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Im Doktorhause auf Buchberg herrschte eine ungewöhnliche Aufregung. Der Monat Juli war gekommen, und die lang ersehnte Abreise nach dem schönen Gute am Rhein stand in nächster Aussicht. Nur noch einen Tag, und sie war erlebt. Schon stand der große Koffer fest gepackt und geschlossen unten im Hausflur, fertig gerüstet zur Reise. Jetzt handelte es sich noch darum, die Taschen und Reisesäckchen, die als Handgepäck mitgenommen werden sollten, mit den notwendigen Dingen zu füllen. Diese Arbeit war gar nicht so leicht, wie man denken könnte, im Gegenteil, es war für Mutter und Tante die schwierigste Aufgabe, die auf die Reise hin zu lösen war. Für die Kinder schien sie mit noch mehr Anstrengung verbunden zu sein, denn atemlos liefen alle drei ältesten beständig treppauf, treppab, immer beladen, öfters mit den sonderbarsten Gegenständen, mit denen sie dann meistens nach geschehener Vorweisung wieder rückwärts eilten. Bis jetzt hatten Mutter und Tante entschieden, was in den Koffer gepackt und mit auf die Reise genommen werden sollte. Nun durften die Kinder selbst wählen, was sie noch am liebsten in ihre Reisesäckchen stecken wollten. Doch war ihnen bestimmt gesagt worden, Unnützes werde zurückgewiesen. Nun hatten die drei aber ihre eigenen Ansichten darüber, was am nötigsten sei. So kam Fred herangekeucht, unter jedem Arm vier große, solide Schachteln, jede mit dicken Schnüren so manchmal umwunden, daß sie fest bleiben mußten, auch wenn die Reise bis nach Hinterindien gehen sollte. Er kam zur Tante hin damit, während Emmi eben sich mühsam an ihm vorbei zur Mutter drängte. Sie hatte unter dem einen Arm eine schwere Rolle, unter dem anderen ein so ungeheures Paket, daß sie es kaum zu halten vermochte.
»Nein, Fred, das geht nicht«, sagte die Tante, »wie sollten deine acht Schachteln in dieses Säckchen gesteckt werden, und wozu auch? Was da drin ist, kannst du nicht nötig haben zu deinem Aufenthalt.«
»Aber, Tante, da sind ja sechs davon voll lebendiger Tierchen, denk doch nur, wie nötig, daß ich sie mitnehme«, eiferte Fred. »Wie sollten sie am Leben bleiben ohne Nahrung und ohne Pflege und immerwährende Besorgung? Bedenk nur, Tante! Und in den anderen beiden sind die Arten von den verschiedenen Käfern und Schnecken und Raupen, die ich dann am Rhein auch finden werde, aber natürlich wieder mit allerlei Verschiedenheiten. Dann muß ich diese bei mir haben, um sie zu vergleichen. Vielleicht, wenn wir aus allen Kräften drücken und stoßen, geht es doch; oder dann auch nur die Schachteln mit dem Lebendigen.«
»Es ist unmöglich, Fred, und auch unnötig. Trage du nur alles das wieder in dein Zimmer hinauf«, sagte die Tante mit Freundlichkeit, »und sei nur ohne Sorge, ich will deine Tierchen füttern und nach ihnen sehen, bis du wiederkommst. Die anderen läßt du auch da, und wenn du dann wissen willst, welche Arten du hast oder nicht hast, so schreibst du mir, und ich berichte dir alles, so gut ich es kann.«
Unterdessen hatte die Mutter mit Staunen die zwei unförmlichen Gegenstände angesehen, die Emmi auf den Tisch legte, um sie in die Reisetasche zu stecken.
»Was in aller Welt ist denn in dieser dicken Rolle, die nicht einmal im großen Koffer Platz gehabt hätte? Wo denkst du hin, Kind?« mahnte die Mutter.
