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Die Frau, der die Leute den Namen Sorgenmutter gegeben hatten, war eine sehr arme Witwe. Sie hatte einmal bessere Tage gesehen und war nicht gewohnt zu betteln. Sie erzählte niemandem von ihrer Not, klagte nur dem lieben Gott ihr Leid und suchte bei ihm allein Trost. Ihr Mann, ein Schneider, war früh gestorben und hatte ihr nur einen Sohn hinterlassen. Dieser sollte wie sein Vater Schneider werden. Das hatte der Vormund des Knaben bestimmt, und er hatte in dieser Sache zu entscheiden. Ihr Sohn Joseph wollte das aber nicht. Wenn er in der Schneiderei arbeiten sollte, lief er fort und kam erst spät in der Nacht oder gar nicht heim. So geriet er in schlechte Gesellschaft, und der Vormund, der auch Gemeindevorsteher war, drohte ihm mit einer Strafe. Wenn er jetzt nicht arbeiten und fleißig sein wollte, so werde er mit dem nächsten Transport nach Australien geschickt.
Da wurde Joseph sehr zornig und sagte, er könne schon arbeiten, wenn man ihn tun lasse, was er wolle. In die Fremde gehen könne er allein, ohne daß man ihn dorthin schicke. Dann verschwand er und kam nicht wieder. Die Mutter grämte sich sehr, aber sie vertraute ihr Kind dem lieben Gott an, und wenn die Leute im Dorfe spottend sagten: »Was hilft es ihr, daß sie so viel gebetet hat? Jetzt sitzt sie mit ihren Sorgen im Elend und der Joseph wird wohl draußen elend umkommen«, dann antwortete sie: »Und wenn ich auch eine Sorgenmutter bis an mein Lebensende bleiben und im Elend sterben muß, so will ich doch das Vertrauen nicht verlieren, daß der Joseph noch auf den rechten Weg kommt. Denn ich habe ihn von Anfang an und immer wieder dem lieben Gott anvertraut und habe so viel für ihn gebetet, daß es nicht vergeblich sein kann.«
Rosenresli machte sich am nächsten Tag, als die Schule zu Ende war, wieder auf den Weg. Ein Körbchen besaß das Kind nicht, aber es wollte die Rosen in seine Schürze packen. In fröhlichen Sprüngen lief es zu dem großen Garten, wo die Frau Präsidentin zwischen ihren Blumen hin- und herwanderte.
»Hättest du gern wieder Rosen, Resli?« rief sie dem Kind zu. »Komm herein, eine oder zwei wird's wohl wieder geben.«
»Nur von denen, wo die Blätter abfallen wollen«, sagte Resli und hielt sein Schürzchen hin, damit kein Blatt auf den Boden falle.
»Ja, wenn du's so meinst, dann bekommst du die ganze Schürze voll. Komm hier herüber.« Und die Frau Präsidentin führte das Kind an ein großes Beet voller Rosen, die aber alle weit offen standen oder schon halb entblättert waren. Hier schnitt sie so viele ab, daß Rosenresli die ganze Schürze voll hatte.
»Darf ich morgen wiederkommen?« fragte Resli erwartungsvoll.
»Das kannst du«, erwiderte die Frau, »die verblühten Rosen sollst du alle haben, wenn du Freude daran hast.«
Rosenresli dankte und lief freudig davon. Am verfallenen Häuschen der Sorgenmutter angelangt, erinnerte sich das Kind an das Versprechen, sie zu besuchen. Es trat in das niedere Stübchen, wo die Sorgenmutter am Spinnrad saß. Sie begrüßte Resli mit großer Freundlichkeit. Dann ging sie an ihr Fenster und schnitt von dem kleinen Rosenstock, der da stand, zwei rote Röschen ab und hielt sie dem Kind hin.
»Siehst du, Resli«, sagte sie zögernd, »ich habe dich fragen wollen, ob du nicht die zwei Röslein auch mitnehmen willst. Vielleicht gibt die Bäuerin auch dafür noch ein wenig Brot, wenn auch nur ein kleines Stück. Willst du das tun, Resli?«
»Ja, ja«, rief das Kind schnell, »dann will ich Ihnen gleich das Brot bringen. Ich bin bald wieder da.«
Die Kreuzwegbäuerin stand vor dem Haus an dem Mäuerchen beim Gemüsegarten und guckte bald in den einen bald in den anderen der Körbe, die auf der Mauer standen. In denen waren die schön duftenden Rosenblätter ausgebreitet und sollten in der Sonne trocknen. Die Bäuerin machte jedes Jahr ein wohlriechendes Rosenwasser und dazu brauchte sie sehr viele Rosenblätter, die gar nicht so leicht zu haben waren.
