Johanna Spyri
Wo Gritlis Kinder hingekommen sind
Johanna Spyri

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Siebentes Kapitel

Was der Oskar gründet und die Emmi anstiftet

Der Feklitus hatte mit Genugtuung die Festrede übernommen und zu Hause die Mitteilung von dem bevorstehenden Ereignis gemacht. Diese Mitteilung machte einen großen Eindruck auf Herrn Bickel und seine Frau, und sie beschlossen beide, dem Feste beizuwohnen, denn sie wollten doch den Feklitus anhören, wenn er zum ersten Male öffentlich sprechen würde. Es wurde auch sofort für den Redner ein nagelneuer Anzug angeordnet, der dem Anlaß entsprechen sollte, und noch an demselben Abend wurde der Schuhmacher beschickt, und neue Stiefel wurden angemessen.

Den Feklitus sah man seit dem Tage schweigend und tiefsinnig umhergehen, und man konnte wohl erkennen, daß er mit außerordentlichen Gedanken beschäftigt war.

Eben war er aus der Schule herausgekommen, und zwar mit einem großen, unfreiwilligen Satz, denn die Nachfolgenden drängten so ungestüm, daß ein Luftsprung von den Vorderen gemacht werden mußte; da war keine Zeit, die Treppe Schritt um Schritt hinunterzugehen. Aber man konnte gut sehen, daß der Feklitus nicht gestimmt war, fröhliche Sprünge zu machen, denn er kam mit großen Runzeln auf der Stirn unten an und rannte nicht mit dem Siegesgeschrei erprobter Krieger, wie die anderen, davon, sondern langsam und stumm ging er um die Ecke des Schulhauses herum und stellte sich da auf die Lauer. Als nun alle Buben vorbeigerannt waren, kamen die Mädchen dahergelaufen, einmal zwei und wieder zwei und dann eine ganze Gruppe, und dann kam allein und ganz eilig das Elsli heran. Es hatte sich schon ein wenig verspätet, denn es hatte noch sehr genau seine Schulaufgaben für morgen aufgeschrieben. Plötzlich wurde es von hinten festgehalten und auf die Seite gezogen.

»Laß mich gehen, Feklitus, ich muß schnell zur Nora, sie erwartet mich«, sagte es, als es nun sah, daß es der Feklitus war, der es gepackt und mit einem starken Ruck hinter das Schulhaus gestoßen hatte.

»Ich will dich zuerst etwas fragen, dann kannst du gehen«, entgegnete er gebieterisch und hielt das Elsli an seinem Jüppchen fest.

»So mach geschwind, ich muß gewiß gehen.«

»So sag einmal«, hub jetzt der Feklitus forschend an, »wenn du einmal an einem Sängerfeste eine Rede halten müßtest, wie würdest du dann anfangen?«

»Ach, das ist ja etwas Dummes, das muß ich ja mein Lebtag nicht«, rief das Elsli und riß am Röcklein, um fort zu können. Aber der Feklitus hatte eine feste Faust, es half nichts.

»Ich habe nicht gesagt, daß du es einmal müssest«, fuhr er fort; »ich habe nur gesagt: wenn, wenn – und wenn kann man zu allem sagen. Jetzt antwort: Wie würdest du anfangen, wenn du am Sängerfest eine Rede halten müßtest?«

»Das weiß ich ja nicht, von dem weiß ich gar nichts, ich habe ja nie an so etwas gedacht«, und das Elsli riß wieder.