»O Mama, vielleicht kann man sie oben auf die Tasche binden, ich kann sie schon tragen, ich muß sie wirklich mitnehmen«, versicherte Emmi eifrig. »In der Rolle sind alle Zeichenvorlagen, die dem Fani so gut gefallen haben, er hat mir noch geschrieben, er denke noch an die schönen Vorlagen, die wir in der Schule hatten, und an die, welche wir am Christbaum bekommen hatten. Nun habe ich alle die unseren zusammengepackt und auch noch einige vom Herrn Lehrer entlehnt und ihm gesagt, daß sie nicht verdorben werden und daß ich sie wiederbringe. Fani wird gewiß so froh sein darüber!«
»Aber das ist ja völlig unnütz, Emmi!« mußte die Mutter ausrufen. »Bedenk doch, daß Fani seit einem Jahr seinen eigenen Zeichenlehrer hat, der den Schüler zeichnen läßt, was er für gut hält, und der gewiß der Vorlagen genug und von allen Arten hat. Das ist nun gar nichts, die Rolle trägst du wieder weg. Aber was steckt denn in dem unförmlichen Paket? Auch dies ist ja um die Hälfte zu groß, da hineingeschoben zu werden.«
»Ja, ich dachte es schon«, sagte Emmi etwas niedergeschlagen, »aber ich dachte, dann könnte ich es auf den Schoß nehmen; das muß gewiß durchaus mit, Mama. Es ist das Buch, das ich mir zu Weihnachten gewünscht habe, du weißt wohl: ›Leben berühmter Künstler‹; das muß ich Fani zum Lesen bringen, und damit ich den schönen Einband auf der Reise nicht verderbe, habe ich die zwei Unterröcke darum gebunden, die ich noch mitnehmen muß, und dann den Regenmantel und dann meinen kleinen Tischteppich und dann noch ein Wachstuch.«
»Du hast unglückliche Einfälle, Emmi«, klagte die Mutter, »so können wir ja niemals fertig werden. Komm, wir wollen das Buch aus allen Hüllen herausholen, denn so können wir es vielleicht hier hineinstecken; daß wir nur Zeit zu allem finden! Noch haben wir kein einziges Ding von euch in Händen, das ihr wirklich braucht, und schon so lange habt ihr euch besinnen und die Sachen vorbereiten können! Nun müssen wir dastehen beide, die Tante und ich, und können nichts fertig machen.«
»Um aller Liebe willen, Oskar, was schleppst du herbei«, rief eben erschrocken die Tante dem Kommenden entgegen.
Mit starkem Gerumpel nahte Oskar, eine Trommel hinter sich nachschleppend, die er nicht mehr tragen konnte, denn mit dem einen Arm hielt er eine große Schelle fest, mit dem anderen eine Handharmonika und eine Flöte. Er trat zu der Tante heran.
»Aber, lieber Oskar«, rief diese wieder aus, »deine eigene Vernunft muß dir ja sagen, daß da hinein keine Trommel geht, und was hast du nur mit all den Instrumenten im Sinn? Frau Stanhope würde sich bedanken für solche Musik.«
»Es ist nicht für das Haus, Tante, es ist für draußen, die Festmusik zu machen«, erklärte Oskar. »Ich habe nur Freds Trommel genommen, die kleine, nicht meine große; sieh nur, Tante, vielleicht geht die doch hinein.« Oskar maß seine Trommel am Reisesacke, aber er erkannte das Unmögliche, der Sack war wohl um die Hälfte zu eng. Auch die große Schelle mußte weggelegt werden, wie sehr auch Oskar jammerte, sie wäre so nötig, die Festgäste zusammenzuläuten.
»Und wem gehört denn die Flöte?« fragte die Tante verwundert, »sie ist ja ganz schön«.
