Johanna Spyri
Wo Gritlis Kinder hingekommen sind
Johanna Spyri

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Sechstes Kapitel

Die Tante wird neuerdings in Anspruch genommen

Am folgenden Tag trat das Elsli nach elf Uhr ganz leise in das Haus auf dem Eichenrain ein. Die Tür des Wohnzimmers stand offen, und Nora, die in ihrem Sessel saß, schaute eben auf die Seite der offenen Tür hin und erblickte auf einmal das Elsli; hereintreten hatte sie es nicht gehört. Nora schaute erstaunt nach dem Kinde hin. Das Elsli sah anmutig aus; es hatte sich heute sorgsam seine hellbraunen Haare glatt gestrichen, nur um die Stirn herum kräuselte es sich leicht. Die Mutter hatte auch ein sauberes Schürzchen und ein Tüchlein um den Hals erlaubt, weil es zu der Herrschaft gehen mußte. Das schmale Gesichtchen war blaß und sah ernsthaft aus, schüchtern schauten die sanften blauen Augen zu Nora hin. Sie konnte sehen, das Kind wußte nicht, ob es in das Zimmer eintreten durfte oder nicht.

»Komm«, winkte ihm Nora, und als nun das Elsli vor sie getreten war, ebenso leise, wie es seinen Eintritt ins Haus gemacht hatte, fragte sie: »Bist du das Kind, das die Ausgänge für uns machen soll?«

Elsli bejahte es. Seine Stimme hatte einen leisen, weichen Ton, und das ganze Elsli hatte etwas Leises, Zartes an sich, das der Nora gefallen mußte. Auf einmal streckte sie ihm ihre Hand entgegen und sagte: »Komm, sitz hier zu mir her, wir wollen ein wenig reden miteinander.«

Das Elsli gehorchte.

»Nichtwahr, du heißest Elsli?« fing die Nora wieder an. »Die Mama hat dich kommen lassen, daß du Seide holst und Eier und Bleistifte für mich und noch einiges; aber jetzt kannst du schon noch ein wenig hier bei mir bleiben; oder wirst du dann etwa zu müde, wenn du noch alles holen mußt vor Mittag?«

»O nein, davon werde ich nicht müde«, entgegnete das Elsli, »ich würde schon anders müde daheim, denn ich müßte gleich mit den Buben hinaus und den Hanseli auf den Arm nehmen.«

»O dann weißt du gewiß gut, wie es ist, wenn man müde ist, so recht müde, nichtwahr?« fragte Nora ganz gespannt.

»O ja, das weiß ich schon ganz gut«, versicherte das Elsli. »Ich bin fast immer müde, aber manchmal so stark, daß ich am liebsten nur niederlegen wollte und gar nicht mehr aufstehen. Der Hanseli wird jetzt so furchtbar schwer, daß ich ihn fast nicht mehr tragen kann; aber er will nicht auf den Boden, er will auf meinem Arm sein, sonst schreit er ganz laut und wird furchtbar bös.«

»O Elsli, so weißt du so gut, wie es ist, so schrecklich müde zu sein!« rief Nora ganz erfreut aus über das Verständnis, das sie gefunden hatte. »O ich bin so froh, jetzt kann ich so gut mit dir von allem reden, du weißt nun ganz, wie es ist. Ja, nichtwahr, man möchte nur niederliegen und gar nicht mehr aufstehen, bis etwas ganz anderes käme, etwas ganz Neues, daß man nicht mehr müde sein könnte, nichtwahr, Elsli?«

»Es käme nichts Neues, zuletzt müßte man doch wieder aufstehen«, meinte das Elsli.