»So denk jetzt daran! Du mußt sagen, wie du anfangen würdest, oder ich lasse dich nicht los, bis es dunkel Nacht ist«, und Feklitus hielt das Röckchen immer fester. »Ich will dir's jetzt noch leichter machen und dir anfangen, dann aber fahre fort, oder dann wart nur! So fängt's an: ›Hochgeehrte Herren und Brüder!‹ Jetzt fahr fort!«

»Laß mich doch los, sieh, ich muß gewiß gehen«, bat das Elsli; »ich kann ja doch nichts Rechtes sagen.«

»Du halsstarriges Elsli du« – brach jetzt der Feklitus zornig los –, »wart nur, du mußt deinen Lohn schon haben! Wart du nur, bis du in die Fabrik kommst, es geht jetzt nicht mehr lang', dann wirst du's erfahren, wart nur!«

Unbestimmte Schrecken stiegen in Elslis Einbildung auf; es riß nicht mehr, ganz folgsam stand es da und besann sich. Nach einer kleinen Weile sagte es: »So würde ich dann so anfangen: ›Hochgeehrte Herren und Brüder! Da wir nun so schön gesungen haben, so wollen wir uns nun darüber freuen und ein großes, langes Fest feiern –‹«

Wie ein Pfeil schoß hier das Elsli davon, denn es hatte wahrgenommen, daß im Eifer des Zuhörens der Feklitus seine Faust aufgemacht hatte. Er schaute dem Elsli grimmig nach, es war aber schon zu weit weg, um verfolgt zu werden. So ging er endlich nachdenklich seiner Wege.

Am Sonntag sollte das große Sängerfest stattfinden, denn bis dahin hatte die Tante versprochen, die Fahne fertig zu machen. Vorher aber sollte eine Probe ausgeführt werden, um zu hören, wie die Rede abgehalten würde, und auch um die Bewegung des Zuges zu ordnen. Anstatt der Fahne könnte für einmal ein Tischtuch an die Stange befestigt werden; die Tante würde schon eins liefern. Am Samstagnachmittag sollte die Probe abgehalten werden, so hatte Oskar mit seiner Gesellschaft festgesetzt.

Am Samstag war denn auch kaum das nötige Essen am Mittagstisch hinuntergeschluckt, als Oskar schon unruhig umherschaute, ob er wohl bald aufstehen und sich entfernen dürfe. Noch unruhiger gebärdete sich Emmi, die schon von Anfang an ihre Gedanken ganz anderswo als bei ihrer jetzigen Beschäftigung hatte; denn alles schluckte sie wie im Fieber herunter, schaute alle Augenblicke nach der Wanduhr und gab einmal ums andere verkehrte Antworten. Sobald der letzte Bissen von des Vaters Teller verschwunden war, fragte sie dringlich: »Kann ich gehen, Mama?«

»Ich auch, Mama?« setzte Oskar blitzschnell ein. Es wurde erlaubt.

»Was müssen denn die beiden wieder gründen und stiften, daß sie's so eilig haben?« fragte der Vater.

Emmi war schon zur Tür hinaus.

»Morgen wirst du's schon sehen, Papa«, sagte Oskar mit vielversprechender Miene; »heute noch wird die Rednerbühne errichtet und der Festumzug geordnet. Du wirst gewiß erstaunen. Willst du auch die Festrede von Feklitus hören, Papa?«

»Danke bestens! Am Abend will ich dann mit Mutter und Tante auf dem Festplatz erscheinen. Gehörst du auch zu den Festfeiernden, Fred?« fragte der Vater.

»Nein, ich habe Nützlicheres zu tun«, entgegnete ernsthaft der Fred. »Es ist nützlicher, den geringsten Sumpffrosch zu finden und kennen zu lernen, als tausend Sängerfeste zu feiern.«

Das Rikli rückte schnell ein wenig von Fred weg: vielleicht wollte er gleich einen von den Fröschen als Muster zeigen. Oskar warf dem Bruder einen mitleidigen Blick zu und ging.

Friedlich saßen am Nachmittag Mutter und Tante im Garten; vor ihnen auf dem Tisch stand der große Flickkorb, und während die fleißigen Hände die Schäden alle der großen und kleinen Strümpfe gutmachten, besprachen sie die Ereignisse des Tages und das Leben und Wesen der Kinder, für die sie dieselbe Liebe und dasselbe Interesse hatten.

