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Und wieder atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte mich in einen Segen verwandeln und wie ein guter Geist Gottes ihre Schritte umschweben, sie aufrichtend, wenn sie mutlos ist, und von ihr jedes Unheil abwehrend, das nächtens ihre Schwelle umschleicht.»
«Das ist recht und statthaft», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und verwandelte sich in einen Segen. Und beim Morgenblaßlicht küßte es Theudas Augen: «Der Hahn ist wach; steh auf und fürchte dich nicht, denn dieser Tag ist ein fröhlicher Tag.» Und wenn sie betrübt war, so sprach es: «Irrtum! du darfst nicht traurig sein, denn du bist der Menschen Lust und Wonne.» Und zu dem Unheil, das nächtens ihre Schwelle umschlich, wehrte es: «Halt! Wer da? Täuschung! Dieses Haus ist gefeit, denn hier wohnt Theuda-Imago.»
«Nun wohl, mein Herz», rief Viktor, «wonach deine Liebe lechzte, das hab' ich dir alles gewährt. Hast du nun Genüge? Oder begehrst du noch mehr?»
Ihm antwortete das Herz: «Ich habe nimmer Genüge; denn meine Liebe gebärt Liebe; je mehr ich die Einzige liebe, desto mehr begehrt mich, sie zu lieben. Siehe, ich habe ihre dermalige Gestalt mit meiner Andacht umwoben, nun will ich es auch mit der vormaligen tun; mit meiner Ahnung ihre verbliebene Erscheinung grüßend, so wie sie einst gewesen, ehe sie geworden, rückwärts über ihre Mädchenjahre bis in die Tage der Kindheit, und von ihrer Kindheit hinauf nach ihrem Ursprung über der Welt, wo ihre Seele keimte, ehe sie den Wandel nach Erden antrat. Allein das vermag ich nicht aus mir; gebiete deiner Phantasie, daß sie mich in jene Höhen enttrage.»
«Ja», erklärte Viktor, «das soll dir werden.» Und befahl seiner Phantasie: «Du loses, unnütz Vögelein, das mir immerfort Unfug und Unmuß stiftet, mit Truggesichtern mich täuschend, daß ich der Torheiten unzählige begehe, auf! erweise dich einmal nützlich. Hast du gehört, was mein Herz von dir heischt? Also rüste deine verwegensten Flügel und enttrage meine Ahnung über die Welt in die Pflanzstatt der Seelen.»
Ihm erwiderte die Phantasie, im Glanzlachen erstrahlend: «Das ist es ja eben, was ich immer ersehnte. Denn dort oben bin ich zu Hause.» Sprach's und enttrug mit verwegenem Fluge seine Ahnung hinaus über alle Welt in die traumumdämmerte Brutstatt der Seelen. Daselbst, mit den Fühlern der Liebe den Pfad erratend, den einst ihre Seele nach Erden angetreten, versuchte Viktor auf ihren Spuren ihr verwichenes Leben nachzuleben, mit dichtendem Geiste ihre irdischen Erstlingsjahre zurückrufend, den Abglanz ihrer Mädchengestalt an den Wäldern ihrer Heimat ablesend, die Felsen grüßend, die ihr staunend Kinderauge zum ersten Male mochte geschaut haben. Ob dieser Arbeit offenbarten sich ihm Neuschöpfungslandschaften mit Durchblicken auf jenseitige Welten, mit Lichtschimmern und Wolkenzügen anderer Gattung, davor seine Seele schauerte. Die Wirklichkeit schwand, die Zeit versenkte sich vor seinen Füßen.
Allein von der Überfülle der Fernwunder erschöpft, versagte sein schwaches Menschenhirn, und sein reisemüder Geist ermattete. «Genug! Gnade! Zuviel!» Doch zornig schüttelte die Phantasie die Schwingen. «Umsonst habe ich nicht diese Höhe erschwungen; hier ist meine Lebensluft, hier will ich kreisen. Ihrer Seele Keim wolltest du erspüren, ertrage auch ihrer Seele Krönung.» Und ungeachtet seines Flehens und Sträubens offenbarte sie, höher kreisend, dem Bebenden ein Zukunftsgesicht, unerwünscht und aufgedrungen, doch unauslöschlich:
Einen Jüngling schaute er neben einer Jungfrau, deren Doppelseele sämtliche Seelen der Welt aufgesogen hatte, also daß außer diesem Paare nichts Lebendiges im unendlichen Raum sich regte. Und dieser Jüngling und diese Jungfrau wandelten zusammen über die Himmelswiese und flüsterten sich zu und blickten einander ins Auge mit einer süßen Innigkeit, gegen welche die zerstückelte Einzelliebe auf Erden bloß ein nichtswürdiges Affenspiel vorstellt.
