Johanna Spyri
Gritlis Kinder kommen weiter
Johanna Spyri

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Erstes Kapitel

Die neue Heimat

Der Winter war vorüber. Wieder waren die Frühsommerrosen aufgegangen und rankten hoch hinauf an dem schönen Landhause am Rhein. In allen Beeten des Gartens blühten und glühten sie im lichten Sonnenschein, und weithin über alle Wege war süßer Rosenduft ausgegossen. Auf dem weißen Steinpfade, der vom plätschernden Springbrunnen zu den Lindenbäumen am Rhein hinunterführte, schlenderten Fani und Elsli und tranken die lieblichsüßen Lüfte ein, die sie rings umwehten.

»Weißt du, Elsli, woher das Haus der Frau Stanhope seinen Namen hat?« fragte Fani, indem er an einem der duftenden Blumenbeete stillstand und mit Wohlbehagen zuschaute, wie die leichten Schmetterlinge von einer Rose zur anderen flogen und dann hoch in die blaue Luft aufstiegen und wonnig herumflatterten.

»Ja, das weiß ich wohl, Fani«, gab Elsli zurück, »Rosenhalde heißt das Haus, weil so viele Rosen hier blühen von oben an bis zum Lindenplatz hinunter.«

»Richtig. Aber das ist doch gewiß nichts Trauriges«, sagte Fani ein wenig vorwurfsvoll. »Warum machst du denn ein so trauriges Gesicht, Elsli? Eigentlich machst du's fast immer jetzt, und das ist gar nicht recht, und du hast gar keinen Grund. Und dann siehst du, Elsli, Frau Stanhope sieht das auch, und das kann ihr nicht gefallen an dir; sie muß ja denken, du seiest schrecklich undankbar und merkest gar nicht, wie gut wir es haben, und das könntest du doch merken, wenn du nur denkst, wie es daheim war.«

»O, das weiß ich gewiß und vergesse es keinen Augenblick, und ich möchte so gern Frau Stanhope zeigen, wie dankbar ich ihr bin«, entgegnete Elsli fast ängstlich. »Aber weißt du, Fani, die Tante Klarissa hat doch auch gesagt, wenn wir es gut haben und der liebe Gott uns alles gibt, was wir nötig haben, und noch viel mehr, dann sollen wir auch an die denken, die in der Armut sind und im Elend, und sollen ihnen helfen, wo wir solche sehen. An die habe ich schon immer gedacht, ich weiß schon, wie es ist, und ich muß immer denken, ich sollte etwas tun für jemand und von dem vielen Guten, das wir bekommen, jemand etwas geben, der es nicht hat.«

»Ach was, Elsli, was meinst du auch!« rief Fani abwehrend aus, »hier ist ja niemand, der das nötig hätte. Hier sind ja die Knechte und Mägde Herrenleute. Hast du denn nicht gesehen, wie die Stubenjungfer Lina einen Hut aufsetzt, wenn sie ausgeht, und einen rot und gelben Schal hat, gerade wie bei uns daheim die Frau Bickel? Und die Köchin hat so furchtbar rote Backen, daß man gut sehen kann, sie hat so viel zu essen, als sie nur wünscht, und der Kutscher trägt Handschuhe zum Fuhrwerken.«

»Ja, aber siehst du, Fani«, fing Elsli wieder an, »wenn wir nun schon so am hellen Tage zwei Stunden im Garten sein und tun dürfen, was wir wollen, dann meine ich immer, ich sollte gewiß für jemand etwas arbeiten, das er nötig hat, etwa Strümpfe für die Buben daheim, wenn ich nur Garn hätte; aber dafür darf ich gewiß nicht bitten, wir bekommen ja sonst schon so viel.«

»Ja natürlich, kein Wort darfst du sagen, Elsli, was denkst du auch!« eiferte Fani. »Und dann mußt du nur auch nicht vergessen, wie viel Kleider und Sachen Frau Stanhope der Mutter schickt. Noch letzte Woche ist ja ein großes Paket abgegangen, weißt du das schon nicht mehr?«

»Doch, doch, ich weiß es gut, und so manches Paket ist ja vorher schon geschickt worden«, bestätigte Elsli. »Ich meine nur, ich sollte doch auch etwas tun für jemand und mir nicht nur so wohl sein lassen wollen, wenn es doch so vielen nicht wohl ist.«

»Doch, das mußt du schon tun, weil es der Doktor befohlen hat; du weißt ja, er hat der Frau Stanhope gesagt, du müssest nicht so viel an den Büchern sitzen und so hintereinander lernen. Du müssest viel im Garten und an der Luft sein. Komm, wir wollen noch einmal zurück und um das große Rosenbeet herum, da kannst du noch einmal einen rechten Zug einschlucken von dem guten Geruch. O wie ist der so stark, hier noch merkt man ihn, komm!« Und Fani nahm das Elsli bei der Hand und fing an wieder den Weg hinaufzurennen. Aber es hielt ihn leise zurück.