»Nein, ich meine nicht so, wie du meinst; ich meine: niederlegen und sterben; möchtest du nicht auch gern sterben, Elsli?«

»Nein, ich meine, ich wollte lieber nicht, ich habe nie daran gedacht. Warum meinst du?«

»O, dann weißt du nur nicht, wie es dann sein wird. Die Klarissa hat mir alles so schön erzählt, und wir haben immer miteinander davon geredet. Aber mit Mama darf ich nie davon reden, sie weint gleich so schrecklich und wird traurig für viele Tage. Aber dir will ich nun alles erzählen, und du wirst sehen, wie du dich freuen wirst, in den Himmel zu gehen. Und das schöne Lied von der Klarissa will ich dich auch lehren; soll ich dir's gleich jetzt sagen?«

Elsli war ganz bereit, das Lied anzuhören; aber jetzt trat Frau Stanhope in das Zimmer ein und begrüßte das Kind mit einigem Staunen, denn sie konnte sich nicht erklären, wie es kam, daß die beiden Kinder so nah zusammensaßen und so vertraut miteinander redeten, als hätten sie sich schon lange gekannt. Noch mehr aber mußte sie sich verwundern, als Nora gleich sagte: »O Mama, nichtwahr, mit der Seide kannst du schon warten, und die Bleistifte brauch' ich gewiß heute nicht, und nach den Eiern habe ich auch schon keine Lust mehr, und das andere kann ja wohl nachher das Küchenmädchen besorgen; ich wollte so gern, daß Elsli jetzt bei mir bliebe.«

»Gewiß soll das Kind bei dir bleiben, wenn es dir Freude macht«, sagte die Mutter, selbst erfreut, daß die gewöhnlich teilnahmlose Nora einmal wieder mit Lebhaftigkeit nach etwas verlangte. »Überdies«, fügte sie hinzu, »kommt auch am Abend das Kind wieder, da bleibt immer noch Zeit zum Ausgehen.«

Diese Mitteilung machte die Augen der beiden Kinder zu gleicher Zeit aufleuchten. Nora sah die langen, bangen Stunden des Tages von einem neuen, herzerwünschten Verkehr belebt; dem Elsli kam es vor wie ein großes Fest, so in Ruhe und Stille neben der Nora sitzen zu dürfen, die so freundlich zu ihm war. Da die Mutter aber dablieb, fing Nora nicht mehr von ihrem Lied zu reden an; sie wußte ja so gut, was die Mutter betrübte, und wich sorgfältig aus, ihr von diesen Dingen zu sprechen. Das machte aber die Nora oft stiller, als die Mutter wünschte, denn in seinen Gedanken bewegte das Kind immer wieder alles, was die gute Klarissa schon seit langer Zeit mit den lebendigsten Farben in sein Herz einzuprägen gesucht hatte. Klarissa war erfahren in vielen Dingen; sie hatte den Zustand der hinschwindenden Nora wohl erkannt und wollte dem Kinde das Land, wohin es ging, so lieb machen, daß es ihm nicht schwer werden sollte, von der Erde wegzugehen. Und da die Liebe und Hoffnung zu jenem Lande das Leben der Klarissa selbst erfüllten, war es ihr nicht schwer geworden, sie auch in dem empfänglichen Herzen der Nora wachzurufen.

Das Elsli sollte nun von seinem Leben daheim und von seinen Geschwistern erzählen, und dadurch kam es denn gleich auf seinen Bruder Fani zu sprechen und hörte gar nicht wieder auf damit, solange es überhaupt erzählen mußte. Für den Fani hatte das Elsli eine solche Liebe und Bewunderung, daß es nie genug bekam, zu schildern, wie gut und nett und wie geschickt der Fani sei und wie er ihm in seinen Schularbeiten beistehe und wie es gar nicht wüßte, wie es ohne den Fani leben könnte. Es könnte dann auch gewiß nie mehr fröhlich sein; aber wenn es noch so müde und traurig sei und der Fani dann heimkomme, so könne er es gleich wieder froh machen, weil er selber immer so sei und so schöne Sachen immer vor sich sehe in der Zukunft, und so voller Freude und Erwartung davon reden könne, daß es auch gleich das Vertrauen ins Herz bekomme, wenn es gerade noch gedacht habe, es könne nie, nie mehr froh werden und es müsse immer Angst und Sorge haben und so müde sein.

