Johanna Spyri
Der Toni vom Kandergrund
Johanna Spyri

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2. Kapitel.
Ein schwerer Spruch

Toni war schon im Winter zwölf Jahre alt geworden, und er hatte nun die Schule hinter sich. Die Zeit war gekommen, da man sich nach einer Arbeit für ihn umsehen konnte, die ihm etwas eintrug, und bei der er lernen konnte, was ihm in den kommenden Jahren helfen würde. Der Frühling war da, und auf den Feldern hatte die Arbeit begonnen. Die Mutter meinte, es sei am besten, wenn sie den Mattenhofbauer frage, ob er etwas leichte Arbeit für den Toni hätte. Aber jedesmal, wenn sie davon anfing, bat er dringend: »Ach, Mutter, tu's doch nicht, laß mich doch ein Holzschnitzer werden!«

Dagegen hätte sie nichts gehabt, aber sie wußte keinen Weg, wie das zu machen sei. Den Bauer oben auf dem Mattenhof kannte sie ja von ihrem Mann her, er hatte ihr auch seit dessen Tod von Zeit zu Zeit ein wenig Holz oder Mehl geschickt. Sie hoffte, daß er den Toni erst für leichtere Dienste auf dem Feld verwenden wurde, so daß dieser nach und nach die schwerere Arbeit erlerne. So sagte sie noch einmal, als sie am Samstagabend nach vollendetem Tagewerk mit dem Toni bei ihrem spärlichen Abendessen saß: »Toni, nun müssen wir etwas unternehmen. Ich meine, es wäre das beste, wenn ich morgen zu dem Mattenhof hinaufginge.«

»Ach, Mutter, tu nur das nicht!« bat der Toni gleich flehentlich, »geh nur nicht zu dem Bauer! Laß mich nur ein Holzschnitzer werden, ich will auch so fleißig sein, daß ich genug verdiene und du nicht mehr so angestrengt arbeiten mußt. Dann kann ich bei dir daheim bleiben. Sonst müßtest du ja ganz allein sein, und ich kann es auch nicht aushalten, wenn ich immer fort sein muß. Laß mich bei dir, schick mich nicht fort, Mutter!«

»Ach, du guter Toni«, sagte die Mutter, »was wollte ich dafür geben, daß ich dich immer mir behalten könnte! Aber das wird nicht gehen. Zum Holzschnitzen weiß ich keinen Weg, es mußte dir's ja jemand zeigen. Und wenn du's auch könntest, wie wollten wir denn die Sachen verkaufen? Da muß man Leute kennen und herumkommen, sonst bringt die Arbeit keinen Verdienst ein. Wenn ich nur mit jemand reden könnte, der mir einen guten Rat gäbe.«

»Kennst du denn niemand, Mutter, den man fragen könnte?« sagte Toni ängstlich und grübelte nach, wo jemand zu finden wäre. Auch die Mutter dachte nach.

»Ich glaube, ich werde zum Herrn Pfarrer gehen, der gibt mir schon einen Rat«, sagte die Mutter, selbst erfreut über den Ausweg, den sie gefunden hatte.

Toni war ganz glücklich, und nun wurde gleich ausgemacht, daß sie früh am Morgen hinunter zur Kirche gehen wollten. Dann sollte die Mutter zum Herrn Pfarrer hineingehen und der Toni draußen auf sie warten. Wie sie es sich vorgenommen hatten, so wurde am Sonntagmorgen alles ausgeführt. Die Mutter hatte von den geschnitzten kleinen Tieren zwei in die Tasche gesteckt, um sie dem Herrn Pfarrer als Beweis der guten Anlagen ihres Jungen zu zeigen.

Der Pfarrer empfing sie sehr freundlich. Sie mußte sich neben ihn setzen, und er fragte interessiert nach ihrem Anliegen. Denn er kannte die Elsbeth und wußte, wie brav sie sich in den schweren Tagen geholfen hatte. Sie erzählte ihm nun die ganze Sache, wie Toni von früh auf sich so gern mit Schnitzen beschäftigt habe und nun nichts sehnlicher wünsche, als mit dieser Arbeit Geld zu verdienen. Sie wußte aber keinen Weg, wie er das Schnitzen erlernen könne und auch nicht, wie nachher die Arbeiten verkauft werden. Zuletzt zeigte sie die beiden Tierlein als Beweis von Tonis Geschicklichkeit. Der Herr Pfarrer sagte nun der Frau, daß die Sache schwer auszuführen sei. Wären auch die zwei Geißlein gar nicht übel geschnitzt, so müßte doch Toni, um wirklich etwas Rechtes zu leisten und sein Brot damit zu verdienen, erst bei einem guten Schnitzer lernen. Denn nur kleine Tierlein oder Schächtelchen verfertigen, das sei nichts, bringe auch nichts ein, er würde nur seine Zeit damit verlieren.

Es sei aber unten im Dorf Frutigen ein sehr geschickter, weit bekannter Holzschnitzer, der mache prächtige große Arbeiten, die weit in die Welt bis nach Amerika hinauskämen. Der schneide ganze Tiergruppen auf hohen Felsen aus, Gemsen und Adler und ganze Alpen mit dem Senn und den Kühen. Mit diesem Schnitzer möge Elsbeth reden. Würde der Toni bei ihm lernen, so könnte er ihm dann auch zum Verkauf der fertigen Arbeiten verhelfen, er habe genug Wege dazu offen.