«Was habe ich mit diesem Jüngling und dieser Jungfrau zu schaffen?» unterbrach Viktors Herz ärgerlich. Siehe, da hatte die Allerseelenjungfrau das Antlitz Imagos.
So vergnügte sich Viktor mit seiner neugeborenen Liebe. Sein Herz umspielte Theudas leiblichen Wandel, seine Phantasie brachte ihm Imagos Lichtgestalt aus der Höhe über den Wolken. Lieben nannte er sein Geschäft, Segnen seine Erholung. Da er aber seine Liebe so rein und schön verspürte, wunschlos in andächtigem Gottesdienst, und ihm die Phantasie unablässig neue Offenbarungen zutrug, armvoll in gehäuften Garben, überquoll endlich seine Wonne, so daß ihm der Atem nicht mehr genügte, sondern daß er mit der Stimme singen mußte, bald in stammelnden Jauchzern, bald leise vor sich hin trällernd, zuweilen in langgezogenen schmelzenden Tönen. Auch mochte er etwa ein Stück Papier mit Linien durchqueren, schräg und krumm mit ungeübter Hand, und seine Jauchzer als Notenkettchen zwischendurch schlingen. Der Worte dagegen bedurfte seine Sangesseligkeit nicht.
«Störe ich etwa?» scholl des Statthalters väterliche Stimme; und nach einigen nichtssagenden Einleitungssätzen knüpfte er bald hier, bald dort ein wissenschaftliches Gespräch an, doch unstet, mit verlegener Miene, wie wer etwas hinter der Rede hält. Endlich rückte er zaghaft hervor: «Am 4. Dezember, wie Sie jedenfalls längst wissen, feiert die Idealia ihr Stiftungsfest. Für diesen Anlaß habe auch ich ebenfalls – wie soll ich sagen? man kann es einen Prolog nennen – einige bescheidene, anspruchslose Verse (fünffüßige Jamben mit je einem Anapäst) in Form eines Dialoges, die alte und die neue Kultur gegenüberstellend... Ob Sie nicht da vielleicht – ich habe an Sie gedacht, weil ich als Gegensprecher einen hochschulgebildeten Mann brauche (es kommen ja selbstverständlich auch griechische und lateinische Zitate vor) – ich würde in diesem Fall, das heißt natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, die alte und Sie die neue Kultur –, doch, wie gesagt, ganz nach Ihrer eignen Wahl, vorausgesetzt, daß Sie überhaupt Lust und Zeit dazu vorrätig haben...» Und da sich Viktor gerne zu jeder beliebigen Kultur erbötig erklärte, atmete der Statthalter erleichtert auf. «Ja, und daß ich das nicht vergesse: Meine Frau ist hocherfreut über Ihre Aussöhnung mit meinem Schwager, und warum man Sie denn nie mehr sehe?»
Richtig, jetzt erst fiel es ihm ein: er hatte über dem Eifer seines Gottesdienstes die Gottheit selber völlig vergessen. Das Bedürfnis nach ihrem Anblick hatte sich eben nicht gemeldet; jetzt freilich, von ihr gemahnt, mußte er sich wohl bequemen; und da er es mußte, mochte er es auch.
Wie er dann nach einigen Tagen nach der Münstergasse pilgerte, tat er es in der Stimmung eines getauften Heiden, der zur ersten Kommunion schreitet; ein Schritt furchtsam, ein Schritt gefaßt. Gewiß, er konnte sich's nicht verhehlen, es nisteten noch manche Motten im Hermelin seiner Gerechtigkeit, allein seine Bekehrung war doch echt, seine Buße gründlich, seine Liebe rein; und die Götter sind ja gnädig. Zudem hatte er ja nun den Kurt auf seiner Seite.