Frau Stanhope hörte gern zu, wie das Elsli mit seiner leisen Stimme und dem sanften Ausdruck der tiefblauen Augen von seinem Leben erzählte.

Nora folgte ganz gespannt jedem Worte, das es sprach; sie dachte sichtlich den Worten viel weiter nach, als das Elsli selbst tat im Erzählen, und man konnte sehen, daß sie mit dem größten Interesse und Wohlgefallen Elslis Mitteilungen anhörte. Als Frau Stanhope zuletzt sagte: »Du kannst nun nach Hause gehen, Kind, nach vier Uhr erwarten wir dich wieder«, da fügte die Nora gleich bei: »Komm dann auch bald, Elsli, und sag deiner Mutter, daß du erst um acht Uhr heimkommst!«

Elsli versprach, gehorsam alles zu tun, und ging mit frohem Herzen davon; es hatte erwartet, die fremde Kranke würde kaum mit ihm reden und es müßte nur allerlei Sachen herbeiholen. Nun war das kranke Kind so freundlich zu ihm gewesen, und die Dame, vor der es sich ein wenig fürchtete, auch, so daß es ein großes Dankgefühl im Herzen hatte. Um vier Uhr lief das Elsli schleunigst vom Schulhaus weg und sagte nicht einmal der Emmi Lebewohl, vor Furcht, es könnte noch aufgehalten werden, und es hatte ja versprochen, sogleich nach dem Eichenrain zu kommen. Die Befürchtung war auch nicht umsonst: es hörte, wie jemand ihm mit aller Macht nachrannte und seinen Namen rief. Es war der Feklitus; Elsli kannte seine Stimme wohl.

»Wart! wart! Willst du warten, wenn ich etwas mit dir will?« rief er befehlend hinter ihm her.

»Nein, nein, ich kann nicht«, rief das Elsli zurück, »ich habe versprochen«, und es rannte davon wie ein Reh. Eine Zeitlang rannte der Feklitus nach, sichtlich in großem Zorn, der ihn zu fortwährenden Drohworten drängte, die er dem Elsli nachrief, was aber seinen Lauf nur erschwerte; keuchend und zornglühend stand er endlich still und erkannte nun, daß er das dahinfliegende Elsli doch nicht erreichen würde. Nun kehrte er grollend um; er hatte sichtlich einen besonders triftigen Grund gehabt, dem Kinde nachzulaufen, um so mehr war er über die vereitelte Bemühung ergrimmt.

Das Elsli mußte erst lang Atem holen, ehe es in das Haus auf dem Eichenrain eintreten konnte; denn es war ohne Aufenthalt aus allen Kräften dahingelaufen, aus Angst, der Feklitus komme ihm noch nach und wolle es zwingen, etwas anderes zu tun.

Nora hatte schon lang am Fenster nach ihm ausgeschaut. Als sie es heranrennen und nun stillstehen sah, rief sie ihm voller Verlangen zu: »Komm, Elsli, komm, du kannst schon hier oben ausruhen, du mußt nicht mehr auslaufen.«

Das Elsli gehorchte. Nora war ganz allein oben im Zimmer und hieß voller Freuden Elsli willkommen. Es mußte sich gleich wieder zu ihr hinsetzen, und sie erklärte ihm nun, daß es gar nicht ausgehen müsse; sie habe die Mutter gebeten, daß es bei ihr bleiben dürfe den ganzen Abend, und die Mutter habe es gern erlaubt; diese sei nun auch selbst ein wenig fortgegangen, was sie sonst nie tun wolle, wenn Nora allein sei.