»Dem Feklitus, er muß jetzt lernen Flöte spielen«, berichtete Oskar. »Er wollte sehr gern mir die Flöte leihen, denn wenn sie fort ist, kann er nicht spielen, und darüber ist er froh.«
Nun standen Mutter und Tante wieder an, die Flöte ohne Zustimmung der Eltern Bickel einzupacken. Jetzt kam Fred wieder her mit einer neuen Ladung der mannigfaltigsten Gegenstände. Gleich hinter ihm steckte die Kathri den Kopf zur Tür herein und rief: »Frau Bickel will zur Frau Doktorin.«
»Die Zeit ist schlecht gewählt«, sagte diese seufzend. »Ich werde eben gehen müssen und wieder alles auf dir liegen lassen«, setzte sie zu der Tante gewendet hinzu. »Und ihr, Kinder, daß ihr nur endlich das Nötige und nicht tausend andere Dinge herbeibrächtet!« Dann ging sie, den Besuch in der anderen Stube zu empfangen. Der Frau Bickel konnte man ansehen, daß sie etwas Gewichtiges auszuführen im Sinne hatte. Sie hatte den rot und gelben Schal umgelegt, und auf dem Hute trug sie eine große, weiße Feder, so groß und buschig, wie die Frau Doktorin noch gar keine gesehen hatte.
Als die beiden Frauen sich gegenübersaßen und die Frau Doktorin hoffte, sie könne dem besonderen Gesuche, das Frau Bickel hergebracht haben mußte, bald entsprechen und dann an ihre Arbeit zurückkehren, da begann Frau Bickel mit der Bemerkung: sie finde, der Stand des Wetters werde immer schlechter. Die Frau Doktorin stimmte ihr bei. Dann sprach Frau Bickel über die Kirschen, die in diesem Sommer weniger als je geraten wären. Von den Kirschbäumen kam sie auf die Apfelbäume, denn sie liegen nicht weit auseinander. Der Frau Doktorin brannte der Boden unter den Füßen. Sie mußte sich fortwährend darum kümmern, ob die Tante wohl mit dem Packen zu Ende kommen werde und ob auch über all den unnötigen Dingen nicht am Ende das allernötigste vergessen werde. Jetzt kam ihr die Flöte in den Sinn. Gleich fragte sie, ob Feklitus mit Erlaubnis der Eltern seine Flöte ausgeliehen habe, anders dürfte Oskar sie nicht annehmen. Dadurch kam nun Frau Bickel ganz unvermerkt auf ihre eigene Angelegenheit. Sie sagte, es schicke sich nun gerade besonders gut mit der Flöte, denn ihr Mann und sie hätten beschlossen, den Feklitus die Rheinreise auch machen zu lassen, dann werde er wohl etwa Frau Stanhope zur Freude ein wenig aufspielen müssen, um so mehr, da doch von den Doktorskindern keines Musik machen könne. Sie hätten eben auch gedacht, ihr Mann und sie, es sei für alle schön, dann wieder so beisammenzusein, und dort unten könnten dann die Leute auch sehen, daß die Doktorskinder denn doch auch noch ganz andere Freunde daheim hätten als nur die zwei, die Frau Stanhope mitgenommen. Hier unterbrach die Frau Doktorin die Sprechende und sagte ihr, deswegen müßte sich niemand bemühen; schon hier habe Frau Stanhope gesehen und gehört, daß Fani und Elsli zu den liebsten Freunden ihrer Kinder gehörten. Sie fragte dann, ob Frau Bickel den Wunsch habe, den Feklitus gleich mit ihren Kindern reisen zu lassen. Frau Bickel verneinte und fügte bei, so etwas würden sie nie tun. Als Verwandten von den Kindern ihres Hauses würde dann Frau Stanhope den Feklitus natürlich auch in ihr Haus einladen wollen, und das würden sie nie annehmen, es wäre ja, wie wenn man nicht bezahlen könnte. Aber es wäre ihnen lieb, wenn Oskar nach seiner Ankunft genau schreiben würde, wie der Feklitus die Reise zu machen habe, und sie dann auch benachrichtigen wollte, welches der erste und vornehmste Gasthof in der Gegend wäre. Dort könnte dann ihr Sohn absteigen und die Stunden außer den Mahlzeiten mit den Kindern zubringen. Oskar würde ihn dann wohl an der Bahn abholen und in den Gasthof begleiten. Heimholen würde ihn dann der Herr Bickel selbst, indem er auch gedenke eine Rheinreise zu machen und die Verwandten im Hause der Frau Stanhope zu besuchen; das schicke sich doch nicht anders.