Die Elsbeth verließ mit Dank und neuer Hoffnung im Herzen den Herrn Pfarrer. Vor dem Haus wartete Toni in großer Spannung. Sogleich mußte sie alles berichten, was der Herr Pfarrer gesagt hatte. Und als sie zuletzt von dem Schnitzer in Frutigen erzählte, blieb der Toni plötzlich stehen und bat: »So komm doch, Mutter, wir wollen gleich auf der Stelle hingehen.«

Daran hatte aber die Mutter gar nicht gedacht. Sie machte viele Einwendungen, doch der Toni bat so eindringlich, daß sie endlich sagte: »Heim müssen wir noch und etwas essen, der Weg ist zu weit. Aber wir können das schnell erledigen und dann gleich wieder fortgehen.« So wanderten sie eilig dem Hüttchen zu, nahmen ein wenig Milch und Brot und machten sich gleich wieder auf den Weg. Sie hatten mehrere Stunden zu gehen, aber Toni war so mit den Plänen und Gedanken für die Zukunft beschäftigt, daß ihm die Zeit verflog wie ein Traum. Er blickte ganz erstaunt auf, als die Mutter sagte: »Sieh, dort ist der Kirchturm von Frutigen.«

Bald standen sie vor dem Haus des Holzschnitzers und hörten von den Kindern vor der Tür, daß der Vater daheim sei.

Drinnen in der großen, getäfelten Stube saß der Schnitzer mit seiner Frau am Tisch und schaute mit ihr in einem großen Buch schöne gemalte Tierbilder an. Die konnte er für sein Handwerk gut gebrauchen. Als die beiden eintraten, hieß er sie willkommen. Er lud sie ein, Platz auf der hölzernen Bank zu nehmen, auf der er selbst mit seiner Frau saß und die längs der Wand um die ganze Stube ging. Elsbeth folgte der Einladung und begann gleich, dem Schnitzer zu berichten, weshalb sie gekommen sei, und was sie gern von ihm wüßte.

Der Toni stand wie angewurzelt da, und seine Augen starrten unbeweglich auf einen Punkt. Vor ihm an der Wand stand ein Glasschrank, in dem zwei hohe, aus Holz geschnittene Felsblöcke zu sehen waren. Auf dem einen stand eine Gemse mit ihren Jungen. Sie hatten so zierliche, schlanke Beinchen, und die schönen Köpfe saßen so natürlich auf den Hälsen, daß es aussah, als seien sie lebendig und gar nicht aus Holz gemacht. Auf dem anderen Felsblock stand ein Jäger, die Flinte hing an seiner Seite, der Hut, sogar mit einer Feder daran, saß auf dem Kopf. Alles war so fein geschnitzt, daß man meinte, es müsse ein wirklicher Hut und eine wirkliche kleine Feder sein, und doch war alles von Holz.

Neben dem Jäger stand der Hund, und es war nicht anders, als wedele er gerade mit dem Schwanz. Toni war wie verzaubert. Er bewegte sich nicht und holte kaum Atem.

Als die Mutter ausgeredet hatte, sagte der Schnitzer, es komme ihm fast vor, als meine sie, die Sache gehe so halb von selbst, das sei aber nicht so. Wenn etwas Rechtes geleistet werden solle, so koste das Lernen viel Zeit und Mühe. Doch wäre er nicht abgeneigt, den Buben zu übernehmen, es schiene ihm, als habe er Lust zu der Sache. Er müsse aber ein paar Monate gegen ein Kostgeld in Frutigen bleiben und außerdem ein Lehrgeld zahlen, etwa ebenso viel wie das Kostgeld. Und die Frau müsse selbst wissen, ob sie so viel für den Buben ausgeben wolle. Er könnte dagegen versprechen, daß der Bub etwas Rechtes lerne, sie möge dort im Kasten sehen, was er ihn lehren könne.

Die Elsbeth konnte vor Leid und Schrecken zuerst kein Wort herausbringen. Nun wußte sie, daß es eine völlige Unmöglichkeit sei, den größten Wunsch ihres Buben zu erfüllen. Das notwendige Kost- und Lehrgeld überstieg alles, was sie aufbringen konnte, so weit, daß die Frage schon entschieden war. Tonis Pläne mußten scheitern.

Sie stand auf und dankte dem Schnitzer für seine Bereitwilligkeit, den Buben zu nehmen, sie müsse aber darauf verzichten. Dann winkte sie dem Toni. Dessen Blicke waren aber immer noch so unbeweglich auf den Schrank gerichtet, daß er nichts bemerkte. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn leise mit sich zur Tür hinaus.

Draußen sagte Toni mit einem tiefen Atemzuge: »Hast du's gesehen im Schrank? Mutter hast du's gesehen?«

»Ja, ja, ich habe es schon gesehen, Toni«, antwortete die Mutter seufzend. »Aber hast du gehört, was der Schnitzer sagte?«

Toni aber hatte nichts gehört, alle seine Sinne waren auf einen Punkt gerichtet gewesen.

»Nein, ich habe nichts gehört. Wann kann ich gehen?« fragte er verlangend.

»Ach, es ist nicht möglich, Toni, nimms dir nur nicht so zu Herzen. Sieh, ich kann's nicht machen, ich täte es so gern«, versicherte die Mutter. »Aber es würde mehr kosten als eine ganze Jahresmiete, und du weißt, wie hart ich arbeiten muß, um die jährlich zu bezahlen.«

Es war ein harter Schlag für den Toni. Die Hoffnung vieler Jahre war zerstört worden. Aber er wußte, wie seine Mutter arbeitete, wie wenig Gutes sie sich gönnte und wie sie immer noch nachdachte, ihm eine kleine Freude zu machen. Er sagte auch kein Wort und schluckte nur ganz still seine aufsteigenden Tränen hinunter. Aber er wurde jetzt erst recht betrübt, daß alle Hoffnung dahin war, denn zum erstenmal hatte er gesehen, welch wundervolle Sachen man aus einem Stück Holz schnitzen konnte.


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