»Es ist merkwürdig, wie die Dinge sich wiederholen in diesem Leben«, sagte jetzt die Mutter. »Wenn die Kinder so erzählen, wie der Feklitus so häufig dem Elsli nachrennt, wenn keiner begreift warum, stehen mir immer die langvergangenen Zeiten vor Augen. Du weißt doch noch, wie Elslis Mutter, das lebensfrohe Gritli, beständig von dem kurzen, dicken Fekli verfolgt, so leicht und lustig dahinrannte und, sich immer von Zeit zu Zeit umkehrend, ihm mit Lachen zurief:

    ›Faß mich ab! Faß mich ab,
Fekli mit dem Bärentrab!‹«

Die Tante erinnerte sich dieser Szenen sehr gut; sie mußte herzlich lachen, als sie ihr wieder so deutlich vor Augen traten. »Das Gritli hatte freilich seinen Sang nicht selbst gedichtet«, fügte sie bei, »unser Bruder hatte ihm denselben eingeblasen; du erinnerst dich doch, wie er sich an diesen vergeblichen Jagden ergötzte?«

Die Mutter konnte nicht weiter antworten, denn in diesem Augenblick erhob sich ein so Mark und Bein durchdringendes Geschrei, daß die beiden Frauen ganz zusammenschraken.

»Es ist wieder das Rikli, das ist ganz sicher«, sagte die Mutter, die erst samt der Tante aufgesprungen war, sich nun aber wieder hinsetzte und die Tante auch dazu aufforderte. »Wir müssen wirklich dableiben«, fuhr sie fort; »das Kind soll nicht meinen, daß es für jedes Käferchen, das ihm nahe kommt, einen solchen Lärm aufschlagen darf und uns so zu seiner Hilfe herbeizwingen kann; es muß wissen, daß sein Geschrei für nichts keine Teilnahme mehr erweckt.«

»Gewiß hält ihm der Fred wieder irgendeinen großäugigen Frosch unter die Augen, der es unbarmherzig erschreckt«, sagte mitleidig die Tante; »aber du hast schon recht, das Zetergeschrei muß es zu überwinden suchen.«

In diesem Augenblick ertönte ganz von der anderen Seite her ein Gesang, der an großem Lärm mit dem fortdauernden Schreien wetteiferte. Es war unverkennbar Freds Stimme, die, dem Kreischen antwortend, sang:

    »Das Rikli und der Hanseli
Sind ganz wie zwei Geschwister;
Sie singen wie die Amseli,
Nur unerhört viel wüster.«

