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Während die alte Käthe so gedankenverloren erst an ihrem Spinnrad und dann in der Dämmerung saß, ging es oben am Sonnenrain ziemlich laut zu. Hier wuchs jedes Jahr eine Fülle der schönsten, saftigsten Erdbeeren. Wenn sie reif waren, schien es oft, als ob ein großer, dunkelroter Teppich vom Sonnenrain herunterhinge, der in der Sonne glühte. Der Platz war den Kindern von Hochtannen, wie das kleine, aus zerstreuten Häusern bestehende Bergdörfchen hieß, wohlbekannt. Sie wußten auch recht gut, daß, wenn man die Beeren ausreifen ließ, ein schöner Gewinn damit zu erzielen war. Denn diese ungewöhnlich großen, saftigen Beeren wurden überall gern gekauft. So gaben die Kinder selbst acht aufeinander, daß nicht etwa die einen zu früh die Beeren holten, bevor sie die rechte Reife erlangt hatten. Erscholl aber an einem schönen Junitag unter den Schulkindern der Ruf: »Sie sind reif am Sonnenrain! Sie sind reif!«, dann stürzte noch an demselben Abend die ganze Schar hinaus zum Sonnenrain. Jedes Kind hatte einen Korb in der Hand, und sie liefen, so schnell sie konnten, denn jedes wollte zuerst auf dem Platz sein und die schönsten und reifsten Beeren finden.
Die mitgebrachten, Körbe, Kratten genannt, hatten alle dieselbe Form, aber verschiedene Größen. Sie hatten die Form von Zylinderhüten, mit dem Unterschied, daß bei diesen die Öffnung unten ist, wo der Kopf hineingesteckt wird, bei jenen aber oben, wo die Erdbeeren hineingeworfen werden. Wenn dann die Dämmerung gekommen war und man die Beeren nicht mehr sehen konnte, wurde die Arbeit beendet. Dann deckte man die Kratten mit großen Blättern zu und befestigte zwei hölzerne Stäbchen kreuzweise darüber, damit der Wind die Blätter nicht entführe. Nun stimmte man das Erdbeerlied an, und voller Fröhlichkeit zog die ganze Schar heimwärts. Alle sangen aus vollen Kehlen:
Erdbeeren rollen,
Die Kratten all, die vollen,
Erdbeeren mit Stielen,
Jetzt trägt man sie heim die vielen,
Erdbeeren an Ästen,
Die meinen sind die besten!
Am schnellsten und am fleißigsten aber von allen war die Enkelin der alten Waschkäthe, das lustige Trini. Immer wußte es, wo die schönsten Beeren standen und wo noch am wenigsten gepflückt worden war. Dann schoß es dahin und rupfte mit einer Gewandtheit, daß kein anderes Kind schneller war und die Langsamen in seiner Nähe gar nichts erwischten. Auf einen kleinen Stoß kam es dem Trini dabei auch nicht an, wenn ihm eine schöne Stelle besonders ins Auge fiel, wo schon ein anderes Kind Beeren sammelte. Niemals aß es von den Früchten, bis sein Kratten so voll war, daß es eben noch die hölzernen Stäbchen über den Blättern festmachen konnte, ohne die zarten Früchte zusammen zu drücken. Erst dann kamen noch einige der süßduftenden Beeren in den Mund und schmeckten herrlich nach der harten Arbeit. Vorher hätten sie aber dem Trini gar nicht geschmeckt, denn es war ihm, als gehörten sie alle der Großmutter, bis keine einzige Beere mehr in den Kratten hineinging.
Das Trini strengte sich sehr an, für seine liebe Großmutter auch etwas zu tun. Es fühlte wohl, wie aufopfernd und gut sie zu ihm war und wie hart sie immer noch arbeitete, damit sie beide keinen Mangel leiden mußten. Es hatte auch sein Leben lang nie andere, als liebevolle Worte von ihr gehört. Und wie oft hatte es gespürt, daß sie viel lieber sich selbst als ihm etwas versagte. Dafür hing es auch mit dem ganzen Herzen an der Großmutter, und mit ungeheurer Freude sah es die Beerenzeit wieder kommen. Dann konnte es täglich seinen vollen Kratten heimbringen oder ihn dahin tragen, wohin er bestellt war, um dann ein schönes Geldstück zu verdienen. Das war für die Großmutter eine große Einnahme, die freilich nur eine kurze Zeit dauerte. Viel brachten aber nur die allergrößten Kratten ein, und diese hatten das Trini und das kleine, bleiche Maneli. Dieses konnte aber niemals seinen Kratten auch nur zur Hälfte füllen. Das Maneli, das eigentlich Marianne hieß, war mit Trini im gleichen Alter. Beide saßen auf derselben Schulbank, aber sie sahen sehr verschieden aus. Trini war groß und stark und hatte feste, runde Arme und rote Backen. Es fürchtete sich vor den größten Buben in der Schule nicht, denn es wußte sich zu wehren.