»Jetzt habe ich dir auch so viel zu sagen, Elsli«, fuhr Nora fort; »du hast wohl gar noch nie daran gedacht, wie es dann sein wird, wenn wir von der Erde weggehen und in den Himmel kommen?«

Das Elsli schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht.«

»O! o!« fuhr Nora ganz belebt fort, und während des Sprechens wurde sie immer lebendiger: »Da weißt du vielleicht gar nicht, wie schön es dann sein wird? Viel schöner als alles, was du bis jetzt gesehen hast, und gar keine kranken Menschen gibt es mehr da, nicht einen, und keiner ist mehr müde, alle sind so glücklich, und hier und da am Strom unter den Blumen treffen sie sich an und freuen sich; – aber wart, ich will dir das Lied der Klarissa sagen, du wirst sehen, wie schön da alles ist.«

Die großen Augen der Nora wurden immer glänzender, und ein immer tieferes Rot kam auf ihre sonst so blassen Wangen, während sie ihr Lied sagte:

    »Es fließt ein Strom kristallenklar
Durch immer grüne Auen,
Da glänzt der Lilien weiße Schar
Im Duft, dem himmelblauen,

    Und Rosen duften, Rosen glühn
Auf sonnengoldner Wiese,
Und Vögel jauchzen laut im Grün:
Wir sind im Paradiese!

    Und immer milde Lüfte wehn
Auf all den Blumenwegen,
Und Menschen wie im Traume gehn
Und kommen sich entgegen

    Und grüßen sich allüberall
In Staunen und in Wonne.
Sie kommen aus dem dunkeln Tal
Ins Land der ew'gen Sonne

    Und ziehen selig hin und her
Und wissen nichts von Leide,
Die kennen keine Tränen mehr,
Die kennen lauter Freude.«

Das Elsli schaute immer verwunderter auf die Nora, die ganz verändert aussah mit ihren glänzenden Augen und dem so ungewohnt belebten Angesicht. Dazu war Nora so von dem erfüllt, was sie durch die Worte ihres Liedes vor sich sah, daß ihre Stimme zitterte vor innerer Bewegung. Das Elsli blieb stumm und regungslos sitzen vor Erstaunen und tiefgehendem Eindruck von all dem Neuen.

»Gefällt dir denn das Lied nicht, Elsli?« fragte Nora nach einer längeren Pause.

»O doch, gewiß«, versicherte das staunende Kind.

»Wolltest du denn nun nicht auch gern mit mir dorthin gehen, wo es so schön ist?« fragte Nora weiter.

»Gehst du denn?« fragte Elsli seinerseits etwas unsicher.

»Ja, ich gehe«, entgegnete Nora ganz zuversichtlich; »Klarissa hat mir schon lange davon erzählt, wie Philo gegangen ist und ich dann bald auch gehe. O, und so viel hat sie mir noch erzählt, wie schön es dann sein wird und wie alle Müden sich freuen und herumgehen am Strom und durch die Blumen und nie, nie mehr müde werden. Das erzähl' ich dir dann alles nach und nach, und noch so vieles! Nicht wahr, Elsli, du siehst nun, wie es ist, und du willst auch am allerliebsten mit mir gehen, wenn ich gehe?«

»Ja, ich möchte wohl«, sagte das Elsli, mehr und mehr von den beglückenden Hoffnungen hingerissen, die in Noras Augen leuchteten; »aber glaubst du denn, wir könnten nur so gehen, wann wir wollten?«

»O nein! So ist es nicht, Elsli; der liebe Gott ruft jedes, wann es kommen soll. Ich wollte nur wissen, ob du auch so gern gehen willst wie ich, daß wir so recht miteinander reden können davon; und vielleicht ruft uns der liebe Gott gleich beide miteinander, weil du ja auch so müde bist. Klarissa hat mir gesagt, darum wisse sie, daß der liebe Gott mich bald zu sich rufen wolle. Denk, Elsli, wie schön, wenn wir beide zusammen gingen und miteinander in den schönen Himmel kämen und da so froh und ganz gesund immer zusammen umhergehen könnten durch die Rosen und Lilien an dem glänzenden Strom und nie, nie mehr müde werden könnten!«

Auch Elslis Augen wurden jetzt immer größer, denn immer lebendiger sah es das Land in seiner Herrlichkeit vor sich, von dem Nora immer weiter sprach und so viele schöne, herzerfreuende Dinge zu erzählen wußte, daß dem gespannt lauschenden Elsli eine ganz neue Welt aufging und den Kindern beiden die Stunden verrannen, daß sie es gar nicht merkten.