»Fred kann es nicht sein, der das Kind erschreckt, er singt ja auf einer ganz anderen Seite«, sagte die Mutter, sichtlich ein wenig erschüttert in ihrem Vorsatz, Rikli einmal schreien zu lassen, ohne ihm zu Hilfe zu kommen. Jetzt nahm das Geschrei aber einen so unverkennbaren Charakter der Verzweiflung an, daß Mutter und Tante zugleich aufsprangen und dem Orte zustürzten. Erst erblickten sie gar nichts, obschon das Wehgeschrei dicht vor ihnen ertönte. Aber jetzt, da vor ihnen, unten im Graben, lag das verzweiflungsvoll schreiende Rikli in einem wirklich jämmerlichen Zustand. Fast bis an den Hals hinauf stak es in dem grünen Schlammwasser; die Arme streckte es krampfhaft empor, wie um sie zu schützen vor der Berührung mit den kleinen grünen Fröschen, die hier und da lustig in dem Sumpfwasser herumplätscherten. Die Tante war die nächste beim Graben. Rasch stieg sie einige Tritte hinunter, erfaßte das Kind bei den Armen und zog es mit einiger Anstrengung heraus. Als sich nun das Rikli von zärtlicher Besorgnis umgeben fühlte und auf die überstandenen Schrecken zurückschaute, fing es erst recht kläglich zu weinen und zu jammern an, und einmal ums andere stöhnte es: »O, warum seid ihr auch nicht gekommen?« Aber da wurde nicht viel Antwort gegeben; der Zustand erforderte ein schnelles Eingreifen. Mutter und Tante faßten das Kind je an einer Hand und eilten mit ihm dem Hause zu, wo das schlammüberzogene Rikli ohne Verzögerung in die Badewanne gesteckt wurde. Die Mutter war abgerufen worden, die Tante aber setzte sich neben das badende Kind hin und sagte: »So, jetzt will ich dir auf deine Frage antworten.« Und nun erklärte ihm die Tante die Sache und sagte ihm, daß es schon so oft dasselbe fürchterliche Geschrei ausgestoßen habe, wenn der Fred mit einem harmlosen Käferchen oder kleinen Frosch sich ihm nur genaht habe, daß weder sie noch die Mutter dieses Gebaren unterstützen und ihm mehr zu Hilfe kommen wollten. Einzig Freds Gesang hätte es gerettet, der bewies, daß er nicht bei dem Rikli sei; sonst wäre niemand zu seiner Hilfe gekommen und es hätte noch lange, lange Zeit in dem Schlammwasser stecken können. Dann ermahnte die Tante das Rikli ernstlich, an diese Erfahrung zu denken, denn sonst könnte es noch einmal auf viel längere Zeit und noch erschrecklichere Weise unter die Frösche versetzt werden. Das Rikli hörte die Worte aufmerksam an, und diesmal machten sie mehr Eindruck, als ähnliche Ermahnungen gemacht hatten, bevor es etwas so Grauenvolles erlebt hatte, wie das war, ganz verlassen und ungehört mitten unter den Fröschen im Sumpf zu stecken.

Während dieser Zeit hatte Oskar seine Schar versammelt und war mit ihr auf den Festplatz gezogen. Hier sollte zuerst die Festrede als Probe abgehalten werden, dann sollte der große Umzug und hernach die Schlußfestlichkeiten mit Bankett folgen, heute nur als Probe, morgen aber mit richtigem Johannisbeersaft und Lebkuchen; das hatte die Tante samt der Fahne zu liefern versprochen. Die Rednerbühne war aus vier in die Erde gesteckten Holzpfosten und vier darüber gelegten Brettern kunstvoll errichtet. Jetzt bestieg sie der Feklitus und begann:

»Hochgeehrte Herren und Brüder! Da wir nun so schön gesungen haben, wollen wir uns darüber freuen und ein großes, langes Fest feiern und mit den Gläsern anstoßen.«

Der Feklitus kam von der Bühne herunter.

»Mach doch fort!« schrieen ihm die nächsten Zuhörer zu.

»Die Rede ist fertig, nachher stößt man mit den Gläsern an«, sagte Feklitus, befriedigt von seiner Leistung und daß sie vorüber war. Aber unter der Versammlung erhob sich ein großer Lärm, denn die meisten fanden die Rede zu kurz und wollten den Feklitus zur Fortsetzung wieder auf die Bühne hinaufdrängen. Nur Oskar, der doch sonst alles regierte, stand so dumm und verblüfft da, als hätte er etwas ganz Besonderes vernommen. Die Worte hatten ihm auch einen großen Eindruck gemacht: Wie konnte auch der Feklitus zu einem Gedanken gekommen sein, der ihm selbst gar nicht eingefallen und der doch von solcher Wichtigkeit war für das Fest, das sie zu feiern hatten. Es mußte ja doch gesungen werden, daß man merken konnte, es sei ein Sängerfest. Nachdem Oskar den ersten Ärger verschluckt hatte, daß er nicht der Urheber des Gedankens war, stürzte er sich mit einem Male in die lärmende Menge und rief aus vollen Kräften: »Still! Jetzt muß man vor allem wissen, wer singen kann; wir müssen nun ein schönes Lied einstudieren.«

