Johanna Spyri
Was die Großmutter gelehrt hat
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Noch eine zornige Rede und was daraus folgt

Der Juli ging seinem Ende entgegen und mit ihm die schöne Erdbeerenzeit. Nur oben beim Wald über Hochtannen war noch eine späte, kräftige Sorte der Beeren zu finden, die besonders gut bezahlt wurden. Denn jetzt reisten viele Fremde über den Berg, und unten im Wirtshaus an der großen Straße machten sie meistens Halt. Die seltenen Beeren kamen dann der Wirtin sehr gelegen. Aber man brauchte viel Zeit, die Kratten auch nur halb zu füllen, und man mußte genau wissen, wo die vereinzelten Beeren wuchsen. Aber wer fröhlichen Mutes war wie das Trini, dem machte das keine schweren Gedanken. An einem warmen Sommerabend lief es mit freudestrahlendem Gesicht den Berg hinauf, dem Tannenwald zu. Es wußte, daß nun die letzten, würzigen Beeren dort oben die rechte Reife erlangt hatten. Auch das Maneli und noch einige andere Kinder kannten den Platz, aber den meisten war der Weg zu weit und die Suche zu mühsam.

Nur das Maneli kam mit seinem großen Kratten hinter dem Trini her, blieb aber weit zurück. Denn wie ein Reh die steilen Höhen hinaufspringen, konnte nur das Trini, dem an Kraft und Behendigkeit nicht ein einziges Mädchen seines Alters gleichkam. Oben gab es viel Arbeit. Die Beeren waren reif und schön und dufteten herrlich, aber sie mußten erst gesucht werden. In einem sonnigen Winkel standen einige der rot schimmernden Büsche dicht beieinander, und dann konnte man wieder vergebens danach suchen. Trini spähte in alle Löcher hinein, kletterte jeden Erdhügel hinauf, zog alle Grasbüschel auseinander, und wo noch ein rotes Beerlein herausguckte, wurde es schnell gepflückt. Trini hörte auch nicht auf zu klettern und zu suchen und zu rupfen, bis die Dämmerung hereinbrach und aller Tätigkeit ein Ende machte.

Aber dem Trini mußte das nicht leid tun. Es schaute stolz auf seinen Kratten. Denn auch diesmal, gegen seine eigene Erwartung, war er gefüllt bis obenan. Es hatte nur noch Blätter und Stäbchen darauf zu befestigen, denn nicht eine der kostbaren Beeren durfte herausrollen. Jetzt sauste das Trini wie der Wind den Berg hinab. Zum Wirtshaus zu laufen, dazu war's zu spät, aber bis zu der Goldäpfelbäuerin konnte es schon noch kommen. Die wollte gewiß diese letzten schönen Beeren noch haben, und dann konnte es der Großmutter gleich noch den außergewöhnlichen Gewinn heimbringen. Immer eiliger wurde sein Schritt.

Still und traurig hinter ihm her ging das Maneli. Man konnte wohl sehen, daß es an seinem Kratten nicht schwer zu tragen hatte. Es mußte ein anderer Grund sein, warum es so langsam und niedergedrückt daherkam.

Die Goldäpfelbäuerin hatte eben Ärger gehabt. Die junge Magd, die trotzig neben ihr an dem Gemüsebeet stand, hatte ihr alle jungen Setzlinge weggeschwemmt. Es war ihr zu mühsam vorgekommen, den zarten Pflänzchen sorgfältig, jedem einzeln mit der Gießkanne Wasser zu geben, wie die Bäuerin ihr befohlen hatte. Mit dem großen Kübel hatte sie den ganzen Wasserguß über das Beet geschüttet. In der Bäuerin kochte der Zorn auf wie heiße Milch, die überlaufen will, als sie die Zerstörung sah. Da kam das Trini hergelaufen. »Guten Abend!« rief es noch außer Atem, »seht die schönen Beeren. Es sind die letzten, wollen Sie sie?«

»Ich brauche nichts«, rief die Bäuerin zornig. »Mach, daß du fortkommst, ich habe keine Zeit für dich.« »Wenn Sie sie nur ansehen wollten, sie würden ihnen gefallen«, meinte das Trini. »Habe ich dir nicht gesagt, daß ich nichts will? Mach, daß du gehst«, wiederholte die Frau. Aber das Trini blieb immer noch stehen. Es dachte: Wenn die Bäuerin nur Zeit hätte, die Beeren anzusehen, dann würde ihr schon die Lust kommen, sie zu behalten.