Das Maneli aber war schmal, blaß und sehr schüchtern. Es war ärmlich gekleidet und sah aus, als bekomme es nie genug zu essen, Das stimmte wohl auch, denn es hatte noch fünf kleinere Geschwister und seine Mutter war oft krank. Der Vater, der ein Tagelöhner war, brachte nicht immer so viel heim, daß es zu allem langte. Eben jetzt, da die Dämmerung heranrückte, hatte Trini das kraftlose Maneli mit einem heftigen Stoß auf die Seite geschoben. Denn es stand noch an einer Stelle, die mit besonders großen Beeren bedeckt war, und Trini wollte schnell seinen Kratten damit vollfüllen. Es gelang ihm auch, und vor allen anderen rief es jetzt siegesgewiß: »Voll! Fertig! Heim! Heim!« Nun riefen auch die anderen: »Heim! Heim!« und schon hatte sich das Trini mit seinem vollen, schön verpackten Kratten hingestellt, um den Zug anzuführen. Mit heller Stimme begann es zu singen:
Erdbeeren rollen,
Die Kratten all, die vollen...
Als die Schar singend und jauchzend die ersten Häuser erreicht hatte, stoben die Kinder plötzlich alle auseinander, die einen aufwärts, die anderen abwärts. Das Trini lief mit allen Kräften den Berg hinauf, es hatte noch einen ziemlich langen Weg zu machen. Das Häuschen der Großmutter stand hoch oben und war das höchste von ganz Hochtannen. Jetzt kam das Trini am Hof der Goldäpfelbäuerin vorbei. Sie schaute eben über die Hecke, die den Hof umschloß, und als sie das Kind so vorbeirennen sah, rief sie ihm zu: »Komm doch einmal hierher und zeig mir deine Beeren!«
Das Trini war in seinem Eifer schon ein gutes Stück über die Stelle hinaus, wo die Bäuerin stand, aber es kam schnell zurück, denn die Aussicht, die Beeren gleich verkaufen zu können, kam ihm sehr gelegen.
»Hast du auch etwas Rechtes? Zeig her!« fuhr die Bäuerin fort, als das Trini an der Hecke stand und seinen Kratten zu ihr emporhob. »Ich kaufe sonst keine solche Ware, es wächst Besseres auf meinem Hof. Aber man sagt, eingekocht sei das Zeug gut gegen allerhand Übel. So gib's her! Was geben sie dir unten im Wirtshaus für die Beeren?«
»Einen Franken«, antwortete das Trini.
»So, das ist auch genug für solches Beerenzeug. Aber du mußt's haben, um deiner Großmutter willen, das ist eine brave Frau, die viel arbeitet. Du bringst ihr doch das Geld heim und machst keinen Firlefanz damit?«
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnete das Trini. Es sah die Bäuerin mit Augen an, die denen einer kleinen, wilden Katze nicht unähnlich waren, denn es ärgerte sich über diesen Verdacht. Die Bäuerin lachte und sprach:
»Nur nicht gleich so aufgebracht, so etwas kommt auch vor. Aber komm, wir wollen wieder gut Freund sein! Da, das ist der Franken für die Großmutter, und wenn ich dir noch einen Münze für dich gebe, so wird's dir auch nicht leid sein. So, jetzt lauf wieder!«
Das Trini dankte hocherfreut und lief davon, hörte auch nicht zu rennen auf, bis es oben beim Häuschen angekommen war. Jetzt stürmte es in die kleine Stube hinein, wo es fast dunkel geworden war. Nur ein letzter, lichter Streifen am Abendhimmel schimmerte noch in das Fenster hinein, dort wo die Großmutter saß. Das Trini stürzte zu ihr hin und erzählte so eifrig von seinen Erlebnissen, daß immer das zweite Wort vor dem ersten heraus wollte. Es dauerte ziemlich lange, bis die Großmutter verstanden hatte, daß die Erdbeeren schon verkauft seien und ein ganzer Franken und noch ein Geldstück dazu dafür bezahlt worden war. Auch den mußte die Großmutter nehmen, das Trini wollte kein Geld behalten, denn es sollte alles der Großmutter gehören. Daß sie heute noch ein Geldstück über das Gewöhnliche hinaus bekam, machte dem Trini eine besondere Freude.