Aber da fand es sich denn, daß keiner von ihnen singen konnte, auch der Feklitus nicht; der behauptete aber, es sei ja nicht nötig. Oskar selbst konnte keine Note richtig nachsingen, das wußte er wohl; aber er hatte erkannt, daß da gesungen sein mußte, und er rief nun mit Heftigkeit nach dem Fani, und die anderen schrieen mit, denn es kam den meisten in den Sinn, daß der Fani singen konnte. Er war aber nicht zu finden, er war entschieden nicht bei der Schar, und auf einmal lief Oskar in gestrecktem Galopp davon, alle anderen nach, und jeder lief nach seiner Seite hin, so daß in einem Nu der ganze Festplatz leer stand und einsam die Rednerbühne darauf emporragte. Oskar stürzte nach Hause; er war in der größten Aufregung: was sollte nun aus seinem laut verkündeten Feste werden! Denn das war ihm nun ganz klar, vor allem mußte gesungen werden am Sängerfest, und das mußte er zustande bringen! Wie würde der Papa über seine Gründung spotten! Wie würde der Fred sticheln und sich überheben mit seinen stets überdachten Handlungen! – Nein, das konnte nicht sein; der Fani mußte auf den Platz, der konnte vorsingen, dann sängen die anderen schon nach. Zu Hause angekommen, rannte er der Stube zu, wo er eben die Emmi eintreten sah.

»Wo ist der Fani, Emmi?« rief er ihr aufgeregt zu; »hast du ihn wieder aufgestiftet, uns untreu zu werden und mit dir auszuziehen?«

Emmi wurde ein wenig rot, sagte aber nichts; sie tat so, als hörte sie nicht so recht, was er wollte. In diesem Augenblick streckte die Kathri den Kopf zur Tür herein. »Die Marget ist draußen; sie fragt, ob niemand wisse, wo der Fani sei, sie suche ihn allenthalben, es pressiere«, rief sie in einem Atemzug herein und verschwand wieder. Jetzt wurde Emmi dunkelrot bis unter die Haare hinauf und fing an, ängstlich an der Tante zu zupfen. Diese merkte auch gleich, daß etwas Unrichtiges begegnet war; sie nahm Emmi an der Hand und ging zur Tür hinaus. Die Mutter folgte, um nachzusehen, was die Marget so eilig hergebracht hatte. Diese erzählte in großer Aufregung, daß der Vetter Fekli gekommen sei, um ihr zu sagen, er habe im Sinn, den Fani gleich in der Fabrik anzustellen für eine besondere Arbeit, die der Bube gut machen könne und die ihm an den Schulferien-Nachmittagen und auch in mancher anderen Stunde eine Beschäftigung geben werde, die ihm ein schönes Stück Geld einbringe. Nun habe er gleich mit dem Fani reden wollen, aber den habe sie nun hin und her gesucht und nirgends finden können; und den Vetter dürfe sie auch nicht mehr warten lassen, der werde jetzt gewiß recht böse, wenn der Fani nicht einmal mitkomme, nachdem sie nun so lange fortgeblieben sei, nur um ihn zu suchen.

Die Mutter rief sofort den Oskar herbei und hieß ihn nach allen Seiten auslaufen, um den Fani zu suchen; er würde ihn wohl am besten finden können, meinte sie, und die Marget könne dann ruhig nach Hause gehen, Oskar würde den Fani dann gleich heimschicken.

Unterdessen hatte die Tante Emmi in ihre Schlafstube geführt, und sobald sie drinnen waren, umklammerte Emmi krampfhaft den Arm der Tante und flehte angstvoll: »Hilf mir doch, Tante, hilf mir doch, daß es nichts Schlimmeres gibt und daß der Papa nicht böse wird; hilf doch, daß Fanis Mutter es begreift, wie gut es ihm nun gehen wird und daß er ein großer Maler werden könnte! Heut ist er nach Basel verreist.«

»Was sagst du, Emmi? Was sagst du? Es wird ja, will's Gott, nicht wahr sein!« rief die Tante in großem Schrecken aus.