Die Frau Doktorin hatte geduldig der ziemlich langen Mitteilung zugehört, aber ihre Gedanken waren öfters nach der anderen Stube hinübergeschweift. Wie konnte nur die Tante allein mit der vielen Arbeit fertig werden!
Sie versprach nun der Frau Bickel, es sollte alles ausgeführt werden, so wie sie es wünsche, und hoffte, nun könne sie der Tante wieder zu Hilfe kommen. Aber Frau Bickel mußte nun erst noch ihren Rat haben, was wohl zu einer solchen Reise alles mitgenommen werden müsse, ob sie denke, sechs neue Anzüge wären recht, und ob man nicht am besten tue, da doch so im fremden Lande einem natürlich alles verdorben werde, gleich einen eigenen großen Koffer mit neuen Hemden anzufüllen, daß man keines müsse waschen lassen. Die Frau Doktorin sagte, sie hätte nicht so viel mitzuschicken, Frau Bickel möge darin nach ihrem Gutdünken handeln.
Es dunkelte schon, als der Besuch sich endlich entfernte, und die Mutter eilte zur Packstube zurück. Die Tante hatte das Werk beendet und war mit Oskar verschwunden. Die Zurückgebliebenen waren schon darum in Aufregung gekommen, denn jedes hatte der Tante noch etwas Besonderes zu sagen, und nun hatte der Oskar sie ganz allein in Beschlag genommen. Dazu kam, daß das Rickli beim Anblick all der Reisevorbereitungen aller der schönen Dinge vergessen hatte, die ihm in Aussicht gestellt worden waren, um ihm die Reisefreuden zu ersetzen. Mutter und Tante hatten nämlich gefunden, das Kind sei noch zu klein, um die Reise mitzumachen; zum Ersatze aber sollte das Rickli so viele herrliche Genüsse daheim haben, daß es selbst gefunden hatte, das gefalle ihm viel besser als eine so unsichere Reise ohne Mutter und Tante. Aber alle die vielverheißenden Zurüstungen hatten das Rickli wieder ganz aus dem Geleise gebracht. Jetzt saß es vor Zorn am Boden zwischen den Reisesäcken und schrie immer lauter, während Emmi eifrig tadelnd vor ihm stand und Fred zu singen begann:
»Das Rickli und der Hanseli
Sind ganz wie zwei Geschwister.«
Die Mutter trat jetzt beschwichtigend hinzu, zog das Rickli vom Boden auf und hieß die Kinder sich um sie setzen. Am letzten Abend vor der Abreise wollte sie noch ein ruhiges Stündchen mit ihnen zubringen, und nun, da Emmi und Fred Gelegenheit hatten, mit der Mama noch die wichtigen Punkte zu besprechen, die ihnen am Herzen lagen, beruhigten sie sich über Oskars Inbeschlagnehmen der Tante.
Als dann das Rickli im Laufe des Gesprächs vernahm, über wie viel Dinge die beiden Geschwister im Zweifel waren, was sie da und dort zu tun hätten und was man zu Frau Stanhope sagen dürfe und was nicht, da dachte es im stillen, es sei doch sicherer, daheim bei Mutter und Tante zu bleiben; und die Aussicht auf so viele Spaziergänge mit ihnen und den Hauptanteil an allen Kirsch- und Apfelkuchen zu haben, war doch besser als die ungewissen Lagen, in welche die Geschwister geraten mußten. Das Rickli wurde wieder sehr froh über sein Los.
Oskar hatte die Tante in das abgelegenste Zimmer auf dem Boden geführt, wo die ungebrauchten Betten standen und also niemand hinkam. Zur Vorsicht schob er noch den Riegel vor, denn er hatte noch etwas so Wichtiges mit der Tante zu verhandeln, daß er durchaus ungestört mit ihr bleiben mußte. Auf sein Gesuch hin, das er in die Öffentlichkeit hinaus getan hatte, waren ihm fünfunddreißig Fahnensprüche eingegangen. Beim Lesen nun fand er immer wieder den einen noch schöner als den anderen und kam so in einen ganz peinlichen Zustand der Ungewißheit hinein, welchen von allen er wählen sollte.