»Ich kann nicht so gut laufen, wie du, Fani«, sagte es schwer atmend; »am liebsten möchte ich zu der steinernen Bank unter den Linden gehen und dort ein wenig sitzen.«

»Siehst du wohl?« bemerkte der Fani, indem er umkehrte und nun mit Elsli langsam hinunter den Lindenbäumen zu ging. »Jetzt siehst du, wie bald du müde bist! Es ist wohl gut, daß wir im Garten sein dürfen; komm, hier ist's schön, hier riecht's wieder neu und ganz prachtvoll, merkst du's?« Er hatte sich schon auf die Bank gesetzt und lehnte sich wohlig an den Stamm der alten Linde an, deren Krone in Blüten stand, die ihren süßen Wohlgeruch über die Bank ausströmten. Schäumend zogen die frischen Wasserwogen da unten fort und badeten im Vorüberziehen die tiefhängenden Äste.

»O, o! wie ist's doch hier so herrlich! Da wird's dir doch einmal recht wohl werden, Elsli, so recht zum Aufjauchzen«, meinte der Fani.

»O ja«, stimmte Elsli ein, aber auf das blasse Gesichtchen kam kein heller Freudenstrahl, wie er um Fanis Augen leuchtete. »Wenn ich hier sitze, denke ich immer an die Nora. Hier kann man so schön den Abendhimmel sehen. Dann denk' ich daran, wie schön es war an dem Abend, da sie dort hineinging. Wie der ganze Himmel so golden war, gerade wie wenn er ganz offen stünde und man sähe hinein, wie es drinnen ist, so leuchtend und flimmernd von der goldenen Sonne und dem kristallenen Wasserstrom. Und wenn es ein heller Abend ist und drüben wieder die roten Wölkchen kommen, dann meine ich immer, die Nora sieht hernieder daraus und winkt mir. Und ich möchte dann so gern zu ihr gehen, so gern.«

Jetzt sprang der Fani von der Bank herunter und rief in großer Aufregung: »Wie kannst du so reden, Elsli! Wir haben ein so schönes Leben, wie ein Mensch nur haben kann, und du redest nur so davon, wie wenn es nichts wäre und man lieber fortgehen wollte und nur gleich sterben. Das wollte ich gewiß nicht lieber, und du solltest das auch nicht wollen, und daß du nur nie so etwas vor der Frau Stanhope sagst: du könntest dann sehen, wie es käme! Sie schickte uns gewiß wieder heim, und dann weißt du, wie es wäre! Und siehst du, sonst denkt sie gar nicht daran, das habe ich schon ein paarmal bemerkt, wenn ich sagte, wie schön es sein müsse, ein Maler zu sein. Dann fängt sie so an von aller Zukunft zu sprechen, und ich kann merken, daß sie annimmt, wir seien dann immer bei ihr und leben so fort mit ihr. Denk dir das einmal, ein ganzes Leben lang hier bleiben! Dann werd' ich ein Herr, und du eine Dame, so wie Frau Stanhope ist, und dann –.«

»O Fani, du machst mir noch viel mehr angst, als es mir schon ist«, unterbrach ihn Elsli jammernd. »Jeden Tag merke ich es mehr, daß ich gar nicht bin, wie Frau Stanhope es gern hätte, und ich kann gewiß nie so werden. Dann muß sie sich immer mehr ärgern, und sie wird mich nie, nie gern mögen, das spüre ich schon ganz deutlich, und zuletzt mußt du dich auch noch schämen, daß ich gar nicht so werden kann, wie ihr es gern wolltet.«

Fani hatte sich wieder hingesetzt, aber jetzt mußte er in der Aufregung, die ihm diese Worte wieder verursachten, noch einmal von der Bank herunterspringen! »Nein, Elsli, du denkst doch auch Sachen aus!« rief er vorwurfsvoll. »Warum tust du denn auch immer so etwas! Es ist ja gar nicht lustig! Warum denkst du denn nicht lieber an das viele andere, was so schön ist und was wir alle Tage wieder haben und das uns doch gewiß nur Freude machen kann?«

»Ich tue es gewiß nicht mit Fleiß, und ich wollte gern es nicht mehr tun«, entgegnete Elsli wie abbittend; »aber siehst du, wenn ich mich recht freuen will über etwas, dann kommt mir auch gleich daneben etwas Trauriges in den Sinn, und daran muß ich dann noch viel stärker denken, weil ich dann immer nachsinnen muß, ob ich nicht etwas tun könnte, daß es weniger traurig wäre. Ich sehe auch so manchmal Sachen, die du dann gerade nicht siehst, und die kommen mir dann immer wieder in den Sinn, und so heute den ganzen Tag.«

»Ja wo siehst du denn etwas, das ich nicht sehe?« fragte der Fani verwundert.

