Johanna Spyri
Rosenresli
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Keine Sorgenmutter mehr

Der Sommer war wieder da, und in allen Gärten blühten und dufteten die Rosen. In allen Beeten standen sie in Fülle, die jungen Stengel trugen viele Blüten, und von allen Fenstern nickten sie aus den Töpfen nieder. Es war ein gutes Rosenjahr. Der Sommerabend lag glänzend über Wildbach und all den Wiesen und Wäldern.

Dietrichs Häuschen wurde von der goldenen Abendsonne beschienen und schimmerte weit ins Land hinaus. Davor aber standen zwei Männer mit nachdenklichen Gesichtern. Der eine war der Onkel Dietrich. Er wußte, daß ihm morgen Häuschen, Acker und Geiß genommen würden und daß er trotzdem seine Schulden nicht bezahlen könnte.

Er steckte beide Hände in die Taschen und sagte voller Ärger: »Ich gehe fort, ich will von allem nichts mehr wissen.«

»Du mußt nur nicht vergessen, daß man dich finden wird«, sagte der andere. »Das Kind will ich zu mir nehmen. Es kann zwar nicht arbeiten, du hast es umherlaufen lassen, aber ich will's schon lehren, mit der Hacke umzugehen. Nach der Schule sind noch viele Stunden, da soll es mir helfen.«

»Es ist noch jung«, sagte der Onkel.

»Desto gelehriger«, entgegnete der andere und ging seines Weges.

Es war der Wegknecht von Wildbach, der auf allen Wegen das Unkraut auszuhacken und wegzuschaffen hatte. Alle Kinder fürchteten ihn und liefen vor ihm davon, denn er war sehr bös und rauh und sagte niemals ein freundliches Wort.

Zu diesem Mann sollte nun morgen früh das Rosenresli kommen. Er hatte keine eigenen Kinder, und es war ihm gerade recht, ein solches Kind zu sich zu nehmen, das einige Handlangerdienste bei ihm verrichten konnte.

Das Kind selbst ahnte nichts von dem, was die beiden Männer beschlossen hatten. Jetzt wanderte es zufrieden durch die Wiesen, weit über Wildbach hinaus der Mühle zu. Dort stand der Garten voll der prächtigsten Rosen, und die Müllerin hatte dem Resli einen großen Strauß versprochen. Bald darauf sah man das Kind, mit seinen Rosen in der Hand, wieder fröhlich dieselbe Straße durch den goldenen Abendschein zurückwandern.

Es war noch nicht lange gegangen, als ein junger Mann mit schnellen Schritten hinter ihm herlief. Er hielt seinen Strohhut in der Hand und ließ die frische Abendluft kühlend um seinen Kopf wehen.

»Du hast schöne Rosen«, rief er, als er Resli eingeholt hatte. »Gibst du mir auch eine für meinen Hut?«

Resli nickte und zog eine heraus.

»Das ist brav von dir, du gibst mir die allerschönste«, sagte der Fremde, indem er sie stolz auf seinen Hut steckte. »Wie weit willst du noch?«

»Ich gehe heim nach Wildbach«, antwortete Resli.

»So dann gehen wir den gleichen Weg«, sagte der Wanderer und ging neben Resli her. »Wenn du von Wildbach bist, so kennst du wohl die Leute dort und kannst mir etwas sagen. Lebt die gute Frau Steinmann noch und ist sie gesund?«

»Die kenne ich nicht«, erklärte Resli, »niemand heißt dort so.«

»Ach Gott! Ach Gott!« seufzte der Fremde und schwieg.

Resli schaute verwundert zu ihm auf, denn von Zeit zu Zeit wischte er eine Träne fort und sah nicht mehr so fröhlich aus wie vorher.

Nachdem sie lange still nebeneinandergegangen waren, fing der Fremde wieder an.

»Weißt du den Weg zur Kreuzwegbäuerin?«

Das Resli nickte und sagte: »Alle Tage gehe ich dorthin.«

»So sag mir, wer wohnt jetzt in dem elenden, alten Häuschen dort links am Weg, wo der krumme Weidenbaum steht?«

»Dort wohnt die Sorgenmutter, die kenne ich gut.«

»Was ist denn das für ein Name? Hat sie keinen anderen?«

»Ich weiß keinen.«

»Heißt sie so, weil sie viel Sorgen hat? Weißt du's?«

»Ja, sie hat Sorgen, weil sie nicht weiß, ob der Joseph noch lebt.«

»Ach Gott! Ach Gott!« rief der Fremde wieder und ging plötzlich schneller, so daß er dem Resli weit vorauseilte. Aber er kehrte wieder um, nahm das Kind bei der Hand und sagte sehr freundlich: »Komm, wir wollen miteinander gehen und noch ein wenig reden.« Und er sah so gutmütig dabei aus, daß Resli ihm vertraute.