»Doch, es ist gewiß wahr, Tante; geh doch zu Fanis Mutter, und mach, daß es ihr recht ist und daß sie nicht klagt beim Papa«, flehte Emmi. »Ich will dir alles erzählen, dann kannst du's schon sehen und der Marget sagen, wie gut es dem Fani jetzt gehen kann. Siehst du, im Blatt stand eine Anzeige vor ein paar Tagen, die hieß so: ›Ein Dekorationsmaler in Basel würde einen Knaben von elf bis zwölf Jahren zu sich nehmen gegen leichte Beschäftigung; er könnte auch das Handwerk erlernen.‹ Dann war noch die Adresse dabei. Das habe ich schnell dem Fani gezeigt, denn wir haben schon lange nachgesonnen, wie er ein Maler werden könnte und nicht in die Fabrik gehen müßte, und das war gerade das Rechte; denn du hattest ja gesagt, das hieße Verzierung, und der Fred hat noch gesagt, es heiße auch Theaterwand. So wußte ich ja schon, daß der Fani da schöne Bäume und Blumen und Kränze machen müßte, und habe ihm das alles gesagt, und er wollte schrecklich gern gehen. Zuerst wollten wir es seiner Mutter sagen, aber er sagte, dann könne er gewiß nie, nie gehen, denn sie sage, das sei keine Arbeit, sondern nur Lumperei, und sie wolle nichts davon wissen. Dann haben wir ausgemacht, er solle jetzt nur einmal gehen, ich wollte dann schon sagen, wo er sei, wenn sie fragen, und dann würde er schnell schreiben und sagen, daß er jetzt ein Maler werden kann.«

»Aber, um's Himmels willen, was richtest du doch für Zeug an, Emmi«, brach die Tante hier aus; »es ist ja wirklich schrecklich! Wo wird der Junge nun hinkommen, und wie kann er ohne Geld nur nach Basel gelangen?«

Emmi sagte, sie habe ihm alles Geld gegeben, das sie besessen, er komme gewiß nach Basel, wenn nur die Tante jetzt mit der Mutter reden wollte, weil sie gerade so eifrig den Fani suche, wie sonst nie. Auch die Tante fand, das sei das erste, was sie tun müsse. Dann wollte sie sogleich nach Basel schreiben, um zu wissen, ob der Fani wirklich dort angelangt und in was für Händen er sei. Die Tante verlor keine Zeit. Sie schlug ihr Tuch um und eilte hinaus dem Wäldchen zu, hinter dem der Weg zu Heiris Häuschen niederstieg. Aus der niederen Haustür trat eben noch Herr Bickel, als die Tante sich nahte. Er bemerkte abschließend: »Wie gesagt, das Vagabundieren, das er im Brauch hat, hört dann auf; ich ziehe ihm jede vergeudete Zeit am Lohn ab.«