»Schon zweimal, wenn wir am Abend vom Spaziergange heimgekommen sind, haben wir einen Mann angetroffen mit einer schweren Hacke auf der Schulter, und gestern Abend wieder, du hast es nur nicht beachtet, weil du der Frau Stanhope so eifrig erzählt hast. Der Mann schaut so in den Boden hinein und sieht ganz aus wie der Vater daheim, wenn er am Abend so müde war und dann immer sagte: ›Wir kommen fast nicht durch, wie ich's auch mache; wenn ich nur keine Schulden machen muß!‹ Ich hatte dann immer eine solche Angst, daß er das machen müsse. Und gewiß hat der Mann solchen Kummer, wie der Vater hatte, und ich habe schon gedacht, wenn ich ihm nur einmal nachgehen dürfte und wüßte, wo er wohnt, dann könnte ich ihm vielleicht etwas Gutes tun und ihm ein wenig helfen.«

»Das darfst du nicht! Das darfst du nicht!« schrie Fani ganz erschrocken auf. »Weißt du denn nicht mehr, daß Frau Stanhope gleich zuerst uns ganz bestimmt verboten hat in andere Häuser hineinzugehen, die wir gar nicht kennen? Und wir dürfen auch nicht so anfangen zu reden mit den Leuten hier, wie wir daheim taten, das hat sie uns auch untersagt. Du darfst nie dem Manne nachgehen und mit ihm reden, nie, weißt du's jetzt wieder, und willst du's nicht vergessen? Es könnte ja sonst einmal eine furchtbare Geschichte geben, wenn du Frau Stanhope böse machen würdest.«

Elsli sann ein wenig nach; dann sagte es wieder: »Ich glaube aber doch nicht, daß Frau Stanhope das gleiche gemeint hat, was ich mit dem Manne meinte. Weißt du, sie hat es nicht gern, wenn die Leute uns so fragen, woher wir kommen und wie es daheim sei; aber ein armer Mann, der einen Kummer hat, ist ja etwas anderes, an solche Leute dachte sie gewiß gar nicht.«

»Ach was, das kann man nicht so auseinanderlesen«, unterbrach der Fani ungeduldig, »du mußt folgen und in keine fremden Häuser laufen, und nun wollen wir einmal von etwas anderem reden, das ist nun wirklich ein wenig langweilig; komm, ich zeige dir alles.«

Die Kinder saßen nun wieder nebeneinander auf der Bank und steckten die Köpfe zusammen, denn Fani hatte etwas aus der Tasche gezogen, das sie jetzt beide mit gleicher Aufmerksamkeit betrachteten. Es war ein sorgfältig ausgeführtes Landschaftsbildchen, in den frischesten Farben schimmernd. Elsli war ganz vertieft in den Anblick.

»Kannst du erkennen, was es ist?« fragte Fani.

»O, ja, im ersten Augenblick habe ich es schon erkannt«, versicherte Elsli. »Es ist die Rosenhalde, da sind ja die prächtigen Rosen ringsum und hier die Lindenbäume. O, wie die schön gemacht sind, Fani! Du kannst doch jetzt so prachtvoll malen! Die Emmi wird staunen, wenn sie kommt, sie denkt gewiß nicht, daß du so schöne Sachen machen kannst.«

»Ich freue mich auch so sehr, daß sie kommt«, rief Fani mit freudefunkelnden Augen. »Denn siehst du, Elsli, keinem Menschen kann ich so davon reden, wie ihr, wie ich so gern ein Maler werden möchte. Sie versteht es so gut und wollte es selbst so gern, fast so gern wie ich.«

»Möchtest du denn immer noch am liebsten ein Maler werden?« fragte Elsli erstaunt.

»Immer lieber, jeden Tag und nach jeder Zeichenstunde immer noch lieber«, versicherte Fani. »Ich habe nur nichts mehr gesagt, weil ich sehe, daß Frau Stanhope es nicht will. Siehst du, Elsli, ich glaube fast, sie hat im Sinn, uns ganz unser Leben lang hier bei sich zu behalten, fast so, wie wenn wir ihre eigenen Kinder wären; ich habe das schon mehr als einmal aus ihren Worten gemerkt; freilich wenn wir nicht etwa einmal etwas tun, das sie so ungern hat, daß sie uns fortschicken würde. Aber das wollen wir auch gewiß nicht tun. Aber siehst du, schon ein paarmal kam es so, daß ich sagte, am allerliebsten wollte ich doch ein Maler werden. Dann sagte sie, das sei ein Beruf für Menschen, die draußen in fremden Ländern leben wollten oder müßten. Ich dürfe auf der Rosenhalde so viel zeichnen und malen, als ich nur wollte, aber einen Beruf müsse ich nicht daraus machen, sonst müßte ich fort in die Welt hinaus. Da kannst du doch sehen, daß Frau Stanhope nicht daran denkt, daß wir wieder fort sollen.«

Elsli schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Fani. Ich meine, wir sind doch nicht daheim hier in dem schönen Haus, oder meinst du nicht auch? Es ist so, wie wenn wir noch immer auf der Reise wären, wie damals, als wir kamen, und wie wenn wir doch wieder fort müßten.«

»Ach jetzt kommst du wieder mit dem Alten«, sagte Fani ein wenig ärgerlich, denn diese Zweifel gefielen ihm gar nicht.

Unterdessen war die Zeit verflossen, welche die Kinder im Garten zubringen sollten, und Hand in Hand wandelten sie wieder den weißen Kiesweg hinauf an den duftenden Rosenbeeten vorbei. Dann traten sie in die steinerne Halle ein, die gegen den Garten hin offen stand.


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