in ungewöhnlich erregter Weise entgegengelaufen, denn sie hatte der Freundin die wichtige Anzeige zu machen, daß der neue Hausbewohner viel netter ausgefallen sei, als man nur hätte denken können. Das war auch für Sina erfreulich, aber sie wollte doch selbst urteilen, wie sich die Sache verhalte und eiligen Schrittes lenkte sie in den Pfarrhof ein, wo der Besprochene langsam hin und her wanderte. Der ehrliche Ausdruck der offenen, freundlichen Augen, die ihr jetzt entgegenblickten, mußte Sina gleich gewonnen haben. Sofort streckte sie dem Jungen ihre Hand entgegen, der sie sehr bereitwillig ergriff und schüttelte. Er war sichtlich erfreut über die mühelose Weise, mit welcher er über den Eingang der Bekanntschaft hinweggekommen war. Wilhelm hatte ein schüchternes Wesen, eine neue Bekanntschaft zu machen hatte immer etwas Peinliches für ihn, diejenige mit Sina gerade in einem besonders hohen Grade, wie er sich vorher vorgestellt, denn seit seiner Ankunft hatte Marie nicht aufgehört, ihm die merkwürdigen Eigenschaften und die vielen Talente ihrer Freundin Sina zu schildern, so daß Wilhelm mit einem leisen Schrecken der ersten Begegnung entgegensah und heimlich sich vornahm, der Freundin nicht zu nahe zu kommen. Nun war alles anders gegangen, als er erwartet hatte, ohne alle Scheu und Anstrengung war er mitten in eine völlige Freundschaft hineingekommen. Diese hatte Sina in kürzester Zeit herbeigeführt. Sie war weder scheu, noch hatte sie Mühe, eine Bekanntschaft anzubahnen, wenn es ihr gefiel, so zu thun. Sie hatte sich den Wilhelm angesehen, er hatte ihr gefallen und so ging sie gleich zu ungehinderter Mitteilung und nahem Verkehr über und zog Wilhelm unvermerkt mit. So natürlich ging die Sache vor sich, daß in der ersten Stunde schon Wilhelm mit der neuen Freundin mehr gesprochen und ihr von seinen eigenen Gedanken und Erlebnissen mitgeteilt hatte, als er sonst in Wochen that. So war der Bund geschlossen und noch vor der ersten gemeinsamen Unterrichtsstunde damit besiegelt, daß ein Gang in die Erdbeeren, wo sie am schönsten waren, verabredet wurde. Marie war überglücklich, als sie sah, wie ihre bewunderte Freundin und der gute Wilhelm, den sie schon liebgewonnen hatte, sich so schnell verstanden und befreundet hatten.
Von dieser ersten Begegnung an, welcher ein genußreicher Gang in die Erdbeeren folgte, waren die Drei unzertrennliche Genossen, beim Spiel wie in den Unterrichtsstunden, sogar die Arbeiten für diese wurden meistens gemeinsam ausgeführt. Überall und bei jeder Unternehmung gab Sina den Ton an, Wilhelm stimmte sofort bei und Marie war fortwährend im Glück über das unausgesetzte Verständnis, das in dem Kreise herrschte, denn sie war immer von vorn herein mit allem einverstanden, was den beiden andern recht war. An den Vergnügungen des Sonntags nahmen meistens auch Hans und Elsi teil. Dann waren die beiden frei von der Feldarbeit, die sie neben den Schulstunden mitzumachen hatten, und der ehrliche Hans wie die immer lustige Elsi waren von den Dreien sehr gern gelitten. In ihren geselligen Bedürfnissen waren die drei Genossen nicht immer übereinstimmend. Während Wilhelm und Marie nichts schöneres kannten, als mit Sina zusammen zu sein und unter ihrer Anleitung alles auszuführen, was sie für gut fand, konnte diese oftmals plötzlich völlig verschwinden, und wie die beiden sich auch Mühe gaben, ihr Suchen und ihre Rufe nach der Verlorenen blieben fruchtlos. Das waren die Stunden, da Sina mit einemmal das Verlangen erfaßte, die alte Freundin Elsi aufzusuchen, wo sie auch sein mochte; nach dem entlegensten Grasplatz zu rennen war für Sina nicht zu viel. Gewöhnlich war dann die Zeit des Feierabends für Elsi nicht fern, und Hand in Hand rannten alsdann die beiden nach ihren Lieblingsstellen unter den großen Apfelbaum oder zum Bach hinunter, wo die dichten Büsche der blauen Vergißmeinnicht standen. Sina kam von ihren Streifzügen gewöhnlich nicht wieder, bis die Sterne am Himmel standen und die beiden Gespielen längst ihr Suchen aufgegeben und daheim sich zu einer stillen Unterhaltung niedergelassen hatten. Dann sagte Marie meistens in ihrer demütigen Weise: »Es ist dir gewiß langweilig so mit mir allein, Wilhelm.