Jetzt aber kochte es über in der Bäuerin, denn ihr Zorn hatte schon lange einen Ausweg gesucht. Daß sie ihn nicht an der trotzigen Magd ausließ, dafür mochte die Frau ihre Gründe haben.

»Hast du Harz an den Sohlen?« rief sie grimmig, »oder guckst du nach den reifen Äpfeln aus, damit du weißt, welchen Baum ihr zuerst wieder schütteln wollt, wie ihr es immer macht, du und das andere Lumpenvolk?«

Das konnte aber das Trini nicht auf sich sitzen lassen, so etwas hatte es nie getan.

»Ich habe nie, nie die Bäume geschüttelt und nicht einen einzigen Apfel...«

»Du wirst nicht besser sein als alle anderen!« unterbrach die Bäuerin. »Ich will kein Wort mehr hören, dort geht's hinaus!«

Damit erhob die Frau so rasch und drohend ihren Arm, daß es dem Trini nicht mehr sicher zumute war. Es rannte aus dem Garten und um die Hecke herum. Aber hier konnte es nicht mehr weiter. Auch sein Blut war wegen der ungerechten Anschuldigung in Wallung geraten. Es setzte sich auf den Boden hin, es mußte sich Luft machen.

»Nein, das habe ich nicht getan«, rief es aufgeregt. »Ich habe nie die Äpfelbäume geschüttelt, nie! Aber die Bäuerin ist nur ein Besen, ja, sie ist nur ein Besen, das hat die Großmutter gesagt, und der liebe Gott will nur etwas herausfegen mit ihr. Aber ich habe gar nichts gemacht, ich habe nichts Böses getan.« Hier hielt das Trini auf einmal inne. Denn plötzlich stieg die Frage in ihm auf, was denn wohl der liebe Gott habe ausfegen wollen in seinem Herzen, wenn es doch nichts Unrechtes getan hatte. Nun wurde das Trini ganz still und nachdenklich. Nach einer Weile stand es langsam auf. Es sah gar nicht mehr aufgebracht aus. Halblaut sagte es noch: »Ja, es ist wahr, das war doch nicht recht.« Dem Trini war beim Nachdenken auf einmal eingefallen, daß es heute wieder mehrmals das Maneli auf die Seite gestoßen und sich schnell über die Beeren hergemacht hatte, die das Maneli auch gern eingesammelt hätte. Es war aber immer still auf die Seite gewichen, das Trini war ja viel stärker und flinker. So leistete ihm das Maneli niemals Widerstand.

Nun wollte das Trini sein Unrecht wieder gutmachen und dem Maneli schnell noch ein wenig von seinen Beeren abtreten. Es lief immer eiliger, aber nicht bergan, der Wohnung der Großmutter zu, sondern querfeldein eine ganze Strecke weit. Bei einem elenden, kleinen Häuschen, an dem die alten Fensterscheiben halb oder ganz zerbrochen und mit Papier verklebt waren, blieb es stehen und holte ein wenig Atem. Es war jetzt dunkel geworden. Durch die zerbrochenen Scheiben schimmerte ein dünnes Lichtlein. Auf einmal hörte das Trini ein leises Schluchzen ganz in seiner Nähe. Es schaute sich um. Auf einem Holzblock vor dem Häuschen saß ganz unbeweglich eine kleine Gestalt, den Kopf auf die Arme gelegt. Trini trat hinzu.

»Was hast du, Maneli?« fragte es erstaunt, als es die kleine Gestalt erkannt hatte, »warum weinst du so?«

Das Maneli hob den Kopf und sah so traurig aus, wie Trini es noch nie gesehen hatte.