»Sag mir«, fing er wieder an, »ist die Sorgenmutter bös über den Joseph?«

»O nein! Jede Nacht betet sie für ihn, sonst könnte sie gar nicht einschlafen, und ich helfe ihr auch.«

»So, und was betest du denn für ihn?«

»Ich bete: Lieber Gott, hilf auch dem Joseph.«

»Vielleicht hat dich der liebe Gott jetzt erhört und hat ihm geholfen.«

»Glauben Sie?« fragte Resli und schaute in größter Spannung zu dem Fremden auf, dem es wie ein Freudenblitz über das Gesicht fuhr. Er sagte nichts mehr.

Jetzt waren sie bei dem krummen Weidenbaum angelangt, wenige Schritte von dem alten Häuschen entfernt.

»So leben Sie wohl«, sagte Resli, indem es dem Fremden die Hand hinhielt. Sie war sichtlich ein wenig enttäuscht über sein Schweigen. »Ich gehe zur Sorgenmutter hinein.«

»Ich gehe mit«, sagte er schnell. Aber bevor sie die Tür aufmachten, wurde sie von innen aufgerissen, und heraus stürzte die Sorgenmutter, umfaßt den Fremden und rief immer wieder: »O Joseph! Joseph! Bist du's denn wirklich?«

Und vor Freude mußte sie laut weinen, und der Joseph weinte mit ihr. Und das Resli begriff nun, daß der Fremde der Joseph war, der nun zu der Sorgenmutter zurückkehrte. Da er gar nicht so zerfetzt aussah, wie es sich den Joseph vorgestellt hatte, wußte es sich vor Freude gar nicht zu fassen. Sie umklammerte die weinende Mutter und rief: »Der liebe Gott hat ihm geholfen, der liebe Gott hat ihm geholfen.«

Jetzt gingen alle drei in das Häuschen, und nun erst sah die Sorgenmutter ihren Sohn von oben bis unten an, und ihr Herz floß über von Dank und Freude. Denn er sah nicht aus wie einer, der tief gesunken und im Elend verkommen ist und wie sie ihn in ihren Kummernächten so oft vor sich gesehen hatte. Sie konnte ihn nicht genug ansehen, so gut sah er aus.

»Komm, Mutter, komm«, rief jetzt der Bursche mit fröhlichem Gesicht, »nun wollen wir uns zusammensetzen und etwas essen und fröhlich sein. Kann uns das Kind etwas bringen?«

»Ach ja, das tut es schon«, sagte die Mutter. »Wie viel Gutes hat es mir doch schon gebracht und jetzt noch den Sohn. Wo hast du ihn nur hergeholt, Resli?«

»Das will ich schon erzählen, Mutter, laß das Kind nur gehen und Wurst und eine Flasche Wein und ein großes Brot holen«, bat Joseph und legte ein großes Geldstück auf den Tisch.

»Ein ganzes Brot?« fragte Resli mit dem größten Erstaunen. Denn daß die Sorgenmutter auf einmal ein ganzes Brot haben sollte, konnte es fast nicht glauben. Dann lief es in solcher Freude davon, daß es bald wieder mit allem Gewünschten zurückgekehrt war. Nun setzten sich alle drei an den Tisch und hielten ein Festmahl, wie noch keines in dem Stübchen gehalten worden war.

Nur die Mutter konnte vor Freude fast nicht essen, und immer wieder fragte sie voller Staunen: »Ist's auch wirklich wahr, Joseph?« Und er bejahte es jedesmal ganz fröhlich und schob dem Resli ein Stück Brot mit Wurst nach dem anderen zu. Und wenn es sagte: »Nein, nein, jetzt esse ich gewiß nicht mehr, es ist ja für die Sorgenmutter«, dann erwiderte er: »Iß nur und habe keine Sorge, die Mutter soll nun keinen Mangel mehr leiden, sie soll alle Tage genug Brot haben.«

»Und jetzt«, sagte Joseph, als er sich nach seiner langen Wanderung gestärkt hatte, »jetzt will ich dir erzählen, Mutter, wie es mir ergangen ist. Du weißt, ich sollte nach Australien geschickt werden. Aber die Schande, dorthin geschickt zu werden, wollte ich nicht ertragen und darum lief ich fort. Ich kam nach England und dort blieb ich, da ich kein Geld mehr hatte. Dort verlebte ich harte Tage, mußte schwer arbeiten, um mein Leben zu fristen und glaubte, ich müßte zugrunde gehen.

Aber jedesmal, wenn es am äußersten mit mir war und ich Schlechtes im Sinne hatte, habe ich dich plötzlich gehört, wie du laut in deiner Kammer neben mir gebetet hast: Der liebe Gott möge alles Elend über dich bringen, wenn er mich nur noch auf den rechten Weg bringen wolle. Dann sah ich dich vor mir und konnte das Schlechte nicht tun, das dich ins Grab gebracht hätte, und ich fing wieder an zu arbeiten. Ich arbeitete in Maschinenwerkstätten und nach und nach kam ich weiter.