»So ist's recht«, sagte sie vergnügt, als Rosenresli kam und seine Schürze aufmachte, »heute sollst du ein großes Stück Brot haben.«
»Da habe ich noch zwei«, sagte Resli und hob die Röslein von der Sorgenmutter in die Höhe.
»Wirf sie nur zu den anderen. Sie sind zwar mager, aber ein paar Blätter haben sie doch.«
»Aber ich hätte gern ein besonderes Stück Brot dafür«, sagte Resli und hielt sie immer noch fest in der Hand.
»Ich weiß schon«, sagte die Bäuerin, als sie ins Haus trat. »Unsereins war auch einmal so. Wir tauschten hin und her in der Schule, ein Stück Brot gegen eine Birne oder ein paar Pflaumen. Ich weiß, wie das ist, Resli. Da nimm, das ist das große Stück für die Rosen in der Schürze, und hier das kleine für die zwei zum Tauschen. Bist zufrieden so?«
»Ja, ja, gewiß«, versicherte Resli, dankte vielmals und trat den Rückweg an. Das kleine Stück Brot legte es für die Sorgenmutter in die Schürze, und in das große biß Resli sofort hinein, denn zu Mittag hatte es wenig gegessen, und abends gab's auch nichts mehr. So hatte es alles aufgegessen, noch bevor Resli beim alten Häuschen angelangt war. Jetzt war es erreicht, das Kind trat ein.
»Da, Sorgenmutter, hier ist das Brot!« rief Resli.
Die Frau nahm Reslis Hand und drückte sie dankbar: »Du weißt nicht, was du mir Gutes tust, Resli«, sagte sie. »Siehst du, draußen im Gärtchen habe ich Kartoffeln, die sind meine einzige Nahrung. Aber oft kann mein Magen sie nicht vertragen, und Brot ist mir zu teuer. Wenn ich dann fast nichts esse, werde ich so schwach, daß ich nicht mehr spinnen kann. Darum bin ich froh über dein Brot, Resli, und danke dir herzlich dafür.«
Jetzt schämte sich das Rosenresli, daß es der Sorgenmutter nur das kleine Stück Brot gebracht und das große für sich behalten hatte. Und im stillen dachte es: Hätte ich doch nur das kleine und nicht das große Stück gegessen, und sie sah sehr niedergeschlagen aus. Die Sorgenmutter meinte, es habe gewiß noch Hunger, und wollte ihm das Stück Brot wiedergeben. Aber Resli rief: »Nein, nein, ich will nicht, ich habe schon genug. Morgen komme ich wieder!« Und fort war es.
Am folgenden Abend kam es pünktlich wieder. Noch einmal hatte ihm die Frau Präsidentin die Schürze mit Rosen gefüllt, und noch einmal hatte die Sorgenmutter zwei Röslein vom Stock brechen und dem Resli mitgeben können. Als es damit bei der Kreuzwegbäuerin anlangte und diese die Rosen aus der Schürze hob, sagte Resli: »Kann ich heute nur ein Stück Brot haben, aber so groß, wie die letzten zwei zusammen?«
»Siehst du, ich hab's mir gedacht«, antwortete die Bäuerin, »jetzt hast du's gemerkt, daß es schade ist, das gute Brot gegen Äpfel und Birnen zu tauschen. Es ist richtig, behalt's nur, und heute ist's auch ganz frisch, und du sollst ein schönes Stück haben. Komm mit mir.«
Die Bäuerin trat in ihre Küche und schnitt hier von dem großen Laib Brot ein so mächtiges Stück herunter, wie Resli in seinem Leben noch keines in der Hand gehalten hatte. Schnell lief es zur Sorgenmutter und legte freudestrahlend das ganze Stück in ihre Hand. Keinen Bissen hätte das Kind heute davon genießen können.
Resli hatte es immer noch bedrückt, daß es das größte Stück behalten und das kleine der Sorgenmutter gebracht hatte. Jetzt leuchteten seine Augen vor Freude, als die Alte mit verwunderten Blicken ihr Stück Brot ansah. Sie hielt es dem Kind wieder hin.
»Was ist das, Resli? Das ist gewiß dein Brot, komm, nimm es! Wenn du mir ein kleines Stück davon abbrechen willst, so will ich dies danken.«
»Nein, nein, ich nehme kein einziges Stück«, rief das Kind. »Gute Nacht, und morgen komme ich wieder.«
»Ich habe ja keine Rosen mehr, Resli, aber ich danke dir. Du weißt nicht, was du mir Gutes getan hast.«
Die Frau hatte Tränen in den Augen, als sie dem Kind nachrief. Das hatte Resli wohl gesehen, und einen Augenblick war es ganz nachdenklich geworden. Aber nun kam ihm etwas anderes in den Sinn, und das Resli war wieder froh, sang und sprang vor Freuden und dachte sich schon aus, was es morgen tun wolle.