»Er wird, denk' ich, erst Lohn haben müssen, eh' man ihm davon abziehen kann«, sagte Marget halblaut, während Herr Bickel gewichtigen Schrittes davonging. – Die Tante trat in das Häuschen ein. Man kam von der Straße unmittelbar in die Küche und von da in die Stube. Die Tür dahin stand offen, und nahe dabei standen in der Stube zwei uralte Wiegen, eine für das Kleine und eine für den Hanseli, und auf der anderen Seite in der Küche stand der Waschzuber, den die Marget dahin gerückt hatte, um zu gleicher Zeit ihrer Arbeit obliegen zu können und die drei Buben samt dem Kleinen unter den Augen zu haben. Obschon der Hanseli zwei Jahre alt war, hatte er noch seine Wiege, und diese diente zu gleicher Zeit als Bettstatt und als Beruhigungsmittel für ihn. Schlug er jetzt, seit Elslis Wegbleiben, sein bekanntes Geschrei auf, so legte ihn die Mutter auf der Stelle in die Wiege hinein, wo er, durch die schaukelnde Bewegung beruhigt, alsbald vom Schlaf übermannt wurde. Eben jetzt stand der Heirli auf der einen und der Rudi auf der anderen Seite der beweglichen Bettstatt, und beide stießen aus Leibeskräften die heranschaukelnde Wiege immer einer dem anderen zu, so daß der darinliegende Hanseli längst in den tiefsten Schlaf versunken war und darin erhalten wurde. Die Tante setzte sich auf den hölzernen Schemel neben den Waschtrog hin und forderte die Marget auf, fortzufahren an ihrer Arbeit; sie habe mit ihr zu reden, das könne aber neben dieser Arbeit geschehen. Sie fing nun ganz zahm und behutsam an, der Marget beizubringen, wohin der Fani gekommen sei, und fügte auch gleich bei, sie werde unverzüglich nach Basel schreiben, um inne zu werden, wo er hingekommen sei und was der Meister mit ihm im Sinne habe. Sie würde ihn auch gleich wiederkommen lassen, wenn der Vater und die Mutter es haben wollten. Die Marget stand noch unter dem Eindruck des Lohnabziehens. Der Vorteil für den Fani und die ganze Haushaltung schien ihr schon nicht mehr so groß zu sein, wie sie zuerst gedacht hatte. Wenn nun der Fani da unten sein Essen und seine Kleider verdienen könnte und so unversehens ein Handwerk erlernte und vielleicht bald sein eigenes Auskommen hätte, so wäre das doch eigentlich besser als alles, was er daheim erreichen könnte, und man hätte so keine Sorgen bei dem ganzen Verlauf. Diese Gedanken gingen der Marget schnell hintereinander durch den Kopf, und es währte gar nicht lange, so sagte sie der Tante, es wäre gewiß dem Vater so recht, wie ihr selbst, wenn die Tante alles in die Hand nehmen und nachfragen wollte, wie es der Fani habe, und wenn sie ein wenig dazu sehen könnte, daß der Bub etwas Rechtes lerne. Sie wollte dann schon noch mit dem Vater reden und nachher den Bericht bringen, was er dazu sage; aber die Marget schien ganz überzeugt zu sein, daß er dieselbe Meinung haben werde, die sie habe. Die Tante fühlte sich sehr erleichtert, denn sie hatte nicht gewußt, wie die Sache von der Marget aufgenommen würde und ob sie nicht vielleicht einen großen Lärm machen würde über das Fortlaufen des Buben, was doch im Grunde Emmi verschuldet hatte. Sie fragte noch dem Elsli nach und hörte, daß es zwischen der Schule durch und bis zur Stunde des Schlafengehens seine ganze Zeit auf dem Eichenrain zubringe. Für sie sei es gar keine Hilfe mehr; mit den beiden Buben mache sie's nun, wie sie könne, und beklagen könne sie sich nicht, denn die Mutter des kranken Kindes sei eine gute und vernünftige Frau, die wisse, daß die armen Leute auch etwas brauchen, um leben zu können. Das Elsli bringe jeden Abend einen Taglohn mit, den es gewiß nicht verdienen könne, und dazu so viel Kleider von dem kranken Kinde, daß sie dem Elsli für lange Zeit nichts anzuschaffen habe. Diese Nachricht erfreute die Tante sehr, und mit frohem Herzen kehrte sie zurück, denn es war alles so viel leichter abgegangen, als sie erwartet hatte.