Während die zwei so in der Stille zusammensaßen, ging es im Hause des Arztes ziemlich laut und lebendig zu. Nach der Schule waren Oskar, Emmi und Fred sofort auseinandergestoben und nach drei verschiedenen Richtungen hingerannt; jeder mußte ein eigenes Interesse im Auge haben. Fred lief nach Hause, er hatte schon den ganzen Tag im Sinn gehabt, der Tante eine höchst spannende Darstellung von einem wenig bekannten Tierlein vorzulesen, und war nie dazu gekommen. Nun er die beiden Ältesten so davonrennen sah, war er sehr erfreut und eilte nun aus allen Kräften, die Lage zu benutzen. Als er auf dem Wiesenweg den Feklitus erblickte, wie er mit Rufen und Drohen hinter dem fliehenden Elsli dreinsprengte, rief ihm Fred mit pfiffigem Lächeln nach: »Feklitus, gelt, es ist gut, daß es ein Elsli gibt, vor dem man sich nicht genieren muß?«

Denn der Fred hatte herausgefunden, daß der Feklitus immer, wenn sich bei ihm eine Schwierigkeit des Verständnisses gezeigt hatte, nachher gleich dem Elsli nachsetzte; daraus zog er den Schluß, daß der Feklitus eine Aufklärung suche, aber vor den Großen der Schule nicht die Rede haben wollte, daß er sie brauche. Dann stürzte Fred weiter und langte in der kürzesten Zeit daheim in der Hausflur an, von wo er durch die offene Küchentür die Tante erblickte, die dort am Tische stand und in einem Puddingteig herumrührte. Sie las eben aufmerksam auf dem Papierchen, das vor ihr auf dem Tische lag: »Nimm vier große Eier, zwei Löffel Mehl und eine Zitronenschale –« und fuhr sehr erschrocken zusammen, als sich Fred plötzlich auf sie stürzte mit einem lauten Freudenschrei, daß er das Feld ganz leer fand und die Tante völlig für sich in Anspruch nehmen konnte. »O wie herrlich! Jetzt hör nur, Tante«, rief er aus und setzte sich gleich ganz bequem auf den Küchenschemel hin, das beliebte Buch auf seinen Knieen ausbreitend. »Du weißt doch, daß Papa einmal eine Rohrdommel gefangen hatte? Jetzt hör ihre Geschichte und ihr Leben! Eben bin ich darauf gekommen: Rohrdommel, Stellaris. Hörst du auch zu, Tante?«

»Ja, ja, ich höre schon, nur weiter!«

»Ist rotgelb mit schwarzen Querflecken, die Federn am Hals kragenartig. Wohnt im gemäßigten Europa, ist trübsinnig und mürrisch, stößt nachts ein eigentümliches Gebrüll aus. Die gewöhnliche Stimme lautet: Krauy! krauy! Jenes Gebrüll aber: Üprumb! üprumb! Gegen Verfolger wird er heftig. Das Weibchen legt vier große Eier – hörst du auch zu, Tante? Weißt du, was ich zuletzt gelesen habe?«

»Ja, ja wohl: Das Weibchen legt vier große Eier, zwei Löffel Mehl und eine Zitronenschale«, sagte die Tante, unversehens ihre Gedanken verfolgend.

Fred schaute sehr erschrocken mit weit aufgerissenen Augen zu der Tante empor, denn sie hatte ganz trocken und ohne allen Spaß so geredet.