In neun Jahren kann man etwas lernen, Mutter, wenn man will. Und ich wollte, und nun bin ich ein tüchtiger Mechaniker und Arbeit werde ich schon finden. Nun, Mutter, sollst du's auch anders haben. ›Sorgenmutter‹ darf dich kein Mensch mehr nennen. Sieh, Erspartes bringe ich dir auch mit. Nun erzähl mir, wie es dir ergangen ist.« Damit legte Joseph seine schönen Taler vor die Mutter auf den Tisch, und die Freude seines Herzens leuchteten ihm aus den Augen, als er das wachsende Erstaunen seiner Mutter sah,

»Ach, daß du das alles ehrlich durch Arbeit verdient hast, Joseph! Ich weiß nicht, wie ich dem lieben Gott danken soll. Es ist fast zu viel.« Und die gute Mutter mußte immer wieder ihre Hände falten und loben und danken. Aber der Sohn bat: »Sag mir nun auch, wie es dir ergangen ist, Mutter?«

»Da ist nicht viel zu erzählen, Joseph«, sagte sie. »Ich habe schwere Tage und viel Kummer gehabt, und umsonst haben sie mich nicht die Sorgenmutter genannt. Der liebe Gott hat mir aber immer wieder geholfen. Aber im letzten Jahr war ich recht elend und so kraftlos, daß ich meinte, ich komme nicht mehr durch den Winter. Da kam wie ein Engel vom Himmel das Kind, das Rosenresli, und hat mich wieder gestärkt. Den ganzen Winter durch und bis jetzt hat es mich erhalten, und ich weiß, es hat mir oft sein Brot gebracht und selbst gehungert. Und jetzt habe ich nur noch einen Kummer, Joseph. Resli lebt bei seinem Onkel, dem Dietrich. Der muß morgen sein Haus und seinen Hof verlassen. Das Kind soll zu fremden Leuten, und wer weiß, wie es ihm dort geht.«

»Was? Das Kind, das dich erhalten hat, Mutter?« unterbrach sie der Joseph erregt. »Wir haben auch noch für das Kind genug, man braucht uns dafür nichts zu geben. Ich gehe zum Dietrich, das Rosenresli geben wir nicht mehr her.« Und Joseph ging eilig zur Tür hinaus.

Jetzt sprang das Resli von seinem Sessel, fiel der Alten um den Hals und rief in seiner Freude: »Sorgenmutter! Sorgenmutter! Jetzt kann ich bei Ihnen bleiben! Jetzt muß ich nicht mehr fort!« Und die Mutter hielt das Kind fest und sagte: »Resli, wie dankbar müssen wir sein. Wenn wir dem lieben Gott unser ganzes Leben lang dankten, so wäre es nicht genug. Vergiß das nie in deinem Leben! Nun ist mir auch der letzte Kummer vom Herzen genommen, und du mußt mich nicht mehr Sorgenmutter nennen, ich bin ja keine mehr, aber eine Mutter will ich dir sein.«

Als der Onkel Dietrich von Joseph gehört hatte, was er wollte, war er froh, denn im stillen hatte er Erbarmen mit dem Resli gehabt. Er wollte es ungern dem bösen Wegknecht geben, aber er wußte so schnell keinen anderen Ausweg, denn am nächsten Morgen wollte er fort. So sagte er zu Joseph: »Behalt das Kind nur. Schick es nicht mehr zum Schlafen hierher, sondern nimm gleich sein Bettlein mit.« Er dachte, so sei die Sache sicher. Und wenn der Wegknecht noch so früh kommt, so könnte er das Resli doch nicht mitnehmen. Joseph war sehr zufrieden und drückte dem Dietrich noch ein Geldstück in die Hand, da er gehört hatte, daß der Onkel nie böse mit dem Resli gewesen war.

Dann nahm er das Bettlein mit dem spärlichen Inhalt auf die Schulter und kam fröhlich damit angezogen. Es wurde ins Kämmerlein neben das Bett der Mutter gestellt, und Resli hatte eine große Freude, daß es nun Tag und Nacht bei der Mutter bleiben konnte.

Joseph fand seine Schlafstätte, wie er sie vor neun Jahren verlassen hatte. Die Mutter hatte während dieser Zeit jeden Tag gedacht: Vielleicht kommt er wieder, und dann muß er doch eine Heimat finden. Und Joseph war so glücklich, seine Heimat wiedergefunden zu haben, daß er sie um keinen Preis mehr verlassen wollte. Er fand auch Arbeit, wie er sie wünschte, denn er war ein geschickter, erfahrener Handwerker.

Jeden Morgen aber, wenn er zur Arbeit ging, steckte Resli ihm eine Rose auf den Hut. Das gefiel dem Joseph besonders gut und gab ihm gleich die rechte Freude zur Arbeit. Er hatte auch noch immer seine Rose, wenn sonst weit und breit keine mehr zu sehen war. Denn das Resli kannte jede Stelle, wo noch eine letzte Rose blühen konnte, und es bekam die Blume, wem sie auch gehörte. Als die Geschichte bekannt geworden war, wie Resli die Sorgenmutter ein ganzes Jahr lang fast allein erhalten hatte, wollte jedermann dem Resli etwas Gutes tun. Und wo es sich nur zeigte, erhielt es eine Rose, ob es die erste oder die letzte war.

So leben im kleinsten Häuschen von Wildbach die drei glücklichsten Menschen, und Rosenresli wird wohl sein Leben lang so genannt werden.


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