»Ich darf nicht hinein«, sagte es schluchzend, »die Mutter ist krank und schon zu Mittag hatten wir fast nichts mehr zu essen. Dann sagte sie, für den Abend bringe ich, will's Gott, etwas heim, wenn ich in die Beeren gehe und sie dann gleich ins Wirtshaus trage. Ich würde dann ein Schwarzbrot mitbringen, meinte die Mutter. Aber sieh, Trini, nur die habe ich.« Damit hob das Maneli seinen Kratten in die Höhe und Trini guckte hinein. Es war fast gar nichts darin, kaum der Boden des Korbes war bedeckt. Das Trini fühlte seinen schweren Kratten am Arm. Es war ihm, als werde er immer schwerer und drücke es nicht nur am Arm, sondern auch auf dem Herzen. Auf einmal riß es Stäbchen und Blätter weg, kehrte seinen Kratten um und schüttete den ganzen, reichen Inhalt in Manelis leeren Korb, so daß dieser bis oben hin voll war und noch übrig blieb von den Beeren. Diese legte das Trini schnell auf die Blätter am Boden und sagte: »Nimm die auch noch hinein. Gute Nacht.« Und fort rannte es in hohen Sprüngen.

»Trini! Trini! Danke tausendmal!« rief ihm das Maneli aus allen Kräften nach, dann stürzte es in die Hütte hinein. Jetzt hielt das Trini auf einmal an und kam zurück gerannt. Es wollte sehen, was die Mutter beim Anblick von Manelis Kratten sagen wurde, der ja den ganzen Sommer lang nie so voll gewesen war. Durch die zerbrochenen Scheiben an dem niedrigen Häuschen konnte es alles sehen, was drinnen vorging. Die bleiche Mutter stand, von den kleinen Kindern umringt, am Tisch und schaute auf die Beeren im Kratten und auf den Teller daneben, der auch noch ganz voll war. Sie schlug ihre Hände zusammen und sagte immer wieder zu dem Maneli, das freudestrahlend zu ihr aufschaute: »Wie ist es möglich, Kind? Wie ist es nur möglich?«

»Vom Trini, vom Trini!« wiederholte das Maneli drei-, viermal, »es hat sie mir alle gegeben, alle! Und denk, Mutter, für diese Menge gibt die Wirtin jetzt zwei ganze Franken.«

»Gott vergelt's dem Kind und ersetz es ihm und der Großmutter hundertfach, was es heute für uns getan hat. Er weiß allein, wie ich mich die ganze Nacht hindurch gesorgt habe, wo ich am Morgen Brot für euch nehme. Und nun haben wir ja für einige Tage genug.«

Die bleiche Frau hatte bei diesen Worten die Hände gefaltet, als danke sie im stillen noch für die große Wohltat. Jetzt schoß das Trini davon mit einer Freude im Herzen, wie es in seinem ganzen Leben noch keine empfunden hatte. Die Großmutter hatte wohl recht gehabt, daß man am Ende den Gewinn davon habe, und daß es einem so wohl werde wie noch nie, wenn man es recht verstehe, was der liebe Gott ausfegen wolle. Nun machte es noch neue Pläne in seinem Herzen: Bald konnte man auch in die Heidelbeeren gehen und in die Brombeeren. Und es wollte jedesmal, wenn es seinen Kratten gefüllt hatte, noch dem Maneli den seinigen füllen helfen. Wenn nicht beide voll wurden, so wollte es immer mit ihm teilen. Denn das Trini hatte sich über die Worte der armen, kranken Mutter mehr gefreut, als über den eigenen vollen Kratten. Als es dann endlich heimkam und nun aufgeregt seine Erlebnisse erzählte und zuletzt der Großmutter den ganz leeren Kratten vorwies, sagte es bittend: »Nicht wahr, du bist nicht böse mit mir, Großmutter, daß ich kein einziges Beerlein heimbringe. Du wirst sie gewiß alle dem Maneli und seiner kranken Mutter gönnen?«

Da lobte die Großmutter das Kind und sagte, was es getan habe, freue sie mehr, als wenn es ihr zwei ganze Kratten voll nach Haus gebracht hätte. So gut wie heute abend dem Trini seine Kartoffelsuppe schmeckte, hatte ihm noch kein Essen geschmeckt. Denn es dachte immer daran, wie nun das Maneli noch sein Schwarzbrot hatte heimbringen können, wie jedes sein Stück bekomme und es gewiß jetzt eben fröhlich verspeiste.


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