Schon auf dem halben Wege kam der Oskar ihr entgegengelaufen. Er hatte bemerkt, daß Emmi schon seit einiger Zeit an der Hausecke stand und auf jemand wartete, das mußte ohne Zweifel die Tante sein; aber er hatte so dringende Geschäfte mit ihr abzutun, daß er sie durchaus zuerst sehen mußte. Er lief heimlich hinten ums Haus herum und eilte dem Wäldchen zu. Sobald er der Tante ansichtig wurde, stürzte er auf sie los und goß nun seine ganze Geschichte von dem verunglückten Sängerfest über sie: wie er vergessen hatte, daß noch gesungen werden sollte, und wie furchtbar alle Leute sie auslachen würden und vor allen der Papa, wenn sie nun kämen und wollten dem Feste beiwohnen; das sah er nun ganz klar ein. Aber er hatte jetzt einen neuen, ganz herrlichen Gedanken: wenn man nun das Sängerfest schnell in ein anderes umwandeln würde, daß es morgen doch könnte abgehalten werden, eins, zu dem man die Fahne doch gebrauchen könnte und in der Festrede ja nur einige Worte zu ändern hätte? Die Tante wußte ja gewiß einen guten Rat zu geben, welches Fest an die Stelle des unausführbaren zu setzen sei, und Oskar schien auch nicht abgeneigt, die Sache so zu bearbeiten, daß schließlich anzunehmen wäre, er habe eigentlich absichtlich das Sängerfest in ein anderes verwandelt. Aber die Tante war nicht derselben Meinung. Sie erklärte ihm nun, was eigentlich der Sinn eines Festes sei und daß man immer zuerst etwas Besonderes müsse geleistet haben, um nachher ein Fest darüber zu feiern. Da das nun aber nicht geschehen sei, so sollte Oskar warten, bis es einmal der Fall wäre; dann wollte die Tante ihm zu einer glänzenden Festfeier verhelfen.

Oskar war sehr herabgestimmt; aber er sah ein, daß da für einmal nichts Neues zu gründen war, und folgte der Tante ziemlich niedergeschlagen ins Haus hinein; er sah mit Besorgnis dem Nachtessen entgegen, da der Papa seine Fragen über das Fest von morgen wieder aufnehmen und so die ganze Enthüllung von dessen ruhmlosem Ausgang herbeiführen könnte. Eben schoß Emmi beim Anblick der Tante aus ihrem Hinterhalt hervor, um zu vernehmen, was die Tat, bei der sie so sehr beteiligt war, für Folgen haben konnte; aber auch sie mußte in unsicherem Bangen verharren, denn eben trat auch der Vater ins Haus hinein, und unmittelbar darauf mußte man sich zum Nachtessen hinsetzen. In ihren beklemmenden Erwartungen saßen Oskar und Emmi tief auf ihre Teller gebeugt am Tisch, und keines von ihnen hob auch nur ein einziges Mal den Kopf auf, denn sie hofften in dieser Stellung am ehesten unbemerkt zu bleiben. Fred hatte schon ein paarmal forschende Blicke zu den beiden hinübergesandt; jetzt sagte er bedeutsam: »Es gibt auch einen Vogel, er heißt Strauß, struthio, der steckt den Kopf vornüber in den Sand hinein, denn er denkt, so sieht ihn der Jäger nicht. Diese Vögel leben in Afrika; bei uns kommen sie nur selten vor und nähren sich von Kartoffelsalat.«

Oskar, der eben, mit seinen Gedanken beschäftigt, in seiner Portion Kartoffelsalat herumstocherte, nahm die Beschreibung des Straußes mit ungewohnter Ruhe hin, und der Vater, der jetzt nach ihm hinschaute, lachte ein wenig und sagte: »Den drücken wohl die Festfreuden nieder?« Als aber keine weiteren Nachforschungen erfolgten und das Nachtessen auch ohne alle Nachfragen nach dem Fani vorüberging, standen Oskar und Emmi mit sehr erleichterten Herzen vom Tisch auf; denn wenn auch für Oskar die Gefahr eines sehr empfindlichen Hohnes und für Emmi diejenige eines strengen Tadels nicht vorüber war, so war doch nun Zeit gewonnen, und da war ja immer die Tante, bei der man neuerdings Rat und Hilfe finden konnte.


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