»Ach so«, fiel die Tante gleich wieder ein, die so viel auf einmal zu bewältigen hatte und nun ihren Irrtum gewahr wurde, »ich bin nur in das Rezept hineingekommen, fahr nur fort.«

»Ja so, das ist etwas anderes«, bemerkte Fred beruhigt, »denn du wirst doch nicht meinen, Tante, daß Vögel Zitronenschalen legen. Jetzt weiter: Das Fleisch schmeckt nach –«

Hier wurde die Vorlesung unterbrochen. Im Sturmschritt kam Oskar zur Tür herein, und gleich hinter ihm her stürzte Emmi heran, und während sich Oskar auf die rechte Seite der Tante stellte, so nah als möglich, um sich ihr recht verständlich zu machen, drängte die Emmi sich von links an sie heran, so, daß die arbeitende Tante ihre Kelle fast nicht mehr in dem Becken herumbewegen konnte. Oskar war in großer Aufregung: »Denk, Tante, denk nur«, rief er laut und durch die Steigerung des Gefühls immer lauter, während Emmi auf der anderen Seite der Tante direkt ins Ohr hineinflüsterte, um auch verstanden zu werden, – »nun will der Feklitus auf einmal den alten Vers nicht mehr auf die Fahne, weil er einen anderen gehört hat von einem Feste her; der gefällt ihm viel besser, und den will er durchaus auch auf unsere Fahne haben! Was meinst du nun, Tante? Was muß man denn machen? Du weißt nicht, wie störrig der Feklitus ist, wenn er etwas zwingen will, und wenn man nicht nachgibt, so macht er gleich nicht mehr mit.«

»Emmi, sei einen Augenblick still, ich komme dann auch zu dir«, sagte wehrend die Tante. »Nun, Oskar, sag einmal den Vers, so können wir sehen, ob er so schön ist.«

»So heißt er:

    ›Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft,
Liederklang und Rebensaft!‹«

berichtete Oskar weiter.

»Ist das alles?« fragte die Tante.

Oskar bejahte.

»Das wird nun jedenfalls nicht auf die Fahne brodiert«, versicherte die Tante. »Sag du dem Feklitus, es sei ja nicht einmal ein Zeitwort in dem Satz; den könne man nicht brauchen, er solle nur den Herrn Lehrer fragen. Und weißt du was, Oskar, wenn der Feklitus durchaus einen geistigen Beitrag zu dem Feste liefern will, so fordere du ihn auf, die Festrede zu halten!«

Das war ein herrlicher Gedanke! Oskar ergriff ihn mit großem Enthusiasmus. Eine Festrede! Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Gleich schoß er auf und davon, denn noch heute Abend mußte er die Mitteilung machen und alles in Gang bringen.

»Nichtwahr, Tante, nichtwahr?« wiederholte Emmi dringend ein Mal ums andere, nun Oskar fort war und sie Gehör finden konnte.

»Ich weiß nicht recht, was du mir sagtest; ich konnte nicht auf beiden Seiten zugleich hören«, erwiderte jetzt die Tante. »Was meintest du eigentlich, Emmi?«

»Ich meine – und gelt, Tante, das meinst du doch gewiß auch? –, daß es furchtbar schade wäre, wenn der Fani in die Fabrik gehen müßte und gar keine Zeit zum Zeichnen mehr hätte. Er sollte doch gewiß ein Maler werden, Tante, nichtwahr, Fani sollte ein Maler werden, so schnell als möglich, daß er nicht in die Fabrik eintreten muß und dann nie mehr herauskommt und alles zu spät ist?«

»Das geht nicht so leicht, Emmi, so ein Maler und Künstler zu werden. Auch weiß man gar nicht, ob der Fani wirklich genug Talent dazu hätte; da braucht es dann noch etwas ganz anderes, als in der Schule ordentlich zeichnen zu können.«

»Ja aber, Tante, ich wollte nur gern, daß du mir sagtest, daß du doch auch so denkst, daß der Fani viel lieber ein Maler werden soll, wenn er kann, als daß er in die Fabrik gehen soll. Nichtwahr, das ist doch ganz gewiß deine Ansicht, Tante?« Emmi war so dringend, als hätte die Tante die Frage gerade jetzt zu entscheiden.