Die Frau Präsidentin hatte bald keine Rosen mehr. Aber Resli wußte von seinen Streifzügen her noch so viele Gärten, daß es gar keine Sorge hatte, Rosen zu finden. Und es war so flink und leichtfüßig, daß ihm kein Weg zu weit war. So brachte es jeden Abend eine Schürze voll Rosen zur Bäuerin und erhielt jedesmal sein Stück Brot, das eher größer als kleiner wurde. Denn die Bäuerin war sehr zufrieden mit Reslis Leistungen.
Die Nachbarin, die auch Rosenwasser bereitete, schaute manchmal mit etwas Neid herüber, wenn sie sah, wie das Resli seine vollen Schürzen ausschüttete. Sie sagte, es sei gar kein Wunder, wenn die Kreuzwegbäuerin besseres Rosenwasser machen könne als sie selbst. Wenn sie so schöne Rosenblätter aufzutreiben wüßte, so brächte sie das auch fertig.
Von dem Brot aber aß Resli niemals mehr. Alles mußte die Sorgenmutter annehmen, wie diese sich auch wehrte und mit dem Kind alles teilen wollte. Aber von Zeit zu Zeit fragte es dann: »Sorgenmutter, tut das Brot Euch gut?« Dann erzählte sie ihm immer wieder, wieviel kräftiger sie sich fühle, seitdem sie täglich Brot esse. Wieviel mehr sie spinnen und dadurch verdienen könne, so daß sie im Winter nicht wie sonst frieren müsse.
Zum Schluß sagte sie dann immer: »Wenn ich dir doch einmal vergelten könnte, was du für mich tust, Resli.«
Aber Reslis Gesicht glänzte dann so vor Freude, daß man sehen konnte, es hatte die beste Belohnung erhalten.
So ging es weiter, bis die Rosenzeit zu Ende war. Und als eines Abends Resli weit gelaufen war, vergebens in alle Gärten hineingesehen hatte und am Ende auch nur noch drei halbverwelkte Röslein zu der Bäuerin brachte, sagte diese: »Es ist aus mit den Rosen, aber nächstes Jahr bringst du mir wieder deine schönen Sträuße.« Diese Worte machten einen solchen Eindruck auf das Resli, wie es die Bäuerin nicht erwartet hatte. Sie nahm an, ein Kind bekomme da und dort etwas von guten Leuten, an ihrem Stück Brot sei ihm nicht so viel gelegen. Aber Resli dachte an die Sorgenmutter und was nun aus ihr werde, wenn sie wieder nichts als ihre wenigen Kartoffeln zu essen hätte. Große Tränen kamen ihm in die Augen, als es nun sah, daß alles aus war mit den Rosen.
»Nein, nein, du mußt nicht weinen, Resli«, sagte die Bäuerin mitleidig. »Versprich, daß du mir nächsten Sommer wieder so viele schöne Rosen schenken willst, und du sollst den ganzen Winter hindurch täglich dein Stück Brot haben. Willst du?« Da waren die Tränen schnell getrocknet, und Resli strahlte vor Freude.
»Ja, gewiß will ich, und alle, alle Rosen sollen Sie haben und auch Vergißmeinnicht.«
»Das ist nicht nötig, aber die Rosen, vergiß es nicht! Da hast du dein Stück Brot, und jetzt kommt die Zeit der Äpfel, davon mußt du auch noch haben, da Resli.« Und die Bäuerin nahm einen großen, rotwangigen Apfel und hielt ihn samt dem Stück Brot dem Kind hin. Glückstrahlend lief Resli mit seinen Schätzen davon, und befriedigt schaute ihm die Bäuerin nach, denn sie hatte das Resli gerne und freute sich, daß es so froh war. Außerdem war es ihr auch recht, daß sie sich schon für den kommenden Sommer die schönsten Rosen gesichert hatte.
Sie hatte wohl bemerkt, wie die Nachbarin immer nach ihren Rosenblättern herübergeschaut hatte. Und es war ihr ein wenig angst geworden, die Nachbarin könnte ihr im nächsten Sommer das Resli abtrünnig machen. Denn sie wußte, daß es die schönen Rosen herbeibrachte.
Auch die Sorgenmutter hatte einen frohen Abend. Als Resli, das immer Sonnenschein in die einsame Stube der Alten brachte, alles berichtet, was es mit der Bäuerin ausgemacht hatte, da faltete die Sorgenmutter die Hände. Sie dankte still dem lieben Gott, der ihr das Kind wie einen guten Engel zugesandt hatte, und daß sie nun dem gefürchteten Winter mit so viel weniger Angst und Sorgen entgegensehen konnte.