Gewählt mußte aber sein, die Fahne konnte nur einen Spruch tragen, und daß er nach und nach bis zu fünfunddreißig Fahnen kommen würde, also alle die schönen Sprüche verwenden könnte, das durfte Oskar doch nicht erwarten. Da konnte nur die Tante helfen, sie mußte entscheiden. Freilich war es nun nicht das erste Mal, daß er diese Sache mit ihr besprechen wollte, sondern wohl schon zehnmal hatte er längere Unterredungen darüber mit ihr gehalten. Immer aber war man ohne völligen Entscheid bei drei Sprüchen stehen geblieben, unter denen einer gewählt werden sollte. Nun hatten aber die beiden Beratenden noch nie völlig übereinkommen können mit den dreien, denn dem Oskar war es nicht wohl dabei, denjenigen auszuwählen, den die Tante nicht mochte, und doch hatte er gerade für den eine Vorliebe. Er wollte gern die Tante dazu bringen, daß auch sie für diesen Spruch stimme.
»Sieh, Tante«, begann er, als sie nun in Ruhe und Sicherheit eingeschlossen waren, »nun will ich dir noch einmal alle drei vorsagen, und dann sage du selbst, welcher von allen ohne Zweifel am schönsten tönt. Zuerst kommt also der, den du nehmen würdest:
›Trommeln wirbeln, Fahnen weh'n,
Feste feiert, Feste!
Alle Menschen leben hoch
Und voran die Gäste!‹
Das ist ja nun schon ein schöner Spruch, aber ich konnte ja nicht einmal die Trommel einpacken. So kann ich ihn ja nicht brauchen, wie sollen denn Trommeln wirbeln?«
»Es gibt schon auch Trommeln am Rhein, vielleicht hat auch Fani schon eine erhalten«, meinte die Tante; »und zu deinem Zweck ist der Spruch nicht übel. Den zweiten habe ich ein wenig vergessen, sag den einmal!«
»Der heißt so«; Oskar deklamierte weiter:
»Ein Fest! Ein Fest! Kommt immer mehr,
Ihr Schweizer all', ihr Schweizer!
Laßt die Billetts, Herr Kondukteur,
Die Kohlen laßt, Herr Heizer!
Und macht ihr Stiefel oder Bier,
Kommt all', ihr seid willkommen hier!«
»Der wäre noch schöner, eigentlich recht schön, was meinst du, Tante?«
»Ja, er ist auch ganz passend für das Fest«, stimmte die Tante bei, »aber etwas lang, den könnte doch Elsli kaum auf eine Fahne brodieren.«
»Eben darum, siehst du, der geht nicht«, rief Oskar aus, sehr erfreut über den Beseitigungsgrund, den die Tante selbst gefunden hatte. »Aber nun hör einmal den an, so kurz und so prächtig:
›Und wir wollen hindurch, und wir wollen voran,
Und wir wollen die Freiheit von allen,
Und wir geben nicht nach, bis der letzte Tyrann
Und die letzte der Ketten gefallen!‹
Hörst du wohl, Tante?«
»Ja, das tönt nun so ganz großartig in die Ohren, das ist aber nichts«, sagte bestimmt die Tante. »Ich weiß auch gar nicht, wo die Tyrannen sind, die ihr zu beseitigen hättet. Den Spruch laß du nur ganz beiseite! Nimm den ersten oder noch einen anderen unter der großen Zahl, die dir noch bleibt!«
Oskar kam in eine große Aufregung. Nun war es schon so spät und so wenig Zeit mehr, die Tante zu bearbeiten und auf seine Seite zu bringen. Das mußte aber sein, den Spruch konnte er nicht lassen, aber die Tante mußte doch damit einverstanden sein.