Begütigend sagte sie: »Wenn Fani wirklich Aussicht hätte, ein Maler zu werden, so wäre ich schon dafür und möchte es ihm herzlich gönnen; aber davon ist ja doch keine Rede, Emmi.«

»Kann ich endlich fortfahren, Tante? Emmi schwatzt ja nur unnützes Zeug«, fiel der Fred hier ein. Aber Emmi ließ ihn noch nicht aufkommen.

»Tante, erklär mir nur noch ein Wort«, bat sie dringend; »was heißt das: Dekoration?«

»Das heißt Verzierung, Emmi. Was hast du mit Dekorationen zu schaffen?« fragte die Tante.

»Es heißt auch Theaterwand«, ergänzte Fred.

»O, das ist recht!« rief Emmi erfreut aus und rannte sehr unternehmend davon.

Einen Augenblick saß Fred nachdenklich da, dann sagte er forschend: »Tante, hast du nicht gemerkt, daß Emmi etwas im Sinn hat? Glaubst du, sie wollte mit einer Theatertruppe fortgehen?«

»Nein, Fred, das glaube ich nun wirklich nicht«, entgegnete die Tante, ohne Unruhe über diese Aussicht; »solches Zeug hat denn doch Emmi nicht im Kopf.«

»Tante, glaub du mir«, sagte der Fred ernsthaft, wie einer, der seine Erfahrungen gemacht hat; »die Emmi hat etwas im Sinn, denn es ist ihr ganz gleich, was die Worte bedeuten, wenn sie nicht etwas damit machen will, denn die Emmi ist nicht wißbegierig. Siehst du wohl, wie es ist, Tante?«

Die Tante konnte nicht mehr antworten, denn jetzt ertönte draußen von der Treppe her ein nicht unbekanntes, aber fürchterliches Geschrei: »Eine Schlange! Eine Schlange! Eine Schlange!« Augenblicklich griff Fred in seine Tasche, dann stürzte er hinaus. Die Tante atmete auf. Endlich konnte sie mit freien Armen und mit gesammelten Gedanken ihren Pudding vollenden, und es war die höchste Zeit. Aber nein! Das Geschrei auf der Treppe nahm einen so schreckenerregenden Charakter an, daß sie Becken und Kelle von sich stieß und hinauseilte. Draußen, in der Mitte der Treppe, stand auf einer Stufe das Rikli, mit Zetergeschrei auf die folgende Stufe blickend, wo ein zierliches, grünes Eidechschen in höchster Geschwindigkeit sich hin und her schlängelte. Noch eine Stufe höher saß beschaulich der Fred und wartete ab, was des Geschreies Ende sein würde.

»Aber wie einfältig, Rikli«, sagte die Tante sanftmütig; »wenn du doch einen solchen Schrecken vor diesem Tierchen hast, so kehr doch um und lauf fort!«

»Es läuft mir nach, es läuft mir nach, es ist eine Schlange!« schrie das Rikli und zappelte angsthaft auf demselben Fleck herum.

»Fred, nimm die Eidechse weg, du siehst ja, wie das Kind sich aufregt«, sagte die Tante; »ursprünglich wird sie wohl auch irgendwie von dir herstammen.«

»Gewiß, Tante«, bestätigte Fred; »ich hatte sie in meine Tasche gesteckt, sie muß sich dann, während ich vorlas, leise entfernt haben. Aber dieses Rikli sollte doch zu einem vernünftigen Wesen erzogen werden; darum wollte ich warten, bis der Schrecken in eine Freundschaft für die Eidechse übergegangen wäre.«

Die Tante war einverstanden, das Rikli müsse wirklich noch erzogen werden; aber der Versuch, den Fred unternommen, führe nur endloses Geschrei herbei. Man müsse an eine ernstliche Kur denken, durch welche das Rikli geheilt werden könne; jetzt aber solle es die Treppe hinaufgehen und Fred mit seiner Eidechse hinunter, daß der Lärm aufhöre. Dann ging die Tante in die Küche zurück und konnte endlich den Pudding vollenden.


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