« Und er antwortete immer wieder: »Nein, nein, gewiß nicht, aber es ist noch netter, wenn die Sina auch dabei ist.« Darin waren sie dann beide ganz einverstanden und in der Anerkennung und Bewunderung der gemeinsamen Freundin wurde das eigene Freundschaftsband immer fester geknüpft. Das Liebste war aber beiden, wenn am Sonntag nachmittag der Auszug nach einer der nahen Höhen oder nach dem grünen Teich im großen, alten Tannenwald angetreten wurde. Dann durften auch Hans und Elsi mit, wenn es nicht gerade in die Zeit des großen Heuet oder der Kornernte fiel. Auf diesen Gängen war Sina übersprudelnd von lustigen Einfällen und völlig unerschöpflich im Erfinden neuer, lockender Unternehmungen. Reiche Eroberungen von duftenden Steinnelken, wilden Waldkirschen und langen Gewinden von blätterdichtem Epheu wurden da gemacht. Nachher ließ man sich im Schatten der Tannen nieder, schlang die Epheuzweige um die Hüte mit den Nelken dazwischen, während man sich mit den süßen Waldkirschen die Kehlen erfrischte. Dann wurde ein Gesang angestimmt und zuletzt mußte Sina immer noch Geschichten erzählen und dabei kamen die Zuhörer samt der Erzählerin oft in eine solche Begeisterung hinein, daß sie alles um sich her vergaßen und erst zum Bewußtsein der vorgerückten Zeit kamen, wenn es längst dunkel geworden war und die blinkenden Sterne um und um am Himmel standen.
Diese Tage waren von den schönsten, die Wilhelm in der neuen Heimat zubrachte, die der mutterlose Knabe überhaupt in seinem Leben zugebracht hatte. Aber auch jeder andere Tag brachte so viel Neues und Anregendes für den Knaben, daß die Wochen ihm jetzt schneller verflogen als vorher die Tage. Schon nahte das Ende des zweiten Jahres seines Aufenthalts im Landpfarrhaus und damit ging alle Freude zu Ende, denn damit war die Zeit seiner Rückkehr nach der Stadt gekommen. Das Herannahen des Abschiedstages hatte für die Kinder alle eine sehr niederschlagende Wirkung, kaum konnte man noch mit der gewohnten Festfreude die letzten Tage begehen, welche sämtlich noch zu Festtagen umgewandelt wurden, um Wilhelms Abschied gehörig zu feiern. Nur die Aussicht auf ein öfteres Wiederkehren, um das die freundlichen Pfarrersleute den Vater längst gebeten hatten, war für Wilhelm ein Trost, der ihn am Tag seiner Abreise seine immer wieder aufsteigenden Thränen trocknen ließ. Es war für den mutterlosen Knaben das schwerste, was er noch erlebt hatte, sich von dem Kreise der liebevollen Menschen, vor allem der neuen Mutter, die er da gefunden und der beiden Mädchen, die er wie nahe Schwestern liebte, zu trennen und in das stille, lebensarme Haus zurückzukehren. Sina, Marie, Hans und Elsi gaben Wilhelm das Geleite bis an den Saum des großen Gehölzes, von wo die Straße steil zum Thale niederstieg. Hier wurde Wilhelms Name von Sina in die Rinde der großen, alten Buche eingeschnitten und ringsherum im Kreise kamen die Namen der vier andern, um zu zeigen, so sollte Wilhelm von den vier Genossen in unwandelbarer Freundschaft umschlossen bleiben. Dann schüttelte man sich die Hände und winkte fort und fort mit den Tüchern, bis Wilhelm zum letztenmal sich umgekehrt hatte und hinter den hohen Tannen verschwand.