»Ja, Großmutter, und siehst du«, fuhr das Trini immer noch halb außer Atem fort, »ich war vor allen anderen zuerst fertig und hatte doch den Kratten so voll wie kein anderes Kind. Das Maneli hatte seinen nicht halb voll. Es machte auch furchtbar langsam, und wenn es an einem guten Platz war, an den ich auch kam, so hatte ich schon wieder alles weggerupft, ehe es nur eine Handvoll erwischen konnte.«
Die Großmutter hatte sich sehr über die guten Nachrichten und auch über den reichlichen Gewinn des Kindes gefreut. Aber jetzt sagte sie ernsthaft: »Aber Trineli, du stößt doch nicht etwa das Maneli weg, wenn es einen guten Platz gefunden hat, so daß du dann die Beeren bekommst? Das wäre nicht recht.«
»Doch, freilich, das tue ich schon, das tut man immer, Großmutter«, versicherte das Trini. »Es muß jedes sehen, daß es die meisten und die schönsten erwischt. Daher geht es dann natürlich immer so rauh zu.«
»Nein, nein, das mußt du mit dem kleinen, schwachen Maneli nicht mehr tun«, mahnte die Großmutter. »Siehst du, es kann nicht neben dir aufkommen, es ist kraftlos und kann sich nicht wehren, und seine Mutter hätte die Beeren nötig. Sie weiß gewiß manchmal nicht, wo sie für alle die kleinen Kinder Brot hernehmen soll. Tue das nicht mehr, Trineli, laß das arme Kleine ein andermal auch zu seinen Beeren kommen. Aber jetzt setz dich zu mir her«, fuhr die Großmutter in einem anderen Ton fort, »ich habe etwas mit dir zu reden, du bist vernünftig genug, um es zu verstehen.«
Neugierig setzte sich das Kind hin, denn es war noch nie vorgekommen, daß die Großmutter es so ernst anblickte, um mit ihm zu reden.
»Trineli«, fing sie jetzt bedächtig an, »wir müssen daran denken, was du für Arbeit tun könntest, wenn du nun im Frühling aus der Schule kommst. Der Vetter aus dem Reußtal ist heute morgen hier gewesen. Im Herbst könntest du zu ihm hinunterkommen und dir dort in der Fabrik etwas verdienen. Vielleicht würde es dein Glück sein. Du könntest von einem Jahr zum anderen weiterkommen und so deinen Weg machen. Was meinst du dazu?«
»Lieber will ich sterben!« rief das Trini zornig.
»Mußt nicht so unbedacht reden, Trineli«, mahnte die Großmutter freundlich. »Sieh, der Vetter will etwas für dich tun. Er meint es gut, wir wollen ihn nicht böse machen, wir wollen noch miteinander über die Sache nachdenken.«
»Und wenn der Vetter käme und mich tausendmal töten wollte, so ginge ich doch nicht!« rief das Trini, und man konnte sehen, wie es immer wütender wurde.
»Wir wollen jetzt nichts weiter sagen. Wenn es für dich gut ist, so wird es so sein müssen, Trineli, und dann wollen wir's annehmen und denken: ›Der liebe Gott schickt's, es muß gut sein‹.«
Die Großmutter wollte damit das Gespräch beenden, aber das Kind fing plötzlich an, bitterlich zu weinen. Die Tränen stürzten ihm wie Bäche aus den Augen, und unter heftigem Schluchzen stieß es hervor: »Großmutter, wer soll dir dann Holz und Wasser bringen, wenn es kalt wird? Was willst du denn machen, wenn du wieder im kalten Winter nicht aufstehen kannst, und es ist kein Mensch bei dir und zündet Feuer an und macht dir ein wenig Kaffee und bringt ihn dir? Und du bist ganz allein und kannst nichts machen, und wenn du rufst, so kommt kein Mensch. Ich gehe nicht, Großmutter, ich kann nicht gehen! Ich kann nicht!«
»Komm, Trineli, komm«, sagte beschwichtigend die Alte, die einen solchen Ausbruch nicht erwartet hatte, »komm, wir müssen nun unser Abendbrot essen, und dann wollen wir beten und zu Bett gehen. Über Nacht hat der liebe Gott auch schon manches anders gemacht, als es am Abend vorher war.«
Aber das Trini mit seiner heftigen Gemütsart war nicht so schnell wieder im Gleichgewicht. Es konnte keinen Bissen hinunterbringen, und bis tief in die Nacht hinein hörte die Großmutter sein Schluchzen und Weinen. Das war ein neuer Kummer für die alte Waschkäthe. Sie hatte nicht geglaubt, daß das Kind sich so über den Vorschlag des Vetters aufregen würde.