»Aber Tante«, begann er eindringlich, »das ist doch sicher, daß es einmal Tyrannen gegeben hat, du weißt ja wohl das Gedicht:
›Zu Dionys dem Tyrannen schlich.‹
Also kann es ja auch einmal wieder Tyrannen geben, und dann wäre doch dieser Spruch prachtvoll, das mußt du gewiß selbst sagen, nichtwahr?«
Die Tante konnte sich nicht weiter aussprechen. Ein fürchterliches Klopfen und Stoßen an der Tür machte allem ein Ende. Emmi und Fred hatten vergebens alle bewohnten Zimmer durchstürmt, um die Tante und den Oskar zu finden. Da sie nun alle gegenseitig ihre Schliche kannten, waren die beiden gleichzeitig die Bodentreppe hinaufgerannt, und die verriegelte Tür zeigte ihnen sofort, daß die Gesuchten gefunden seien.
Jetzt schrie Emmi durchs Schlüsselloch: »Tante, Tante! Bitte komm schnell, der Papa ist schon da; man muß schnell zu Abend essen, Mama hat uns geschickt!«
Und Fred lärmte hinter ihr aus allen Kräften: »Komm heraus, Oskar, hurtig, der Papa hat nach dir gefragt!«
Nun war alles aus. Schon hatte die Tante die Tür aufgemacht, und fort war sie, Oskar mußte nach. –
Als am frühen Morgen des anderen Tages der Wagen draußen auf dem Platze stand und drinnen im Stall der Knecht die Rosse zur nahen Abfahrt putzte, trat der Vater in die Stube ein, wo Mutter und Tante noch die letzte Hand an die Reiseanzüge der drei Kinder legten.
»Ich will euch Lebewohl sagen, die Kranken warten auf mich, ich kann euch nachher nicht mehr sehen«, sagte er. »Mit dir, Oskar, will ich noch ein Wörtlein reden. Höre, nimm dich in acht mit deinen Plänen und Gründereien, wo du nun hinkommst! Du bist ja auf einem fremden Boden, da ist es nicht wie daheim, wenn man etwas Dummes anstellt. Weißt du, hier kennt dich jedermann, und machst du etwas recht Ungeschicktes, so heißt es eben: ›Der Bub gehört dem Doktor, der wird's wohl wieder in Ordnung bringen, und der kann dann zusehen, wie alles wieder gutzumachen ist.‹ Dort unten hast du dich selbst zu verantworten, fang also nichts an, von dem du nicht sicher weißt, daß es keine unliebsamen Folgen haben kann, weder für dich noch für die, bei denen du zu Gast bist! Du wirst uns ja auch vor Frau Stanhope keine Schande machen wollen. Du bist groß genug, zu verstehen, was ich meine, denke daran! Nun lebe wohl, Junge, und du Emmi, und du Fred, macht euch lustig, und tut alle recht!« Damit schüttelte der Vater alle die ausgestreckten Hände und ging dann zur Tür hinaus.
Die Mutter hatte Emmi auf die andere Seite der Stube genommen, sie mußte noch ein besonderes Wort zu dem Kinde sprechen. Die ungeheure Rolle und das Buch, das Emmi schon so fieberhaft zu Weihnachten begehrt und nun durchaus mithaben wollte, hatten in der Mutter allerlei Bedenken erweckt. Jetzt ermahnte sie Emmi sehr ernstlich, doch ja den Fani zu keinen Unternehmungen zu verleiten, die Frau Stanhope mißbilligen könnte. Emmi solle bedenken, wie wohl es ihrem Freunde Fani nun sei und welch schönen Lebensweg er vor sich habe, wenn Frau Stanhope so ganz für ihn sorge. Aber nun heiße es auch für ihn so zu leben, wie sie es anordne, und keine Streiche und Sprünge nach eigenen Gelüsten zu machen. Emmi müßte sich ja zeitlebens Vorwürfe machen, wenn sie mit ihren Einfällen für Fani das gute Verhältnis zwischen ihm und seiner Beschützerin stören würde.
Emmi versprach hoch und teuer, daß sie den Fani zu gar nichts anstiften, noch irgend etwas tun würde, das der Frau Stanhope nicht recht sein könnte, und daß sie gewiß nur ausdenken wollte, wie der Fani seiner Wohltäterin rechte Freude machen könnte.