Huldvoll empfing sie ihn (Wirkung des Kurt? oder las sie ihm die Andacht aus dem Gesichte?), ohne den mindesten Nachhall der alten Feindseligkeit; großartig, mit einem einzigen Pinselstrich die Erinnerung an die frühere Mißhelligkeit ausgelöscht. Sie berichtete ihm den Todesfall einer entfernten Verwandten, welche verwichene Nacht unvermutet verschieden wäre, nur so zwischenhinein, wie ein Nebensatz, mitten in die Vorbereitungen zum Stiftungsfest. Während des Berichtes rollten ihr einige Tränen über die Wangen. Die fing er mit unmerklich vorgeschobener Hand auf, als wäre es Weihwasser. Hernach wurde noch dies und das gesprochen; endlich, zum Abschied, reichte sie ihm freundlich die Hand; zum ersten Male seit der Parusie.
Die Sorge um den Prolog (alte und neue Kultur) nötigte ihn in der Folge noch öfter zum Statthalter; und wenn das Geschäftliche bereinigt war, mochte er jeweilen noch ein Viertelstündchen im Hause säumen, wo er dann meistens schweigend dasaß, mit den feinen Augen eines Onkels, der die Familie hinterrücks in sein Testament gesetzt hat. Dabei gestattete er seiner Liebe den Schmaus, Theudas Bewegungen und Gebärden zu verfolgen, die dem Bekehrten jetzt wie Neuigkeiten vorkamen. Und da er sie nunmehr in ihrem natürlichen Wesen beobachten durfte, so wie sie gewöhnlich war, während er sie ja vordem nie anders als in Verteidigungsstellung gesehen hatte, entdeckte er beglückten Herzens neben den früher bemerkten Vorzügen eine Menge von neuen. Beglückten Herzens, weil ja jede ihrer Tugenden eine Rechtfertigung seiner abgöttischen Liebe, eine Widerlegung der lauernden Einwürfe bedeutete. Nun brauchte er nicht mehr die Zweifel wegzuschrecken; im Gegenteil: er lud sie ein, um sich an ihrer Beschämung zu weiden.
«So kommt doch, ihr Nörgler, spähet, so scharf ihr wollt, setzt meinetwegen Brillen auf. Seht ihr, wie sie freundlich mit ihren Dienstboten umgeht? Habt ihr nicht selber immer behauptet, an der Behandlung der Untergebenen könne man am zuverlässigsten erkennen, ob eines Menschen Kern gut oder böse sei? Darum bekennet: sie ist gut.»
«Gut, allerdings, das ist sie.»
«Und jetzt wieder dem Bettler, wie sie ihm das Almosen nicht etwa gnädig herablassend hinreicht, sondern von gleich zu gleich. Darum gestehet: sie ist barmherzig.»
«Barmherzig ist sie, zugestanden.»
«Geduld, ihr werdet noch mehr zugestehen müssen. Habt ihr bemerkt, wie niemals ein neidischer Zug ihr Antlitz entstellt, wenn die Schönheit einer andern Frau gerühmt wird? wie auch keine Spur von Gefallsucht in ihrer Seele Raum findet, so daß sie die Huldigungen fremder Männer, die meinige eingeschlossen, gar nicht einmal wahrnimmt, oder, wenn sie sie wahrnimmt, nicht beachtet, vielmehr eher als eine Belästigung verspürt? Ist euch nicht aufgefallen, daß von sämtlichen Menschen, die sie der Ehre ihres Umgangs würdigt, auch nicht einer ist, der nicht lauteren Charakters wäre? Und ihre Bescheidenheit, ihre Pflichttreue, ihre Häuslichkeit, ihre stille Hingebung an ihr Kind? Bitte, bestreitet mir das alles, wenn ihr's könnt.»
«Niemand bestreitet ja im mindesten die Menge ihrer außerordentlichen Vorzüge, nur daß du sie als eine Art Gottheit...»
«Genug! kein Wort mehr! Wer jetzt noch zweifelt, verrät bösen Willen.»