»Lieber gar nichts ausdenken, Emmi«, schloß die Mutter. »Freue du dich dankbar mit dem Fani für alles, was ihm und nun auch euch geboten wird, und suche nicht besondere Dinge aufzubringen, wie sie dir nun gar zu leicht einfallen. Und nun noch eins, Emmi: vergiß nicht, täglich dich in Gottes Schutz zu übergeben und ihn zu bitten, überall mit dir zu sein und dich deine guten Vorsätze ausführen zu lassen! Du weißt, wenn er nicht allerwege mit uns ist und uns schirmt und schützt, so sind wir überall in Gefahr und tun auch nicht, was gut und recht ist und was uns wohl macht. Nun ihr so weit fortgeht, ist meine einzige Beruhigung die, daß ihr in Gottes Hand steht, dort wie hier. Unterlasse es nie, zu beten, daß diese Hand dich fest halte, wie wir es daheim jeden Abend zusammen tun! Das willst du ja, mein Kind, nichtwahr?«
Emmi sagte, das würde sie nie vergessen und gewiß wie daheim alle Morgen und Abend beten wollen; die Mutter solle nur keine Angst haben.
Am Fenster stand derweilen die Tante mit dem dritten. »Fred«, sagte sie in großer Freundlichkeit, »das versprichst du mir und willst es nie vergessen, daß es bei Frau Stanhope durchaus nicht angeht, daß du von deinen Tierchen, und wären es die allerschönsten, in den Taschen mit herumträgst oder gar zu Tisch bringst, daß dir unversehens eines herausfährt, wie es etwa daheim geschieht. Nichtwahr, Fred, du denkst daran? Frau Stanhope könnte so etwas gar nicht begreifen und nicht dulden, du könntest dir damit deinen Aufenthalt ganz verderben, und er kann ja so schön werden!«
»Keine Sorge, Tante! Die Kerle, die ich einfange, will ich schon einsperren, daß sie ruhig sind«, versicherte Fred, »du sollst sehen, was ich nach Hause bringe, Tante, da wirst du einmal deine Freude haben!«
Bis jetzt hatte das Rickli da und dort mit Befriedigung ein wenig den Ermahnungen zugehört, denn es fühlte sich sehr erhoben als das einzige Glied der Familie, das keine nötig hatte.
Der Wagen draußen und das Wiehern der Rosse hatten aber doch wieder einen Aufruhr in seinem Innern erweckt, der immer höher schwoll.
Als die Tante von Fred wegging, setzte es gleich ein: »Ja, ja, Fred, du kannst dann sehen, was Frau Stanhope zu dir sagt, wenn auf einmal über das weiße Tischtuch hin eine gräßliche Kröte und eine rote Schnecke und eine Blindschleiche springen.«
»Nein, Rickli, das kann ich dann hören«, versetzte der Fred gelassen, »rote Schnecken und Blindschleichen springen aber niemals.«
»Ja, ja«, eiferte das Rickli weiter, »dann kannst du auch hören, wie Frau Stanhope dich zur Tür hinausstellt und dir alles Essen wegnimmt.«
»Nein, Rickli, das kann ich dann sehen«, berichtigte Fred.
»Ja, dann kannst du hören und sehen miteinander, wie es ist«, fuhr das Rickli in Aufregung fort, »wenn Frau Stanhope dich auf der Stelle heimschickt und du dich vor allen Leuten schämen mußt auf der Eisenbahn und dann noch daheim und in der Schule.«
»Nein, Rickli, das kann ich dann empfinden«, korrigierte Fred.
Nun hörte man die Peitsche knallen. Das war das Zeichen zur Abfahrt. Gleich nachher saßen die drei im Wagen, und lustig trabten die Rosse davon. Mutter und Tante blieben oben am Wege stehen und winkten mit den Tüchern so lange, bis der Wagen um die Ecke herum und verschwunden war.
Jetzt sagte die Mutter seufzend: »Wenn sie nur auch vor allem Unfall behütet werden und uns wohlbehalten wiederkehren!«
Aber die Tante versetzte gleich zuversichtlich: »Das werden sie ja, will's Gott! Ihm wollen wir sie anbefehlen und ihn bitten, daß er seinen Engel über sie wachen lasse, dann sind sie ja besser beschirmt, als wenn wir alle beide mit könnten, um sie zu beschützen.«